Die Gartenlaube (1864)/Heft 47

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[737]
Pater Canisius.
(Schluß.)

Ich wollte nur den Mann, und ich hatte ihn, freilich nur soviel von ihm, daß ich um so begieriger wurde, ihn ganz kennen zu lernen. Mein Hauptzweck, der mich zu ihm führte, wurde mir beinahe zur Nebensache. Ich fragte noch nach der Wohnung des Paters.

„Sie können sie nicht verfehlen. Sie gehen zur Citadelle, verlassen dort die Stadt und wenden sich links. Sie kommen dann in einen schmalen Weg, den hübsche Gärten und hohe Hecken einfassen. Am Ende des Wegs liegt ein hohes Haus, das einzige in der Gegend. Es ist das Haus des Paters Canisius, der es mit seiner Bedienung allein bewohnt. Der alte Diener wird Ihnen die Thür öffnen, wenn Sie klingeln. Ob sein Herr Sie vor sich lassen wird, das ist freilich eine andere Frage.“

Ich glaubte nicht, daß es für mich eine Frage sein würde. Ich mußte sofort zu dem Pater gehen. Nach den Mittheilungen des Wirths war die späte Abendstunde die geeignetste zu meinem Besuche. Ich holte aus dem Zimmer der Dame die Cassette, die ich dem Pater Canisius überbringen sollte. Sie stand in dem Secretair der Stube. Sie war verschlossen und leicht; es schienen nur Papiere darin zu sein. Ich machte mich mit ihr auf den Weg. Es war beinahe halb eilf Uhr, als ich den Gasthof verließ.

Trotz der späten Abendstunde fand ich den Weg. Keine Laterne brannte, ich hörte keinen Laut, keinen Schritt in dem engen Heckengange, den ich zu durchwandern hatte. Ich erreichte das Ende der Straße und stand vor einem hohen, dunklen Hause; auch hier kein Licht, nicht der Schimmer eines Lichtes. Einige steinerne Stufen führten zur Hausthür, nach deren Klingelzug ich mich im Dunkel tastete. Eine feine Glocke schlug im Innern des Hauses an, und nach wenigen Minuten nahten sich langsame Schritte der Thür; ein Fenster über ihr wurde hell und ein Schlüssel wurde in der Thür gedreht. Sie wurde geöffnet, aber nur so weit, daß ein Gesicht hindurchblicken konnte; eine kleine, feste Kette sorgte dafür, daß Niemand unbefugt in das Haus dringen konnte. Ein kleiner, dürrer, alter Mann stand an der Oeffnung der Thür, mit einem grauen, vertrockneten Gesichte.

Er trug eine Laterne, deren Schein er auf mich fallen ließ, um mich zu betrachten.

„Was wünschen Sie?“ fragte er mich dann.

„Ich wünsche den Pater Canisius zu sprechen.“

„Wer sind Sie?“

„Ein Fremder, der einen Auftrag an den Pater auszurichten hat.“

„Von wem ist Ihr Auftrag?“

„Ich kann es nur dem Pater sagen.“

„Ich bedaure, der Pater empfängt keine Fremden.“

Auf einmal sah er die Cassette, die ich unter dem Arme trug. Er stutzte.

„Warten Sie einen Augenblick,“ sagte er, „ich werde Sie dem Pater melden.“

Er verschloß die Thür, und ich hörte ihn eine Treppe hinaufgehen. Schon nach wenigen Minuten kam er zurück und schloß die Thür diesmal ganz auf.

„Folgen Sie mir zu dem Pater.“

Ich trat in das Haus, und er verschloß die Thür hinter mir.

Ich stand in einer hohen, geräumigen, alterthümlich gebauten Vorhalle. An den Wänden hingen alte Gemälde, Portraits in Jesuitentracht, kluge, ernste, meist strenge Gesichter. Wir stiegen eine Treppe hinauf und kamen in einen weiten Gang, an dessen Wänden wiederum die Bilder alter Jesuiten hingen. Ueberall herrschte die tiefste Stille. Der alte Mann, der mich führte, der Diener des Paters, klopfte leise an eine der Thüren des Ganges, öffnete sie aber unmittelbar darauf.

„Treten Sie ein!“

Ich trat ein, und er zog die Thür hinter mir zu. Ich war in einem hohen, weiten, alterthümlichen Gemache mit altem, aber einfachem Meublement. Zwei Wachskerzen, die auf einem Tische in der Mitte des Zimmers standen, erleuchteten es ausreichend.

Auf einem Ruhebette hinten in dem Zimmer lag ein alter Mann, welcher bei meinem Eintritt sich halb aufrichtete.

„Kommen Sie näher, hierher!“ sagte er.

Ich war an der Thür stehen geblieben und trat zu ihm an das Ruhebett, auf dem er saß. Es war ein hochgewachsener Mann; ich sah es, trotzdem daß er saß. Die enganliegende, einfache, schwarze Jesuitenkleidung ließ mich auch seine Gestalt unterscheiden; er war hager, aber kräftig gebaut und hatte breite Schultern; sein Rücken war ungekrümmt, ungeachtet seiner fünfundachtzig Jahre. Das Gesicht war grau, wie das des Dieners, hager, wie sein Körper, aber nicht eingetrocknet; es hatte kräftige, starke Züge. Die Augen waren unter den hervortretenden Stirnknochen durch dichte, lang herunterhängende, graue Augenbrauen mehr als halb verdeckt; man sah sie dennoch blitzen, leuchten. Ueber seinem ganzen Wesen lag ein tiefer Ernst ausgebreitet, ohne Strenge, aber zugleich mit einer Ruhe und Klarheit, durch die er jede Umgebung beherrschen mußte. Auf dem Kopfe trug er ein kleines, dicht anliegendes Sammetkäppchen. Es ließ seine Tonsur nicht sehen und nicht unterscheiden, ob ihm noch Haare das Haupt bedeckten. An seiner [738] geistlichen Kleidung war nirgends die Auszeichnung einer höheren Würde oder Stellung zu bemerken. Er sah mich scharf, durchdringend an. Mir klopfte doch das Herz.

„Wie heißen Sie?“ fragte er.

Ich nannte ihm meinen Namen.

„Woher kommen Sie?“

„Aus Deutschland.“

„Sie sind ein Deutscher?“

„Ja, hochwürdiger Pater.“

„Sprechen wir deutsch,“ sagte er.

Auch er hatte bisher französisch gesprochen, und ich hatte ihm so geantwortet. Er sprach auch das Deutsche rein.

„Was führt Sie zu mir?“ fuhr er fort.

„Hochwürdiger Pater, ich bin heute mit dem täglichen Schiffe von Harlem angelangt. Auf demselben Schiffe fuhr eine fremde Dame. Sie stieg hier in Antwerpen mit mir in dem nämlichen Gasthofe ab und machte bald nach ihrer Ankunft einen Ausgang in die Stadt, von welchem sie nicht zurückkam. Nach einigen Stunden brachte ein Knabe mir ein Billet, das sie ihm für mich übergeben hatte und in welchem sie mich bat, Ihnen, hochwürdiger Pater, diese Cassette zu überbringen. Ich überreiche sie Ihnen.“

Er hatte die Cassette schon bei meinem Eintreten in meiner Hand gesehen; der Diener, dem sie aufgefallen war, mußte ihm von ihr gesagt haben. Er hatte indeß kaum einen Blick auf sie geworfen und nahm sie auch mit der größten Gleichgültigkeit von mir in Empfang.

„Kennen Sie den Inhalt der Cassette?“ fragte er.

„Nein, hochwürdiger Pater, ein Schlüssel war nicht da. Ich würde sie gleichwohl nicht geöffnet haben.“

Er sah mich wie durchbohrend an.

„Haben Sie das Billet bei sich, das Sie von der Dame erhielten?“ fragte er dann.

Ich übergab es ihm offen. Er las es, veränderte aber auch dabei keine Miene. Dann gab er es mir mit einem kurzen „Ich danke Ihnen“ zurück. Es sollte zugleich meine Verabschiedung sein. Ich stand zögernd, denn ich hatte ihm das Schicksal der Dame erzählen wollen, soweit ich Zeuge davon war, schwankte aber, ob ich es bei seiner großen Theilnahmlosigkeit noch thun sollte.

„Haben Sie mir noch etwas zu sagen?“ fragte er.

Ich hatte mich zum Erzählen entschlossen. Er mußte unzweifelhaft Interesse an der Dame nehmen, wenn er es auch nicht zeigte; vielleicht um so mehr, je mehr er es verbarg; ich fand es unehrenhaft, ihm etwas zu verschweigen.

„Ja, hochwürdiger Herr,“ antwortete ich, „über die Dame.“

„Erzählen Sie.“

„Sie bewohnte in dem Gasthofe ein Zimmer neben dem meinigen. Ich hörte sie darin weinen, dann schreiben und das Geschriebene versiegeln. Darauf verließ sie das Zimmer, den Gasthof. Sie war mir schon auf dem Schiffe wie eine Unglückliche vorgekommen. Ich interessirte mich für sie und folgte ihr. Sie ging zum Kai und schien dort Jemanden zu erwarten, zu suchen. Niemand kam zu ihr. Da ging sie die Schelde hinauf, immer weiter. Ich war ihr gefolgt. An einer einsamen Stelle stürzte sie sich, ehe ich es ahnen konnte, in’s Wasser. Ich warf mich ihr nach und es gelang mir, sie an das Ufer zurückzubringen. Sie war leblos. Ich legte sie auf den Rasen und eilte in ein Nachbarhaus, um Hülfe herbeizuholen. Als ich zurückkehrte, war sie verschwunden. Kaum fünfzig Schritte von der Stelle, wo ich sie zurückgelassen hatte, war mir ein Wagen begegnet. Mit dem Wagen mußte sie verschwunden sein. Es hatte, wie ich in dem Nachbarhause erfuhr, ein junger Herr darin gesessen, der sich erkundigt hatte, ob sie vorbeigekommen sei.“

Das Gesicht des Paters war während meiner Mittheilung völlig kalt und ruhig geblieben; nichts darin verrieth eine Theilnahme. Aber er hatte sich von seinem Ruhebette erhoben, und es war wie unwillkürlich geschehen; also doch eine Theilnahme, eine innere Unruhe sogar mußte sich seiner bemächtigt haben, und nur seine Gesichtszüge waren gewohnt, unter keinerlei Umständen eine Bewegung seines Innern zu zeigen. Ich hatte ihm mit kurzen Worten erzählt und hatte gehofft, er werde weitere Fragen an mich richten, die mir endlich Licht über die Dame geben könnten, aber ich hatte mich geirrt.

„Sie sind Priester?“ fragte er mich auf einmal.

Er hatte, wie er vor mir stand, mich wiederholt betrachtet; ich hatte es kaum bemerkt.

„Weltpriester,“ antwortete ich.

„Haben Sie Ihren Stand aus Neigung gewählt?“

Die plötzliche Frage verwirrte mich. Die fremde Dame hatte sie schon auf dem Schiffe an mich gerichtet. Ihr hatte ich ausweichend antworten können. Dem ernsten, alten, in der Kirche so hoch stehenden Geistlichen gegenüber konnte ich es nicht. Seine Augen drangen, wie er die Frage an mich richtete, wie stechend in das Herz; sie lasen auf dessen tiefstem Grunde. Er hatte meine Antwort schon, während ich nach ihr suchte.

„Setzen Sie sich!“ sagte er und zeigte nach einem Stuhle. Er hatte mich bisher stehen lassen. Er selbst setzte sich wieder auf das Ruhebett. Ich trug den Stuhl zu demselben und setzte mich ihm gegenüber. Sein Gesicht hatte einen ernsteren Ausdruck, als vorher; es war beinahe ein strenger, und doch schimmerte auch Milde hindurch. Seine Frage wiederholte er nicht.

„Hören Sie wenige Worte von mir an,“ sagte er. „Vergessen Sie sie nicht. Denken Sie daran, wenn das Gefühl über Sie kommen sollte, als seien Sie unglücklich. Das Unglück wird dann nicht an Sie herantreten. Sie haben durch Ihr freies, offenes Wesen meine Zuneigung gewonnen. Auch durch Ihr Herz. Es ist für edle Gefühle empfänglich, es hat den Muth und die Kraft der Aufopferung für sie. Sie können ihm aber auch gefährlich werden, und Ihr Stand würde Ihnen dann als ein Unglück erscheinen. Waren Sie nicht heute schon nahe daran? Sie haben jene Dame gesehen; Sie sahen nicht allein eine Unglückliche in ihr, Sie sahen eine junge, schöne, geheimnißvolle Unglückliche –“

Ich mußte die Augen niederschlagen. Ich war wohl feuerroth im Gesichte geworden.

