Die Gartenlaube (1864)/Heft 37

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[577]
Nobles Blut.
Schloßgeschichte aus den Erinnerungen meines Vaters.
(Fortsetzung.)


2. Alte Geschichten des Schlosses.

Der alte Diener Conrad erzählte: „Seit wenigen Wochen sind es gerade fünfzig Jahre, da wurde der Grund zu alle dem Unglück gelegt, das sich so vielfach in diesem Schlosse zugetragen hat. Damals lebten zwei Brüder auf Frankenfelde, die Grafen Curt und Moritz von Frankenberg. Der Graf Curt war der Aeltere, der Graf Moritz der Jüngere. Nach einem alten Rechte des Hauses hätte also der Graf Curt der Herr aller der großen und reichen Frankenbergischen Güter sein müssen, welche die Herrschaft Frankenfelde ausmachen, und Graf Moritz hätte nur eine Apanage bekommen. Es war aber anders; der Graf Moritz war der regierende Herr hier, und der Graf Curt lebte von der Apanage, die ihm der jüngere Bruder gab. Das war so gekommen: der Graf Curt war früh in preußische Kriegsdienste getreten, um in den tapferen Heeren Friedrich’s des Großen sich Ruhm zu erwerben. Schon das hatte sein Bruder ihm verargt. Der Graf Moritz war hochfahrend; ein deutscher Reichsgraf, meinte er, sei eben so gut ein regierender Herr, wie der Markgraf von Brandenburg; wollte er einem Potentaten dienen, so könne es nur ein auswärtiger, oder der deutsche Kaiser sein. Die Religion kam dazu. Der Graf Curt hatte jedoch seinen Willen durchgesetzt, und die beiden Brüder schieden mit erbittertem Herzen. Schon nach drei Jahren kehrte der Graf Curt zurück. In der Schlacht bei Hohenfriedberg war ihm der rechte Arm zerschossen und er hatte seinen Abschied nehmen müssen; er hatte ihn als Major erhalten, in besonderer Anerkennung seiner Tapferkeit. Er kam nicht allein nach Frankenfelde zurück, sondern brachte eine Frau mit und ein Kind, einen Knaben von dreiviertel Jahren. Nun war aber die Frau eine Bürgerliche, die Tochter eines Advocaten in Sachsen, in deren elterlichem Hause der junge Officier schon in dem ersten Feldzuge des Königs, als er in einem Gefecht verwundet worden, Pflege und Heilung seiner Wunden erhalten hatte. Er hatte die junge Dame geliebt und sie ihn, und sie hatten sich geheirathet. Dabei hatten sie an Eines nicht gedacht, oder sie hatten nicht besonderen Werth darauf gelegt. Nach den alten Rechten des Frankenbergischen Hauses konnten in die Güter nur Kinder aus ebenbürtigen Ehen succediren; die Gemahlinnen der Grafen von Frankenberg mußten mindestens dem stiftsmäßigen Adel angehören. Die Kinder der bürgerlich geborenen Gräfin konnten also niemals Herren auf Frankenfelde werden, auch der Sohn nicht, den er mitbrachte. Das konnte nur anders werden durch einen ausdrücklichen Vertrag der beiden Brüder, durch welchen der Graf Moritz die Kinder des Grafen Curt als successionsfähig anerkannte. Die beiden Brüder waren die einzigen Lebenden des Frankenbergischen Mannsstammes. Zu dem Vertrage wollte der Graf Moritz sich nicht herbeilassen. Ein ganzes Jahr lang suchte der Graf Curt ihn dazu zu bestimmen. Es war vergeblich. Der Graf Moritz berief sich auf sein Recht und heirathete auf dieses Recht ein Fräulein aus einem alten Hause, deren Kinder künftig die einzigen rechtmäßigen Frankenbergischen Erben und Herren sein mußten. Starb dagegen der Graf Curt, so hatten seine Wittwe und Kinder nichts, sie konnten von Haus und Hof gejagt werden. Da entschloß sich der Graf Curt endlich nachzugeben, und es kam ein Vertrag unter den beiden Brüdern zu Stande, durch welchen der Graf Curt sein Recht der Erstgeburt an den Grafen Moritz abtrat, wogegen dann dieser die Kinder des Grafen Curt als aus standesmäßiger, ebenbürtiger Ehe geboren anerkannte. Die Folge war, daß jetzt zwar in erster Linie die Söhne des Grafen Moritz zur Succession und Regierung kamen, daß aber, wenn der Graf Moritz ohne männliche Nachkommen starb, die Güter an die Söhne des Grafen Curt zurückfielen. Nun begab sich aber Folgendes: Die Gemahlin des Grafen Moritz gebar ihm nur ein einziges Kind, und das war eine Tochter. Die Gemahlin des Grafen Curt war zwar nach einigen Jahren gestorben, ohne daß sie außer dem einzigen Sohne noch Kinder zur Welt gebracht hätte; aber dieser Sohn war als ein kräftiger und prächtiger Knabe herangewachsen. So war das Jahr 1758 gekommen, und in ihm ein Tag, der mir keinen weiteren Tag meines Lebens aus dem Gedächtnisse gekommen ist. Ehe ich von ihm erzähle, muß ich Sie noch mit ein paar Umständen bekannt machen.

Der Graf Moritz war immer ein hochfahrender, gewaltthätiger und dabei mißtrauischer und argwöhnischer, finsterer Herr gewesen, und die Wahrheit zu sagen, die Leute hatten wohl Recht, wenn sie von ihm meinten, er habe kein gutes Herz. Er behandelte auch seine Gemahlin nicht gut, und ich habe manchmal selbst gehört, wie er ihr vorwarf, daß sie keine Liebe zu ihm habe. Dazu kam, daß sie ihm nur die eine Tochter, keinen männlichen Erben geboren hatte. Die Gräfin war eine zarte Dame; sie hatte das beste Herz von der Welt. Die Behandlung ihres Gemahls machte sie unglücklich, menschenscheu, sie verließ fast ihre Zimmer nicht, und die einzigen Menschen, die sie sah, waren ihre Tochter, ihr Neffe und ihr Schwager, der Graf Curt. Auch der Graf Curt war nicht glücklich. Der Verlust seiner Gemahlin, die er so innig liebte, hatte ihn schwer und hart angegriffen; er hatte ihn nie verschmerzen [578] können, denn er hatte ein weiches gutes Herz. So war es natürlich, daß die Beiden, der Graf Curt und seine unglückliche Schwägerin, oft zusammen waren und auch beieinander Trost fanden. Es war in allen Ehren, ich schwöre es Ihnen zu, Herr Pater. Der Graf Moritz war dennoch eifersüchtig geworden. Es war auch natürlich bei seinem argwöhnischen Charakter, und bei seinem finsteren, verschlossenen Wesen wußte er es auch zu verbergen. Man sah nur, daß er einen tödtlichen Haß gegen seinen Bruder hatte. Das konnte aber auch einen andern Grund haben. Der Graf Curt war von Jedermann im Schlosse geliebt und verehrt; der Graf Moritz mußte sehen, daß er nur scheu gefürchtet war. Dazu hatte er keine männliche Nachkommen, dem Grafen Curt wurde der Sohn immer frischer und blühender. Noch mehr haßte er diesen Sohn, der nun doch künftig hier Herr, der, mit Ausschließung seiner eigenen Tochter, sein Erbe werden sollte. Und der junge Graf Adolph und die Tochter des Grafen Moritz, die Comtesse Caroline, waren immer beisammen, waren unzertrennlich, wenn ihr strenger Vater sie nicht auseinanderriß, und hatten, wenn er sie getrennt hatte, keine Ruhe und mochten nicht essen und nicht trinken, bis sie wieder zusammen waren.

Der Graf Moritz haßte den Knaben um so mehr. Wo er ihn sah, tadelte, schalt, schimpfte er ihn. Der junge Graf Adolph war stolz, ehrgeizig. Er weinte oft Thränen des Zornes, der Wuth über solche Behandlung des Oheims, und er haßte den Mann, der ihn so behandelte, vielleicht mehr, als dieser ihn. Der Oheim hatte ihn einmal mit Ohrfeigen bedroht. Ich vergesse es nicht, wie der junge Herr da mit dem verweinten und blassen Gesichte zu mir kam, um sein Herz gegen mich auszuschütten, und wie er in seinem Zorne rief: ,Wenn er mich anrührt, so schieße ich ihn oder mich todt!’ Nur die Comtesse Caroline, die ihm nachgeschlichen war, um ihn zu trösten, konnte ihn wieder aufrichten. Der junge Herr war damals bald vierzehn, die Comtesse war eilf Jahre alt. Sie waren Beide ein paar so schöne, brave und liebe Kinder. Ein Jahr nachher passirte das, was ich Ihnen nun erzählen will.

Es war an einem warmen Maitage. Der Graf hatte den ganzen Tag in seinem Zimmer zugebracht. Sein Zimmer war in dem alten runden Thurme, oberhalb des Schlosses, an dessen Thür ihn vorhin der Herr Doctor mit dem Schlüsselbunde gesehen hatte. In den Thurm hatte er sich schon seit Jahr und Tag zurückgezogen; er war seit Jahr und Tag immer finsterer und verschlossener geworden; er mochte Niemanden mehr sehen. Da hatte ich ihm in dem Thurme eine Treppe hoch ein Zimmer einrichten müssen. Ich war schon damals sein Kammerdiener. In dem Zimmer vergrub er sich Tag und Nacht, Wochen lang, Monate lang, ein ganzes Jahr lang. Nur selten verließ er es, um des Abends, wenn Alles still und dunkel war, einen Spaziergang in den Park zu machen. An jenem Tage hatte er es schon vor dem Abende verlassen. Es fiel mir auf, daß er so früh ging, und ich fühlte eine gewisse Unruhe, da er mir so besonders finster vorgekommen war, als ich ihm beim Ankleiden half. Ich sah ihm nach, wohin er ging. Er begab sich in den Park und ging dort eine Weile in tiefen Gedanken unter den Schloßfenstern auf und ab. Die Fenster des Grafen Curt lagen nach dem Park hin. Ich meinte ein paar Mal zu sehen, wie er nach diesen Fenstern hinaufblickte. Nach einiger Zeit schritt er weiter in den Park hinein. Ich wartete wohl noch eine halbe Stunde; als er immer nicht zurückkam, dachte ich, er sei in den Wald hinter dem Park gegangen, was er auch auf seinen Abendspaziergängen zu thun pflegte, und ging endlich in meine Stube, wo ich zu arbeiten hatte.

Ich war noch nicht lange dagewesen, als ich plötzlich einen Schuß hörte. Meine Stube war in dem Nebengebäude, gerade dem oberen Ende des Schlosses und dem runden Thurme gegenüber. In dieser Gegend war der Schuß gefallen. Ich erschrak. Da war ein Unglück geschehen, wenn nicht etwas noch Schlimmeres. Ich eilte zu dem Thurme. Auf dem Hofe standen mehrere Diener, sie sprachen untereinander mit verstörten Gesichtern. Sie hatten ebenfalls den Schuß gehört, in der Gegend des runden Thurmes sei er gefallen, ob in dem Thurme selbst oder dicht neben ihm im Schlosse, wußten sie nicht. Zu dem Thurme oder in das Schloß zu gehen, wagten sie nicht. Bei dem gewaltthätigen Charakter und bei der Stimmung des Grafen fürchteten sie für ihr Leben, wenn sie auf ihn trafen. An etwas Schreckliches dachten sie wohl Alle. Ich mußte wissen, was geschehen war, und ging zu dem Thurme. Die einzige Thür, die von außen hineinführt, war verschlossen. Der Thurm steht aber mit dem Schlosse in Verbindung; er ist unmittelbar an dieses angebaut, und eine Thür führte aus einem Gemache seines ersten Stockes in einen Corridor des Schlosses. So war es damals. Das Gemach hatte der Graf zu seinem Schlafzimmer genommen; es war mit seinem Wohnzimmer durch eine Thür verbunden. An dem Corridor des Schlosses aber lagen die Zimmer der Gräfin, seiner Gemahlin. Das fiel mir auf einmal glühend heiß auf die Seele. Ich eilte in das Schloß und flog die Treppe zum ersten Stock hinauf, in den Corridor hinein, Niemand begegnete mir, es war überall still. An jenem Corridor wohnte keine Dienerschaft; diese saß überdies gerade beim Abendbrod in einem andern entfernten Flügel des Schlosses, wo sie den Schuß wohl hatten überhören können. Ich eilte weiter in den Corridor und kam bis in seine Mitte. Da öffnete sich hinten an dem Ende eine Thür. Es war die Thür des runden Thurmes. Der Graf Moritz stand in der Thür. Es war noch hell, auch in dem Gange. Das Gesicht des Grafen war leichenblaß; seine Hände –“

Der alte Diener unterbrach sich in seiner Erzählung.

„Der Hund heult, der Hannibal. Was mag das sein?“

Man hörte einen Hund unten im Hofe heulen. Mit einem Male war es still. Der Diener schüttelte den Kopf.

„Der Alte hat etwas vor – auch heute wieder. Das Heulen war am Thurme, also ist er dort wieder oder noch immer. Was kann er da suchen? Der Graf Adolph hatte doch den Hund eingeschlossen. Das Herz will mir beinahe so schwer werden, wie an jenem Abende vor fünfzig Jahren. Und auch der Doctor und der Hauptmann kommen noch immer nicht zurück. Wo sie nur bleiben mögen da unten in dem geheimen Gange? Sie könnten längst wieder hier sein.“

Plötzlich erschrak der alte Mann.

„Wenn sie überfallen wären! Wenn der Louis die Franzosen schon hingeführt hätte! Es ist ein frecher, listiger, gewandter Schurke. Großer Gott, sie könnten dann im nächsten Augenblick schon in dem Zimmer der Kranken sein, den Freiherrn überraschen und überfallen, wie die Beiden da unten!

Er horchte. Es war Alles still und war auch still gewesen. Seine Angst hatte ihn getäuscht, wie er selbst sagte.

„Ich war närrisch. Der Hauptmann und der Doctor sind Beide klug und vorsichtig. Und wenn auch Einer von ihnen hätte können gefangen werden, der Zweite wäre um so gewisser entkommen. Und wie sollte der Louis da unten Alles so genau kennen?

Der Hauptmann hat Recht: man muß nicht immer gerade das Schlimmste fürchten. Lassen Sie mich fortfahren, Herr Pater.

Ich sah den Grafen Moritz, erzählte ich Ihnen. Er stand in der Thür des Thurmes. Er war herausgetreten, als er meinen Schritt in dem Gange gehört hatte, und hatte die Thür hinter sich zugezogen. Er sah schrecklich aus. Sein Gesicht war kreideweiß; seine Hände waren blutig. In der einen Hand hielt er ein Pistol.

,Was willst Du hier? Zurück!’ rief er mir entgegen.

,Gnädiger Herr Graf –’ sagte ich.

Er erhob das Pistol. ,Zurück!’ rief er noch einmal. Er war mein Herr. Er hätte mich niedergeschossen, wenn ich einen Schritt weiter gegangen wäre. Ich kehrte also um; nur langsam.

Plötzlich hörte ich ein Stöhnen da hinten; es schien aus dem Thurme zu kommen. Der Graf stand noch immer an der Thür, die er nur hinter sich zugezogen hatte. Der Schreck lähmte mir die Füße – ich blieb stehen.

,Willst Du einen Schuß in die Beine haben, um fortzukommen?’ rief der Graf.

Ich eilte fort, aus dem Schlosse, auf den Hof. Die Leute standen noch da und warteten auf meine Rückkehr. Sie mußten mir ansehen, daß etwas Entsetzliches geschehen sei. Aber ich durfte ihnen nichts sagen. Was es war, wußte ich ja auch selbst nicht.

,Geht an Eure Arbeit,’ sagte ich ihnen, ,damit kein Unglück passirt.’ Sie gingen, und ich kehrte in mein Stübchen zurück. Arbeiten konnte ich nicht wieder. Auch die Andern konnten es wohl nicht.

Ich wollte beten, aber ich konnte auch das nicht, die Angst ließ mir keine Ruhe. Ich mußte nur immer horchen und nach dem Thurme mir gegenüber, nach den Fenstern des Schlosses in der Nähe des Thurmes sehen. Ich sah und hörte nichts. Was [579] ich gehört und gesehen hatte, stand dann um so schrecklicher vor mir: der Graf mit dem weißen Gesichte und den blutigen Händen, das Stöhnen, das ich deutlich gehört hatte, das Wimmern, das ich geglaubt hatte zu hören. Und ich hatte die Gräfin nicht gesehen, die an dem Corridor wohnte, und auch den Grafen Curt nicht, der zwar einen Stock höher, aber in demselben Flügel wohnte, und daher den Schuß hatte hören müssen, und dennoch nicht da war. Wo waren die Beiden? Und wie war der Graf Moritz aus dem Park zurückgekommen? Und warum jedenfalls so heimlich? Ich mußte wieder hinaus und faßte mir ein Herz. Ich ging wieder auf den Hof. Es war noch hell draußen, die Sonne war soeben untergegangen, es war still auf dem Hofe. Von den Leuten hatte sich Niemand wieder sehen lassen. Ich wollte zu dem Thurme gehen, wurde aber auf meinem Wege aufgehalten. Ich bekam etwas vor Augen, was ich von Allem, das ich an jenem Abende sah, am allerwenigsten werde vergessen können. Es war so freundlich, so überaus lieblich. Hinter dem Thurme her kamen in den Hof der junge Herr Graf Adolph und die Comtesse Caroline. Der junge Herr war damals vierzehn, beinahe fünfzehn Jahre alt; die Comtesse war in ihrem zwölften Jahre. Sie waren ein paar bildschöne Kinder. Der Graf Adolph sah dabei so stolz und vornehm aus, mit seinen großen, blitzenden Augen und den vollen braunen Locken, und die Comtesse mit den blauen Augen, der durchsichtigen feinen Haut und ihren langen hellblonden Haarzöpfen war wie ein wahrer Engel anzusehen. Sie kamen aus dem Park, wo sie in dem Blumengarten gewesen waren. Die Comtesse trug in ihrem Haar eine rothe und eine weiße Rose, und in der Hand hielt sie einen Fliederstrauß. Der junge Herr hatte eine rothe Rose auf der Brust in dem Knopfloche stecken. Sie hatten die Blumen wohl einander gepflückt und geschenkt und sich gegenseitig damit geschmückt. So kamen sie daher, Hand in Hand, sorglos, glücklich; mit den schönen Augen lachten sie einander still an und dachten wohl nur daran, wie sie so glücklich beisammen waren.

Herr Pater, es war das schönste Bild, das ich in meinem Leben gesehen hatte, und nachher – was hätten meine Augen hier in diesem Schlosse noch Schönes sehen können? Aber die Thränen wollten mir in die Augen kommen, wie ich die armen, schönen Kinder so sah. Sie waren so arglos, so sorglos, so glücklich. Sie dachten an kein Unglück, keine Gefahr, an kein Verbrechen, an keine Entehrung. – Die armen Kinder wollten zu dem Vater, zu der Mutter, wollten ihnen die Blumen zeigen, wollten ihnen erzählen von ihrer Freude, ihrem Glück! Und vorher der Schuß!