Er fuhr ruhig fort: „Nur Ihre Phantasie war bis jetzt erregt, nicht das Herz. Aber auch das Herz kann, wird Ihnen ergriffen werden, ja, es wird es. Es wird auch Ihnen nicht ausbleiben, Ihnen am wenigsten. Es sollte nicht so sein, bei dem Stande, den Sie einmal gewählt haben. Dann werden Sie schwere Kämpfe durchzumachen haben, um nicht einer zweifachen Gefahr zu erliegen, daß nicht entweder Ihnen das Herz breche, oder daß Sie nicht ein Ehrloser werden. Und aus der Gefahr kann nur Eins Sie erretten, der Gedanke, daß ein höherer Wille Ihnen Ihr Schicksal auferlegt hat, und daß er es Ihnen auferlegt hat zum Heile Ihrer Seele. Auch jene Frau, aus deren Leben Sie mir eine Episode mitgetheilt haben, nur eine Episode – ihr Schicksal hat sich heute noch nicht vollendet –“

Er brach ab und sah vor sich hin, ob er fortfahren, ob er mir von der Frau erzählen solle; denn das hatte er gewollt. Er erzählte nicht.

„Kommen Sie nach einem Jahre wieder zu mir,“ sagte er. „Dann darf ich Ihnen mittheilen; dann wird die Wahrheit meiner Worte Ihnen völlig klar werden. Nach einem Jahre? fragt mich Ihr Blick, und Sie denken an mein Alter! Sie werden mich nach einem Jahre noch am Leben finden. Die höhere Hand, die unser Leben bestimmt und unsere Schicksale regiert, fordert ein Wirken von mir, das erst dann seinen Abschluß erhalten kann.

Also über’s Jahr, mein junger Freund, und zu dieser Stunde der Nacht, sie gehört mir.“

Er war aufgestanden, auch ich hatte mich erhoben. Dann reichte er mir seine Hand hin. Ich drückte meine Lippen darauf. Er küßte mich auf die Stirn. So nahmen wir Abschied. Ich ging am andern Morgen noch einmal zu der Stelle, wo ich die Fremde aus dem Wasser geholt hatte. Ich erkundigte mich in der Nachbarschaft nach ihr. Niemand wußte etwas Weiteres über sie. Man dachte schon nicht mehr an sie. Aus meinem Gedächtnisse entschwand sie nicht; nicht ihre Schönheit, nicht ihr Unglück. Meine Phantasie mußte sich immer mit ihr beschäftigen, und immer angelegentlicher und lebhafter. Der Pater Canisius trug wohl einen Theil der Schuld mit, auch davon, wenn die Bilder der Phantasie manchmal einen leisen Schmerz in meinem Herzen entzünden wollten. Ich erwartete mit Sehnsucht, mit jenem Schmerze den Ablauf des Jahres. – Ich war wieder in Antwerpen. Der Pater Canisius lebte noch, wie er es vor einem Jahre gesagt hatte. In der eilften Stunde des Abends ging ich zu ihm. In seinem Hause war noch Alles wie vor einem Jahre. Der alte Diener lebte auch noch und führte mich die Treppe hinauf, wie damals. Der Pater lag wiederum [739] auf seinem Ruhebett. Ich fand auch an ihm nicht die geringste Veränderung; er schien um keinen Tag älter geworden zu sein. Ich meinte, er könne, er dürfe nicht anders werden; so mußte der Herr seinen Diener abrufen. Er reichte mir die Hand.

„Sie sind pünktlich. Es hat mich gefreut, aber auch – doch setzen Sie sich.“

Ich mußte einen Stuhl nehmen und mich ihm wieder gegenübersetzen. Er sah mich nicht wieder mit jener durchbohrenden Schärfe an, durch die er früher in meiner Seele hatte lesen wollen. Er kannte mein Inneres jetzt; das las ich in seinen Augen. Aber sein Blick war mild.

„Sie waren pünktlich,“ wiederholte er. „Ich erwartete es. Aber mit größerer Unruhe, als Genugthuung. Ich kenne jeden Tag Ihres Lebens, seitdem ich Sie hier sah. Auch Ihre Gedanken wurden mir daher offenbar. Sie drohten, eine gefährliche Richtung für Sie anzunehmen. Die Schuld war freilich zum Theil mein. Die Gefahr für Sie ist noch nicht ganz vorüber. Damit sie völlig schwinde – hier, dieser Zettel führt Sie zu der Frau, mit der seit einem Jahre Ihre Gedanken sich mehr beschäftigen, als es hätte sein sollen. Sie werden sie sehen. Sie wird Ihnen danken für die Rettung ihres Lebens. Ihr bester Dank wird die Heilung sein, die sie Ihnen geben wird, für Ihr ganzes Leben.“

Er übergab mir ein zusammengefaltetes Papier. Ich entfaltete es nicht. Mich beschäftigten seine Worte nach einer andern Richtung. Er kannte meine Gedanken, die ich keinem Menschen in der Welt verrathen hatte. Er konnte sie nur wissen durch die genaueste Kenntniß meines Lebens von jenem Tage an, da ich ihn zuerst gesehen hatte. So hatte er selbst gesagt. Er las meine Fragen in meinen Augen.

„Junger Bruder,“ sagte er, „Sie verfolgen einen Gedanken, der zu der erhabensten Aufgabe des Menschen führt. Unser heiliger Orden streitet und kämpft für sie. Wir streiten für die Religion Jesu, das heißt, für das Recht, für die Liebe, aber um Beider willen auch für den Glauben. Für die Macht der Kirche, sagt man gewöhnlich, sagen selbst manchmal unsere Freunde. Sie haben nicht Unrecht. Ja, wir streiten für die Macht unserer hohen Kirche, nur nicht für eine Gewalt. Und um für ihre Macht zu streiten, müssen wir eine Macht haben, eine Macht sein. Wir werden es wieder. Der neue Grund ist gelegt. Ich habe dafür gelebt, ihn zu legen, zu befestigen. Das Ziel ist erreicht. Der Herr kann mich jetzt jeden Tag zu sich rufen. Was Sie betrifft, mein junger Bruder, ich hatte daran gedacht, Sie zu einem der Unsrigen zu machen. Ich habe den Gedanken aufgegeben. Sie sind zu weich, und wir bedürfen eisenharter und eisenfester Streiter. Gehen Sie jetzt zu jener Frau, die Sie nur als eine Unglückliche gekannt haben, die Sie als eine Glückliche wiederfinden werden. Wenige Worte vorher über sie. Sie ist der Sprößling einer hohen, aber illegitimen Verbindung. Sie weiß es nicht; sie darf es nicht erfahren. Die Kirche hat ein Interesse daran, daß es unbekannt bleibt. Leben Sie wohl. Sie sehen mich nicht wieder.“

Er umarmte mich, mit Rührung fast, wie es mir schien.

„Meinen Segen jener Frau!“ sagte er noch.

Ein Wink seiner Hand entließ mich. Der Diener geleitete mich stumm aus dem Hause. Im Gasthofe entfaltete ich das Billet, das ich von dem Pater Canisius erhalten hatte. „Schwester Victoria im Kloster zu – wird den Ueberbringer dieser Zeilen empfangen.“ Das war der Inhalt des Zettels. An der Stelle der Unterschrift war ein einfaches Kreuz. Das Kloster, das benannt war, lag in Frankreich, unweit der niederländischen Grenze. Im Kloster also hatte die Unglückliche ihr Glück gefunden!

Schon am anderen Tage reiste ich nach dem Kloster. Es war ein großes, altes, reiches und doch finsteres Gebäude, das in einer einsamen, wilden und traurigen Gegend lag. Ich klopfte an seine Pforte. Die Pförtnerin öffnete mir, eine alte Nonne in der schwarzen Tracht des strengen Ordens der Franziskanerinnen.

„Was wünscht der Herr?“

„Ich wünsche die Schwester Victoria zu sprechen.“

Bei dem Namen wurde sie aufmerksamer; er mußte eine Bedeutung im Kloster haben. Sie sah mich aber zweifelhaft an.

„Ich komme im Auftrage des Paters Canisius zu Antwerpen,“ sagte ich.

„Warte der Herr ein paar Minuten.“

Ich wartete. Sie kam zurück.

„Folge der Herr mir.“

Sie ließ mich durch die Thür treten, und ich stand am Eingange eines langen, weiten, hellen Ganges. An der einen Seite waren Thüren, an der anderen hohe Fenster. Sie führte mich zu der zweiten Thür und schloß dieselbe auf. Ich trat in ein hohes, helles Gemach. Aber es war leer, bis auf eine einzige hölzerne Bank, die an der Wand stand. Die weiß angestrichenen Wände waren völlig nackt und kahl. Die eine Seitenwand enthielt ein weites Gitter von starkem, engem Drahtgeflecht. Ich befand mich in dem Sprechzimmer des Klosters. An der anderen Seite des Gitters stand eine Nonne. Sie nahte sich dem Gitter. Es war eine alte Frau mit feinen Zügen. Sie trug auf der Brust ein schwarzes Kreuz. Es war die Vorsteherin des Klosters.

„Ich möchte die Schwester Victoria sprechen,“ begann ich, nachdem ich die Nonne ehrerbietig begrüßt hatte. „Wünschen Sie meine Legitimation zu sehen?“

„Ich bitte darum. Die Regel des Klosters erfordert es.“

Ich reichte ihr den Zettel durch eine kleine Klappe in dem Drahtgeflecht des Gitters, die sie geöffnet hatte. Sie las den Zettel. Dann sagte sie: „Ich darf doch der Schwester Victoria das Billet überreichen? Sie werden sie sehen, mein Herr, die frömmste Dame, welche in einem Kloster der Welt lebt.“

Sie ging und verschwand durch eine Thür, die dem Gitter gegenüber war. Nach kurzer Zeit öffnete die Thür sich wieder. Eine andere Nonne trat ein. Das Herz klopfte mir. Es war die hohe, schöne, edle Gestalt, die ich in meinen Armen, an meinem Herzen getragen, die seitdem meine Gedanken erfüllt hatte. Selbst das grobe, harte, unschöne schwarze Gewand, das sie trug, konnte die edlen, vollendeten Formen nicht verbergen. Das weiße Kopftuch der Nonnentracht bedeckte fast zur Hälfte das Gesicht, aber was frei blieb, zeigte sich in um so wunderbarerer Schönheit und Anmuth. Auch die Frische und Feinheit der durchsichtigen Haut hatte die Luft der Klostermauern ihr nicht rauben können. Einen neuen Zauber hatte sie dagegen zwischen diesen Mauern gewonnen: den des zufriedenen Glücks, des inneren Friedens der Seele. Sie trat zu mir an das Gitter. Sie hielt den Zettel des Pater Canisius in der Hand.

„Ein edler Mann sendet Sie zu mir,“ sagte sie. „Ich verdanke ihm Alles, was ich bin – in diesem Augenblicke das Glück, dem Retter meines Lebens und meiner Seele meinen Dank aussprechen zu können. Ich habe mich lange danach gesehnt, mein Herr.“

„Der Pater Canisius,“ erwiderte ich ihr, „hat mir gesagt, daß Sie glücklich seien –“

„Ich bin es, mein Herr.“

„Und daß Sie hier das Glück gefunden haben.“

„In diesen Mauern, in meinem heiligen Berufe hier,“ setzte sie hinzu. Dann fuhr sie fort: „Der Pater Canisius hat mir auch von Ihnen gesagt, mein Herr, daß das wahre Glück in Ihrem Innern sich noch nicht befestigen wolle, und er hat mir aufgetragen, Ihnen meine Geschichte zu erzählen; es werde Sie stärken. Darf ich in wenigem Zügen Ihnen meine Schicksale mittheilen?“

„Ich bitte Sie darum.“

Sie erzählte mir: „Ich genoß eine ausgezeichnete Erziehung; sie war zumeist auf die Ausbildung meines Innern gerichtet, und dies, weil ich, für das Kloster bestimmt, in der Einsamkeit der Klostermauern das Glück und den Frieden meines Herzens in der Ausbildung meines Geistes solle suchen können. Warum man mich für das Kloster bestimmt hatte, ich habe es nicht erfahren. Ich fragte nicht danach; der Gedanke daran machte mich nicht unglücklich. Als ich fünfzehn Jahre alt war, wurde ich dem Kloster übergeben, diesem nämlichen Kloster, in dem Sie mich hier sehen. Ich wurde Novize. Die würdige Mutter, die Schwestern, Alle kamen mir mit Liebe entgegen. Ich wurde sogar vor Anderen ausgezeichnet; es entging mir nicht. Ich verdanke es dem Pater Canisius, wurde mir gesagt, unter dessen besonderem Schutze ich stehe, der mich dem Kloster empfohlen habe. Nach zwei Jahren wurde ich als Schwester eingesegnet. Ich blieb zufrieden. Da sah ich eines Tages – ich hatte acht Tage, gerade acht Tage vorher das Gelübde abgelegt – in der Kirche während der Frühmette einen Fremden, und es war um meine Ruhe und mein Glück geschehen. Dem Chore der Nonnen gegenüber war in der Höhe eine Tribüne, mit einem dichten, hölzernen Gitter versehen. Hinter dem Gitter wohnten an Sonntagen die Dienerinnen des Klosters dem Gottesdienste bei. Dort hinten sah ich an jenem frühen Morgen plötzlich [740] ein Paar dunkle, blitzende Augen auf mich gerichtet. Ich erschrak und schlug meinen Blick nieder; ich mußte ihn wieder erheben, und begegnete wieder den Blitzen der großen, dunklen Augen. Bald sah ich ein blasses Gesicht; aber es war schön geformt, es trug melancholische und doch so stolze, vornehme Züge. Mit meiner Andacht war es vorbei. Wer war der fremde Mann, der nur nach mir sah, der also nur um meinetwillen da oben war? Und er hatte nur mit Gefahr dahin gelangen können. Mit der Andacht war meine Ruhe dahin, und mit meiner Ruhe bald mein Glück. Er war noch da, als wir das Chor verließen; seine brennenden Blicke verfolgten mich bis zu dem letzten Schritt in der Kirche, und bei dem letzten Schritte hatte ich mich noch nach ihm umsehen müssen. Ich verschwieg, was ich gesehen hatte. Wie hätte ich es mittheilen können?

Am folgenden Morgen war er wieder da. In der Nacht darauf war er an dem Fenster meiner Zelle. Er hatte nur mit Gefahr seines Lebens die Höhe erklettern können. Ich sah im Mondenschein seine hohe, stolze, jugendliche Gestalt, die seinen edlen, stolzen Zügen entsprach. Lassen Sie mich kurz weiter erzählen. Er war auf einer Reise. Der Zufall hatte ihn am Tage meiner Einsegnung hierher geführt. Er hatte mich gesehen, und hatte mich wieder sehen müssen. Er liebte mich und schwor mir seine Liebe. Ich liebte ihn wieder. Ich konnte nicht anders, ich war glücklich und in meinem höchsten Glücke am tiefsten unglücklich. Ich konnte nicht mehr leben unter dem Eide, den ich am Altare geschworen; ich mußte verderben, wenn ich den Eid brach. Ich kämpfte lange, ich kämpfte furchtbar mit mir. Ich brach meinen Eid und entfloh mit dem Manne meines Herzens aus dem Kloster. Er gehörte einer edlen Familie des nördlichen Deutschlands an. Er war reich, unabhängig. Wir begaben uns nach Schottland. Dort ließen wir uns trauen. Ich hatte einen fremden Namen angenommen. Wir gingen auf seine Güter nach Deutschland und waren glücklich. Ich indessen nur wenige Monden. Da kam schon das Bewußtsein des Treubruchs, des Meineids über mich, der inneren, der äußeren Ehrlosigkeit. Ich war vor Gott eine Sünderin, vor den Menschen eine Verbrecherin. Noch kannte die Welt mein Verbrechen nicht. Ich war nicht verfolgt worden, nie hatte ich ein Wort über die Flucht einer Nonne aus einem französischen Kloster an der niederländischen Grenze vernommen. Aber war ich darum vergessen, todt? Wurde ich nicht im Geheimen verfolgt, und desto eifriger und wirksamer? Der Pater Canisius! Der Gedanke an ihn ergriff mich auf einmal, erfüllte mich mit Entsetzen. Ich hatte ihn nie gesehen; aber ich hatte in dem Kloster unter seinem besonderen Schutze gestanden; ich hatte aus Manchem geschlossen, daß ich durch ihn, auf seine Veranlassung, seinen Befehl, dem Kloster übergeben war, daß er überhaupt mein Schicksal bestimme; ich hatte dabei von ihm nur als von einem Manne gehört, der einen hohen geistlichen Rang einnehme, in der Kirche mit einer fast unumschränkten Macht bekleidet sei, vor der Alles sich beugen müsse, die Alles ergreife! Wenn diese Macht mich verfolgte, mich entdeckte! Wenn ich plötzlich in einer Nacht überfallen, aus den Armen meines Gatten, von der Wiege meines Kindes gerissen würde! – ich fühlte mich Mutter. Wenn man mich in das Kloster zurückschleppte, zur ewigen Einmauerung verdammte! In dem Kloster hatte man sich oft solche Geschichten von entflohenen und wiedereingefangenen Nonnen erzählt. Ich hatte keine ruhige Stunde mehr. Mein Leben war vergiftet, vernichtet. Ich warf mich in geräuschvolle Vergnügungen, um mich zu betäuben. Das Erwachen aus der Betäubung war um so fürchterlicher. Ich wollte mich an das unschuldige Kind anklammern, das ich gebären sollte, das ich gebar. Es war ein Kind der Sünde, des Verbrechens. Ich stieß es von mir. Mein Mann siechte; er war schon immer kränklich gewesen. Unter meinen Qualen, die ich ihm nicht verbergen konnte, litt er mit. Er starb. Einige Wochen nachher starb mein Kind. Durfte es am Leben bleiben? Und nun – hatte man absichtlich so lange gezögert? Aus Mitleiden? O, nein! Ich saß an dem Grabe meines Kindes. Da trat ein Unbekannter zu mir, ein Mann, den ich nie gesehen hatte.

,Gnädige Frau, der Pater Canisius in Antwerpen befiehlt Ihnen, binnen heute und vier Wochen vor ihm zu erscheinen.‘

Die Worte sprach er, wie ich ihn kaum hatte ansehen können. Als er sie gesprochen hatte, war er verschwunden. Ich war verfolgt, ich war entdeckt. Wie ich entdeckt war, war ich ergriffen. Wie konnte ich der allmächtigen Macht des Pater Canisius entgehen? Mein Loos? Sie hatten es im Kloster durch jene Erzählungen mir vorhergesagt. Die furchtbarste Angst ergriff mich, verwirrte mir den Geist, brachte mich dem Wahnsinne der Verzweiflung nahe. Ich wußte nicht mehr, was ich that. Ich machte in Eile das Vermögen zu Gelde, das ich von meinem Manne, von meinem Kinde geerbt hatte. Es war nicht unbedeutend. Dann wollte ich fliehen, mich in dem verborgensten Winkel der Erde verbergen. Aber wo fand ich diesen? Wie kam ich dahin? Die Verzweiflung gab mir den unglücklichsten Gedanken ein. Ein Freund meines Gatten hatte mir eine innige, aber ehrerbietige und, wie ich meinte, blos freundschaftliche Zuneigung gezeigt. Er war unvermählt. An ihn schrieb ich, daß ich unglücklich, verfolgt sei, daß ich eines Schutzes bedürfe, daß ich ihn um seinen Schutz bitte. Ich bat ihn, wenn ihm mein Leben lieb sei, an einem bestimmten Tage zu einer bestimmten Stunde in Antwerpen am Landungsplatze des Harlemer Schiffes zu sein. Er hielt sich in Brügge auf. Ich bestellte ihn nach Antwerpen aus einem doppelten Grunde. Kam er, so konnten wir von da mit einem der stündlich abgehenden Schiffe sofort nach irgend einem fernen Welttheile entkommen. Kam er nicht, so stand der Entschluß zu sterben in mir fest, und ich konnte in Antwerpen selbst am sichersten mein Vermögen in die Hände des Pater Canisius bringen, um es für das Heil meiner Seele, zum Besten der Kirche zu verwenden.

Ich kam an dem bestimmten Tage in Antwerpen an. Sie, mein Herr, waren mein Begleiter, hatten sich meiner angenommen. Ich war zu der bestimmten Stunde an dem Landungsplatze der Schiffe. Der Erwartete war nicht da. Mein Leben war mir nichts mehr. Ich ließ Ihnen die Cassette mit den Papieren, die mein Vermögen enthielten, übergeben, um sie dem Pater Canisius zu überbringen. Dann stürzte ich mich in das Wasser. Ich war gerettet. Ich fand mich wieder in einem Wagen, in den Armen des Mannes, den ich erwartet, der durch einen Zufall sich verspätet, der meine Spur, dann mich leblos im Grase am Ufer der Schelde gefunden, mich in seinen Wagen aufgenommen, mich in’s Leben zurückgebracht hatte. Wie, durch wen ich aus dem Wasser errettet war, wußte weder er noch ich. Er brachte mich zum Hafen zurück, zu einem Schiffe, das in der nämlichen Stunde abging. Wir fuhren nach England, wir wollten von da weiter. Aber ich war in die Hände eines Heuchlers, eines elenden Schurken gefallen, der früher seine bösen Absichten gegen mich, da er sich überzeugte, daß er sie nicht erreichen konnte, zu verbergen gewußt hatte. Unglücklicher, als ich war, konnte ich nicht werden. Die Verzweiflung konnte mich zum zweiten Male nicht fassen. So gelangte ich durch das tiefste Unglück zu der Höhe des Glücks, zu dem wahren Glücke. Ich hatte die volle, klare Einsicht meiner Schuld, ich hatte die volle, klare Einsicht in das, was mir Noth that, meine Sünden, mein Vergehen zu büßen; ich war bereit, ich hatte nur noch den einen Willen, mich jeder, auch der schwersten, Buße zu unterwerfen. Ich entfloh jenem Manne und kehrte nach Antwerpen zurück. Mein erster Gang war zum Pater Canisius.

‚Ich wußte, daß Du zurückkommen werdest, meine Tochter. Kein Mensch entgeht seiner Bestimmung. Du wirst fortan auf der Erde glücklich leben und Dir das ewige Heil erwerben.‘

Das waren die Worte, mit denen er mich empfing, ernst, aber mild. Er schrieb einen Zettel, nur wenige Worte. Er übergab ihn mir versiegelt. Ich las die Aufschrift. Er war an die Vorsteherin des Klosters gerichtet, dem ich entflohen war.

,Du wirst in Dein Kloster zurückkehren‘ sagte der Pater.

Ich kehrte am anderen Tage zu dem Kloster zurück. Allein, freiwillig. Ich war drei Jahre fortgewesen. ,Die reuige Schwester Salomea kehrt zurück,‘ warf ich mich vor der würdigen Mutter nieder.

,Die Schwester Salomea ist todt; sie starb schon vor drei Jahren‘, antwortete sie mir.

Ich übergab ihr den Zettel des Pater Canisius. Sie las ihn. Sie hob mich auf und drückte einen Kuß auf meine Stirn.

,Die fromme Schwester Victoria sei mir und ihren neuen Schwestern willkommen.‘

Seit beinahe einem Jahre lebe ich hier. Ich lebe glücklich. Vom Pater Canisius erfuhr ich, wer mich aus dem Wasser errettet hatte, wem ich den Grund zu meinem Glücke verdanke. Ich erfuhr mehr von ihm, daß Sie, mein Erretter, nicht in voller Zufriedenheit mit einem Stande leben, den Sie vielleicht nicht ganz freiwillig gewählt haben. Möge ich den Dank, den ich Ihnen verschulde, dadurch abtragen können, daß mein Beispiel Sie zufrieden

[741]

Schloß Hartenfels in Torgau.
Nach der Natur gezeichnet von C. F. Sprosse.

und glücklich mache. Es giebt nur ein wahres Glück für den Menschen – das ist der Friede mit sich selbst.“

Ihr Wunsch war schon erfüllt, während sie ihn aussprach. Ich sagte es ihr.