Da öffnete sich ganz leise die Thür des runden Thurmes.

Der Graf Moritz stand darin, er trug eine große Peitsche in der Hand, eine Hetzpeitsche, mit der die Hunde gehauen wurden, wenn sie nicht gehorchen wollten. Die Hände des Grafen waren nicht mehr blutig; sein Gesicht war nicht mehr weiß; es hatte eine dunkle Farbe, als wenn alles Blut seines Körpers ihm zum Kopfe gestiegen sei. In der Abendröthe sah es kupfrig aus. Ein wilder Zorn mußte ihm das Blut in das Gesicht getrieben haben, und in diesem Zorn, in Haß und Rache stand er da, mit der großen Peitsche, wartend, lauernd. Er hatte von dem Thurme aus die Kinder sehen können, wie sie aus dem Garten zurückkamen. Er hatte sie gesehen, wie sie Hand in Hand gingen, wie sie sich mit den Blumen geschmückt hatten, wie sie mit den Augen sich anlachten, wie sie so glücklich beisammen waren. Und sie sollten nicht beisammen sein, die Kinder. Der verhaßte Sohn des verhaßten Bruders, der künftige Herr hier, der dies nur durch einen Raub gegen ihn, gegen sein Kind wurde, sollte seine Tochter gar nicht einmal ansehen dürfen; er hatte ihn so oft von ihrer Seite gerissen. Und gerade heute, gerade jetzt, gerade in diesem Augenblicke, unmittelbar nach dem Schrecklichen, was soeben geschehen war, mußte er ihn wieder bei ihr sehen, mußte er ihn so glücklich an ihrer Seite sehen, sie Beide so glücklich, so vertraulich, mit den umschlungenen Händen.

Er stand wartend, lauernd mit der großen Peitsche da. Die Kinder konnten ihn nicht sehen; sie waren noch hinter dem Thurme. In fünf Secunden mußten sie hinter dem Thurme hervorkommen. Ich wollte ihnen, ich wollte ihm zurufen. Aber es war das Alles nur ein paar, nur ein einziger Augenblick gewesen, und der Athem war mir vor plötzlichem Schreck ausgegangen und das Herz schnürte sich mir zusammen. Als ich rufen wollte, war es zu spät. Die beiden Kinder waren hervorgekommen. Wie der Graf sie sah, sprang er auf sie zu. ,Hund!’ schrie er. Und nun – Aber ich kann nicht weiter erzählen –“

Der alte Diener konnte nicht weiter erzählen. Er konnte es nicht vor Weinen, vor Schluchzen. Dabei sah er den Mönch wieder so sonderbar an und wurde unruhiger, aufgeregter.

Auch der alte Mönch hatte ein paar Augenblicke lang eine tiefe innere Unruhe gezeigt. In sein blasses Gesicht war eine helle Röthe gestiegen; es war dann wieder weiß geworden, wie die weiße Gypsdecke des Zimmers. Er hatte mit der Hand über die Augen fahren müssen, und dann war er wieder ruhig, und seine Ruhe war zugleich die einer erhabenen, einer heiligen Ergebung.

Der alte Diener aber konnte nicht wieder Herr über sich werden. Es lag ihm zu schwer auf dem Herzen; er mußte es herunter haben. Er ging durch das Zimmer, kehrte zu dem Mönche zurück und wandte sich wieder zu dem Fenster; er kam nochmals zu dem Mönche.

„Herr Pater,“ sagte er, „kann ich es Ihnen erzählen, was dem braven Grafen Adolph geschah, dem jungen Herrn, den ich mehr liebte, als mich selbst, was Ihnen geschah, lieber Herr Graf Adolph? Denn sind Sie es nicht? Sind Sie es nicht?“

Er hatte sich vor dem Mönche zur Erde geworfen und die mageren, weißen Hände des alten Geistlichen ergriffen; er küßte sie und ließ seine Thränen darauf fallen.

Der Mönch erhob sich; er erhob den alten Diener. Ein wunderbar stiller Friede lag auf seinem blassen Gesichte. Er war anzusehen wie ein Friedensapostel, den der Himmel auf die Erde heruntergesandt hat. So sprach er: „Ja, alter Conrad, ich bin der Graf Adolph, den Du mehr liebst, als Dein Leben, für den Du Dein Leben hingeben wolltest, der Dir durch sein ganzes Leben dafür seinen Dank bewahrt hat. Stehe auf, mein Freund, mein alter, treuer Conrad.“

Der alte Mönch umarmte den alten Diener. Dann mußte er ihn zu einem Stuhle führen. Schreck, Freude, Aufregung, Furcht und Angst hatten den alten, fast achtzigjährigen Diener des Hauses zu heftig angegriffen; er konnte sich nicht mehr aufrechthalten; er konnte mit seiner matten Stimme nur noch sagen: „Es war mir gleich so, daß Sie es sein mußten, gleich als ich Sie sah. Aber ich wagte nicht, es Ihnen zu sagen. Ich mußte erst meiner Sache gewiß sein. Aber erzählen mußte ich Ihnen, dadurch mußte ich ja auch erfahren, ob ich Recht hatte. Und wie ich nun nicht mehr weiter erzählen konnte, da sah ich, daß ich Recht hatte.“ .

„So will ich Dir jetzt weiter erzählen, Du treue Seele,“ sagte der Mönch. „Der Graf, mein Oheim, sprang auf mich zu.

,Hund!’ schrie er. Mit dem Worte hatte er mich gefaßt und zu Boden geworfen, sein eigenes Kind zur Seite geschleudert. Dann hatte er seine große Peitsche erhoben, um auf mich loszuhauen. ,Onkel,’ rief ich, ,entehren Sie mich nicht! Sie entehren Ihr eigenes Blut, sich selbst.’ ,Bube!’ rief er noch zorniger. Er schwang die Peitsche. Da warst Du da, Du treuer Conrad. Du fielst ihm in den Arm, Du ergriffst die Peitsche und entrangst sie ihm. Aber es half mir nicht. Er lachte, und ich vergesse nie das Lachen. Er rief mit lauter Stimme in den Hof hinein, die Bedienten, die Jäger, die Kutscher, die Reit- und Stallknechte. Sie kamen gehorsam herbei; sie waren die Diener. Er hatte mich festgehalten an der Erde, mit seinen Füßen. Wie einen Hund trat er mich. ,Gieb die Peitsche ab!’ befahl er Dir. Du wolltest es nicht. ,Bindet ihn,’ befahl er den Andern. Du wurdest überwältigt, die Peitsche wurde Dir abgenommen. Er gab sie einem Stallknechte. ,Der Hund bekomme die Hundepeitsche.’ Der Hund war ich. Und nun – Aber nein, auch ich will nicht weiter erzählen. Und doch eins noch. ,Gnädigster Herr,’ riefest, batest, flehetest Du, ,lassen Sie mich für den Grafen Adolph schlagen. Verschonen Sie ihn. Thuen Sie dem jungen Herrn die Schmach nicht an. Lassen Sie mich todtschlagen, wenn es nicht anders sein kann.’ Auch das half nicht.

Der Wille des schrecklichen Mannes mußte geschehen, mußte sich ganz erfüllen. Es war vielleicht gut so. Ich hatte ein stolzes, ein trotziges Herz und wäre vielleicht auch so geworden, wie der Oheim, vielleicht schlimmer als er, wenn der Herr im Himmel, ohne dessen Willen kein Haar von unserem Haupte fällt, nicht Jenes über mich verhängt und mich dadurch zur Erkenntniß meiner selbst und auf die Bahn der Demuth und der Ergebung in seinen Willen geleitet hätte. Und es bedurfte noch lange Zeit und noch [580] mancher schweren Prüfung, bis ich zu jener Erkenntniß, auf diese Bahn gelangte. Wie war ich noch trotzig und verstockt, als ich die entsetzliche Mißhandlung erlitten hatte, als darauf das Weitere geschah, der Oheim die Hunde aus dem Stalle herbeiholen ließ, und den Hundenjungen befahl, mich durch die Thiere vom Hofe hetzen zu lassen; wie die armen Burschen und die treuen Thiere nicht wollten; wie auch sie zuletzt seinem fürchterlichen Willen gehorchen mußten; wie er mir darauf nachrief, so werde es mir immer geschehen, wenn ich mich auf dem Hofe wieder sehen lasse! Ich ging weinend von dannen; aber es war ein Weinen der Wuth, des Trotzes, des Hasses, der Rache. War ich da besser, als er?“

„Sie waren beschimpft,“ unterbrach der alte Diener den Mönch. „Sie hatten das junge Blut, den adligen Sinn, das edle Herz.“

„Und Jesus Christus vergab seinen Feinden, die ihn kreuzigten,“ sagte der Mönch.

„Aber Jesus Christus war der Sohn Gottes.“

„Und vergab als Mensch, mit dem menschlichen, dem wahrhaft menschlichen, christlichen Herzen. In meinem Herzen aber wurde die Rache immer wilder. Ich hatte anfangs wohl gar nicht gewußt, was ich that, was ich wollte, wo ich nur war. Ich war bewußtlos in Wald und Finsterniß umhergerannt. Dann kam ein wildes Leben in mein Inneres. Ich mußte an dem Manne, der mich beschimpft, vernichtet hatte, Rache üben; ich konnte es nur, indem ich ihn ermordete. Das wollte ich, das mußte ich. Ich rannte zum Schlosse zurück. Es war Mitternacht, als ich ankam. Alles war dunkel; alle Thore waren verschlossen. Ich konnte nicht in das Schloß, ich konnte nicht einmal in den Hof gelangen. Ich hatte einen knabenhaften Racheplan gehabt. Wie hätte ich, auch wenn mir das Schloß offen stand, bis zu ihm dringen können, den ich ermorden wollte? Womit hätte ich ihm das Leben nehmen sollen? Ich hatte keine Waffe, nicht einmal ein Messer. Ich weinte von neuem, vor Wuth, daß ich mich nicht rächen konnte, daß in dem ganzen Schlosse Niemand war, der an mich dachte, der sich um mich kümmerte, daß kein Mensch es wagte, an mich zu denken. Carolinens Fenster war dunkel; ihre Gestalt war nicht zwischen den Vorhängen zu sehen. Ihr konnte ich es verzeihen, wenn die Furcht vor dem Vater die Zuneigung zu mir überwog. Auch ihrer Mutter verzieh ich am Ende. Aber auch die Fenster meines Vaters waren dunkel; ich hörte keinen Laut, keine Bewegung in seinem Zimmer. Schlafen konnte er wohl nicht, nach jener Beschimpfung, die seinem einzigen Kinde widerfahren war, bei der Ungewißheit, in der er über mich sein mußte. Aber auch er hatte nicht einmal den Muth, nach mir auszusehen. Das Herz zog sich mir in dem bittersten Schmerz und Zorne zusammen. Ich rannte wieder fort, und wollte nie irgend einen von allen diesen Menschen wiedersehen, auch meinen eigenen Vater nicht. Ich wollte keine Rache an ihnen nehmen; ich konnte es ja nicht. Aber ich wollte sie Alle hassen, verachten. Und das Gefühl kam über mich. Es war nicht minder knabenhaft, als das jener Rache. Aber mein trotziger, verstockter Sinn nährte, steigerte es. Mit ihm ging ich in die Welt, verließ ich meine Heimath, mein Vaterland und endlich das ganze Treiben der Welt selbst. Ich war hinten in Schlesien krank und elend geworden und konnte nicht weiter. Ich schleppte mich zu einem Kloster, das in der Nähe lag und mich aufnahm, und in dem ich auch ferner blieb, nachdem ich lange schon genesen war. Ich wollte nicht in die Welt zurück und wurde Mönch. Nicht aus Frömmigkeit, aus Demuth, aus Liebe zu Gott. Wie vielen Antheil hatte an meinem Schritte gerade noch immer jener Trotz, der Hochmuth, das Gefühl, daß ich der Beschimpfte, Entehrte sei, auf den die Hetzpeitsche ein unverlöschliches Brandmal gedrückt habe! Es mußten Jahre vergehen, ehe mein Sinn geläutert, mein Herz gereinigt wurde. Und da war ich glücklich. Meine Brust kannte keinen Haß mehr, sie kannte nur noch die Liebe.

Aus dem schlesischen Kloster war ich in ein polnisches versetzt worden. In dieses kam vor einiger Zeit ein Bruder aus einem der von den Franzosen aufgehobenen Klöster. Ich erfuhr von ihm, was seit fünfzig Jahren sich in der Heimath zugetragen hatte. Ich hatte nie etwas darüber gehört, hören wollen; es hätte mir nur die Ruhe, den Frieden meines Innern nehmen können. Von den Meinigen wußte er mir nichts mitzutheilen. Um so mehr erfaßte mich die Sehnsucht, noch einmal die alte Heimath wiederzusehen, mein müdes Haupt hier zum ewigen Frieden niederzulegen. Ich vermittelte meine Versetzung hierher und betrete heute zum ersten Male wieder das Schloß meiner Väter. Ich sah und vernahm seit fünfzig Jahren nichts von ihm und war dennoch mit dem Vertrauen gekommen, der Friede meines Innern werde nicht wieder gestört werden können. Und ich hoffe seine Kraft nicht überschätzt zu haben; wie viel Trauriges ich auch in den wenigen Stunden erfahren mußte, die ich hier bin, es hat mir nur die Heiterkeit meines Herzens trüben können. Du hast mir noch mehr mitzutheilen, treuer Conrad. Ich lese in Deinen Augen, daß es sehr Schweres ist. Es wird mir das Herz noch mehr mit Trauer umhüllen, aber den Frieden wird mir auch das Schrecklichste nicht rauben, was Du mir sagen könntest. Und nun sprich, was ist aus den Meinigen geworden, aus jenen Lieben, die ich hassen und verachten wollte und die ich doch im Grunde meines Herzens immer nur lieben und verehren konnte?“

(Fortsetzung folgt.)




Eine Gletscherfahrt im Berner Oberlande.[1]
Von Gottlieb Studer.

Schon einige Jahre sind es her, als an einem schönen Herbsttage ein für die Schönheiten der Gebirgsnatur begeisterter Wanderer auf einem Streifzuge aus dem alpen- und felsenreichen, von Fremden aber noch wenig aufgesuchten Kienthal des Berner Oberlandes über den wilden, theilweise mit ewigem Schnee bedeckten Grat, der dieses Thal von dem kleinen Oeschinenthälchen scheidet, nach dem allbekannten Kandersteg am Gemmipasse hinüberstieg.

Er traf zu guter Zeit daselbst ein. Die Nachmittagsonne sendete noch ihren vollen Glanz in dieses freundliche, fast rings von hohen Bergwänden umschlossene Thalbecken, das unmittelbar am nördlichen Fuß der Gemmi und an dem vielbereis’ten Saumwege liegt, der über diesen Berg nach dem Leuker Bade führt. Gern benutzte er die ihm vergönnte Muße, um sich in aller Behaglichkeit der Betrachtung des vor ihm ausgebreiteten Naturgemäldes hinzugeben.

[581]

Die Niederfahrt vom Firndache der Altelsspitze.

[582] Das Thalbecken von Kandersteg mit seinen Bergen bietet eine Scenerie, in der sich das Liebliche mit dem Ernsten paart und harmonisch zu einem großartigen Bilde vereinigt. Der im Ganzen etwas monotone Charakter dieses Bildes wird durch einzelne hervorragende Glanzpunkte gehoben. Ein stiller Frieden, ein eigenthümlicher Zauber waltet über dem Gelände – über den saftigen Wiesen, die, von der rauschenden Kander durchflossen, die kleine Thalebene schmücken, – über den heimeligen, aus Holz gebauten, mit offenen Lauben gezierten Wohnhäusern, die über die grüne Ebene zerstreut sind, – über den dunkeln Tannengehölzen, die dem Rande des Beckens entlang die Wiesen umsäumen. Der Fuß der Bergwände, die das Becken umschließen, ist bis weit hinauf mit einem Mantel von Nadelholz bekleidet. Auf den mehr zurückgeschobenen, höheren Terrassen dehnen sich die kräuterreichen Alpweiden aus, und nackte Felshörner, zum Theil gebrochen und mit ihren Trümmern die Berghalden bedeckend, ragen als höchste Zinnen empor. Aber da, wo die Bergwand durch kleine, kaum zu gewahrende Thalverzweigungen eingeschnitten ist, da tauchen im Hintergrund aus der dunkeln Tiefe blendendweiße Eisgipfel hervor und durchschneiden in scharfen Kanten das herrliche Blau des Himmels, dem Gemälde seinen unvergleichlichen Reiz verleihend. So treten im Osten, wo das Oeschinenthal im tiefen Schooß des Gebirges ruht und die Fluth seines grünen Alpensees leise an die Felsenufer schlägt, die leuchtenden Firnspitzen der Blümlisalp – nach der Jungfrau das schönste Berggebild des Berner Oberlandes – vor das Auge des Schauenden. So prangen im Süden, wo das wilde Gasternthal in schauerlicher Felsenkluft ausmündet, das silberweiße Balmhorn und die weithinschimmernde Altelsspitze. Jenes bildet den südöstlichen, diese den nordwestlichen Endpunkt einer hohen, ausgeschärften Eisfirst, welche die beiden Gipfel mit einander verbindet. Das Balmhorn erhebt sich 11,352 Pariser Fuß über dem Meere, die Altelsspitze 11,181; aber wenn das erstere den Vorzug größerer Erhebung hat, so zeichnet sich der Altels durch seine zierlichere Form aus. Man denke sich eine in der Gestalt eines riesenhaften Dreieckes schief von der breiten Basis zur luftigen Spitze emporstrebende Bergwand, die auf mächtigem Felsenpostamente ruht und in ihrer ganzen Fläche mit einem blendendweißen ewigen Firn mehrere Fuß dick belegt ist. So stellt sich der Altelsgipfel mit seinem nördlichen Absturze dar. Die Seitenwände dieses Berges senken sich vereint mit den Abstürzen des Balmhorns nordöstlich, mit Eis bekleidet und in schreckbarer Steilheit, etwa 2000 Fuß tief nach den vorspringenden Gesimsen herunter, die den oberen Rand jener ungeheuern Felswände bilden, von denen das Gasternthal in seinem äußeren Theil wie von einer fast senkrechten Mauer von 5000 Fuß Höhe umschlossen ist; südwestwärts aber stürzen sie, am Altels selbst fast von Schnee und Eis entblößt, ebenso steil etwa 5060 Fuß tief stufenlos nach dem einsamen engumschlossenen Becken des Sage-Gletschers herunter, der vom Balmhorn niedersteigt.

Die ganze Scenerie stand im Festschmucke der schönsten Beleuchtung; aber nach jener im Goldglanz der Sonne flimmernden Altelsspitze war vor allem die Aufmerksamkeit des Wanderers gerichtet. Unverwandt haftete sein Blick an den edeln Formen dieser Erscheinung, an dem glänzendreinen Schneegewande, das sie bekleidete; – er träumte sich hinauf, auf die im Blau des Aethers thronende Spitze; er dachte sich den Genuß, der dem glücklichen Besteiger dort oben bereitet sei; er maß in Gedanken die Entfernungen, die Steilheit des Firndaches, die Gefahren der Erklimmung – er glaubte herauszufinden, daß diese für den entschlossenen Mann mit keinen eminenten Gefahren verbunden sein könne, und es überwältigte ihn die Lust, da hinauf zu gehen!

Noch hatte sich die Vorliebe für verwegene Gletscherfahrten und Hörnerbesteigungen der Gemüther nicht so bemächtigt, wie es heutzutage der Fall ist. Um die mit ewigem Schnee bedeckten Häupter der Alpen schwebte noch ein gewisser Nimbus ihrer Unbesteigbarkeit – oder wenn auch diese für einzelne Gipfel außer Zweifel lag, so galt es doch im Allgemeinen für ein gewagtes, ja vermessenes Unternehmen, sich in jene unwirthlichen Regionen zu versteigen. Und was die Führer zu solchen Gebirgstouren anbelangt, so waren die kundigen Männer noch schwer zu finden.

Der Altelsgipfel gehörte nun allerdings nicht mehr zu jenen Alpenspitzen, welche der Nimbus ihrer Unbesteigbarkeit umgab. Es hatten schon zwei Besteigungen desselben stattgefunden. Die eine war zum Zwecke der Erstellung eines Signals für die schweizerische Triangulation von einigen Männern der Gegend, den besten und verwegensten Gemsjägern und Berggängern, ausgeführt worden. Ein Jahr später hatten sich zwei Fremde in Begleitung mehrerer Führer hinaufgewagt. Beide Besteigungen scheinen mit nicht geringen Beschwerden und Gefahren verbunden gewesen zu sein. Die Schilderungen, die man unserem Wanderer darüber machte, waren haarsträubend. Es wurde ihm erzählt, wie man glatte Felswände erklimmen mußte, wo die Männer genöthigt waren, sich ihrer Schuhe zu entledigen, um sich mit mehr Sicherheit an den kaum vorragenden Stellen der Felswand anklammern zu können. Von den drei Fremden, die später die Besteigung unternahmen, mußte der eine auf halbem Wege zurückgelassen werden. Die beiden anderen kamen zwar an’s Ziel, im Heruntersteigen aber gelangten sie zu einer Stelle, wo sie etwa fünfzig Fuß tief an einem Felsen mittelst eines Seiles heruntergelassen werden mußten! –

Die nächste Aufgabe unsers Berglustigen war, sich nach geeigneten Männern umzusehen, unter deren sicherer Leitung er das Wagniß wohl zu bestehen hoffte. Aber wo diese finden? Jene Männer, die den Altels bestiegen hatten, waren fast ausschließlich Landleute aus Frutigen gewesen, einem Dorfe 21/2 Stunden von Kandersteg entfernt. Sieh! da kommt ihm ein günstiger Zufall zu Hülfe. Im Gasthause war gerade ein angesehener Beamter des Landes anwesend, der als renommirter Gemsenjäger bekannt und welcher der Gegend von Kandersteg kundig war. Dieser bot dem altelslustigen Fremdling auf die zuvorkommendste Weise an, ihn zu einem Manne zu führen, der unter den Besteigern jenes Berges gewesen und ohne Zweifel bereit sein werde, ihn dahin zu begleiten.

Sie gingen zusammen eine Viertelstunde weit thaleinwärts und trafen den Mann in der Nähe seines Wohnhauses auf der abgemähten Wiese an, wo er von der brennenden Sonne geröthet und schweißtriefend sich emsig mit dem Einsammeln des duftenden Heues beschäftigte. Eine mächtige Bürde klingeldürren Futters lag vor ihm aufgehäuft, und er wollte sich eben anschicken, sich dieselbe durch einen künstlichen Ruck mit gewandter Kraft auf den Nacken zu schwingen, um sie nach Hause zu tragen, als er durch den unerwarteten Besuch überrascht wurde.

„Hörst Du, Gilgian,“ sagte nach gewechseltem Gruß der Begleiter des Reisenden zu ihm, „dieser Herr möchte an den Oberen Ort, willst Du ihn begleiten?“

„Mir ist es schon recht,“ antwortete Gilgian kurz und trocken. Seine Gedanken waren mehr auf die schöne Heubürde und auf die strenge Arbeit, die ihm noch bevorstand, als auf den Gegenstand der Frage gerichtet, und er schien anzunehmen, es handle sich etwa um eine kleine Jagdtour nach dem benachbarten Felshorn oder nach dem gemsenreichen Lohner im Ueschinenthal.

Da begann der eifrige Beamte seinem alten Bekannten die Sache zu erläutern, und indem er nach dem silberglänzenden Altelsgipfel hinwies, wiederholte er mit Nachdruck:

„Da hinauf will der Herr! Willst Du mit ihm gehen?“

Nun erst belebte sich Gilgian’s Wesen. Er schaute auf, betrachtete sich den Fremden genauer, maß ihn mit scharfem Blick vom Kopf bis zu den Füßen, gleich wie wenn er aus seiner äußeren Gestalt herausbuchstabiren wollte, ob dieser Herr denn auch im Stande sein werde, eine so rauhe Kletterpartie mitzumachen. Die Prüfung schien ihn zu befriedigen. Die feste Natur, das von der Sonne und der Bergluft stark gebräunte Gesicht des Reisenden, der ungefähr vierzig Jahre alt sein mochte, der Muth und die Begeisterung, die aus dessen Augen strahlten, das Alles waren Erscheinungen, die zu seinem Vortheil gereichten; denn nach einer kurzen Pause erwiderte Gilgian: „Nun, wir wollen’s versuchen! Aber zwei Bedingungen muß ich stellen. Einmal, daß ich mein Tagewerk vollenden könne, und ferner, daß noch ein zweiter Führer mitgenommen werde. – Für Axt und Seil werde ich sorgen.“

„Recht so, Gilgian, das ist brav! Eure Bedingungen sind Euch zugestanden, und den zweiten Führer mögt Ihr Euch selbst auswählen.“

Das war die Antwort des Fremden. Die Sache war zur Zufriedenheit abgemacht, und man schied auf baldiges Wiedersehen mit einem kräftigen Händedruck von einander. Dem freundlichen [583] Beamten aber, der es lebhaft bedauerte, durch Amtsgeschäfte am Mitgehen behindert zu sein, wurde für seine Zuvorkommenheit ein warmer Dank ausgesprochen. –

Es lag im Plane, zu Gewinnung eines Vorsprunges von anderthalb Stunden heute noch bis nach dem Schwarenbach, jener einsamen Herberge am Gemmiwege, vorzurücken. Als der Abend und mit ihm eine erfrischende Kühle angebrochen war, setzte man sich fröhlich in Marsch. Gilgian war ein Mann zwischen vierzig und fünfzig Jahren, groß gewachsen, von kräftigem Körperbau und ruhigem Temperament. Er hatte sich zu seinem Begleiter einen jungen Burschen, Namens Jakob – seines Gewerbes ein Zimmermann – auserkoren, der als unerschrockener Berggänger galt.

Die drei Männer schritten bis an das Ende der kleinen Thalebene. Da wo diese durch die steilen Waldhänge abgeschlossen wird, die den Fuß des Gellihorns bilden, öffnet sich zur Rechten in enger Mündung das Alpenthal von Ueschinen; zur Linken aber läßt man die im Felsen- und Tannen-Dickicht versteckte Kluft, aus welcher der junge Gletscherstrom der Kander hervordonnert. Hier beginnt für den Gemmi-Wanderer eine anhaltende Steigung von etwa anderthalb Stunden. In mancherlei Zickzack zieht sich der Weg zuerst durch mächtigen Hochwald, dann über Weidboden und wieder durch Gehölze empor. Tritt man aus dem oberen Gehölze heraus, so geht es durch ein kleines Thälchen fast eben fort. Felsblöcke und Steingerölle verleihen der Gegend einen wilderen Charakter. Aber bald gelangt man auf die Triften der Alp Winteregg, die sich gegen die begraste, zum Theil auch moorige Ebene eines kleinen Thalbeckens niedersenken, in dessen Schooß die Hütten der Walliser Alp Spitalmatte liegen. Dieses Becken wird westwärts durch eine in scharfen Zinnen aufstrebende Mauer von kahlen Felsen begrenzt; ostwärts aber bildet ein steiles, mit dichtem Tannenwald gekröntes Gehänge dessen nächste Einwandung, und über diesem Waldgehänge steigt in seiner ganzen Pracht, die Kanten bis hoch hinauf mit nacktem Felsen bekleidet, das Firndach des Altels empor, während am südlichen Ende ein wildes, nacktes Felshorn das Becken abzuschließen scheint, welches jedoch nur die vorspringende Stufe eines hinter ihm liegenden Schneegipfels ist, der das Große Rinderhorn genannt wird.

Schweigsam stieg die kleine Gesellschaft durch die Hochwälder und Weiden empor, über welche sich allmählich nächtliches Dunkel lagerte. Als sie die Triften der Winteregg betrat und sich ihr plötzlich die nahe Riesengestalt des Altels vor Augen stellte, die wie eine Geistererscheinung aus dem im Schatten der Nacht ruhenden Alpenthälchen hervortauchte und deren herrliches Firngewand vom Schimmer des Mondlichts beleuchtet war, – da durchströmten Gefühle eigener Art – bange Erwartung und freudige Hoffnung – die Brust unseres Reisenden.

Und als die Gesellschaft Angesichts dieses wunderschönen Nachtgemäldes durch das ebene Thälchen der Spitalmatte wanderte, da schien es auch dem sonst zungenfertigen Jakob wieder behaglich zu werden. Er räusperte sich und fing an, seine Reisegefährten mit der Erzählung von Gebirgsagen und Geschichten, wie die Tradition sie in seiner Gegend von Vater auf Sohn fortgepflanzt haben mochte, zu unterhalten.

„Ihr wißt,“ so begann er, „wie viele Unglücksfälle sich schon drüben im Westen auf dem Rawyl, jenem berüchtigten Passe, der von der Lenk im Berner Simmenthale nach Sitten im Wallis hinab führt, zugetragen haben. Dort, in jenen hohen und rauhen Bergen hat sich auch begeben, was ich jetzt erzählen will. Zwei Männer, alle beide ‚grausame‘ Jäger, der eine ein Walliser, Namens Berno, der andere aus dem bernischen Dorfe Lenk, nährten einen tiefgewurzelten Haß gegen einander. Dieser Haß entsprang aus Eifersucht, weil jeder von ihnen der bessere Schütze zu sein sich rühmte. Jeder wollte die größere Zahl von Gemsen erlegt haben. Die Eifersucht und der Hochmuth des Wallisers hatten einen solchen Grad erreicht, daß er die Drohung verlauten ließ, wenn er dem Lenker einmal auf Walliser Boden begegne, so solle es dem Burschen an sein Leben gehen. Einst war der Lenker auf die Gemsjagd gegangen. Die unwirthbaren Höhen des Rawyl waren sein Jagdrevier. Die Fährte eines Gemsthiers lockte ihn in die Gegend, welche man ,beim Gletscherli’ nennt, und in seinem Eifer kam er auf Wallisgebiet, das dort an das Bernische grenzt. Indem er scharf nach der Gemse umherspähte, gewahrte er plötzlich in der Ferne einen ebenfalls auf Gewild lauernden Jäger, der im nämlichen Augenblicke auch seiner ansichtig ward. Rasch langte jeder nach seinem Fernrohr, und es bedurfte eines flüchtigen Blickes, so erkannten sie sich. Es war Berno – außer dem Lenker das einzige menschliche Wesen in der schauerlichen Einöde! Eingedenk seiner Worte, schlug Berno kaltblütig seine Büchse gegen seinen Gegner an und schrit in dieser Stellung näher. Ungewiss, ob Berno wirklich die Absicht habe, einen Mord zu vollführen, machte sich der Lenker gleichfalls schußfertig, aber bedenkend, daß er sich durch eine voreilige Thal zum Verbrecher stempeln könnte oder bei einem Fehlschuß der sicheren Rache seines Gegners verfallen wäre, sann er auf eine List und führte sie glücklich aus. Er barg sich hinter einem Stein, und als Berno sich näherte, so richtete er vermittelst seines Stockes langsam seinen Hut in die Höhe. Und so wie der Hut über den Rand des Steines hervorragt, paff! da fällt ein Schuß, und von Berno’s Kugel mitten durchbohrt ist der Hut des Lenkers! Dieser aber springt hervor und steht drohend mit angeschlagenem Gewehr vor seinem Gegner, bevor derselbe Zeit hat, seine Waffe auf’s Neue zu laden. Berno ist vernichtet; er bekennt reuevoll seine Schuld und bittet kniefällig um Gnade und Freundschaft. Beides wird ihm von dem wackeren Lenker gewährt, und von dieser Zeit an waren sie unzertrennliche Freunde und Jagdgenossen.“

So gelangten die drei Wanderer fast unvermerkt an das Ende der kleinen Thalebene. Dicht vor ihnen waren hier die schwarzen Wände des Kleinen Rinderhorns himmelhoch emporgerichtet. Der Weg zog sich zur Seite desselben aufwärts und durchschnitt ein Meer von wild durcheinandergehäuften Trümmern einstiger Bergstürze, die diese Gegend verwüstet haben und ihr noch jetzt das Bild der schauerlichsten Zerstörung aufprägen. Eine Todtenstille lagerte über diesen unheimlichen Gefilden, und die Gesellschaft schätzte sich glücklich, als sie endlich in der dunkeln Masse, die etwas vereinzelt vor ihr auftauchte, die willkommene Herberge im Schwarenbach erkannte und daselbst zuvorkommende Aufnahme fand – dasselbe friedliche Haus, das einst Zacharias Werner, tollen Andenkens, zum Schauplatze seines wilden Schauerspiels „der 24. Februar“ gewählt hat.

Nachdem die unerwarteten Gäste von dem sorglichen Wirth auf’s Beste bedient und eingehaus’t waren, wurde es in der einsamen Herberge wiederum still. Jeder hatte sein Schlafgemach bezogen, und so wie der Schlummer seine besänftigende Ruhe über die etwas aufgeregten Gemüther ergoß, so hatte sich draußen die Natur in das Schweigen einer wunderschönen Nacht versenkt, die mit ihrem Dunkel auch ihre Schrecken bedeckte, da wo nicht das Mondlicht seine silbernen Strahlen zwischen den schwarzen Berggestalten hindurchschimmern ließ. Ueber den Gefilden der Zerstörung wandelten die Sterne ihre ewig gleiche Bahn, und einen magischen Effect bewirkten die taghell beleuchteten schneeweißen Felsenzinnen und die flimmernden Firne, die aus dem Chaos der Tiefe in erhabenem Ernst hervortauchten und das Sternengewölbe zu tragen schienen. Jene wandelnden, hellfunkelnden Gestirne aber erschienen gleichsam wie die Augen Gottes, der über seine schlafenden Erdenkinder und über seine ruhende Schöpfung wacht. –




Noch war die Nacht nicht vorbei. Noch funkelten die Sterne am Himmel, nur der Mond war hinter den Bergen herabgeflogen, und ein frischer Morgenhauch machte sich fühlbar, als unsere drei Männer geräuschlos aus dem Berghause im Schwarenbach traten und ihre Schritte gegen den nahen Eiscoloß des Altels hin richteten. Ihre äußere Ausrüstung, die eisenbeschlagenen, oben mit eiserner Hacke versehenen Bergstöcke, der Sack mit Lebensmitteln, die kleine Axt, das aufgewundene Seil auf dem Rücken des einen, das volle Weinfäßchen und die Zeichnungsmappe, womit der andere der beiden Vorauswandernden beladen war, das Alles verrieth hinlänglich, daß es auf einen außergewöhnlichen Gang in’s Gebirge abgesehen war. Innerlich jubelnd, äußerlich das ernste Schweigen theilend, das seine Vorgänger beobachteten, schritt der städtisch gekleidete der Reisenden denselben so rasch, wie es die Dunkelheit des Weges erlaubte, nach.

Eine halbe Stunde lang mußten die Wanderer auf dem schon gemachten Wege zurückgehen und nach der Thalebene der Spitalmatten hinuntersteigen, um sich dem Fuß des in Angriff zu nehmenden Berges zu nähern. Mittlerweile waren die Sterne erbleicht und das Grauen des Tages umschwebte die fahlen, farblosen Gestalten des Gebirges.

[584] Man wendete sich jetzt, als der Thalboden erreicht war, von dem gebahnten Wege rechts ab und gelangte, von nun an jede Spur eines betretenen Pfades missend, den untersten steinigen Hängen des Kleinen Rinderhorns entlang kriechend, nach jener engen Kluft, aus welcher das Gletscherwasser des Loch- oder Sagebaches heftig fluthend in tiefeingefressenem Bette aus dem verborgenen Thalbecken hervorströmt, das von den Eismassen des Sage-Gletschers ausgefüllt ist.

Sowie diesseits der Schlucht die schroffen Felshänge des Rinderhorns sich erhoben, stiegen jenseits derselben die steilen Wände des Altels empor, und die Wanderer hatten nur den wilden Bach zu überspringen, so war der Fuß des Berges erreicht. Dieses Bewußtsein spornte den Eifer, und als man den Bach glücklich hinter sich hatte, indem man, von Stein zu Stein zielend, ihn in Wirklichkeit übersprang, begann man munter und muthig die Erklimmung des Berges.

Begraste Halden, die als Schafweide benutzt werden, bildeten die untersten Hänge. Wenn auch das thaugetränkte Gras schlüpfrig war, so trat der genagelte Schuh sicher auf, und in der Steilheit des Gehänges erblickte der schwindelfreie Kopf keine Gefahr. Doch zusehends wurden die begrasten Stellen seltener. Rauhe, verwitterte Platten von nacktem Fels und lockeres Trümmergestein, das den Absturz bedeckte, nahmen stets überwiegender die Stelle des Rasenteppichs ein, und in dieser abschreckenden Nacktheit zogen sich die steilen Abstürze Über den Häuptern der Wanderer, allmählich zu einer schmalen Gebirgskante verlaufend, in weiter Strecke aufwärts. Man war inzwischen in seinem Eifer bald so hoch geklettert, daß sich der Abgrund zur Rechten immer tiefer, immer schreckbarer öffnete, während zur Linken der Blick auf schimmernde Schneemassen fiel, die als unterste Ausläufer des riesigen Firndaches die schattigen Verklüftungen des Berges bedeckten.