„Fromme Schwester Victoria, Sie sind in dieser Stunde meine Retterin geworden.“

Ein seliges Lächeln leuchtete in ihren Augen. Sie öffnete die kleine Klappe in dem Gitter und reichte mir ihre Hand hindurch. Ich führte sie an meine Lippen. Sie drückte leise meine Hand. Es war eine neue Weihe, die ich empfing.

„Beten Sie für mich, meine Schwester.“

„Beten wir Beide für einander, mein Bruder.“

[742] Damit schieden wir. In meinem Herzen lebte fortan der Friede. Auch sie war zufrieden und glücklich geblieben. Der Pater Canisius war nach einem halben Jahre gestorben. Er hatte sein Werk vollbracht. – Das war die Erzählung meines Oheims. Er ist vor drei Jahren gestorben, zweiundachtzig Jahre alt. Ich habe nie einen Mann gekannt, der zufriedener und heiterer war, obschon ich im Uebrigen seine Anschauung nicht theilen konnte.

Von ihm habe ich gelernt, in jedem Schicksale den Frieden der Seele finden und bewahren zu können. Mein Oheim hatte es vom Pater Canisius gelernt.
J. D. H. Temme. 




Deutschlands Herrlichkeit in seinen Baudenkmälern.
Nr. 3. Schloß Hartenfels in Torgau.
(Mit Abbildung.)

Ein interessanter Nachmittag war mir in Graditz vergangen, dem bekanntesten unter den in der Nähe von Torgau, der alten sächsischen Kurfürstenresidenz, liegenden preußischen Gestüten, das geschichtlich dadurch bemerkenswerth ist, daß Karl August von Weimar bei einem Besuche des dortigen Hauptgestütes am 14. Juni 1828 plötzlich vom Schlage getroffen wurde.

Die reichste Abendsonne übergoß die Gegend mit ihrem goldenen Glanze, als ich mich auf einem zum Schutze gegen die Überschwemmungen der Elbe aufgeworfenen hohen Damme der kaum eine Stunde entfernten Stadt näherte. Rechts von dem Wege breitet sich eine fruchtbare, mit Dörfern reich besetzte Niederung aus, zur linken Hand aber hat man den Strom und jenseits desselben eine Ebene, die in einem weiten Bogen von niedrigen Höhenzügen eingeschlossen wird, welche als die letzten Ausläufer des Erzgebirges gelten können. Mit jedem Schritte wurde das Bild der Stadt imposanter; vor Allem bot das an ihrem südöstlichen Ende aufragende mächtige Schloß Hartenfels, das sich mir hier in seiner ganzen Ausdehnung darstellte, einen majestätischen Anblick. Ich erinnerte mich, früher gehört zu haben, daß nächst dem Residenzschlosse in Berlin unter allen ähnlichen Gebäuden Preußens Hartenfels die größten Massendimensionen habe und daß ihm hierin nur das Marienburger Schloß gleichkomme. „Es ist eine recht kaiserliche Burg,“ hatte Karl der Fünfte geäußert, als er, 1547 nach der Mühlberger Schlacht vor Torgau vorbeiziehend, des Schlosses von dieser Seite aus ansichtig wurde.

Je weiter ich an die gerade auf das Schloß gerichtete Brücke herankam, um so gewaltiger traten die Theile des großen Baues mit seinen vielen thurmartigen Vorsprüngen hervor. Am rechten Elbufer, dem Schlosse gegenüber, hatte ich den Brückenkopf mit einem in jüngster Zeit aufgeführten, zu fortificatorischen Zwecken dienenden bombenfesten Gebäude. Vom Mai bis September dieses Jahres – so erzählte mir ein desselben Weges Wandernder waren die Räume dieses stattlichen Gebäudes von dreihundert bei Düppel und später noch von vierhundert auf Alsen gefangenen Dänen bewohnt gewesen. Nur wenige Schritte vom Ende dieser Elbbrücke erheben sich auf dem linken Ufer die Mauern des Schlosses, nach Südwest in gerader Richtung und nur in der Mitte von einem viereckigen Vorbau unterbrochen; an seinen Enden ist dieser Flügel von zwei mit schöner Bildhauerarbeit reich gezierten Erkerthürmen begrenzt, und hohe Fenster in Bogenform bezeichnen die vier Stockwerke, welche er enthält. Nach Norden tritt zunächst ein runder Thurm vor, versehen mit drei Reihen übereinander angebracht Schießscharten.

„Das ist der Hasenthurm; ihn hat Kurfürst Johann Friedrich von Grund aus neu gebaut,“ sagte mein Begleiter, der mit der Geschichte des Schlosses sehr vertraut schien und sich erbot, mich mit den Hauptmerkwürdigkeiten desselben bekannt zu machen. Nicht weit von diesem und mit ihm durch einen Zwischenbau verbunden, bemerkte ich einen zweiten ähnlich gebauten Thurm. „Und da haben wir,“ so berichtete mein gefälliger Cicerone weiter, „den Flaschenthurm, einen gar wundersamen Bau. Anstatt der gewöhnlichen Treppe führt ein breiter gewölbter Fahrweg zu dem sogenannten brandenburgischen Gemache, welches die Breite des ganzen Gebäudes einnimmt. Früher verband eine künstliche Vorrichtung, welche in Gestalt einer hohlen Säule von der Mitte des Fußbodens unter einer Tafel ausging, diesen Raum mit dem tiefen unter dem Thurme befindlichen Keller, zu welchem hinab gleichfalls ein ebenso breiter Fahrweg leitete, so daß unvermerkt Gegenstände im Innern der Säule herauf- und heruntergelassen werden konnten. Als 1711 Peter der Große von Karlsbad aus, wo er den Sommer über zugebracht, seinen Rückweg über Dresden und von da zu Wasser über Torgau nahm, hielt er sich längere Zeit hier auf, um auf Hartenfels die Vermählung seines einzigen Sohnes Alexius mit der am Hofe der sächsischen Kurfürstin Eberhardine erzogenen braunschweigischen Prinzessin Charlotte Christiane Sophie zu feiern. Man tafelte in dem Thurmgemach, und der Czar, der bekanntlich ein wackerer Zecher war, wunderte sich nicht wenig, daß es ihm mitsammt einer Gesellschaft tüchtiger Trinker nicht möglich wurde, das halbe Dutzend Flaschen zu leeren, das unter dem Tische stand. Endlich wurde ihm das Zauberspiel, durch welches an die Stelle der geleerten immer wieder volle Flaschen traten, von seinem Wirthe August dem Starken erklärt.“

Um zu dem Hauptportale zu gelangen, mußten wir einen großen Theil des Schlosses umgehen, so daß mein Geleiter mir noch Manches von dem Schlosse, von seiner Gründung, die sich bis auf das dreizehnte Jahrhundert zurückführen läßt, und von seinem Neubau durch den Kurfürsten Johann Friedrich (1532–1551) zu erzählen Zeit fand. „Während Peter’s Anwesenheit,“ sagte er u. A., „hatte sich auch Leibnitz hier im Schlosse eingestellt und hielt eine lange Unterredung mit dem Czaren darüber, wie Kunst und Wissenschaft in Rußland eingeführt und verbreitet werden könnten. In Folge dieses Gesprächs hat ihn Peter zum geheimen Justizrath mit tausend Rubeln Pension ernannt. – Ueberhaupt hat das Schloß früher gar manche hohe Herrschaften beherbergt. So 1523 den entthronten König der Dänen und Schweden, Christian II., 1547 nach der Schlacht bei Mühlberg den Erzherzog Ferdinand, den Bruder Kaiser Karl’s V., und seine beiden Söhne, auch Gustav Adolph, der vor der Breitenfelder Schlacht auf Hartenfels den 5. September 1631 einen Kriegsrath hielt, und 1692 den Kurfürsten von Brandenburg, Friedrich III., den nachmaligen ersten König in Preußen. Bei diesem letzten Besuche wurde zwischen Friedrich und dem Kurfürsten von Sachsen, Johann Georg IV., am 10. Juni der Orden ,der guten Freundschaft’ gestiftet – der freilich nicht verhindert hat, daß sich nachmals die Herrscher beider Länder fast immer feindlich gegenüber gestanden haben.

Und wie gar viele fürstliche Vermählungen sind auf Hartenfels gefeiert worden! Da waren denn manchmal Tausende von Fremden in Schloß und Stadt einquartiert. Besonders aber knüpfen sich an die Burg mehrere der bedeutendsten Momente der Reformationsgeschichte. Hier schlossen den 5. Mai 1526 Kurfürst Johann der Beständige und Philipp, Landgraf von Hessen, das erste Schutz- und Trutzbündniß zur Vertheidigung der evangelischen Glaubensfreiheit; nach einer Berathung, die hier 1527 gehalten worden war, setzte Melanchthon die so berühmt gewordenen Visitationsartikel auf, welche von Luther in deutscher Sprache umgearbeitet wurden; hier wurden dem Kurfürsten Johann, ehe er nach Augsburg aufbrach, 1530 die von den Wittenberger Theologen abgefaßten sogenannten Torgauer Artikel vorgelegt, welche die Grundlage bildeten, auf der später Melanchthon die Augsburger Confession errichtete; hier fand das Interim – jene vom Kaiser erlassene Verordnung, wie es in der streitigen Glaubensangelegenheit inzwischen bis zur Entscheidung durch ein allgemeines Concil zu halten sei – als es unter dem Kurfürsten Moritz in Sachsen eingeführt wurde, die meisten und beharrlichsten Widersacher; unter der Regierung August’s, des Bruders von Moritz, entstanden hier bei den Streitigkeiten innerhalb der protestantischen Kirche 1571 die berüchtigten Torg’schen Artikel, eine Anweisung und Vollmacht zu einem Ketzergericht; hier wurde demselben Kurfürsten 1576 das sogenannte Torg’sche Buch übergeben, aus dem durch nochmalige Berathung am 14. März 1577 die leidige Concordienformel hervorging, welche, nachdem sie von drei Kurfürsten, zweiundzwanzig Fürsten, einhundertzweiundzwanzig Grafen, fünfunddreißig Reichsstädten und achttausendzweihundertsiebenunddreißig Theologen unterzeichnet worden war, zum symbolischen Buche der evangelischen Kirche gestempelt und [743] 1580 publicirt wurde. Sie sehen also, daß unser Torgau keinen unwichtigen Platz behauptet in der Geschichte.“

Mittlerweile waren wir an dem eigentlichen Eingange zum Schlosse angelangt, der sich dem Zeughause gegenüber unmittelbar neben der Hauptwache befindet. Eine Steinbrücke trug uns über den trockenen, aber tiefen Bärengraben, in welchem der aus porphyrartigem Gestein bestehende Fels, auf dem das ganze Schloß selbst sowie ein großer Theil der Stadt erbaut ist, zu Tage kommt. Wir standen im Hofe, einem länglichen, nicht ganz regelmäßigen Viereck. Uns zur Rechten lag der älteste Theil des Schlosses, der Küchenstock nach früherer Benennung, welchen, doch viel tiefer, der Schloßgarten begrenzt, zur linken Hand der sogenannte Kirchenstock, durch welchen unter dem Flaschenthurme das Thor bergab nach der Elbbrücke führt, während gerade dem Eingange gegenüber der Hauptflügel durch seine Bauart ann meisten imponirt. Den Küchenstock flankiren zwei Thürme, am Eingange der unter Johann Georg I. gebaute achteckige, in seiner ursprünglichen Gestalt und Größe bis auf die neueste Zeit erhaltene Glockenthurm, am andern Ende der viereckige Hausmanns- oder Wächterthurm. Seine Zinne bildet einen breiten, durch eine eiserne Brustwehr geschützten steinernen Gang. In diesem Zustande dient er noch jetzt dem Thürmer zur Wohnung. Ein steinerner Säulengang, außen an dem Küchenstocke angebracht und in zwei Etagen um die innere Seite des Wächterthurmes herumgeführt, vermittelt die Verbindung von diesem Theile des Schlosses nach demjenigen Flügel, der durch die in seiner Mitte hervorspringende Schneckentreppe am meisten die Aufmerksamkeit des in den Hof Eintretenden auf sich zieht.