Aber der Tag brach glanzvoll heran. Ein wolkenloser Horizont that sich auf. Alpengipfel, Felshörner, Firnkuppen erglühten in der Sonne goldenem Strahl, die sich das nun erwachende Erdreich unterthänig machte. Immer neue Gestalten tauchten auf in dem weiten Rund. Das Auge blickte staunend und bewundernd umher. Das Gemüth ward ergriffen von der Erhabenheit der Scenerie. Es empfand schon jetzt in vollem Maße die Wonne des Genusses – jenes Hochgenusses, den die zauberhafte Gletscherwelt und die Erklimmung hoher Alpengipfel demjenigen bietet, dessen Sinn empfänglich ist für die hehren Eindrücke, die er auf solchen Wanderungen sammelt. Sind es doch jedesmal Genüsse, die zu den reinsten irdischen und zu den unvergänglichsten gehören. Nicht nur erhebt sich der Mensch dort im Tempel der Alpenwelt, entfesselt von dem Druck und der Einförmigkeit des alltäglichen prosaischen Lebens, entbunden von jedem Zwang spießbürgerlicher Formen, gleich dem stolzen Aar, im Gefühl vollster individueller Freiheit, aus den Dünsten der Tiefe hinauf zu den klaren Gebirgshöhen, wo er himmlische Luft zu athmen vermeint und eine neue, glanzvolle Welt um sich prangen sieht, die trotz ihren Trümmerwüsten, trotz ihrer Nacktheit, trotz ihrem starren Winterkleide durch ihre Majestät, durch ihre gewaltigen Formen, durch ihren riesigen Maßstab einen unbeschreiblichen Zauber auf ihn ausübt; nicht nur vergißt sein Geist hier alle die kleinlichen Plagen und Bekümmernisse des Lebens und fühlt sich in eine höhere Stimmung versetzt, indem er sich Angesichts einer großartigen Natur gleichsam dem Schöpfer näher wähnt; – sondern auch der physische Mensch trägt seinen Gewinn davon. Er übt seine Kraft und stärkt seine Gesundheit durch die ungewöhnten Anstrengungen des Marsches. Sein Auge gewöhnt sich an den Anblick der schauerlichen Abgründe, sein Kopf wird fest und sicher, und weit davon entfernt, daß die Ermüdung ihn zum Genusse unfähig machte, fühlt er sie schwinden, wie er die Höhe erreicht, und empfindet den Genuß doppelt, wenn er sich denselben mit Gefahr und Anstrengung erkauft hat!

Als die kleine Gesellschaft das höchste Gestein jener Felsenkante erreicht hatte, da wo dasselbe unter die Decken des ewigen Firnes sich verläuft, wurden die letzten trockenen Steinplatten benutzt, um auf denselben, gelagert und angehaucht von den wärmenden Strahlen der Morgensonne, in kurzer Rast mit dem Inhalt des Proviantsackes sich zu stärken und mit neuen Kräften sich auszurüsten. Denn während drei Stunden war man unausgesetzt marschirt und hatte erst die Hälfte des Weges zurückgelegt.

(Schluß folgt.)




Märkische Geschichtsbilder
Nr. 1. Der Kampf Friedrichs des Eisernen mit dem Stadtadel.


Auf der langen Brücke, welche die Schwesterstädte Berlin und Köln verbindet, wogten am 24. Februar des Jahres 1442 die Volksmassen unruhig auf und nieder, sie drängten sich nach dem gemeinsamen Rathhaus beider Städte. Das aber stand inmitten der langen Brücke; jetzt ist von demselben freilich keine Spur mehr vorhanden.

Die lange Brücke verdiente in jener Zeit ihren Namen mit Recht, denn lang genug war sie; von Köln aus führte sie über die Spree und eine morastige Insel, welche an der Stelle lag, wo heute die Brücke an der Burgstraße endet, dann ging sie noch über einen Spreearm, der längst verschwunden ist und der durch die heutige Heilige Geiststraße floß. Das gemeinschaftliche Rathhaus der beiden Schwesterstädte stand auf der Brücke auf jener morastigen Insel, welche wir schon erwähnten. Der tiefe Sumpf hatte den Aufbau eines großen Steinhauses nicht erlaubt, und so war denn nur der Untergeschoß von Backsteinen aufgerichtet, die Obergeschosse aber strebten in luftigem Holzbau kühn und stolz in die Höhe. Die Eckthürme erhoben sich so prächtig und zierlich, daß es eine Freude war sie zu schauen; die reichen Patrizier hatten einen Stolz darein gesetzt, ihr Rathhaus herrlich auszuschmücken. So waren denn die Balkenköpfe gar kunstreich verziert mit Schnitzereien und bunten Farben, und der viel ausgezackte Giebel, der unparteiisch weder nach Berlin noch nach Köln, sondern nach der Spree hinausschaute, prangte in den schönsten Malereien.

Vom Giebel und von den Thürmen herab flatterten die prächtigen Fahnen lustig im Winde; da sah man die Zeichen aller der befreundeten Städte, welche zum märkischen Städtebund gehörten, da prangte die herrliche Fahne des mächtigen Hansabundes; aber das kurfürstliche Banner der Hohenzollern war unter der Menge der übrigen kaum zu bemerken, die stolzen Herren von den Geschlechtern in Berlin und Köln hatten es ziemlich versteckt aufgehängt, sie wollten nicht gern durch die hohenzollerischen Farben an den Landesherrn erinnert werden.

Vor dreißig Jahren hatten wohl die Rathmannen der Schwesterstädte dem ersten Hohenzoller zugejauchzt, denn er kam ihnen als ein wahrer Retter aus der Noth, der sie befreite von ihrem mächtigsten Feinde, dem wilden Dietrich von Quitzow; damals hatten sie die Bürgerschaft aufgeboten, und das Volk war freudig dem Rufe gefolgt, es hatte mit gekämpft in der unglücklichen Schlacht am Kremmer Damm, und gar mancher Bürgerssohn hatte dort in den Sümpfen sein Leben gelassen. Auch vor Friesenk und Plaue waren die Fähnlein der Bürger erschienen, und gerade ihrer bereitwilligen Hülfe verdankte Friedrich zum großen Theil seinen Sieg über die Quitzows und ihren Anhang.

Seit jenen Tagen hatten sich indeß die Zeiten mächtig geändert. Das Volk der Städte, die Gewerke und die Gemeinen, hing wohl noch immer mit treuer Liebe an dem Landesfürsten. Es hatte demselben nicht vergessen, daß er durch die Demüthigung des übermüthigen Landadels Handel und Gewerbe befreit, Recht und Gesetz wieder hergestellt hatte in den Marken, anders aber dachten die Herren von den Geschlechtern, der Stadtadel, der in Berlin und Köln allein das Regiment führte.

Die Bürger waren längst nicht mehr die Herren in der Stadt, ein eigennütziger und übermüthiger Adel hatte die Herrschaft an sich gerissen. In den Zeiten des wilden Faustrechts waren gar manche der minder mächtigen Edelleute in die Städte gezogen und hatten ihre Wappen am Stadtthor angeschlagen. Hinter den festen Mauern und den tiefen Gräben, welche Berlin und Köln umgürteten, [585] suchten und fanden sie gegen den übermächtigen höhern Adel einen Schutz, den ihnen ihre kleinen Burgen nicht gewährten. Die adligen Herren waren Stadtbürger geworden, aber sie hatten ihren Ahnenstolz, ihre Herrsucht und ihren Eigennutz nicht draußen vor den Thoren gelassen, sondern mit in die Stadt gebracht, und nachdem sie kaum in das städtische Gemeinwesen aufgenommen worden waren, suchten sie schon sich der Herrschaft über dasselbe zu bemeistern. Die Buchs, Blankenfeldes, Gröbens, Rulhnicks und alle die anderen Edelleute verbanden sich mit den reichsten Handelsherren gegen die gemeinen Bürger und die Zunftgenossen, und so entstand denn ein Stadtadel, der nicht weniger stolz, übermüthig und herrschsüchtig war, als der Landadel draußen.

Die Geschlechter der Städte Berlin und Köln hatten es in jahrelangen Kämpfen dahin gebracht, daß der eigentliche Bürgerstand von ihnen aus dem städtischen Regiment gänzlich verdrängt worden war. Die vier Gewerke, die Tuchmacher, Schuster, Bäcker und Knochenhauer, hatten wenig oder nichts mehr zu sagen, und die gemeinen Bürger, welche keiner Zunft angehörten, durften es vollends nicht wagen, eine Stimme im städtischen Regiment zu fordern. Der große Rath der beiden Städte herrschte unumschränkt; er war in allen seinen Mitgliedern aus den Geschlechtern gewählt, und auch die Bürgermeister gehörten denselben an.

Der Stadtadel stand dem Landesfürsten nicht weniger feindselig gegenüber, als der Landadel; die Geschlechter wachten eifersüchtig über ihre Vorrechte, und selbst in jener schweren Zeit, als der Kampf des Burggrafen Friedrich gegen die Quitzows noch nicht entschieden war, hatten die Geschlechter dem Landesherrn das Recht, mit seinen bewaffneten Mannen nach Berlin einzuziehen, verweigert. Gar manche der edlen Herren vom Stadtadel wären gar nicht unzufrieden gewesen, wenn Burggraf Friedrich in dem Kampfe besiegt worden wäre, denn sie waren durch Banden des Bluts eng mit den Freunden der Quitzows verbunden.

Friedrich hatte damals den Forderungen des Stadtadels nachgeben müssen; er konnte nicht den Kampf mit diesem und den Quitzows zu gleicher Zeit aufnehmen, und auch in den spätern Zeiten seiner Regierung wollte er sein Recht, in die Städte Berlin und Köln mit bewaffnetem Gefolge einzuziehen, nicht durch Waffengewalt erkämpfen, er hoffte mehr von friedlichen Unterhandlungen, als vom Kriege. Seine wichtigen Geschäfte draußen im Reich, die Sorge um den Hussitenkrieg ließen ihn endlich ganz des Zwiespalts vergessen, in den er mit dem Rathe der Städte Berlin und Köln gekommen war.

Die Geschlechter der Schwesterstädte hatten durch die Nachgiebigkeit des ersten Kurfürsten aus dem Hohenzollernhause einen Sieg gewonnen, der sie zu noch stolzerem Uebermuthe anfeuerte. Der Furcht vor dem Landesherrn waren sie ledig, auch der Landadel bedrängte sie nicht mehr so schwer, wie in früheren Jahren, um so drückender wurde das Joch der Herrschaft, welches sie den Bürgern auferlegten, und um so schärfer trat nun auch der geheime Zwiespalt endlich an’s offene Tageslicht, der schön längst zwischen den Geschlechtern von Berlin und Köln geherrscht hatte.

Die beiden Städte waren wohl Schwestern, aber auch unter Geschwistern giebt’s oft Streit und Zank. Die Kölner konnten es den Berlinern nicht verzeihen, daß diese nach dem Statut des Markgrafen Albrecht vom Jahre 1307 zwei Drittel der Rathmänner zu wählen hatten, während für Köln nur ein Drittel blieb, und die Berliner wieder schauten eifersüchtig auf den wachsenden Handelsreichthum der Kölner hin. Im gemeinsamen Rath gab’s deshalb oft schwere Streitigkeiten, die adligen Herren zankten sich und schimpften auf einander, und oft genug glichen die Sitzungen im Rathhaus auf der langen Brücke den polnischen Reichstagen. Die Geschäfte wurden bei diesen kleinlichen Zänkereien vernachlässigt, häufig blieben die wichtigsten Angelegenheiten Monate, ja Jahre lang liegen, weil die Herren im Rath nicht einig werden konnten. Was kümmerte jene stolzen und übermüthigen Adeligen das Wohl und Wehe der gemeinen Bürger; ihr Vortheil allein und ihre Herrschaft lag ihnen am Herzen, deshalb fanden sie auch die verlorene Einigkeit stets schnell genug wieder, wenn einmal die Gewerke es wagten, ihren Antheil am städtischen Regiment zu fordern. Wo es die Unterdrückung der Bürger galt, da waren die Geschlechter stets einig, da reichten die Berliner den Kölnern die Bruderhand, wenn sie auch kurz vorher sich noch so wild und wüthend gezankt und im Rath bekämpft hatten.

Dem Kurfürsten Friedrich I. war im Jahre 1440 sein Sohn Friedrich II. in der Regierung gefolgt, ein junger kraft- und muthvoller Mann, der sich die Lebensaufgabe gestellt hatte, das von seinem Vater so schön begonnene Werk zu Ende zu führen, die Herrschaft des Rechtes und der Gesetze in den Marken aufzurichten. Friedrich II. hatte eine stürmische Jugend verlebt, in den wilden Hussitenkriegen war ihm Gelegenheit geboten worden, sich als Fürst und Feldherr zu bewähren, und er hatte gezeigt, daß er vor keiner Gefahr zurückbebe, daß er kraftvoll und energisch die Zügel des Regiments zu führen wisse; deshalb nannte ihn das Volk Friedrich den Eisernen oder auch wohl Friedrich mit den eisernen Zähnen.

Die Bürger von Berlin und Köln schauten mit Hoffnung und Liebe auf den jungen Kurfürsten; von ihm erwarteten sie eine Abstellung der alten Mißbräuche im städtischen Regiment, von ihm ein kraftvolles Eingreifen in die unheilvolle Adelswirthschaft, die seit dem Jahre 1432 kaum zum Ertragen drückend geworden war; denn seit jenem Jahre wählte der Rath jährlich die Rathmänner und Bürgermeister für das folgende Jahr, und diese wichtigen Aemter waren dadurch das ausschließliche Eigenthum einzelner Adelsfamilien geworden, welche mit frechstem Uebermuth ihre bevorrechtigte Stellung mißbrauchten.

Die Bürger thaten sich zusammen, so lebendig war’s seit Jahren nicht in Berlin und Köln gewesen, wie gerade damals. Selten verging ein Tag, an dem nicht eine oder die andere Zunft sich versammelt hätte, um Berathungen zu pflegen. Immer lauter forderten die Gildenmeister und die Aelterleute, die an der Spitze der Zünfte standen, im Namen der Bürger das alte Recht derselben zurück, Theil zu nehmen an den Rathswahlen und von den Ihrigen Einige in den Rath zu küren, – aber ihre Worte fanden taube Ohren, die Herren von den Geschlechtern ließen draußen vom Lande her von ihren Gütern die bewaffneten Knechte kommen, besetzten mit ihnen Wälle und Thore und drohten den Bürgern höhnisch gegen jedes Gesetz und gegen die Ordnung der Stadt mit Waffengewalt.

Das war zu viel! Solche Willkürherrschaft des Adels mußte gebrochen werden; aber nur einen Mann gab es, der konnte sie brechen, dessen Aufgabe war es, die Bürger zu schützen in ihrem Rechte, und an diesen Mann, an den Kurfürsten Friedrich den Andern, wendeten sich die Zünfte, ihm übersendeten sie eine Beschwerdeschrift, in welcher sie mit kurzen, bündigen, kräftigen Worten die Uebergriffe der Geschlechter schilderten und den Landesherrn aufforderten, ihnen Recht gegen die adligen Herren zu verschaffen.

Er hatte versprochen, zu kommen und zu richten. Deshalb waren am Montag den 24. Februar 1442 die Rathmannen von Berlin und Köln schon in aller Frühe nach dem Rathhaus auf der langen Brücke geeilt, deshalb drängte sich jubelnd und singend das Volk durch die Gassen, deshalb heulten von den Thürmen herab die Sturmglocken und wirbelten auf den Plätzen die Trommeln, welche die Bürger zu den Waffen riefen.

„Die Freiheit der Städte ist bedroht, wenn wir dem Kurfürsten gestatten, mit seinen Rittern einzuziehen in die Thore Berlins,“ so hieß es auf dem Rathhaus, denn Freiheit der Städte, so nannten die Herren vom Stadtadel ihr eigenes Willkürregiment; das Volk aber jubelte und schaute von den hohen Wällen herab nach Spandau hin, von dort her mußte ja der Kurfürst kommen.

„Keine Unterwerfung! Kampf bis zum letzten Blutstropfen!“ so rief der wilde Buch den Rathmannen zu; und sie jubelten laut die Worte nach, die Mauern und Wälle waren ja fest, die Gräben tief genug, Berlin und Köln konnten sich lange halten gegen den Kurfürsten, wenn dieser ja es wagen sollte, an der Spitze eines Heeres vor den Thoren zu erscheinen.

Vor dem Spandauer Thore schmetterten die Trompeten, ein Jubelruf des Volkes beantwortete die Fanfare. An der Spitze von 600 Reitern hielt der Kurfürst vor dem Thore und begehrte Einlaß in die Stadt, um sein Richteramt als Landesfürst zu üben; aber das Thor war geschlossen und blieb geschlossen, die Herren von den Geschlechtern hielten es mit ihren Knechten besetzt.

Finstern Blicks schaute Friedrich der Eiserne nach den geschlossenen Thorflügeln, dann wieder musterte er die glänzende Ritterschaar, welche ihn umgab. Er war wohl unschlüssig, ob er den Kampf mit dem widerspenstigen Stadtadel beginnen solle oder nicht, denn wie seinem Vater, Friedrich den Ersten, widerstrebte [586] auch dem jungen Kurfürsten die rohe Gewalt, von der er nur im äußersten Nothfall Gebrauch machen wollte.

Wieder schmetterten die Trompeten, und ein Herold ritt vor bis an das Thor und forderte Einlaß für Se. kurfürstliche Gnaden mit deren getreuen Rittern und Mannen. Da trat einer der Patrizier, vom Rathe abgesandt, auf die Brüstung der Mauer und erklärte laut und unverhohlen, der Rath werde wohl dem Kurfürsten mit etlichen seiner Räthe, nicht aber den Bewaffneten, die ihn begleiteten, den Einzug gestatten.

Ein Wuthgeschrei der Ritter vor den Thoren war die Antwort, und das Volk auf den Wällen stimmte in dasselbe ein. „Es lebe der Kurfürst! Es leben die Gewerke! Hoch die Gemeinen, nieder mit den Geschlechtern!“ so ertönte aus tausend Kehlen der Bürger ein wilder Ruf, und die Zunftgenossen stürzten sich auf die adligen Knechte, welche das Thor besetzt hielten, rissen ihnen die Waffen fort und drängten sie zurück. Vergeblich suchten einige aus den Geschlechtern die Ihrigen zu sammeln; es gelang ihnen nicht, denn schon hatte sich die jubelnde Volksmenge des Thores bemächtigt, schon schwang ein kühner Bursche ein mächtiges Beil gegen das Schloß und die Riegel, und krachend flogen die Thürflügel auf.

Der Kurfürst hatte in ernster Ruhe den wüthenden Rittern gewehrt, welche einen Sturm der Stadt begehrten; als jetzt aber das Thor sich öffnete, da spornte er sein Roß und an der Spitze der 600 Reiter ritt er, vom lauten Volksjubel begleitet, ein in die Stadt. Die Kunde, daß die Bürger aufsässig geworden seien, daß sie, dem Befehl des Raths entgegen, den Landesfürsten in die Stadt eingelassen hätten, war auf den Flügeln des Windes nach dem Rathhaus getragen worden; erbleichend hörten sie die Rathmannen, sie fühlten plötzlich den Boden unter ihren Füßen schwinden. Ihr Muth war gebrochen. Die, welche noch vor einer halben Stunde am lautesten geschrieen hatten, verzagten am frühesten und riethen zur Unterwerfung; sie sendeten dem Kurfürsten eine Deputation entgegen, welche ihm auf rothem Sammetkissen die goldenen Schlüssel der Stadt überbringen mußte.

Der Kurfürst empfing die Deputation auf offener Straße mit mildem Ernst, aber die Ritter, welche ihn umgaben, lachten höhnisch und meinten, jetzt habe der Fürst der Schlüssel nicht mehr bedurft. Dann ritt Friedrich II. weiter bis nach dem Rathhaus auf der langen Brücke, dort stieg er mit seinen Räthen ab und ging in den Sitzungssaal des Raths, die adligen Rathsherren folgten ihm mit gesenkten Häuptern. Der Kurfürst kam als Schiedsrichter zwischen Volk und Adel. Den Unterdrückten sollte er Recht schaffen; er hatte die Aufgabe, den lange gestörten Frieden zwischen den Städten Berlin und Köln wieder herzustellen, eine schwere Aufgabe, doch er suchte sie nach bester Kraft zu lösen.

Der gemeinsame Rath der beiden Städte wurde aufgehoben, jede Stadt erhielt ihre eigenen Bürgermeister und Rathmannen, die jährlich von den Bürgern gewählt, aber von dem Kurfürsten bestätigt werden sollten. Dem Stadtadel war damit das Regiment aus der Hand gewunden, allein dem Volk war es nicht gegeben, denn durch das Bestätigungsrecht der Bürgermeister hatte es Friedrich sich selbst ertheilt. Auch die Befugnisse des künftigen Rathes beschränkte er, denn er verbot demselben, Auflagen ohne seine besondere Genehmigung zu machen.

Mit jenem Tage war die Herrschaft des städtischen Adels gebrochen. Wie Friedrich I. von Hohenzollern den Landadel, so hatte Friedrich II. den Stadtadel bekämpft, und mit eiserner Energie unterdrückte er auch fortan jeden Versuch desselben, das verlorene Regiment wieder zu erobern. Auf dem Platze, der sich vom Dominikanerkloster bis zur langen Brücke und von da die Spree entlang bis zur ehemaligen Stadtmauer von Köln hinzog, legte er den Grundstein zu einem festen Schloß, „Zwing-Köln“ wurde es vom Adel genannt, in diesem wollte der Kurfürst seine Residenz aufschlagen.

Es dauerte freilich noch manches Jahr, ehe es den Bemühungen des Kurfürsten gelang, dauernden Frieden in Berlin und Köln herzustellen, denn die Berliner sind stets ein aufsässiges Völkchen gewesen. Die Junker von den Geschlechtern gaben ihre Herrschaft nicht so leicht verloren; als sie nicht mehr offen sich dem Kurfürsten widersetzen konnten, thaten sie es im Geheimen, und es gelang ihnen in der That, die Unzufriedenheit der Bürger mit einem vom Kurfürsten eingesetzten Hofrichter von Hacke und dem Bürgermeister Balzer Boytin so zu schüren, daß im Jahre 1448 ein offener Aufstand ausbrach. Der Hofrichter wurde gefangen gesetzt, die Kanzlei erstürmt, Balzer Boytin davongejagt. Die aufgeregte Volksmenge riß die Steine auseinander, welche zum Bau des Schlosses herbeigefahren waren, und ersetzte den Theil der Stadtmauer von Köln, der des Schloßbaues wegen abgerissen worden war, durch einen Blockzaun.

Die Räthe Friedrich’s forderten eine exemplarische Bestrafung des Aufruhrs, ein Heer sollte vor Berlin ziehen, um die rebellische Stadt zu züchtigen, aber Friedrich weigerte sich dessen, er wollte nicht eher Gewalt gebrauchen, als bis alle Rechtsmittel erschöpft seien. Der Sitte der Zeit gemäß berief er den Bischof Stephan von Brandenburg, den Fürsten Adolph zu Anhalt, den Großmeister des Johanniter-Ordens Nicolaus von Thierbach und die Bürgermeister und Rathmänner der mit Berlin eng befreundeten Städte Brandenburg, Frankfurt und Prenzlau zu Schiedsrichtern in diesem Streitfälle, indem er zum Voraus versprach, sich dem Ausspruch derselben unterwerfen zu wollen.

Die Schiedsrichter erklärten die Städte Berlin und Köln des Aufruhrs schuldig und legten ihnen harte Buße, den Verlust der Lehne und Zölle und vieler Rechte auf. Die störrigen Berliner wollten sich dem Rechtsspruch nicht fügen; trotzdem gebrauchte der Kurfürst noch immer nicht Gewalt. Er berief ein zweites Gericht nach Spandau, welches den Ausspruch des ersten bestätigte und in vielen Stücken noch verschärfte. Jetzt erst sammelte der Kurfürst seine Mannen, um dem Rechtsspruch Geltung zu verschaffen; es kam jedoch zu keinem großen Kampfe, denn das Volk von Berlin und Köln war schon zu der Einsicht gekommen, daß es vom Stadtadel gemißbraucht worden sei, und dieser hatte, als er nirgends Bundesgenossen im Kampf gegen den Kurfürsten fand, den Muth verloren. So wurde denn am 15. Juni 1448 die Unterwerfungsurkunde ausgefertigt, und die stolzen Patrizier zogen demüthig nach Spandau, um die Gnade des Kurfürsten zu erflehen.

Friedrich zeigte sich weit milder und versöhnlicher, als irgend einer der Aufrührer es erwarten konnte. Obgleich der Gerichtshof in Spandau den meisten Patriziern harte Bußen, den Verlust ihrer sämmtlichen Lehne, einigen sogar die Todesstrafe auferlegt hatte, begnadigte sie Friedrich doch sämmtlich. Nur einer, der Hauptanstifter des Aufruhrs, Berend Ryke, wurde des Landes verwiesen. Der Aufruhr war gedämpft, die Ruhe in Berlin und Köln wieder hergestellt, und nun begann mit neuem Eifer der Aufbau des Schlosses an der Spree. Von dieser Zeit an haben die beiden Städte Berlin und Köln ihre Selbstständigkeit verloren; während sie früher fast die Rechte und Freiheiten freier Reichsstädte genossen und nur dem Namen nach dem Landesfürsten unterworfen waren, wurden sie fortan dem allgemeinen Staatsverbande einverleibt.




Federzeichnungen aus Thüringen.
Erstes Blatt.
Mecklenburg in Thüringen.
Von Ludwig Walenrode.
II.

Eins freilich haben wir an Fritz Reuter’s Schöpfungen zu beklagen, den Umstand, daß diese niemals das Eigenthum der ganzen Nation werden können, wie etwa – um von den Schriften eines Zeitgenossen zu sprechen, die einem Vergleiche nahe liegen – die Schwarzwälder Dorfgeschichten Berthold Auerbach’s ganz Deutschland angehören. Wo das plattdeutsche Idiom nicht mehr verstanden wird, da ist auch die Grenze des nationalen Verständnisses für die Bücher Fritz Reuter’s. – Ich will damit nicht behaupten, [587] daß die Reuter’schen Schriften sich überhaupt nicht in’s Hochdeutsche übertragen lassen – es wäre nichts leichter als das – aber mit einer derartigen Uebersetzung würde der Zauber innig naiver und darum so humoristischer Naturwahrheit, vor Allem jene liebenswürdige Ironie verloren gehen, die aus dem Contraste des derb ehrlichen Plattdeutsch gegen die fein abgeschliffene hochdeutsche Sprechweise, wie eine Art kulturhistorischer Neckerei, uns aus jedem Satze der Dichtungen Fritz Reuter’s schalkhaft anlacht. Würde z. B. nicht die dem Leben förmlich gestohlne Figur des „Entspeckters“ Bräsig, der in seiner „gebildeten“, zwischen Hoch- und Plattdeutsch bedenklich schwankenden Conversation, trotz einem Wrangel, die haarsträubendsten Attentate gegen die deutsche Grammatik und die reichlich gebrauchten Fremdwörter begeht, würde in hochdeutscher Uebersetzung diese unnachahmlich köstliche Gestalt nicht ihrer ganzen vis comica, wie der Gelehrte sagt, geradezu entkleidet werden?

Eine Uebertragung der Reuter’schen Schriften in’s Hochdeutsche wäre kaum etwas Anderes, als wollte ein Maler die Meisterwerke der niederländischen Schule derartig copiren, daß er die Composition treu in den Linien nachzeichnete, die derb natürlichen Localfarben aber in ein klassisch italienisches Colorit transponirte. Man denke sich eine Bauernschlägerei von Adrian van Ostade oder eine fröhliche Kneiperei in einer Dorfschenke von David Teniers in dem keuschen Colorite Rafaelischer Madonnen- und Heiligenbilder dargestellt!

Ich meine darum, es wäre gerathen, auf die Kehrseite der Titelblätter zu Fritz Reuter’s Büchern, statt der gegenwärtigen warnenden Affiche: „Die Uebersetzung in’s Hochdeutsche wird Vorbehalten“, in Zukunft, bei allen ersten und allen neuen Auflagen anzuzeigen: „Jedwede Uebersetzung in’s Hochdeutsche wird verbeten!“

Unsern des plattdeutschen Idioms nicht kundigen Landsleuten jedoch, die offene Sinne und Herzen für erquickliche Volkspoesie haben, können wir nur den Rath geben, sich um den Sprachschlüssel zu bemühen, der ihnen Zugang zu den goldenen Schätzen verschafft, die in Fritz Reuter’s Schriften geborgen liegen und die der Dichter auch in seinem thüringischen Mecklenburg mit vollen Händen zu Tage fördert.

Wir aber wollen an Fritz Reuter nicht blos den ihm innewohnenden Humor des Poeten, sondern auch den Humor der weltrichtenden Geschichte verehren, der sich an ihm offenbart. Man nenne den Namen Fritz Reuter’s neben dem Namen eines Grafen Hahn, eines Ritters Nußbaum von Zieseldorf, eines Prügel-Blanck und was unter dem Zeichen des ¾ zölligen und 1½ elligen Stockes wahlverwandt dahin gehört; man vergleiche das Mecklenburg des Junkerthums mit dem Mecklenburg des Volkes, wie es gemüthsinnig und charaktertreu in Fritz Reuter’s Schriften sich darstellt, und man wird mich verstehen. – Diese mecklenburgischen Junker, alten und ältesten Stammbaumes, wie sie immer mit dem Vollblut-Viergespann, das stolze Wappen am Kutschenschlage, begleitet von galonnirten Lakaien in weißen Cravatten und Handschuhen und mit allen andern Schaustellungen einer bornirt hochmüthigen Aristokratie paradiren mögen, sie haben Alles gethan, um aus ihrem Vaterlande ein Pasquill zu machen, das dem deutschen Patrioten das Blut brennender Schamröthe in’s Gesicht treibt, während das Ausland hohnlachend darauf hinweist. Sie haben Mecklenburg so tief erniedrigt, daß selbst der wandernde Handwerksbursche sich schämt auf der Herberge zu bekennen, daß er ein geborener Mecklenburger sei, um nicht dem Spotte und den Hänseleien seiner Mitgesellen zu verfallen. – Da tritt ein schlichter Mann aus dem mecklenburgischen Volke auf, der von seiner Studienzeit her in den schwarzen Büchern der politischen Polizei als Hochverräther notirt ist, der lange Jahre hindurch als politischer Verbrecher die Leiden des Kerkers mit der Aussicht auf ewige Gefangenschaft erduldet hat, und dieser Mann, der seine Heimath liebt, trotz alledem und alledem, zwingt die öffentliche Meinung Deutschlands anzuerkennen, daß es noch ein anderes Mecklenburg als das der Junker giebt, welches der Achtung, der Theilnahme, ja der Liebe des Gesammtvaterlandes werth ist, schon um des Dichters willen. Mecklenburg verdankt seine Ehrenrettung dem Humor Fritz Reuter’s!

Wie hoch über dem erbarmungswürdigen Junkerthume steht der Poet, der keine Ahnung davon hat, daß er mit seiner Feder eine geschichtliche Mission erfüllt!

Fritz Reuter ist kein politischer Schriftsteller wie seine beiden wackeren Landsleute, Moritz und Julius Wiggers; kein Tendenzdichter. Mit menschlich heiterem Seelen- und Federzuge schildert er das Kleinstadtleben, die ländliche Volksidylle der Heimath. Aber gerade dieser harmlos menschliche Humor straft, als spräche er in den zürnenden Flammenworten der Propheten des alten Bundes, diejenigen, die durch den Mißbrauch angemaßter Gewalt ihr Vaterland und ihr Volk schänden und dem Spotte der Welt preisgeben. Aus dem tiefen Grunde der Reuter’schen Dichtungen taucht die Nemesis der Geschichte auf, die nicht blos im antiken ionischen und dorischen Dialekte, sondern auch im mecklenburgischen Platt ihr vernichtendes Urtheil spricht.

Und das ist auch Humor!




Doch, da lasse ich meine Leser wohl eine gute halbe Stunde vor dem Eingangspförtchen zu dem thüringischen Mecklenburg stehen und „klöne“ mit denselben über Fritz Reuter’s Schriften, statt sie zu diesem zu führen und ihnen den Dichter in seiner „Hüsung“ zu zeigen.

„Also, meine Herrschaften, bitte mir zu folgen!“ wie der Führer oben auf der Wartburg sagt, sobald er beim Ueberzählen der auf dem Burghöfe wartenden Fremden das Dutzend voll findet – Kopf für Kopf fünf Silbergroschen.

Gleich der Eintritt in das Schweizerhaus zeigt uns, daß das Innere dem gefälligen Aeußern entspricht. Die gebohnte helle Treppe, die wir Hinansteigen, der heitere Oelfarbenanstrich der Wände, die spiegelnden Fenster, das feste und doch zugleich zierliche Holzwerk an Thüren, Pfosten und Simsen, das Alles erinnert an die behäbige Kajütensauberkeit eines Seedampfers. Weniger nautisch gebildete Besucher pflegen ein solches Haus ein wahres Schmuckkästchen zu nennen.

Wir schellen an der mit dem Namen „Fritz Reuter“ bezeichneten Thür. Sie öffnet sich; eine Magd tritt uns entgegen, die frappant einer weiblichen Figur am Gallion eines Kauffahrteischiffes aus älterer Zeit gleicht – derb, aus Eichenholz mehr gehauen als gemeißelt, das Haar über dem Kopf verknotet, das Gesicht mit gesunder rother Oelfarbe blank bemalt, die Gewandung crinolinlos, von einem Faltenwurfe, an welchem die Axt des Schiffszimmermannes ihr ehrlichstes Stück Arbeit geliefert zu haben scheint. – Aber bei alledem erscheint sie in so fragwürdiger Gestalt; wir reden doch mit ihr.

„Herr Doctor Reuter zu sprechen?“

Mais oui!“ antwortet das Gallion in einem tiefen, rauhen Contra-Alt, „mais oui, Monsieur le Docteur est chez lui“ – oder akustisch genau: „Möh fui! Mussjö lö Tocteur ö schö lui“ – „der Herr Toctor sein zu Hause“ – „ö moa schö swi la canzötsch (la concierge)“ – „in dieser Hinsicht werde ich Ihnen melden.“ „Attendöss uhn pö ssil vous plö!“ – „thun Sie nur etwas warten!“

Wie, hören wir recht? Da lacht uns ja schon an der Schwelle zu des Humoristen Wohnung ein ganzes Mirakel von Humor entgegen! Die Thürhüterin des plattdeutschen Fritz Reuter ein altes Schiffsgallion, das französisch spricht – und welch ein Französisch! und wiederum ein Hochdeutsch, das uns, wie aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stammend, gespensterhaft anklingt. Beim Himmel, ist das gleich Tollheit, so ist kaum Methode darin!

Aber wir werden in unserm heitern Anstaunen unterbrochen durch eine milde Frauenstimme, die an der weit sich öffnenden Zimmenhür uns freundlich zum Eintreten nöthigt. Diese Stimme gehört der Frau Doctor Reuter an, die eine fernere Verhandlung mit der wunderlichen Erscheinung abschneidet. Bei Reuter’s wird nicht antichambrirt, wenn auch Mademoiselle la concierge, die wir noch besser kennen lernen werden, etwas gar förmlich die Honneurs an der Hausthüre macht. Eine feste, breite Männerhand streckt sich uns zum herzlichen „Willkommen!“ entgegen. Es ist Fritz Reuter.

Fritz Reuter, geboren zu Stavenhagen im Mecklenburgischen – wann? ja wann post Christum natum?– Zu meiner Schande muß ich gestehen: „Ich weiß nicht mehr das Datum,“ wenn ich’s überhaupt je gewußt habe. Fritz Reuter hat mit mir niemals über seinen Geburtstag gesprochen; ein Conversationslexicon neuester Auflage – es ist noch die Frage, ob Reuter darin steht – habe ich nicht zur Hand und ich erinnere mich auch nicht aus Reuter’s Schriften, daß er irgendwo über Jahr und Tag seiner Geburt spricht. Nach ungefährer Schätzung wird er eben die Mitte der Fünfziger überschritten haben. Aber ich will ja auch dem Leser hier [588] keine Biographie Fritz Reuter’s geben – die bleibe eben dem Conversationslexicon und der Literaturgeschichte vorbehalten – sondern so eine Art photographisches Bild, wie Verehrer und Verehrerinnen eines Schriftstellers es gern in ihr Album einreihen. Und ich meine Fritz Reuter hinlänglich zu kennen, um ein solches Momentbild, ohne alle Retouche, rein nach der Natur zu liefern.

Ob er mir aber, inmitten seiner häuslichen Umgebung, zu dem Bilde sitzen will? – Bah! fragt der Criminalrichter den eingelieferten Inquisiten, ob dieser für den eventuell zu erlassenden Steckbrief dem Photographen sitzen will?

Auch die Popularität hat ihre Steckbriefe. –

Ich glaube nicht, daß die Verehrer Fritz Reuter’s – selbst der phantasiereiche weibliche Theil derselben – beim ersten Begegnen mit diesem sich durch seine Erscheinung überrascht oder enttäuscht fühlen werden. Und doch sieht Fritz Reuter gar nicht aus wie ein Poet oder etwas dergleichen. Weder sein Gesicht, noch seine Kleidung, noch sein Behaben zeigen etwas von „der Sekte prahlerischer Tracht“. Er ist eben ein leibhaftiger Mecklenburger in Lebensgröße. Wenn er uns, eine kurze Pfeife im Munde und Stock in der Hand, auf einem Gutshofe oder einem Feldwege begegnete, würden wir ihn für einen Pächter oder Inspector halten. Die Statur gedrungen, etwas zum Embonpoint neigend; dem vollen, runden, von einem blond und grau gemischten Vollbarte eingefaßten Gesichte ist das Gepräge grundehrlicher Offenheit aufgedrückt. Um den Mund spielt ein Zug, dem man die Neigung zum Lachen ansieht; aber die gutmüthig milden, blauen Augen haften dafür, daß aus Fritz Reuter nur der wahrhaft menschliche Humor lacht.