Diese Schneckentreppe ist ein wahres architektonisches Kleinod. Sie läuft in Schneckenwindungen um sich selbst herum und umgiebt einen, wie die Treppe selbst, von Sandstein gearbeiteten, von oben bis unten mit herrlicher Sculpturarbeit überkleideten Treppenthurm. „Früher,“ so wurde mir explicirt, „ward das Ganze durch reiche glänzende Vergoldung noch mehr gehoben, und mit seinen hohen und offenen Bogenfenstern zwischen ganz schmalen Pfeilern erschien es wie eine durchbrochene Arbeit. Jetzt hat man zum Schutze gegen die Witterung die Bogenfenster zum Theil mit Läden ausgesetzt, dennoch hat auch so der Thurm ein stattliches Ansehen. ‚Könnte ich sie in die Tasche stecken, so würde ich sie mitnehmen,‘ soll Friedrich der Große, als er am 13. Januar 1757 nach Torgau kam und im Schlosse sich umsah, beim Anblicke der schönen Schneckentreppe gesagt haben. Aehnlich hatte schon früher Albrecht von Brandenburg, als er mit Herzog Moritz nach der Mühlberger Schlacht die Treppe hinaufging, geäußert: ,Herr Ohm, es möchte wohl einer einen Krieg führen, wenn er ein solches Schloß gewinnen könnte.‘ Die Treppe selbst führte früher in den im mittlern Stockwerke befindlichen Riesensaal, der, hundert Ellen lang und dreißig Ellen breit, mit den Brustbildern der deutschen Kaiser und der sächsischen Kurfürsten geziert war; an ihn schlossen sich in demselben Flügel, sowie in dem Küchenstocke eine ganze Reihe zu allerhand Gebrauche eingerichteter, zum Theil prächtig ausgeschmückter Zimmer an. Ueber dem Riesensaale wird als besonders sehenswerth ein Gemach bezeichnet, dessen Decke und Wände ganz mit venetianischem Spiegelglase belegt waren, so daß man, ohne an’s Fenster zu treten, von jedem Punkte aus Alles übersehen konnte, was in den gegenüberliegenden Gemächern, auf dem Hofe, auf der Elbe und in der Umgegend vorging.“

Am Fuße der zum Schneckenthurme aufführenden Freitreppe halten auf beiden Seiten zwei in Sandstein gearbeitete geharnischte Kriegsmänner Wacht, und ebenso erblickt man unter dem steinernen Gange, gleichsam denselben tragend, mehrere in Stein gehauene Figuren. Mir fiel besonders die erste neben der Treppe auf. „Die stellt den Claus Narr dar,“ – so lautete die Antwort auf meine Frage – „der bei dem Kurfürsten Ernst und dem Herzog Albert, bei dem Erzbischof von Magdeburg, bei Friedrich dem Weisen und Johann dem Beständigen Hofnarr gewesen ist. Auf dem Stadtkirchhofe, wo er begraben liegt, können Sie noch jetzt ein aus Sandstein gehauenes Denkmal finden, welches, wie die Inschrift besagt, eine großmächtige Fürstin ihm hat setzen lassen. Die Hofnarren haben wie anderwärts in jener Zeit, so auch am kursächsischen Hofe zu Hartenfels eine gar große Rolle gespielt. Das können Sie unter Anderem schon daraus abnehmen, daß hier sich ehedem ein besonderes Zimmer befand, welches mit Abbildungen der Schalksnarren geschmückt war.“

Die von Johann Friedrich neuerbaute Kirche, überhaupt das erste für den evangelischen Cultus errichtete Gotteshaus, bildet äußerlich kein besonderes Gebäude, sondern ist ein Theil des gen Norden gerichteten Flügels und mit demselben durch Mauer und Dach zu einem Ganzen verbunden. Mein Begleiter ließ einen Beamten bitten, uns die Kirche zu öffnen, und machte mich unterdessen auf den in der Fronte der Kirche neben dem Flaschenthurme angebrachten von seinem Schafte bis an das obere Ende über und über mit Bildwerk bedeckten, in jüngster Zeit mit größter Genauigkeit wieder hergestellten Erker,[1] sowie auf den ziemlich in der Mitte des Hofes befindlichen Brunnen aufmerksam. Der daneben stehende Neptun mit dem Dreizacke, zu dessen Füßen ein Delphin ruht, war früher ganz vergoldet und hatte auf einer Säule in dem Brunnen selbst seinen Platz, so daß aus dem Rachen des Delphins das Wasser in den geräumigen Wasserbehälter floß. Das Wasser wurde dem Brunnen fast eine Meile weit zugeführt aus Quellen, die unweit der Stelle sprudeln, wo jetzt eine am 3. November 1860 zum Andenken an die vor hundert Jahren in der Torgauer Schlacht Gefallenen errichtete Sandsteinsäule weit in die Ebene hinausschaut.

Inzwischen war uns der Kirchenschlüssel gebracht worden. Das Innere bietet nicht viel Merkwürdiges, ausgenommen vielleicht, daß das ziemlich hohe Gewölbe jedes stützenden Pfeilers entbehrt und der Altar, wider den Brauch, nach Abend gerichtet ist. Am siebenzehnten Sonntag nach dem Trinitatisfeste des Jahres 1544 bestieg Luther zum ersten Male die Kanzel dieses Gotteshauses und gab diesem im Beisein des ganzen Hofes die feierliche Weihe, in einfacher und schlichter Rede, freimüthig und kräftig, ohne Rücksicht auf Fürstengegenwart und Fürstengunst über das Evangelium des Sonntags predigend. Die Geschichte der Kirche fällt im Laufe der Zeiten zusammen mit der Geschichte des Schlosses überhaupt. Als von der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts an die Kurfürsten Dresden zu ihrer gewöhnlichen Residenz erwählt hatten, hielten sie dennoch das Gotteshaus auf Hartenfels in hohen Ehren. Bei besonderen Veranlassungen, wenn sie längere Zeit hier residirten, namentlich bei Ständeversammlungen, feierten sie hier ihre Andacht und spendeten manches kostbare Gemälde von Lukas Cranach und anderen deutschen Meistern. Nach dem zu Ende des siebenzehnten Jahrhunderts erfolgten Uebertritte des Kurfürsten August des Starken zur katholischen Confession hatte die Kirche an der Gattin desselben, der edlen Eberhardine, eine eifrige Beschützerin. Die gute Fürstin, die dem evangelischen Glauben unerschütterlich treu blieb, kam von Pretsch aus, wohin sie sich zurückgezogen hatte, zu wiederholten Malen nach Hartenfels, um hier dem Gottesdienste anzuwohnen. Es war in ihrem Todesjahre 1726, als der letzte protestantische Gottesdienst in der Kirche gehalten wurde; die Thüren derselben blieben seitdem zehn Jahre verschlossen. Bei der Huldigung Friedrich August’s des Zweiten aber mußte die für den evangelischen Gottesdienst erbaute Kirche am 7. November 1730 dem katholischen Cultus ihre Pforten öffnen.

Mehr und mehr erblich nun, zumal unter den Stürmen der schlesischen Kriege, der Glanz des Schlosses. Von 1772 an diente es zur Aufnahme von Strafgefangenen; seit 1780 verband man mit dem Zuchthause noch eine Irrenanstalt, in welcher auch hülflose Gebrechliche Aufnahme fanden. Als später Festungszwecke die Räumung des Schlosses nöthig machten, wurde 1811 die Irrenanstalt nach Schloß Sonnenstein bei Pirna, die Strafanstalt in dem darauf folgenden Jahre theils nach Waldheim, theils nach Lichtenburg bei Prettin verlegt. Nach den Drangsalen der Belagerung im Jahre 1813, unter denen Stadt und Schloß unendlich litten, wandelte man sämmtliche Räume des letzteren zur Aufnahme der Garnison in Kasernen um, die Kirche aber dient seit dieser Zeit zum Gottesdienste für die Besatzung. – Beim Heraustreten aus der Kirche fanden wir den Schloßhof, da die Parade bald beginnen sollte, mit Soldaten der verschiedenen Truppentheile der Garnison gefüllt. In einzelnen Gruppen standen auch mehrere Artilleristen und Pioniere umher mit weißen Binden am linken Arme, die zum Theil als Reconvalescenten sich auf Stöcke stützten. Sie gehörten jenen Truppentheilen an, welche, heimkehrend aus dem Felde in Schleswig, in den jüngsten Tagen von den städtischen Behörden feierlich empfangen und bewirthet, als Landwehrmänner oder Reservisten in Torgau eingezogen waren, um von hier aus in ihre Heimathsorte entlassen zu werden.

[744]
Bilder von der deutschen Landstraße.
2. Der Handwerksbursch. [2]


II.
Stadt- und Ortsgeschenk. – Zuwandern am Hauptquartal. – Die Färber im Quartier beim Meister. – Die Herberge oder das Gildehaus. – Die Schilder. – Die Arbeitstafel. – Der Herbergsvater. – Ceremoniel auf der Herberge. – Die Bruderschaften. – Die Pfaffen und die Voigtländer. – Der Altgeselle und der Zugereiste. – Die Zeichen. – Das Ausschenken. – Die Commerce. Die Aufnahme in die Bruderschaft. – Der Pathenbrief. – Die Herbergsschwester. – Die trockene Ohrfeige. – Der Gesellenschlag.

Die „Schwäger“, deren sich unsere Leser aus dem ersten Abschnitte noch erinnern werden, hatten beim Umschauen im vollen Ornat zu erscheinen. Bei den Färbern z. B. mußte der rechte Riemen des Bündels um die linke Schulter gelegt werden, unter dem linken Arm war ein Schnupftuch sichtbar, und in der rechten Hand wurden Hut und Stock – der letztere mit dem kleinen Finger am Riemen – gehalten. Die Seifensieder trugen das Bündel auf dem linken Arm und legten das Taschentuch in den Hut, welcher in die linke Hand zu nehmen war, während der Stock ein bis zwei Hände hoch vom Boden frei empor zu halten war. Bei den Zünften, welche nicht zur Schwägerschaft gehörten, wurde das Bündel oder das Felleisen nebst dem Stocke nicht mit in die Stube des Meisters genommen. Auch die Hufschmiede mußten das Felleisen und den Stock draußen vor der Schmiede ablegen, behielten dagegen, wenn sie eintraten, den Hut auf und trugen in der linken Hand einen Beschlaghammer in der Weise, daß der Stiel desselben unter den Rockärmel gesteckt war. Der Gruß selbst bestand in einem unverständlichen, mehrere Secunden andauernden Gemurmel, auf welches alsdann die Worte folgten: „Grüß Gott, Herr Meister und Gesellen von wegen des Handwerks!“ Nachdem der Gruß erwidert worden war, hatte der fremde Geselle folgende vier Fragen an den Meister zu richten: „Was macht der Herr Vater?“ „Was macht die Frau Mutter?“ „Was macht der Herr Sohn?“ „Was macht die Jungfer Tochter?“ Dabei hatte er so lange an der Thüre zu stehen, bis diese Fragen sämmtlich beantwortet waren. Wenn der Meister in der Werkstelle zufällig nicht zugegen war, so schlug der Zureisende mit seinem Hammer drei Mal auf den Ambos. Mit Ausnahme von Merseburg an der Saale bekamen die Hufschmiede in keinem einzigen deutschen Orte ein sogenanntes Stadtgeschenk, wie dies bei anderen Zünften zuweilen geschah.

In vielen Städten, z. B. in Koblenz, hatte der Herbergsvater auf der Bäckerherberge eine große blecherne Brezel in Verwahrung. Sobald mehrere Gesellen zugewandert waren, nahm der zuerst Zugereiste diese Brezel in die Hand, ein Zweiter borgte vom Herbergsvater einen Sack, und fort ging’s oft in langem Zuge von einem Meister zum andern, um das spärliche Geschenk – für den Mann in einem Weck bestehend – einzusammeln und in dem Sacke zu bergen, wobei natürlich nur einer den Gruß zu sprechen hatte. Selbstverständlich wurde der Inhalt des Sackes in irgend einem Winkelgäßchen verkauft und das erlöste Geld auf der Herberge getheilt. In Süddeutschland, namentlich in Altbaiern, im Würtembergischen etc. wurden dem „Handwerkskerle“ selbst auf den Dörfern vom Ortsvorstande einige Kreuzer als „Ortsgeschenk“ verabreicht, hie und da wurde auch Nachtquartier gewährt, wobei dieselbe Reihenfolge eingehalten wurde, in welcher der Dorfspieß weitergegeben wurde. Bei den Uhrmachern, den Klempnern, den Tuchmachern, den Glockengießern und allen Schwägern betrug das Geschenk oft vier bis zwölf gute Groschen, ja in einzelnen Fällen selbst noch mehr; bei den Schuhmachern, den Schneidern, den Webern, den Bäckern und Müllern war das „Uebliche“ aber oft sehr winzig. Die Porzellanmaler und Dreher wurden meist von den Fabrikbesitzern mit einem ansehnlichen Geschenke bedacht.

Bei manchen Zünften wurde jedoch in dem Falle kein Geschenk gewährt, wenn Arbeit gegeben werden sollte, der Zugereiste dieselbe aber in der betreffenden Stadt nicht annehmen wollte. War in dieser Hinsicht nicht zu trauen, so beredeten sich die an einem und demselben Tage zugereisten Gesellen auf der Herberge; diejenigen, welche Arbeit nehmen wollten, wurden vorausgeschickt, und dann erst, wenn keine Arbeit mehr zu vergeben war, folgten die Andern hinterdrein. Bei den Klempnern und einigen andern Zünften bestand die Einrichtung, daß der umschauende Geselle nur die Hälfte der Meister zu besuchen brauchte. Hatten diese ihr „Gesehen“ in das Umschaubuch geschrieben, ohne Arbeit anzubieten, so durfte der Fremde zum Obermeister zurückgehen, um das Geschenk in Empfang zu nehmen. Wenn die Zeit der Handwerksquartale herbeikam, suchten die wandernden Gesellen in die Nähe einer größeren Stadt zu kommen, um beim Quartale im Hause des Obermeisters bei der ganzen Innung „vorzusprechen“. Kam an einem solchen Tage die Stunde der Hauptmahlzeit der Quartalmeister herbei, dann bewegte sich von der betreffenden Herberge aus oft ein gar langer Zug von zugereisten Gesellen nach dem Hause des Obermeisters. Nebeneinander stellten sie sich nach Handwerksgebrauch vor der Tafel des Obermeisters und der Beisitzer auf, der Hauptsprecher that die „Schuldigkeit“, Obermeister und Beisitzer – meist sehr stattliche, korpulente Gestalten – erhoben sich feierlich, und mit den Worten des Obermeisters: „Gesellen, leget ab! Macht’s Euch commode!“ begann für unsere zugereisten Wanderburschen ein „guter Tag“.

Wie die Mühlknappen noch gegenwärtig hier und da in den Mühlen freies Nachtquartier nebst Kost erhalten, so übernachteten auch die wandernden Färbergesellen in früherer Zeit stets bei den Meistern. Ihr Gruß lautete folgendermaßen: „Verzeihen Sie, sind Sie der Herr Obermeister? Ich wünsche dem Herrn Obermeister einen guten Tag, Glück zu verehren von wegen des ehrsamen Handwerks. Meister und Gesellen von X. (hier wurde der Ort genannt, von welchem man zugereist kam) wünschen dem Herrn Meister und Gesellen einen guten Tag, Glück zu verehren von wegen eines ehrsamen Handwerks.“ Kam ein Färbergeselle jedoch vor zwölf Uhr Mittags zugereist, so durfte er blos „einsprechen“, d. h. er bekam außer dem Mittagsessen nur das übliche Geschenk und mußte an demselben Tage weiter reisen. Deshalb lagen oft gar viele Färber vor den Thoren einer Stadt, um abzuwarten, bis die Thurmuhr ein Uhr schlagen würde. Hatte sich’s der Zugereiste „commode“ gemacht, so ging er in die Werkstelle, um die Gesellen zu begrüßen. Diese nöthigten ihn herkömmlicher Weise, sich von ihrem Tabak eine Pfeife zu stopfen, und nahmen ihn Abends nach dem Essen mit auf die Herberge. Am andern Morgen nach dem Frühstücke setzte der Fremde seine Reise alsdann weiter fort. War der nächste Tag aber ein Sonn- oder Festtag, so blieb der fremde Geselle auch die Feiertage über im Quartier; nur mußte derselbe jeden Tag nach dem Mittagsessen von Neuem zureisen, d. h. die Ceremonie des Zuwanderns mit Hut und Stock, Bündel und Schnupftuch wiederholen und seinen Gruß von Neuem vermelden.

Auch wir wollen der Herberge oder dem Gildehause nunmehr einen Besuch abstatten. Schon von weitem winkt uns dieselbe entgegen mit dem „Schilde“ derjenigen Zunft, für welche die betreffende Herberge bestimmt ist. Nicht selten aber zeigen mehrere Schilder verschiedener Art an, daß eine und dieselbe Herberge mehreren Zünften gemeinsam ist. Die Bäcker führen im Schilde eine von zwei Löwen gehaltene Brezel, die Metzger oder Fleischer die Bankschabe mit dem Krummholze, die Schuster einen Courierstiefel, die Hutmacher einen Hut, die Horndreher eine Pfeife, die Klempner eine achteckige messingene Laterne, die Seiler ein Rad mit zwei kreuzweise übereinanderragenden Haken, die Buchbinder ein großes Buch, die Schlosser einen deutschen Schlüssel, die Nagelschmiede zwei Stiefeleisen, die Hufschmiede ein Hufeisen mit zwei kleineren an den Stollen, die Weber drei im Triangel zusammengestellte und von zwei Löwen gehaltene Schützen, die Sattler einen Sattel, die Tischler einen Hobel, die Glaser ein aus buntem Glase zusammengesetztes Fenster, die Wagner ein Rad, die Böttiger ein mit Triebel und Schlägel umgebenes Bierfaß etc. Das Schild der Zimmerleute zeigt eine Schrotsäge, ein Winkeleisen und die Bundart ohne Stiel; in dem Schilde der Maurer dagegen sieht man das Richtscheit, über diesem die von Hammer und Kelle durchkreuzte Setzwage, dann das Loth, den „Spitze“ und „Fläche“ geheißenen Hammer und endlich den halbaufgeschlagenen Cirkel. Einige wenige Zünfte, u. A. die Seifensieder, hatten gar keine [745] Schilder. Daß sich unter diesen auch die Schneider befanden, die doch außerdem immer viel im Schilde führten, mag mit Recht befremden. Ihre Herbergen waren an einer modernen Firmentafel mit der Aufschrift „Schneiderherberge“ kenntlich. Wie außen am Hause, so befanden sich dieselben Schilder auch in der Herbergsstube; nur waren sie hier meist aus besseren Stoffen gefertigt und hingen in stattlichen Glasschränkchen über den einzelnen Tischen, welche den verschiedenen Zünften zugewiesen waren. An den Wänden der Stube war häufig eine große Tafel angebracht, auf welcher die Namen derjenigen Innungsmeister verzeichnet waren, bei welchen der zureisende Geselle gerade Arbeit bekommen konnte.

Die Bäcker, die Metzger, die Nagelschmiede, die Schneider, die Schuhmacher, die Böttiger, die Müller und einige andere Zünfte hatten meist eine gemeinsame Herberge, während die Maurer, die Zimmerleute, die Tuchmacher, die Klempner und alle zur Schwagerschaft gehörenden Zünfte in größeren Städten in besonderen Herbergen zu finden waren. Die zuletzt genannten Zünfte kannten jene Tafel mit den Namen der arbeitgebenden Meister nicht. Häufig machte der Herbergsvater, welcher nicht selten als zünftiger Meister ein kleines Gewerbe betrieb, zwischen dem arbeitgebenden Meister und dem zugereisten Gesellen gegen ein Trinkgeld den Makler, wie er denn überhaupt dem zuwandernden Gesellen alle mögliche Auskunft zu geben hatte. Wo Bruderschaften bestanden, von welchen weiter unten die Rede sein wird, da hatte der fremde Geselle auch auf der Herberge ein bestimmtes Ceremoniel seiner Innung zu beobachten. Der Zimmermann z. B. mußte an der Herbergsthür drei Mal anklopfen, dann erst rief der Herbergsvater: „Herein!“ Das Felleisen wurde stets so auf die Bank gelegt, daß die Bänder nach der Wand zu zu stehen kamen. War gerade kein der Bruderschaft angehörender Zimmergeselle auf der Herberge anwesend, dann machte sich’s der zugereiste Zimmermannsgeselle bequem oder vielmehr „commode“, im entgegengesetzten Falle aber setzte er sich neben sein Felleisen, den Hut auf dem Kopfe und den Stock in der Hand behaltend, wobei er das Halstuch ordentlich fest zu binden und am Rocke die Knöpfe zuzuknöpfen hatte. In dieser eigenthümlichen Haltung mußte er so lange verbleiben, bis der Altgeselle auf die Herberge kam, ihn willkommen hieß, ihm ein Glas Bier reichte und ihn mit den Worten: „Mach’s Dich commode!“ des strengen Ceremoniels entließ. Die Klempner, die Hutmacher und einige andere Zünfte setzten beim Zureisen auf der Herberge zwar den Hut ab, mußten aber Stock und Taschentuch so lange in der Hand behalten, bis der Altgeselle erschien. –

Die Bruderschaften der Handwerksburschen sind den Verbindungen aus den Universitäten zu vergleichen. Wie auf diesen die Nichtverbindungsstudenten von den Corps so lange über die Achsel angesehen werden, als der Termin des Examens noch nicht ganz nahe herangekommen ist, so erging es auch denjenigen Handwerksburschen, welche einer bestehenden Bruderschaft nicht beigetreten waren. Sie hießen meist Pfaffen oder Voigtländer und Schlesinger, weil vorzugsweise aus dem sächsischen Voigtlande und ebenso aus Schlesien viele verheirathete Gesellen auf die Wanderschaft gingen, die den Aufwand in der Bruderschaft nicht bestreiten konnten. Die Art und Weise, wie der Altgeselle auf der Herberge an einem zugereisten Fremden erforschte, ob er bereits irgendwo in die Bruderschaft der Zunft aufgenommen worden sei, war bei den verschiedenen Innungen verschieden. Bei den Klempnern z. B. setzte sich der zugewanderte Geselle, Hut und Stock in der Hand haltend, in gerader, fast steifer Haltung an den Tisch. Sobald der Altgeselle erschien, redete ihn dieser mit den Worten an: „Sind Sie ein fremder Klempner?“ War die Frage bejaht, so reichte der Altgeselle dem Angeredeten die Hand, indem er dabei sagte: „Seien Sie willkommen. Fremder!“ Erhob sich hierauf der also Begrüßte nicht augenblicklich von seinem Sitze, so ging der Altgeselle von ihm hinweg, ohne ihn weiter eines Wortes zu würdigen, und ebenso nahm keiner der bereits anwesenden oder später noch erscheinenden Gesellen der Bruderschaft Notiz von ihm; denn man wußte nunmehr, daß er der Bruderschaft nicht angehörte. Stand der Fremde von seinem Sitze aber auf, so reichte ihm der Altgeselle mit den Worten: „Trinken’s, Fremder!“ ein Glas Bier. Dieses mußte der Zugereiste jedoch mit den Worten: „Es steht in guter Hand!“ zurückweisen; nun trank der Altgeselle einen Schluck und reichte das Glas dem Fremden zum zweiten Male, welcher nunmehr „Bescheid that“ und das Glas alsdann auf seinen Tisch setzte. Der Altgeselle frug hierauf: „Was für ein Landsmann? Wo zuletzt gearbeitet?“ und schloß mit den Worten: „Machen Sie sich’s commode, Fremder!“ Jetzt erst durfte dieser sich wieder setzen. Diese Scene wiederholte sich jedoch so oft, als gerade Arbeitsgesellen auf der Herberge anwesend waren. Ein Jeder hatte mit der Frage: „Sind Sie ein fremder Klempner?“ zu beginnen und mit den Worten: „Machen Sie sich’s commode, Fremder!“ zu schließen. So kam es, daß der zugereiste Geselle oft eine ganze Reihe von gefüllten Biergläsern auf seinen Tisch zu setzen hatte, die alsdann ihm ganz allein gehörten. „Und wenn nun zufällig außer dem Altgesellen noch 10–12 Arbeitsgesellen auf der Herberge zugegen waren, was wurde dann mit dem Biere gemacht?“ fragte ich einen ehrsamen Klempnermeister, der seiner Zeit viel gewandert war. „Sehen’s,“ antwortete er mir blinzelnd, indem er seinen Schnurrbart zierlich drehte, jedoch mit etwas gedämpfter Stimme, so daß seine in der Stube mitanwesende Frau ihn nicht verstehen konnte, – „Sehen’s, auf der Wanderschaft hat man immer viel Durst!“ –

Wo Bruderschaften bestanden, bekam jeder zugereiste Geselle vom Altgesellen ein Zeichen im Werth von 2–4 Groschen, welches auf der Herberge zu verwerthen war. Außerdem wurde wöchentlich ein bis zwei Mal auch „ausgeschenkt“, d. h. die Bruderschaft hielt den zugereisten Gesellen auf der Herberge im Essen und Trinken frei. Bei den Klempnern wurde nur in Stralsund jeden Tag ausgeschenkt, so daß hier der Altgeselle jeden Tag auf der Herberge nachsehen mußte, ob Fremde zugereist waren. Auch bei den Hutmachern wurde in vielen Städten jeden Tag ausgeschenkt, z. B. in Hanau, Offenbach, München, Wien, Breslau, Braunschweig, Wandsbeck etc. Bei den Färbern erstreckte sich die Zeit des Ausschenkens nur auf die Stunden von 2–6 Uhr am Sonntage Nachmittags. Die hierdurch entstehenden Unkosten wurden durch die sogenannten Auflagen gedeckt, über welche der Altgeselle Rechnung zu legen hatte. Der letztere war zugleich auch Krankencassen-Verwalter der Bruderschaft.