Darf der Dichter der „Olle Kamellen“ anders aussehen? Tritt er uns nicht in dieser Gestalt aus jeder Zeile seiner Schriften entgegen, im innigen Verkehr mit dem Volke, das er so wahr und warm zu schildern weiß? Ist er uns, auch wenn wir ihm zum ersten Male die Hand drücken, nicht bereits ein alter lieber Bekannter? – Wer sich Fritz Reuter’ anders gedacht hat, der hat ihn auch nicht verstanden und wird ihn nimmer verstehen.

Wie im Aeußern, so ist Fritz Reuter auch in seiner Unterhaltung schlicht und ungezwungen. Er liebt es nicht, viele Complimente zu hören oder zu machen. Aber feinfühlig und taktvoll ist er weit von jener rüden Ungenirtheit entfernt, die der Welt zumuthet, den Mangel an Lebensart, ja geradezu die Flegelei, als Ausdruck biderb germanischer Offenherzigkeit anzuerkennen. – Es verkehrt sich gar bequem mit Fritz Reuter. Eine durchaus gesellige Natur, liebt er es, bei der Flasche, im Kreise von Bekannten und Freunden heiter sich zu ergehen. – Fritz Reuter hat eigentlich nicht die Gabe des Witzes, ebensowenig in seiner Unterhaltung, wie in seinen Schriften. Die Pointe, das Schlagwort, das Aperçu stehen ihm nicht zu Gebote. Ich möchte sagen, er ist zu human, um witzig zu sein. Um so mehr weiß er, wie in seinen Büchern, so auch im Leben, das eigentlich komische Element den Menschen und den Dingen abzusehen und abzufühlen. Statt kurzer scharfer Einfälle giebt er gleich ganze ergötzliche Gestalten und Erzählungen, welche die heitere Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu fesseln wissen.

Fritz Reuter liebt es, aus seinen Schriften vorzulesen; meistens kommt er dem Wunsche der Gesellschaft damit entgegen.

Es ist dieses etwas sehr Bedenkliches. Mich wenigstens überläuft es stets kalt, so oft ich einen Autor – ich nehme selbst berühmte nicht aus – Miene machen sehe, aus einem Manuskripte oder einem seiner gedruckten Werke vorzutragen. Denn abgesehen davon, daß Schriftsteller gewöhnlich schlechte Vorleser sind, spricht sich fast immer bei solcher Gelegenheit eine unerquicklich krankhafte Selbstüberschätzung, jener Unsterblichkeitsrappell aus, an dem selbst Autoren leiden, die bedeutend genug sind, um bescheiden sein zu dürfen. Mit dem viel citirten Worte: „Nur die Lumpe sind bescheiden!“ hat Goethe viel Unheil angerichtet.

Dieses peinlichen Gefühls sind wir bei Fritz Reuter enthoben.

Allerdings liest auch er mit sichtlichem Behagen. Aber es drückt sich nicht darin das eitle Sichgernhören, das Bespiegeln in dem eigenen Machwerke aus, sondern die Lust und Freude an den Gestalten seiner Feder, mit denen der Humorist aufs Innigste verwachsen ist, die ein Stück seines Wesens sind. Wer mißgönnt dem Schöpfer die Freude an seiner Schöpfung? Dazu klingt in dem volltönenden biegsamen Organe Reuter’s das Mecklenburger Original-Platt so gar zuthunlich, daß man mit Freuden länger zuhört, als es sonst ein Vorleser beanspruchen darf.

Es wäre aber auch schlimm, wenn die Gäste, die Fritz Reuter bei sich sieht, sich an seinem Vorlesen satt hören könnten. Niemand würde darüber mehr verstimmt sein, als Frau Luise Reuter, nicht sowohl aus Eifersucht auf den Autorenruhm ihres Gatten, als auf die Leistungen ihrer Küche.

Ich weiß, Frau Reuter wird fraulich schüchtern erröthen, daß auch ihrer hier öffentlich Erwähnung geschieht. Aber als eines „Preisters Döchting“ muß sie wissen, daß die Frau nun einmal berufen ist, Leid und Freud mit dem Manne zu theilen. Eines Poeten Weib vor Allem muß sich’s schon gefallen lassen, daß einige Blätter aus dem Lorbeerkranze ihres Gatten auch auf sie fallen. – Wie Fritz Reuter seine plattdeutschen Penaten, so hat Frau Luise vom häuslichen Heerde in Mecklenburg das gastliche Feuer nach dem Thüringer Walde getragen, um daran die heilige Flamme der fernen Heimath wieder zu entzünden. Prosaisch ausgedrückt heißt das, daß neben der patriarchalischen mecklenburgischen Gastlichkeit bei Reuters auch noch die mecklenburgische Küche zu Hause ist. Und wer diese kennen gelernt, weiß, daß ihre Leistungen nirgend in Deutschland, selbst in Hamburg nicht, übertroffen werden. Das mecklenburgische Volk hat ja bis heute keine andere Magna charta, als sein Kochbuch! Diese Charte ist eine Wahrheit. – Aber auch jeder Winkel der Reuter’schen Wohnung zeugt von dem feinsinnigen Geschmacke der Hausfrau, die mit geistvoller Lebendigkeit sich an dem Gespräche der Männer betheiligt, ohne eine Spur von jener wirthlich geschäftigen Hast zu zeigen, die den Fremden, der sich als Gegenstand der hausfraulichen Sorgen weiß, eher beunruhigt als befriedigt. Das Gesellschaftszimmer, vor dessen Fenstern und Altane sich das bereits geschilderte anmuthige Landschaftspanorama aufrollt, und die daranstoßenden offenen Gemächer sind mit einem Comfort eingerichtet, der bei aller Anspruchslosigkeit doch an die Grenzen des Luxus streift. Das elegante Pianino, die hinter den Spiegelscheiben des Bücherschrankes dichtgereihten Prachtbände der Hausbibliothek, die Kupferstiche und Oelbilder an den Wänden und auch alle die kleinen Ueberflüssigkeiten, mit denen die ordnende weibliche Hand das Haus zu schmücken liebt, Alles deutet auf eine behagliche, wohlhäbige Häuslichkeit hin.

Nicht ohne Grund verweile ich bei diesen anscheinenden Aeußerlichkeiten.

Das deutsche Publicum war bisher gewöhnt, sich das vaterländische Schriftstellerthum als eine Art Proletariat vorzustellen und diesem ein Mitleid zu schenken, das nicht immer frei von Geringschätzung ist. „Hätt’ er was gelernt, braucht’ er nicht zu schreiben Bücher!“ wie der selige Salomon Heine von seinem Neffen Henri sagte. Dem Dichter vor Allem gehört die Dachstube und die Misere eines dürftigen Erdenwallens. Läßt ja auch Schiller seinen Poeten erst erscheinen, nachdem alle Erdengüter bereits vertheilt waren und ihm nichts mehr offen stand, als der Himmel, auf den bekanntlich irdische Manichäer, und sollten sie auch noch so fromm sein, nicht die kleinste Anweisung annehmen. Nein, unsere Zeit ist wahrlich darum nicht prosaischer geworden, daß sie dieses alte Vorurtheil von der prädestinirten Dürftigkeit deutscher Dichter und Schriftsteller zu zerstören beginnt. Es schadet der himmlischen Göttin Poesie nicht an ihrem Rufe, wenn sie ihre Poeten auch mit Butter versorgt. Und ich denke, es gereicht ebenfalls der deutschen Nation zur Ehre, daß sie – was Engländer und Franzosen schon längst gethan – ihre Lieblingsdichter und Schriftsteller nicht nur nach Verdienst ehrt, sondern auch honorirt und zwar dadurch, daß sie Bücher kauft, statt sie, wie bisher, aus Bibliotheken oder sonst wie leihweise, sogar vom Autor selbst, zu entnehmen.

Reuter verdankt seinen Wohlstand lediglich seiner Feder. Er hat in diesem Jahre von den neuen Auflagen seiner Schriften nicht weniger als 7000 Thaler eingenommen; ein Honorar, das sich mit Ehren neben dem populärer englischer Autoren sehen lassen kann, besonders wenn man bedenkt, daß die kleinere Hälfte der deutschen Nation – die plattdeutsche – dasselbe aufgebracht hat. –

Diese sichtlich sorglose Lebenslage läßt den Besucher bei Reuters die herzige Gastlichkeit, die ihm entgegenkommt, besonders wohlthuend empfinden.

Aber zu der Heiterkeit, die im thüringischen Mecklenburg zu Hause ist, trägt Lisette gewiß nicht das Wenigste bei. Wie Fritz Reuter dem französischen Chansondichter das Wort nachsprechen [589] darf: „le peuple c’est ma muse“, so hat er gleich diesem auch eine Lisette, und in der That eine französisch parlirende, nur daß diese weit entfernt ist von der etwas frivolen Anmuth und Koketterie, welche Beranger an seinem echt französischen Mädchen aus dem Volke in lustigen Liedern besingt. Um so mehr können wir über Reuter’s Lisette lachen.

Ich brauche wohl dem Leser kaum noch zu sagen, daß Lisette Niemand anders ist, als das Gallion, das uns die Thüre geöffnet. Es giebt keine glücklichere Figur für einen komischen Roman.

Lisette ist von Geburt ein Dorfmädchen aus dem Großherzogthum Sachsen-Weimar. Sie hütete in ihrer Jugend die Gänse der Dorfgemeinde, wie Johanna die Schafe ihres Vaters hütete in dem Flecken Dom Remi, der in dem Kirchspiele liegt von Toul. Und wie Johanna ward sie berufen zur „Jungfrau von Orleans“. – Nichts Geringeres als die französische Februarrevolution von 1848 griff gestaltend in das Leben Lisettens ein. Der Thron Louis Philipp’s mußte zertrümmert

Fritz Reuter.

werden, um dem thüringischen Bauernkinde eine ungeahnte Laufbahn zu eröffnen. Bekanntlich war in Folge jener politischen Katastrophe die Herzogin von Orleans mit ihren beiden Kindern, dem Grafen von Paris und dem Herzog von Chartres, nach Eisenach geflüchtet, wo sie das oben erwähnte großherzogliche Palais auf dem Marktplatze, der Georgenkirche gegenüber, als Residenz hezog. Monsieur Hubert, der Intendant der Herzogin, der mit seiner Familie seiner Gebieterin nach Deutschland gefolgt war, hatte eine im Hausgesinde entstandene Lücke auszufüllen, und Lisette wurde – ich weiß nicht durch wen empfohlen – als Dienstmagd von ihm engagirt. So kam sie an den Hof der Herzogin von Orleans. Ihre häuslichen Verrichtungen brachten sie täglich mit der hohen Frau und den kindlichen Prinzen, von denen der erstgeborne Prätendent der französischen Königskrone war, in Berührung, die sich durch Lisettens thüringische Unbefangenheit, welche sie auch in der Hofsphäre behauptete, zu einer intimen gestaltete. Tüchtig und brav, wie sie war, verharrte sie in dieser Stellung bis zum Tode der Herzogin. Sie begleitete dieselbe auf ihren Reisen. So hielt sie sich mit den Orleaniden längere Zeit bei dem exilirten greisen Königspaare in Claremont auf, dem englischen Landsitze des Königs der Belgier, den dieser bekanntlich seinem Schwiegervater Louis Philipp eingeräumt hatte. Auch in Paris ist Lisette mit Monsieur Hubert gewesen, der vermutlich in geheimer Mission dort mit den Orleanisten berathschlagt hatte. So hat Lisette in den höchsten Kreisen der Gesellschaft die große Welt gesehen, die dauernde Eindrücke in ihren Erinnerungen zurückließ. Sie schwärmt noch heute für die Herrlichkeiten der Champs Elysees, die sie natürlich „Schamps Elise“ spricht. – Ueberhaupt liebt Lisette es, ihr wohlerworbenes Französisch nicht unter den Scheffel zu stellen, besonders wenn Gäste bei Reuter’s sind. Das Wort „Ja!“ scheint sie sich ganz abgewöhnt zu haben, sie sagt nie anders als: fui, Matam! fui, Mussiö!; sie würde gewiß auch am Traualtar, falls ein etwas verspätetes Liebesglück sie noch einmal dahin stellen sollte, die Frage des Priesters beim Ringwechsel statt mit „Ja!“ mit einem herzhaften fui beantworten. So pflegt sie auch die Anordnungen der Hausfrau bei Tische laut in’s Französische zu übersetzen. „Lisette, ein Teller!“ „Fui Matam, une assiette!“ „Lisette, ein Glas Wasser für den Herrn!“ „Foilà! öng ferr d’o pour Mussiö!“ Beim Präsentiren der Schüssel wird sie selten das „plöt i?“ (plaît-il?) vergessen, sowie sie auch der Unterhaltung bei Tische von Zeit, zu Zeit mit einem für sich gesprochenem c’est ça zu folgen pflegt. – Weit drolliger aber als ihr Französisch ist ihr Deutsch, das gar nichts von thüringischem Dialekt und thüringischer Ausdrucksweise an sich hat. Es scheint, als hätte sie sich dasselbe aus dem gebrochenen Deutsch der französischen Dienerschaft der Herzogin von Orleans angeeignet. Die Komik dieser eigenthümlichen Sprechweise wird noch erhöhet durch die unbegreiflichen Redensarten, welche Lisette mit lakonischer Sicherheit überall anzubringen weiß, wo solches nur möglich und unmöglich erscheint. So z. B. daß sie den Fremden „in dieser Hinsicht“ anmeldet. Ich hörte von ihr den Ausdruck: „in dieser Hinsicht ist das eine Betrachtung!“ „fui, das ist so Gebrauch von die Ordnung!“ etc. – Zu diesen abgelegten Hofredensarten besitzt Lisette noch mehrere abgelegte Hofkleidungsstücke. So erscheint sie an hohen Festtagen in einer Robe, welche weiland die Frau Herzogin von Orleans getragen. Wie viele treue Orleanisten könnte sie mit kleinen, ordensbandgroßen Fetzen dieser Reliquie glücklich machen! Natürlich paßt zu dieser Gewandung keine Crinoline, die Lisette ohnedies als eine Erfindung der neuen französischen Kaiserära verabscheut, wie sie überhaupt Napoleon III. als Feind des Hauses Orleans haßt. Als vor einiger Zeit bei Reuter die Zeitung vorgelesen wurde, in welcher von einer Erkrankung Kaisers Napoleon die Rede war, sagte Lisette, welche während einer Beschäftigung im Zimmer aufmerksam zugehört hatte: „Wenn der schterbt, dann trauer ich roth!“

Daß Lisette durch ihr Leben am Hofe etwas Aristokratin geworden ist, darf uns nicht wundern. Sie weiß es sehr zu schätzen, gegenwärtig wieder in Diensten einer Herrschaft zu stehen, die, nach mancherlei Aufmerksamkeiten zu schließen, deren sich dieselbe erfreut, eine hervorragende Bedeutung haben muß, obwohl Lisette das Ding nicht recht zu begreifen vermag. Aber sie ist gar nicht damit zufrieden, daß die Fremden so ohne alles Ceremoniell Zutritt zu der Herrschaft finden. Nicht selten daher trifft sie im Hause auf eigene Hand Anordnungen, die der Hausordnung am Hofe der Herzogin von Orleans entnommen zu sein scheinen und die zu beseitigen es der ganzen entschiedenen Intervention der Frau Reuter bedarf. –

Ob die Liebe in Lisettens Leben eine Rolle spielt, möchte ich aus Erwägungen, die zu verlautbaren ungalant wäre, bezweifeln. Indeß das Wort „unmöglich“ ist aus dem Lexikon des menschlichen Herzens gestrichen, und so auch wohl aus dem Lisettens.

In der That scheint Fritz Reuter ein besonderer Günstling des Zufalles zu sein, der ihm eine Figur wie diese gerade in den Weg geworfen hat. Für den Humor unseres Dichters dürfte Lisette ein prächtiges Seitenstück zu der unvergleichlichen Mamsell Westphalen sein, wenn erstere auch keine mecklenburgische Faser an sich [590] hat. Denn auch das ist das Eigenthümliche, ich möchte sagen der Humor von Fritz Reuter’s Humor, daß dieser – so unthunlich es ist, ihn selbst aus dem Mecklenburgischen in eine andere Sprache und ein anderes Verständniß zu übersetzen – doch wiederum alles Fremdartige mit großer Leichtigkeit, sprachlich und social in’s Mecklenburgische übersetzt. Die Heimath ist dem Humor Fritz Reuter’s der enge Rahmen zu dem Spiegel, aus dem die Welt in ihren bunten Erscheinungen mikrokosmisch uns entgegenstrahlt. – So bin ich überzeugt, daß die Reise, welche Reuter mit seiner Gattin im vergangenen Frühling, auf einem Dampfer des österreichischen Lloyd, nach Griechenland, Constantinopel und Smyrna gemacht hat, gar wundersam verplattdeutscht und vermecklenburgt den Fritz Reuter-Lesern durch die Hinstorff’sche Hofbuchhandlung vorgeführt werden wird. – Warum sollte z. B. unser guter lieber Entspeckter Bräsig, „bürtig aus Mekelborg-Schwerin“, nicht von irgend einem strebsamen Gutsbesitzer, behufs Ankaufs edler Zuchtböcke, zu einer Reise nach dem Morgenlande engagirt werden, wie er seiner Zeit von Moses Löwenthal aus Wahren zu einer Reise nach dem Berliner Wollmarkte engagirt worden ist, um demselben, nämlich dem Moses Löwenthal, „als kenntnißreicher Mann in Wullsachen, zu helfen beis Geschäft, natürlich gegen ’ne Provision“. Eine Reise, auf welcher der arme Bräsig gar grausame Abenteuer erleben mußte, wie ein Jeder solche in Reuter’s „Schurr-Murr“, von Seite 49 bis Seite 134, nachlesen kann.

Daß der Humor in Mecklenburgisch-Thüringen durch sympathische Heimathsklänge angefrischt werde, dafür sorgt ganz besonders Fritz Reuter’s „olle Fründ de Cannedat“, oder auch „Avkat Rein“. In Wirklichkeit ist das Niemand anders, als der wackere charakterfeste und doch so kindlich weiche Reinhardt, ein Landsmann Reuter’s, früher als Theolog und Pädagog in Mecklenburg fungirend, jetzt, des leidigen Amtes ledig, in Coburg an der Presse beschäftigt, der aus naher Nachbarschaft von Zeit zu Zeit unter Reuter’s Dach einkehrt. Reinhardt, manchem Leser als Mitglied des Frankfurter Parlaments bekannt, ist, wie sein Landsmann, ein geborener Humorist von dem Scheitel bis zur Zehe – wenn er auch seine sprühenden Einfälle mehr der Gesellschaft hingiebt, anstatt sie productiv mit der Feder zu verarbeiten. „’Ne Gschicht von min olle Fründ Rein“, die Reuter in seinen „Läuschen un Rimels“ erzählt, ist in der That eine dem Leben Reinhardt’s entnommene wahre Geschichte. Am treuesten nach dem Original aber lernt der Leser Reinhardt’s trockne humoristische Schelmerei kennen in der Schilderung einer Versammlung des Reform-Vereins zu Rahnstädt, in welcher „Avkat Rein“ als Präsident den Vorsitz führt. Dies wahrhaft classisch zu nennende Meisterstück des Humors findet der Leser im dritten Bande von „Ut min Stromtid“, der soeben die Presse verlassen hat.

Indem ich hier meine Skizze beende, fühle ich, wie das nun einmal immer der leidige Fall ist, zu spät, welche Gefahren ich mit derselben für das Thüringische Mecklenburg heraufbeschworen. Man kann volksthümlichen Persönlichkeiten kaum einen schlimmern Dienst erweisen, als wenn man deren Liebenswürdigkeit und Gastlichkeit öffentlich durch die Presse denuncirt, besonders wenn diese Persönlichkeiten, wie Fritz Reuter, an einem Karawanenwege wohnen. Gar leicht könnte meine Schilderung von Fritz Reuter’s thüringischer Hüsung Tausende seiner Verehrer, die allsommerlich den Weg durch Thüringen nehmen, der Versuchung aussetzen „selbst zu sehen“, wie Yorik Sterne auf seiner sentimentalen Reise. – Brauche ich die Folgen eines solchen Cultus weiter auszuführen?

Mögen daher die geneigten Leser und Leserinnen meine unvorsichtige Denunciation durch ihre eigne discrete Erwägung unschädlich machen und sich mit einem Blick über das Gartenpförtchen, das zu Mecklenburg in Thüringen führt, und meiner Schilderung begnügen. Der Verzicht auf die persönliche Bekanntschaft Fritz Reuter’s wird ihnen weniger schmerzlich fallen in dem Gedanken, daß des Dichters Zeit eine edle sei und daß sein Humor den Tisch für viele Hunderttausende unsres Vaterlandes zu decken habe.

Fritz Reuter aber möge am Fuße der sagenreichen Wartburg, von wannen Heinrich von Ofterdingen einst auszog, um die blaue Blume der Romantik zu suchen, noch recht lange mecklenburgische „Olle Kamellen“ pflücken! –




Blätter und Blüthen.

Aus dem Leben Maria Theresia’s. Die Tiroler sind oder waren wenigstens ein sehr loyales Volk; da möchte man wohl meinen, jeder Senner auf den Alpen jodle von der Genealogie seines Fürstenhauses, dem ist aber nicht so. Die geschichtliche Erinnerung des Volkes läßt sich in wenigen Zeilen wiedergeben. Da ist die Maultasch, welche trotz des großen Mundes die Bauernburschen aus Passeier küßte; der Erzherzog Sigismund, der einem hübschen Bauernmädel über alle Zäune nachsprang; der alte Maxel, der sich bei der Gemsjagd auf der Martinswand verstieg; der Erzherzog Ferdinand, den man eigentlich nur der schönen Philippine Welser, seiner Gattin, zulieb nennt; dann kommt lange Zeit nichts mehr, als hätt’ es nie einen Fürsten gegeben, endlich taucht die Gestalt Maria Theresia’s empor, dann Joseph, der edle große Joseph, den jedoch die Hochwürdigen, weil er ihnen die Federn stutzte, stets nur in einer Beleuchtung von Höllenschwefel à la Breughel erscheinen lassen. Vom Franzl wird man bald auch nichts mehr wissen, höchstens daß man den Erzherzog Johann nennt, der den Tirolern so viel und so Großes versprochen. Friedrich mit der leeren Tasche hält sich nur durch sein goldenes Dachl, dieses Wahrzeichen für die wandernden Handwerksbursche, im Gedächtniß, sonst würde auch Niemand mehr nach ihm fragen. Vergißt doch das Volk seine eigenen Thaten. Das Siegesjahr 1703, ja die Kämpfe von 1797 und 1805 sind bereits vollständig in der Glorie von 1809 untergegangen, und auch der Glanz Hofer’s und Speckbacher’s erblaßt mehr und mehr, von den Helden zweiten Ranges sind die meisten Namen schon vergessen. Am längsten haften anekdotenartige Züge, wie wir deren bereits oben angedeutet, nur der Schatten Maria Theresia’s verbindet sich noch immer mit der Erinnerung an Oesterreichs goldenes Zeitalter. Waren die Tage ihrer Regierung auch stürmisch, so verschönte sie doch die Liebe, und selbst der Lombarde, welcher trotz der gegentheiligen Stimmungsberichte gewisser Organe durchaus nichts mehr vom österreichischen Corporalsstock wissen will, gedenkt der hohen Frau in Ehrfurcht. „Ja die Thresel! das war eine andere Zeit!“ seufzt unser Bäuerlein. Fragt man, worin denn das Glück bestand, so weiß er keinen Bescheid, oder er malt uns ein Bild, wie eben er sich das Paradies vorstellt: man zahlte dort wenig oder gar keine Steuern, und Soldat wurde nur, wer eben wollte.

Wir überlassen es Arneth von dem geschichtlichen Beruf Maria Theresia’s zu reden, wir erzählen nur, auf welchem Fuß sie mit ihrem Volk stand, und auch hier geben wir blos ein paar drollige Anekdoten aus ihrem treuherzigen Verkehr mit den Tirolern. Die Theresienkreuzer sind uns ja noch alle im Gedächtniß, diese großen schweren Kupferplatten, welche das lockige Haupt der Kaiserin zeigten. Aus allen Jahren waren sie im Umlauf, nur nicht von 1775. Damals, so erzählt man, ließ sie hundert Stück prägen, die hohl waren und in der Mitte einen Kremnitzer Dukaten bargen. Sie schenkte sie einem Tiroler, der ihr oft Spaß gemacht, zu Neujahr, dieser jedoch, unwillig über den Spott mit Kupferkreuzern, theilte sie vor der Thür den Gassenjungen aus. Bald jedoch wurde das Geheimniß offenbar, und wem nun ein Kreuzer mit der Jahreszahl 1775 in die Hände gerieth, der feilte ihn durch, freilich um Nichts zu finden.

Maria Theresia besuchte Tirol 1765. Sie war damals tief in den Vierzigen, jedoch noch immer einer stattliche üppige Frau. Da ging sie auf dem Rennplatz spazieren; ein Bäuerlein aus Dux, wo man auch jetzt noch am ehesten alttirolische Naivetät antrifft, schaute sie lange unverwandt an. Sie trat zu ihm und sagte: „Nu, gefall ich Dir?“ – Jener antwortete: „Du bist eine sackerische Gesellin’, ich möcht Dich grad schon.“ Die Kaiserin lachte über diese Galanterie laut auf und schickte ihm einen harten Thaler mit den Worten: „Weil Du mich nicht selber haben kannst, so nimm hier mein Portrait zum Andenken.“ Der Bauer war überglücklich; noch seine Kinder besaßen diesen Geldstück als kostbare Schaumünze.

Wer kennt die Zillerthaler nicht? Diese scheinbar treuherzigen, in der That aber schlau auf ihren Vortheil bedachten Händler, welche durch alle Länder herumwandern, außerhalb Tirols jeden mit Du anreden, während sie sich zu Hause dieses Wort nur gegen Dienstboten und gute Bekannte erlauben, betreiben ihr Geschäft nicht erst heute, schon im vorigen Jahrhundert begegnen wir ihnen überall, nur unter anderer Form. Damals verkauften sie keine Handschuhe aus Bockhaut für gemslederne; sie trugen eine „Kraxe“ auf dem Rücken, und diese war angestopft mit Oelfläschlein, Salben und Blechbüchsen – kurz allerlei Medicamenten, gut wider jede Krankheit, nur nicht wider den Tod. Da diese Krämer, ähnlich wie Faust mit den höllischen Latwergen, hier und hin nur Unheil stifteten, so wurde am Ende die Polizei aufmerksam und verbot das Geschäft. Auch als Schmarotzer, Tellerlecker und Hofnarren strolchten sie herum, sie machten ihre Späße, nicht als Nationalsänger wie jetzt, sondern als der „lustige Bua“ auf allen Schlössern, des deutschen Adels und an den Höfen, ließen sich von den vornehmen Herrschaften foppen, wobei sie freilich nicht die Gefoppten waren, und setzten sich schließlich, wenn ihr Geldsack hinlänglich gespickt war, in ihrem Heimathsdörfchen zur Ruhe.

Der berühmteste von diesen Schalksnarren war Peter Prosch, von dem man noch im Lande erzählt. Als er seines Handwerkes überdrüssig geworden, verfaßte er, wie andere große Männer, seine Memoiren, welche eine Masse culturgeschichtlichen Stoffes enthalten und dem Forscher auf’s Neue zugänglich gemacht zu werden verdienten. Wir sagen: dem Forscher, damit sich nicht irgend ein feiler Literat des Gegenstandes bemächtige und ihn einem Volke vorkäue, dem der Servilismus ohnehin noch nur zu sehr im Blute steckt.

[591] Peter Prosch kam 1745 unter dem Gerstenschneiden aus die Welt. Mit zehn Jahren zog er als Oelhändler in’s Weite, hausirte jedoch die meiste Zeit bei den Bäuerinnen mit Nudeln und kehrte, ohne bei seiner Handelschaft etwas erobert zu haben, bald in die Heimath zurück. Dort träumte ihm von der Kaiserin Maria Theresia. Er lief nach Wien und reichte eine Bittschrift ein des Inhalts: „Meine liebe, gute Kaiserin, ich hab daheim in meinem Vaterlande von den Leuten sagen hören, daß Du so ein gutes Mensch bist, und mir hat bei meiner Schwester unterm Dach auf dem Heu geträumt, ich sei zu Dir gekommen und Du habst mir einen Hut voll Geld geschenkt und hast mir lassen ein Branntweinhäusl bauen. Ich bitt’ Dich gar schön, sei so gut und thu’ es mir, ich will meiner Lebstag für Dich beten.“ Graf Künigl überreichte das Gesuch bei der Mittagstafel auf einem silbernen Teller der Kaiserin, diese gab es lachend ihrem Gemahl, und so machte es am Tisch die Runde. Bis eine Erledigung käme, wurde Prosch bei den Kapuzinern als Ministrant angestellt. Wir lassen ihn nun selbst erzählen. „Am 23. September 1757 ministrirte ich auch rechter Hand beim St. Antoni de Padua-Altar. Die Kaiserin fuhr aus und kam früher in die heilige Messe aus das Oratorium als gewöhnlich, und ich und mein Kapuziner waren noch beim Altar. Als der Dienst kam, nämlich Schweizer, Gardisten, Trabanten und ein ganzer Lärm Herrschaften, da sperrte ich Maul, Augen und Ohren auf und glotzte. Die heilige Meß ging zu Ende, und beim Evangelium St. Johannis nahm ich das Buch auf einen Arm, kehrte mich gegen die Kaiserin, machte einen Kniebucker und begrüßte sie mit der Hand; sie lachte und ging zurück. Wie Alles vorbei war, wollte ich auch, wie andere Menschen, zur Thür hinaus. Jähling kam ein Kammerdiener in einem weißligen Rock und einem mit Gold bordirten Camisol, dieser fragte mich: ,Wie heißest Du?’ – ‚Peterl!’ war meine Antwort. – ,Wie noch?’ – ,Prosch aus Tirol.’ -,Du sollst mit mir kommen zu Ihrer Majestät der Kaiserin, sie will Dich sprechen.’ Voll Freude, Furcht, Angst und Zittern wanderte ich mit ihm durch die Wachten und über die Stiegen hinauf. Im Saal hieß er mich warten; ich war barfuß und meinen Hut hatte ich unter dem Arm. Zu oberst stunden zween Schweizer in weiten Pumphosen, Krägen um den Hals und spitzigen Hüten. Bei einer Thür war ein deutscher und ein ungarischer Nobelgardist. Ich schaute um und um und pfiff ein Stückl; Alle, die da waren, lachten, weil sie sahen, daß ich nicht wußte, was ich that. Endlich ging bei einer Thür in einer Ecke ein Kammerfräulein heraus. Ich kniete gleich nieder, denn ich glaubte, es wäre die Kaiserin selbst, sie lachte und sagte: ,Ich bin’s nicht, sie wird aber gleich kommen, Du sollst indessen da hinein gehen.’ Sie machte mir eine Thür auf, und ich ging hinein. Wie erstaunte ich, als ich mich umsah und mehr als zwanzig weithosige Tirolerbuben um mich her versammelt sah. Ich ging darauf zu und gab einem die Hand, er gab sie mir auch, bis ich mit meiner Hand an der Wand anstieß; ich erschrak, kehrte mich um und sah wieder nichts als lauter solche Buben, die mir alle accurat gleich waren; ich lachte, sie lachten auch, ich hüpfte, sie hüpften auch. Jetzt kamen mir traurige Gedanken und ich zweifelte, ob ich bei mir selbsten wäre, denn ich konnte mich gar nicht fassen. Endlich ging rechter Hand weit droben im Saale eine doppelte Thür auf.

Der Saal war glatt, die Kaiserin kam herein, ich lief ihr entgegen, schlüpfte und fiel auf den Buckel. Ich raffte mich geschwind wieder zusammen und kniete nieder. Die Kaiserin kam herbei und sagte: ,Steh’ auf.’ Ich stund auf und sie sagte: „Grüß Dich Gott, Kleiner! Bist Du der Tiroler, der mir recommandirt worden ist?’ und gab mir die Hand zum Küssen; ich küßte aber den Kittel und sagte: ,Dank Dir Gott! Bist Du unsere Kaiserin Maria Theresl? Da außen vor der Thür war auch so ein Mensch, ich hab’ gemeint, Du bist’s; sie hatte einen goldenen Spulen an der Seite und glöckelte Schnürchen. Sie lachte und sagte: ,Jene war’s nicht, ich bin Eure Kaiserin, was willst Du von mir haben?’ Ich lief um einen Sessel und sagte: ,Hocke Dich nieder.’ Sie antwortete: ,Ich hock’ so alleweil, was willst Du von mir?’ Die Doppelthür, wo die Kaiserin herauskam, war voller Köpfe; sie hatten ein solches Gelächter, daß die Kaiserin mit der Hand zweimal gedeutet und gesagt, man solle schweigen, sonst könnte sie mich nicht verstehen.

Ich fing nun an und sagte: ,Schau, meine liebe Kaiserin, ich bin ein armer Bub, ich habe weder Vater noch Mutter und logire bei meiner Schwester unterm Dach auf dem Heu. Da träumt’ mir in einer Nacht von Dir, weil ich es von den Leuten sagen gehört, daß Du ein so guten Mensch bist, ich sei zu Dir gekommen und Du habst mir lassen auf einem gewissen Fleckchen, wo eine alte Brechelstube gestanden ist und das ich um zwei Gulden, ein Scapulier und Fläschchen Branntwein gekauft habe, ein Branntweinhäusl bauen; auch habst Du mir einen Hut voll Geld geschenkt. Den Hut hatte ich just so, wie ich ihn jetzt in der Hand hab. Ich bitte Dich, sei doch so gut und thue es mir, ich will in meinem Leben für Dich beten.’ – ,Ja, Du sollst es haben!’ sprach sie, ,wenn es Niemand einen Schaden thut.’ – ,Ja, Kaiserin, schau, Du mußt mir auch einen Zettel mitgeben, denn unsere Herren sind nicht so leichtgläubig, und Dich hätte ich darnach auch nicht mehr bei mir, und so würde vielleicht aus der ganzen Sache nichts.’ – ,Ich will es dem Grafen Choteck sagen, daß er Dir einen Brief an den Gouverneur Enzenberg mitgiebt, der wird es hernach schon glauben.’ ,O, ich bitte Dich, vergiß es nicht.’ – ,Nein, ich vergesse es nicht, heut soll es noch geschehen. Kannst Du auch umgehen mit Branntweinbrennen?’ – ,Ja, ich habe es von meiner Mutter gesehen und hätte Dir ein Fläschchen Kirschenbranntwein mitgebracht, aber es ist mir zu Hall zerbrochen.’ Sie lachte darüber und sagte: ,Ich trinke keinen. Nun erzähl’ mir noch, was sagen denn sonst die Tiroler von mir, haben sie mich lieb?’ ,Ich hab’ Dir’s schon gesagt, wenn ich nichts Gutes von Dir gehört hätte, so hätte mir auch nichts Gutes geträumt und ich wäre auch heute nicht bei Dir. Durchaus in unserm ganzen Lande, vom Größten bis zum Kleinsten, sagt ein Jeder, Du seiest das beste Mensch und die Welt bringt uns kein solches Weibsbild mehr hervor wie Du bist.’ Sie lachte herzlich und sprach: ,Das freut mich, ich habe die Tiroler auch gern, denn sie sind treu und aufrichtig.’ Sie griff mit ihrer linken Hand in die Camisoltasche, nahm vierundzwanzig Kremnitzer Ducaten heraus und opferte solche in meinen Hut. Ich sprang und hüpfte vor Freuden und sagte: ,Ja, Kaiserin, wenn Du einmal in’s Tirol kommst, will ich Dir gewiß auch etwas schenken, weil Du mir ein Häusl bauen läßt.’ Nun war mein Traum erfüllt, die Kaiserin nahm ,B’hüt Gott!’ und ich tanzte zur Thüre hinaus.“ Wir folgen Peter Prosch nicht länger auf seinen närrischen Kreuzfahrten; er zog sich endlich ganz nach Tirol zurück, heirathete und war bereits mit 44 Jahren Großvater. Er hatte alle Höfe und Fürsten – auch Ludwig XVI. und Marie Antoinette besucht, alle Herrlichkeit der Welt und die Pracht der Großen gesehen und rief schließlich wie Salomo: „Alles ist eitel!“ Wie das bei Komikern öfters vorkommt, wurde auch er in alten Tagen schwermüthig und düster und starb endlich lebenssatt und lebensmüde mit Hinterlassung zahlreicher Enkel.




Die Coburger Lotterie für Schleswig-Holstein. Unsere Leser erinnern sich, daß wir beim Beginn dieser Lotterie uns gegen die Betheiligung an derselben ausgesprochen haben. Grundsätzlich sind wir heute noch Gegner von Allem, was Lotterie- und Hazardspiel heißt, und wenn wir auch von dieser Regel Ausnahmen gelten lassen, so kann der Grund dazu nur der allerdings ein wenig jesuitische sein, daß der Zweck das Mittel heilige.

Dies war bei der Schillerlotterie der Fall, dies spricht auch für das vorliegende Unternehmen, wie wir bereits den Vorsitzenden dieses Lotterie-Comité zu Coburg selbst in unserm Blatte haben darlegen lassen. Neuere Berichte über dasselbe haben uns außerdem die Ueberzeugung gegeben, daß auch der Schein des Eigennutzens, den wir wenigstens von einem Theil der Gewinngegenstände nicht zu trennen vermochten, nunmehr vollkommen beseitigt ist. Das Publikum hat es somit durchaus mit einem soliden Unternehmen zu thun, für das nicht mehr sein Zweck allein, sondern auch die Weise der Einrichtung und die Art der Gewinngegenstände spricht. Die Gartenlaube ist nicht der Ort, wo der Leser eine ausführliche Belehrung hierüber sucht; da in den meisten größeren Städten Agenturen[2] dieser Lotterie bestehen, auch alle Buch- und Kunsthandlungen zu den Beauftragten derselben gehören, so ist es Jedermann leicht gemacht, das Nähere sich selbst zu verschaffen.