In kleineren Städten, in welche mehrere belebte Landstraßen einmündeten, so daß also immer viele fremde Gesellen zugereist kamen, reichte oft der Wochenlohn nicht aus, um die Auflagen zu bestreiten und zugleich die Fremden frei halten zu können. Daher liegt die Vermuthung nahe, daß gar mancher heimkehrende Wanderbursch, wenn er sich wenig oder nichts in der Fremde erspart hatte, von Solchen, welche mit dem Handwerksburschenleben nicht bekannt waren, falsch beurtheilt wurde. Wer in einer Stadt arbeitete, wo sich eine Bruderschaft befand, konnte trotz alledem und alledem nicht umhin, sich in die Bruderschaft aufnehmen zu lassen und Freude und Leid der Genossen zu theilen. Ganz anders gestaltete sich die Sache für denjenigen, dessen Zunft keine Bruderschaft kannte oder welcher in einer kleinen abseits gelegenen Stadt arbeitete, in welche nur selten Fremde zugereist kamen. – Zuweilen fand auch eine Art solenner Commerce auf der Herberge Statt, wobei der Altgeselle mit zwei Beisitzern den Vorsitz führte und ein strenges Ceremoniel bei Vermeidung hoher Buße, die natürlich vertrunken wurde, zu beobachten war. Wer sich an die Tafel setzte, hatte die Anwesenden in der Weise zu begrüßen daß er einen jeden der Reihe nach ansah und hierbei alle Mal mit den Spitzen des Zeige- und Mittelfingers der rechten Hand zwei Mal auf den Tisch pochte. Die Vorsitzenden hielten als Insignien ihrer Würde kleine Stäbe in der Hand, auf deren Handhabung wohl aufzumerken war. Wer etwas sagen wollte, hatte seinen Worten stets die stehende Formel vorauszuschicken: „Also mit Gunst und Erlaubniß!“ etc.–

Die Aufnahme in die Bruderschaft erfolgte ebenfalls unter Gebräuchen, welche bei den einzelnen Zünften von einander abweichend waren. In zwei Punkten war die Aufnahme jedoch überall gleich: einmal nämlich darin, daß sie dem Säckel des Aufzunehmenden drei bis fünf Thaler entführte, und zweitens darin, daß dieses Geld von der aufnehmenden Bruderschaft durch Essen und Trinken absorbirt wurde. Wenn ein junger Geselle beim Altgesellen um Aufnahme in die Bruderschaft gebeten hatte, forderte dieser die übrigen Gesellen und zwei Beisitzer nach Feierabend „zu einem Freisprechen“ auf die Herberge, nachdem er vorher dem Neuling vertraulich mitgetheilt hatte, wie er sich bei der ganzen Angelegenheit zu verhalten habe. Sind die Gesellen zur bestimmten Zeit erschienen, so wird die Lade auf den Tisch gesetzt und mittelst zweier Schlüssel, von denen der Herbergsvater den einen, der Altgeselle den andern in Verwahrung hat, geöffnet, wobei übrigens der Altgeselle vorher drei Mal auf den Tisch klopfen [746] muß. Waren Lade, Büchse und Bücher nach Handwerksgebrauch geöffnet, auch, wie z. B. bei den Schneidern, Krone und Scepter aufgerichtet, so redete der Altgeselle die löbliche Bruderschaft und die Herren Beisitzmeister, welche – gleichsam das Herrenhaus bildend – an einem besonderen Tische saßen, mit folgenden Worten an: „Es trotze, fluche, schwöre mir Keiner vor öffentlicher Lade, es gehe mir Keiner die Stube auf und ab spazieren, es trete mir sogleich der jüngste Bursche vor die Thür und verwahre mit der Hand das Schloß, damit Niemand hinaus und herein kann, bevor er gemeldet ist; bei Buße!“

Hierauf wird vom Altgesellen bekannt gegeben, wie viel der in die Bruderschaft Aufzunehmende zahlen wolle, und in Berathung darüber eingetreten, ob man mit dem Gebotenen sich begnügen oder ein Mehreres fordern wolle. Ist dies geschehen, so holt der Junggeselle den Fremden, der draußen warten muß, herein. Nun wird der natürlich ohne Kopfbedeckung Eingetretene vom Altgesellen gefragt, was er begehre, und weiter, wie viel er „anwenden“ wolle. Hat die löbliche Bruderschaft ihre Zustimmung ertheilt, so legt der Fremde das zu zahlende und oft wer weiß wie sauer verdiente Geld auf dem geweihten Tische nieder. Nunmehr theilt ihm der Altgeselle die Geheimnisse der Bruderschaft mit, verpflichtet ihn auf Geheimhaltung derselben, lehrt ihn also, wie er sich auf der Herberge und gegen andere Gesellen zu verhalten habe, und offenbart ihm die Observanzen beim Zutrinken u. dergl. Zuweilen wurde außerdem auch eine Abschrift der gebräuchlichen Grüße und Ceremonien gegeben. Nachdem hierauf der Name des Fremden nebst Datum in das Buch der Bruderschaft eingetragen und ihm auch der mit dem Siegel der Bruderschaft und den Unterschriften des Altgesellen und wenigstens zweier anderer Gesellen versehene „Pathenbrief“ oder das Diplom ausgehändigt worden war, wurde die Lade nach Handwerksgebrauch geschlossen, und die schon vorher bestellte Mahlzeit begann. Bei Tische hatte der Held des Tages als Jungbursche den untersten Platz einzunehmen. Nach dem Essen präsentirte ihm die Herbergsschwester, d. h. die Tochter oder die Magd des Herbergsvaters, auf einem Teller eine kleine thönerne, mit rothem Bändchen verzierte Tabakspfeife, damit auch für sie ein Trinkgeld abfallen möge. Glücklicher Fremdling! Was wolltest Du noch mehr! – Zuweilen fand bei der Aufnahme in die Bruderschaft auch noch eine scheinbar ernste Ermahnung statt, hinter welcher sich jedoch in derber Weise der Schalk auf den Plan machte. So war bei den Seifensiedern und verschiedenen anderen Zünften folgende Ansprache des Altgesellen an den in die Bruderschaft Aufzunehmenden gebräuchlich: „Also mit Gunst und Erlaubniß! Dieweil Du vor etlichen Jahren bei einem ganzen ehrsamen Handwerke und in unsere öffentlichen Ehren-Hauptlade bist aufgenommen und nun kürzlich bist frei- und losgesprochen worden und jetzo willens bist, Dich zu einem ehrsamen Burschen machen zu lassen, und Dich zu uns wendest, woran Du auch recht und wohl thust, also will ich Dich im Namen eines ganzen ehrsamen Handwerkes und des Herrn Beisitzers, sowie auch einer ganzen löblichen Bruderschaft gesagt haben, daß Du nunmehr alle Jugendpossen bei Seite setzest, nicht auf Straßen pfeifst, singst, springst und tanzst und dergleichen unanständige Dinge treibst, sondern Dich zu rechtschaffenen Burschen hältst, und wirst von keinem gewanderten Gesellen die Schuldigkeit nehmen ohne Vortuch und Halstuch, nie ohne Rock und Stock, Weste und Hut über die Straße gehst und einem jeden eingewanderten Gesellen die Schuldigkeit anthust. – Also mit Gunst und Erlaubniß! Ich frage Dich im Namen eines ganzen ehrsamen Handwerkes, des Herrn Beisitzers und einer ganzen löbl. Bruderschaft, ob Du dasjenige ausstehen willst, was ich und andere ehrliche Bursche ausgestanden haben? (Antwort: Ja!) Also mit Gunst und Erlaubniß! So werde ich Dich hiermit im Namen eines ganzen ehrsamen Handwerkes, des Herrn Beisitzers und einer ganzen löblichen Bruderschaft auf Du und Du zugebracht haben, und will Dir dies Alles mit einer trockenen Ohrfeige versichern; die leidest Du von mir und keinem Andern, und hat er einen Bart bis auf die Schuh’, so ist er doch nicht mehr als Du!“ –

Allein nicht immer blieb es bei einer „trockenen“; die meisten Bruderschaften waren in diesem Punkte äußerst freigebig. Den Gipfelpunkt erreichte diese Unsitte jedoch bei den Schlossern und Schmieden, so daß hier geradezu von dem „Gesellenschlag“ in des Wortes verwegenster Bedeutung die Rede ging. –




Aerztliche Winke für die Wintersaison.
Der kalte Trunk auf dem Balle. – Der erstickende Kohlendunst. – Der leichtsinnige Brustkranke.
1. Der kalte Trunk.

„Sie hat auf die Hitze getrunken, als sie vom Tanzen noch ganz echauffirt war;“ ist’s da ein Wunder, daß die Leichtsinnige nun an einer gefährlichen Brustkrankheit darniederliegt? An was denn für einer Brustkrankheit? Die Einen sagen: an der Lungenschwindsucht, die Anderen: an einer Lungen- oder Herzentzündung.

Freilich kann das Echauffement auf einem Balle gefährlich werden, aber nun und nimmermehr ein kalter Trunk. Die Sache verhält sich nämlich so: schnelle Abkühlung der erhitzten Haut erzeugt eine sehr hitzige Erkältungskrankheit, welche theils mit sehr schmerzhaften Gelenkentzündungen (acutem Rheumatismus), theils mit Herz- und Herzbeutelentzündung einhergeht. Tödtet eine solche Herzentzündung nicht bald, dann hinterläßt sie in der Regel unheilbare Herzfehler (Verengerung der Mündungen und Schlußunfähigkeit der Klappen des Herzens). Hat sich Jemand auf dem Balle eine dieser Erkältungskrankheiten zugezogen, so trägt stets ein schnelles Abkühlen der heißen Haut, welches außerhalb des Ballsaales, in der Garderobe, in der Nähe einer Thür oder eines Fensters zu Stande kommen kann, die Schuld davon, nicht aber das kalte Getränk, das während dieser Abkühlung getrunken wurde. Bei der ärgsten Erhitzung kann man kalt trinken, nur hüte man sich dabei vor einer Erkältung der Haut. Sollte aber eine solche doch stattgefunden haben, dann suche man so schnell als möglich wieder in Schweiß zu kommen, was durch starke Bewegung (Tanzen) oder reichlichen Genuß recht heißen Getränkes erreicht wird.