Wie bei jeder ist’s auch bei dieser Lotterie der lockende Reiz, für einen geringen Einsatz möglicherweise einen großen Gewinn zu erhalten, also hier für 15 Ngr., die ein Loos kostet, einen Gold- oder Silbergegenstand von 100 bis 3000 Thaler Werth. Dabei bietet das Comité dem Gewinner noch den Vortheil, daß es demselben, wenn er es wünscht, statt des gewonnenen Gegenstandes die Baarsumme dafür nach dem spielplanmäßigen Nennwerth zustellt. – Neben diesen Hauptgewinnen bilden jetzt die Oelfarbendrucke, welche anfangs die uns einigermaßen verdächtige Basis des Unternehmens gewesen waren, die Nebengewinne. Das Comité war besonders besorgt, diesen Theil des Unternehmens von allen Schlacken zu reinigen, die ihm allerdings angehangen hatten, und so besteht jetzt die ganze zu Gewinnsten bestimmte Bildersammlung aus Stücken, welche das Publicum davor bewahren, durch diese Lotterie werthlose Dinge in das Haus zu bekommen; dies mag besonders denen zur Beruhigung dienen, welche von der Schillerlotterie her speciell gegen Bildergewinne wohlbegründete Bedenken hegen.

Was nun den Zweck des Unternehmens betrifft, so verdient er die allgemeinste Unterstützung, darüber wird nirgends Zweifel herrschen. Wie bedeutend auch die Summen waren, mit welchen von Frankfurt aus und durch die Vermittelung des Herzogs Friedrich den durch die dänische Brutalität und durch den Krieg Geschädigten zu Hülfe gekommen wurde, so harren doch der von harter Noth Bedrängten noch gar viele auf Erleichterung ihrer Lage durch die Mittel des vom Krieg verschont gebliebenen großen, reichen Deutschlands. Wir weisen nur auf die armen schleswig-holsteinischen Soldaten hin, die – allerdings durch die Schuld des Bundes, der ja das deutsche Contingent der Holstein-Lauenburger sogar im Ausland, in Dänemark, durch seine Generale inspiciren ließ! – zur Schmach Dänemarks im durchweg erbärmlichsten Zustande jetzt von dort in die befreite Heimath zurückkehren. Nicht weniger hülfsbedürftig sind viele Bewohner der so lange von den Dänen ausgesogenen Inseln.

Die Wahrscheinlichkeitsrechnung weist nach, daß durch diese Lotterie die Gelegenheit geboten ist, in kürzester Zeit eine Summe von etwa 80,000 Thalern für Schleswig-Holstein flüssig zu machen, wenn ihr die rechte Theilnahme von Seiten des deutschen Volkes nicht gebricht. Herrschte in Deutschland eine Opferfähigkeit für politische Zwecke, wie in England und Nordamerika, so wäre eine solche Summe durch freiwillige Gaben in wenigen Tagen aufgebracht; da dies, wie die Erfahrung gelehrt hat, leider nicht der Fall ist, die Nothwendigkeit aber eine solche Hülfe unabweislich fordert, so müssen wir eben das Mittel zur Erwerbung jener Summe, das in dieser Lotterie geboten ist, auch unseren Lesern recht angelegentlich empfehlen.




Eine gute Wache. Die Wachen in Gravenstein in Schleswig waren unangenehm, hauptsächlich durch die große Zahl von Spionen, die täglich aus dem ganzen Sundewitt dahin, als dem Hauptquartiere des Prinzen Friedrich Carl, gebracht wurden.

Es war schon Abend und finster, als wir nach einem ziemlich anstrengenden Marsch, vom Norden kommend, in genannten Ort einrückten und ich wider Erwarten zur Wache commandirt wurde. Welcher Soldat kennt nicht das Mißbehagen, das uns erfaßt, wenn man todmüde auf ein gutes Strohlager rechnen kann und das Wort: „Auf Wache“ alle diese herrlichen Aussichten zerstört! Doch gern oder ungern, der Soldat darf nicht fragen warum, er muß eben schweigend gehorchen.

Nach vielem Suchen fand ich endlich mein Wachtlocal und mit ihm ein gut Dutzend unfreiwilliger Gäste, Herren und Knechte, feine und niedere Leute, welche zu große Anhänglichkeit an das liebe Dänenthum und zu großer Eifer, ihm zu nützen, in diese Lage gebracht hatte. Mein Vorgänger [592] rückte ab und tröstete mich noch, als er meinen Mißmuth bemerkte, beim Ade mit den Worten, es sei dies hier eine ganz köstliche Wache, da Tante Trina mit wahrhaft mütterlicher Liebe für die Militärs sorge.

Doch mir wollte dieser Trost in meiner schlechten Laune eben nicht recht helfen. Ich saß, den Kopf in die Hand gestützt, die Wachinstruction studirend, am Tisch m meiner Stube, als es an die Thür klopfte und auf mein freilich nicht freundlich betontes Herein eine Matrone erschien. Ich war überrascht, „Tante Trina“ dachte ich unwillkürlich. Doch zu langem Denken ließ mir mein unbekanntes vis-à-vis nicht Zeit, mit ungemein gefälliger Bewegung, trotz ihrer nicht unbedeutenden Leibesstärke, näherte sie sich mir auf einige Schritte.

„Guten Abend, Herr … seien Sie mir nur ja nicht böse, daß ich zu so später Stunde noch zu Ihnen hereinkomme, aber Sie sind doch wohl recht müde und matt, und da habe ich denn gemeint, es würde ein freundlich gebotener Löffel Suppe so ganz unwillkommen nicht sein.“

Der Gedanke an mein unfreundlich Herein, an die Mißmuthsfalten auf meiner Stirn, gegenüber dieser herzigen freundlichen Frau – das Alles machte mich momentan so verwirrt, daß ich nichts zu sagen vermochte, als: „habe ich wohl die Ehre, Madame vom Hause …“

„Bitte, bitte,“ unterbrach sie mich rasch, „ich werde hier die Tante Trina genannt und mag es gern leiden, daß auch Sie bei diesem Namen bleiben. Ach guter Gott, wie angegriffen Sie armer junger Mensch aussehen, kommen Sie geschwind herüber zu meinem Bruder, so,“ und dabei ging mir die liebenswürdigste aller Frauen, Tante Trina, voraus.

Ich aber mußte unwillkürlich an eine liebe Frau in der fernen Heimath denken, an meine alte Mutter! Tante Trina mochte wohl schon lang ihr halb Jahrhundert durchlebt haben, denn die reichen Haare ihres schöngeformten Kopfes wetteiferten an Weiße mit dem kleinen einfachen Häubchen, das sie halb bedeckte. Die vielen Falten ihres Gesichtes verunzierten dasselbe nicht, sondern gaben ihm, neben einer unendlichen Gutmüthigkeit, einen ganz eigenen fesselnden Reiz, so zwar, daß man gern lange hineinblicken mochte m diese ruhigen Züge und die lebhaften blauen Augen.

Tante Trina eilte mir also voran in die Stube des Bruders, eines Greises in Mitte der Sechziger, der bei unserm Eintritte sich von seinem Sorgenstuhle mit hoher Rücklehne und weichen Seitenpolstern erhob, die Pfeife wegstellte und mir, beide Hände entgegenstreckend, ein herzliches „Willkommen“ zurief. Keine fünf Minuten währte es, und ich fühlte mich heimisch und behaglich unter den lieben alten Leuten, so heimisch, wie im Elternhause. Die Bedürfnisse des Magens waren befriedigt, wir griffen zu den Pfeifen. Bald brannte das duftige Kraut von Latakia im Thonkopf, und Empfindungen ganz eigener Art erfüllten mich, wenn ich dabei an meinen Vorpostenkanaster dachte.

Vater Petersen, so hieß Tante Trina’s Bruder, hatte als Schiffscapitain sich bis zu Anfang der fünfziger Jahre auf dem Wasser umhergeschaukelt, dann aber das Seeleben aufgegeben, um mit Schwester Trina in Ruhe und Gemüthlichkeit von seinen Ersparnissen zu leben. „Meine Schwester und ich,“ sagte er, „wir haben keinen uns näherstehenden Menschen mehr auf Erden, wir haben gut und reichlich zu leben, um dann noch ein schön Theil zu guten Zwecken verwenden oder, wo es gerade kneift, zuspringen zu können, und da giebt’s ja in diesem Kriege recht oft die beste Gelegenheit.“

Nun waren wir aus dem Kriegsthema und hatten somit reichlichen Stoff zur Unterhaltung, die Vater Petersen in seiner geraden schleswigschen Weise prächtig zu führen wußte. Von großem Interesse für mich war seine Erzählung von dem Rückzüge der Dänen aus der Danewirke nach Düppel. „Tag und Nacht,“ erzählte er, „zogen die dänischen Truppen in wilder Eile hier durch. Mein Neffe, der nach dem Verlust seiner Eltern mein Adoptivsohn geworden, stand beim … Infanterie-Bataillon, das zum größten Theil aus Schleswigern unter ausschließlich dänischen Officieren formirt war. Es war am Vormittag eines recht unfreundlichen Tages mit rauhem Nordost und schneidendem Schneetreiben, als das Bataillon hier einrückte. Mein Neffe war nicht dabei, im gezwungenen Kampfe gegen seine deutschen Brüder hatte ihn die Kugel getroffen, seine Cameraden brachten mir die Kunde und die letzten Grüße.“

„Der arme liebe Junge!“ fügte Tante Trina bei und stand auf, um sich am Fenster etwas zu schaffen zu machen.

Mir aber war’s, als hörte ich durch die mit zitternder Stimme gesprochenen Worte etwas wie Schluchzen.

„Die Truppen hatten kaum zwei Stunden hier gerastet,“ erzählte Vater Petersen weiter, „als der Befehl zum Weiterrücken gegeben wurde. Sie gehorchten, aber sie litten nicht, daß die Bataillonsmusik den ‚tappern Landsoldaten‘ spielte, sondern forderten laut und stürmisch ‚Schleswig-Holstein meerumschlungen‘. Alles Drohen der Officiere half nichts, die Musik, überschrieen, mußte schweigen, und unter dem Gesang des geliebten Marsches rückten die Armen ab. Ich habe nicht erfahren, wie der dänische Haß diese Meuterei, wie die Officiere es zähneknirschend nannten, bestraft haben mag.“

Da wurde ich gerufen, um das Contingent meiner Gefangenen durch zwei neue Individuen, abermals einen Pastor sammt Küster, ich glaube, von Broacker waren sie, zu vermehren. Ich wünschte dem liebenswürdigen Geschwisterpaar aus vollem Herzen gute Nacht, sie sagten: „auf Wiedersehen morgen früh.“ Ihr Wunsch hat sich leider nicht erfüllt; vor Anbruch des Morgens wurde das Bataillon, zu welchem ich gehörte, alarmirt und rückte wieder nach Norden an den Alsen-Sund in die Nähe von Sandberg.

Ich habe die lieben Leute nie wieder gesehen, rufe ihnen aber hiermit durch die weitwandernde Gartenlaube, die auch in Schleswig fast an jedem Heerde heimisch ist, meine herzlichen dankbaren Grüße zu.




Vierte Todtenliste von im gegenwärtigen amerikanischen Kriege gefallenen Deutschen, deren Erben Näheres auf dem Generalconsulat der Vereinigten Staaten zu Frankfurt a. M. durch dessen Secretair August Glaeser erfahren können. Das Generalconsulat fühlt sich bei dieser Gelegenheit verpflichtet, zu bemerken, daß nach wie vor diese Listen ausschließlich der „Gartenlaube“ zur Veröffentlichung zugesandt werden, daß mithin alle anderen dieselben enthaltenden Blätter sie nur der „Gartenlaube“ entnommen haben können.

Conrad Axet, S. Alexander, P. Arnold, J. Alexander, D. Benjamins, J. C. Booth, S. J. Bittner, W. H. Bitter, C. Beckmann, Brittenbon, G. Beißenberg, August Beyland, G. Beck, L. Böhler, Corbindorfer, M. Christ, A. Cunschmann, H. Cader, F. Conrad, F. Conradi, J. Claringer, John Decker, C. Dormann, C. Diehl, J. Decker, J. Docker, W. Dake, W. Drewe, J. Danner, B. Damann, John Eide, Chr. Elsner, E. Eichmar, F. Eckels, F. Edelmann, A. Fischer, A. Frost, J. Fischer, W. Frink, W. Fames, John Frenk, E. W. Fleit, M. Fettner, Frohmann, C.Funke, Louis Fickert, Louis Finne, Peter Fröhlich, D. Friedrich, J. W. Grosch, J. Giffel, D. Ginder, G. Groeßer, F. Gödicke, L. Gantz, Georg Hanther, John Hunt, P. Hauff, J. F. Hollebeck, W. Hirth, J. Harburger, Heman, R. Hermann, Ph. Herzog, Jos. Hupp, Ch. Hornung, G. Hirschmann, G. Hirschbrunner, W. Huth, A. Hamm, Hammann, F. Hildebrand, Franz Hönig, G. Hausmann, H. Herbert, J. S. Holland, J. Jacobus, J. Imhoff, Gg. Ketterer, H. Knoch, J. Keuleberger, D. Kintz, W. Keinch, B. R. Krounse, C. Küster, A. Kan, H. Kitt, Kiefuß, And. Keller, W. Kaiser, A. Knittel, G. Kühne, O. Kutter, F. Kull, Kurzleb, H. Kiefer, J. Kendel, Wm. Lipper, G. Lambert, F. Lunt, W. W. Lang, G. H. Lang, M. A. Letz, Levi Lingenfeldter, Adam Laufer, Charles Löffler, O. Loflipp, A. F. Markle, J. Menk, S. M. Major, Blasius Moltz, And. Metzger, Friedrich Michael, W. Martin, J. Meuger, Jac. Nees, A. Newzenburger, C. Nönlinger, F. B. Nitsche, M. Nolan, M. Noland, Edw. Ostner, J. Oehlmann, Ludw. Paulich, Detleff Paasch, J. Posten, C. Quinderlin, Gg. Rudder, J. S. Rittel, R. Rigan, M. Ramertz, S. Rauth, Frank Rossel, S. Raub, Redenberger, F. Rodhardt, A. Rothmaier, Romann, W. Richmann, A. Spangler, F. Sisco, A. Stidt, P. Sander, John Spanier, E. Strongbacher, H. Seller, H. Stall, B. Stribeck, J. H. Six, W. C. Stedmann, G. Sylvester, L. Sattler, C. Springard, J. Stelkers, C. Schäfer, F. Schwartz, E. Schönemeyer, G. Scholts, F. Schultz, T. Schreiber, Georg Sehweizer, Eduard Trabold, L. A. Toll, L. Vollhard, G. Vatter, C. Vermillon, L. W. Vorhees, John Veihl, H. Voß, John van de Belde, Mich. Werner, Bernh. Witte, Thomas Watsach, Louis Weingarbner, F. Weiterlander, F. Waltenspiel, Aug. Wattenspiel, G. Weißmann, Adam Wierkoppe, J. Zeverich, C. Zimmermann, Arnold Zenetti, Charles Zimmermann.




Ein kleines Kind – das ist der einfache Titel und der reiche Inhalt einer „Weihnachts-Novelle“ von Karl Wartenburg, eines Büchleins, das wir nicht blos allen Müttern, das wir auch den Vätern, deren liebstes Glück auf Erden „ein kleines Kind“ ist oder war, recht warm an’s Herz legen. Dieser Dichtung Quelle ist die Wahrheit; der Dichter hat alle Himmelswonne und allen Jammer über sein Kind mit dem Blute seines Herzens, mit den Thränen seiner Augen geschrieben. Die Widmung verräth Alles: „Meinem einzigen, geliebten Kinde Helene – geb. am 17. August 1855, gest. am 17. August 1861.“ – Wer auf dem Friedhof seinen Johanniskranz zu den Kindergräbern tragen muß, der wird in dieser Weihnachts-Novelle den trübsten Tag seines Lebens durch die Dichtung verklärt wieder finden; und wer noch alle seine Lieblinge fröhlich an’s Herz drücken kann, der wird sich um so glücklicher preisen und um so freudiger seinen Dank gegen Gott an den Menschen üben.


  1. Lange ehe sich in London der englische Alpenclub bildete und nach seinem Vorgange der schweizerische mit Zweigclubs in den verschiedensten Berggebieten der Schweiz und jüngern Datums der österreichische Alpenverein in’s Leben traten, um die zur Modepassion gewordenen Besteigungen hoher Alpengipfel systematisch zu organisiren und für die Wissenschaft nutzbar zu machen, hatte sich bekanntlich in der Schweiz, wie in den österreichischen Alpenländern eine Reihe von Männern die wissenschaftliche Erforschung der höchsten Bergregionen zum Ziele gesetzt. Unter diesen kühnen Alpengängern ist der Verfasser des obenstehenden Aufsatzes, Herr Regierungsstatthalter Gottlieb Studer in Bern, ein Vetter des am gleichen Orte lehrenden und wirkenden Alpengeologen Professor Bernhard Studer, unbestritten eine der ersten Autoritäten. Seit manchem Jahre pflegt er allsommerlich in den Alpen, bald im Westen, bald im Osten, umherzustreifen, die schwierigsten Bergerklimmungen zu wagen und in der Regel dem Publicum die Erlebnisse, Erfahrungen und Untersuchungen seiner Exkursionen in lebensvollen Darstellungen vorzulegen. Wenige dürften eine durch sorgfältige Forschungen an Ort und Stelle erworbene gleich genaue und umfassende Gebirgskenntniß besitzen, nur sehr Wenige auf so vielen allerhöchsten Alpenzinnen gestanden haben wie er, der vom Mont Velan und Grand Combin im Wallis bis nach Glarus und Uri auf die Scheitel fast aller Bergriesen den Fuß gesetzt hat. Unter seinen zahlreichen Schriften und Abhandlungen sei hier nur der jedem Alpenreisenden besondern zu empfehlenden gedacht, des „Panorama von Bern“, einer gründlichen Beschreibung aller der Berge, die in der Nähe der Bundesstadt vom Eichplatz der Enge aus das trunkene Auge erblickt; seiner trefflichen „topographischen Mittheilungen aus den Alpen“ und der interessanten Beiträge, mit denen er die in Gemeinschaft mit Melchior Ulrich in Zürich und J. J. Weilenmann in St. Gallen – denen sich später noch H. Zeller in Zürich beigesellte – von ihm in zwei Sammlungen herausgegebenen „Berg- und Gletscherfahrten in den Hochalpen der Schweiz“ geschmückt hat. Wenn wir hiermit einen Originalartikel aus der nämlichen bewährten Feder mittheilen, so glauben wir unsern Lesern um so Willkommneres zu bieten, als der unermüdliche Alpenwanderer vor wenigen Wochen erst wieder durch seine Bergfahrten in der nächsten Umgebung des neulich geschilderten Unteraargletschers die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat.
    D. Red. 
  2. In Leipzig hat Herr Buchhändler Albert Hoffmann den Hauptdebit der Loose dieser Lotterie übernommen.