Sowie nun das schnelle Abkühlen der erhitzten Haut recht leicht die genannten gefährlichen Entzündungen nach sich ziehen kann, ebenso ist gar nicht selten auf dem Balle oder überhaupt beim Aufenthalt in warmen Localitäten der schnelle Wechsel der warmen und kalten Luft, welche man einathmet, Ursache von schweren Lungenkrankheiten. Denn die kalte Luft, welche man plötzlich einathmet, nachdem man vorher in warmer Luft geathmet hat, ruft innerhalb der Lunge einen Reizungszustand hervor, der entweder eine Lungenentzündung veranlassen oder, wenn die Lunge von früher schon krank (tuberculös) war, eine tödtliche Lungenschwindsucht hervorrufen kann. Da nun manche auf dem Balle durch das Tanzen Erhitzte außerhalb des Ballsaales im Kalten trinken, so wird, wenn sie darauf lungenkrank werden, stets der unschuldige kalte Trunk, nicht aber die eingeathmete kalte Luft als Ursache der Krankheit angeklagt.

Uebrigens erzeugt weder das Einathmen kalter, noch auch das staubiger Luft in einer noch ganz gesunden Lunge die sogenannte Lungenschwindsucht; wohl kann aber das Athmen in einer solchen Luft bei schon kranken (tuberculösen) Lungen einen sogenannten Tuberkel-Nachschub (d. i. eine neue Ablagerung von käsiger Schwindsuchtsmaterie) erzeugen, der nicht selten zum Tode führt. – Auch wenn sich beim Tanzen (zumal in staubiger Luft) ein kurzathmender Hustender so anstrengt, daß er starkes Herzklopfen bekommt, auch dann kann er sich recht leicht einen tödtlichen Tuberkelnachschub zuziehen.

Also nochmals: nicht der kalte Trunk auf dem Balle bringt Gefahr; wohl können das aber, zumal bei schon kranken Lungen die schnelle Abkühlung der erhitzten Haut, das Einathmen kalter oder staubiger Luft, Herzklopfen erzeugendes Tanzen, besonders bei enger, den Brustkasten am Athmen hindernder Kleidung.


2. Der erstickende Kohlendunst.

Beim Verbrennen von Holz, Holzkohle, Braun- und Steinkohle, Coaks, überhaupt von kohlenstoffhaltigen Materien, erzeugen [747] sich zwei farblose Luftarten, nämlich Kohlensäure und Kohlenoxyd, welche Menschen und Thiere betäuben und tödten, sobald sie von diesen in größerer Menge oder eine Zeit lang eingeathmet werden. Die Bildung dieser Gase geschieht auf folgende Weise: Beim Verbrennen der kohlenstoffhaltigen Materien verbindet sich der Sauerstoff in der atmosphärischen Luft mit dem Kohlenstoffe des Verbrennungsmaterials; verbrennt die Kohle nur unter spärlichem Luftzutritt, so entsteht das Kohlenoxyd, indem sich drei Gewichtstheile Kohlenstoff mit nur vier Gewichtstheilen Sauerstoff vereinigen; verbrennt die Kohle dagegen unter lebhaftem Luftzutritt, so verbinden sich stets drei Gewichtstheile Kohlenstoff mit acht Gewichtstheilen Sauerstoff und es bildet sich Kohlensäure. Es unterscheiden sich also Kohlensäure und Kohlenoxyd dadurch, daß die erstere gerade noch einmal so viel Sauerstoff enthält, als das letztere.

Das Kohlenoxyd, oder Kohlenoxydgas, das ist es nun, was im gewöhnlichen Leben Kohlendunst genannt wird und im Winter schon oft zur Erstickung von Menschen Veranlassung gegeben hat, wenn bei Verbrennung von Kohlen der Luft nicht gehörig Zutritt gestattet wurde, wie dies beim Glimmen von Kohlen in einem Kohlenbecken oder in einem schlechtziehenden Heizapparate, zumal in einem Ofen, dessen Klappe geschlossen, der Fall ist. – Natürlich muß das Kohlenoxyd, wenn es gefährlich werden soll, anstatt nach dem Schornsteine hin zu entweichen und in diesem aufzusteigen, in das Zimmer treten und sich hier der Luft beimischen. Dies geschieht nun aber nicht blos beim Schließen der Ofenröhren und ihrer Luftklappen bei noch brennendem und glimmendem Feuer (bisweilen mit Heraustreten des Gases durch zufällige Ritzen und Oeffnungen im Heizapparate), sondern auch dann, wenn die Luft im Zimmer dünner und leichter geworden ist als die im Ofen und Rauchfange, was der Fall sein kann, sobald eine schnelle und bedeutende Abkühlung und Verdichtung des Kohlenoxydgases (z. B. bei großer Kälte) an der Ausmündung des Rauchfanges stattfindet. Stets tritt dann das Kohlenoxyd zugleich mit Rauch in das Zimmer, während es bei geschlossener Ofenklappe ganz unmerklich in das Zimmer eintreten kann. Selbst in ungeheizten Zimmern ist schon Erstickung durch Kohlenoxyd vorgekommen und zwar dadurch, daß die Ofenröhren und Rauchfänge derselben mit denjenigen eines höheren oder unteren Stockwerks, aus welchen viel Kohlenoxyd entwich, in offener Verbindung standen. Das Heizen der Zimmer mit glühenden Kohlen auf offenen Becken ist ganz verwerflich, denn dadurch muß eine Erstickung am leichtesten zu Stande kommen.

Beim Menschen erregt das Kohlenoxyd, schon wenn es in geringer Menge der Luft beigemengt ist, Eingenommensein und Schwere des Kopfes, heftigen Kopfschmerz, Uebelkeit, Ohrenklingen und Augenflimmern, Gefühl von Druck auf der Brust; in etwas größerer Menge erzeugt es Schwindel, Schlafneigung und Ohnmacht, und es tritt, enthält die Zimmerluft nur fünf Procent davon, schon Erstickungsgefahr, bisweilen mit Zuckungen und Krämpfen, schließlich Scheintod ein. – Das zunächst Nothwendige bei der Vergiftung durch Kohlenoxyd, sowie überhaupt bei Vergiftungen durch schädliche Gasarten (Kohlensäure, Leucht- und Cloakengas, Schwefelwasserstoffgas etc.), ist die möglichst schnelle Entfernung des Scheintodten aus der schädlichen Gasart und Sorge für eine sich immer erneuernde, frische Luft; deshalb Oeffnen der Fenster und Thüren im Zimmer; die Kälte hat man hierbei nicht zu fürchten. Sodann löse man alle festanliegenden Kleidungsstücke oder entkleide den Scheintodten fast ganz; man bringe denselben in eine halbsitzende Lage mit erhöhtem Oberkörper und herabhängenden Füßen; besprenge Gesicht und Brust anhaltend mit kaltem Wasser, begieße den Kopf öfters damit; mache allgemeine Essigwaschungen und Klystiere von Essig und Salz; reibe und bürste den Körper (besonders das Rückgrat); veranlasse ein künstliches Athmen mittelst Einblasen von Luft durch Mund und Nase und darauffolgenden Zusammendrückendes Brustkastens. Auch können daneben noch niesenerzeugende Mittel, Hautreizungen (durch Senfspiritus oder Peitschen mit Brennnesseln) und Kitzeln des Schlundes mit einer Feder angewendet werden. Alle diese Hülfsmittel zur Erweckung des Scheintodten sind um so wirksamer, je kürzere Zeit nach der Vergiftung sie zur Anwendung kommen. Jedenfalls darf man mit ihrem Gebrauche, wenn sie auch erfolglos zu sein scheinen, nicht zu zeitig aufhören, da es oft bei der angestrengtesten Thätigkeit erst nach fünf bis sechs Stunden gelungen ist, den Bewußtlosen wieder zu sich zu bringen. Ob Blutentziehungen oder sonst noch Etwas anzuwenden, hat man dem Arzte zu überlassen.


3. Der Leichtsinn der Brustkranken.

Die hustenden Dürrländer, die, wenn’s ihnen nur halbwegs wohl geht, die allerärgsten Abhärtungsrenommisten spielen und gleich darauf, wenn sie ein wenig Blut aushusten oder bei kurzem Athem Stechen in der Brust fühlen, ihrer Familie verzweifelnd bei Tag und Nacht vorwimmern, – denn solche Gesellschaft fürchtet sich entsetzlich vor dem Sterben –, diese Jämmerlinge sind’s, denen Verfasser jetzt einmal tüchtig den Text lesen will.

Trotz Eurer schlechten Lungen – die übrigens, wenn sie richtig behandelt werden, immer noch zu einem langen Leben mit ziemlichem Wohlsein recht gut ausreichen können – wollt Ihr Unverständigen doch stets gerade das thun, was die Lungen schlechter macht, und das unterlassen, was diese verschlechterten Organe verbessert und vor weiterem Krankwerden schützt. Vor allen Dingen wollt Ihr eitlen Thoren einen Respirator[3], den heilsamsten und sogar das südliche Klima beinahe ersetzenden Apparat, nicht vor den Mund binden; Ihr athmet aus purer dummer Eitelkeit lieber die rauhe, den tuberculösen Lungen höchst gefährliche Winterluft ein und bringt Euch dadurch als subtile Selbstmörder weit früher in’s Grab, als es nöthig wäre. Solche rauhe Luft ist aber besonders dann den Lungen äußerst nachtheilig, wenn sie nach vorherigem Athmen in warmer Luft eingeathmet und wohl gar noch mit Staub versetzt ist.

Brustkranke und überhaupt Solche, die in der Jugend längere Zeit an Husten, wohl gar an Bluthusten, litten, gehören im Winter, zumal bei rauhem Ost- und Nordwind, nicht auf die Jagd und auf das Eis, sondern in geräumige und sonnige Zimmer mit reiner warmer Luft. Sie haben beim Verlassen von warmen Localen draußen in rauher Luft nicht zu schwatzen, sondern den Mund hübsch ordentlich zuzuhalten und durch die Nase Athem zu holen, wenn sie nämlich respiratorscheu (d. i. in meinen Augen soviel wie einfältig und gewissenlos) sind.

Im Tabaksqualm stundenlang zu sitzen und zu polemisiren ist für Lungenleidende ein Verbrechen, was in der Regel mit frühzeitiger tödtlicher Schwindsucht bestraft wird. Rauchen kann der Brustkranke allenfalls, aber den Tabaksrauch einathmen darf er durchaus nicht, am allerwenigsten aber im Schlafe. Also im Freien oder in einem großen Locale, welches aber recht oft gelüftet werden muß, genieße er seine Cigarre.

Der Tanz hat auch schon sehr viele hübsche, junge, schlanke Jungfrauen und Jünglinge mit schmaler Brust und kurzem Athem hingemordet. Alte Weiber wissen’s dann gewiß, daß der Mörder ein Glas kaltes Wasser oder Limonade war. Dem ist aber nicht so, sondern, wie oben schon gesagt wurde, der schnelle Wechsel zwischen warmer und kalter Luft, welche letztere außerhalb des Ballsaales theils eingeathmet wurde, theils die erhitzte Haut schnell abkühlte, der ist es, welcher dem schon Lungenleidenden einen neuen Anfall der Lungentuberculose zuzog. Ebenso kann aber auch Alles, was einem Brustschwachen auf dem Balle starkes Herzklopfen macht (wie das übermäßige Tanzen, der Genuß von Spirituosen u. s. w.), insofern die Lungen kränken, als eine größere Menge Blut in dieselben hineingepumpt wird und dieses dann Veranlassung zu krankhaften Ausscheidungen giebt. Daß hierbei die Lungen in einem eingeschnürten weiblichen Brustkasten, der sich beim Einathmen nicht gehörig erweitern kann, was doch beim Tanzen gerade so nothwendig ist, noch weit schlimmer daran sind, als die im weiten Fracke, wird man wohl natürlich finden.

„Im Frühjahre wird der oder die Arme sicherlich zu Grabe gehen.“ Als ob’s gerade der Frühling auf die Lungenschwindsüchtigen abgesehen hätte! Wie aber so ein gewissenloser Schwindsuchtscandidat im Winter gegen seine armen Lungen fortwährend gesündigt hat und daß nun diese Sünden nach den bestehenden unabänderlichen Naturgesetzen im Frühjahr die Todesstrafe nach sich ziehen müssen, das kommt bei den Trauernden gar nicht zur Sprache. Wir rufen dem Verstorbenen aber in’s Grab nach: „Dir geschah recht!“
Bock. 
[748]
Der Veteran der deutschen Theaterprincipale.

Ein Gefühl eigenthümlicher Wemuth ergreift uns, indem wir das Blatt zurechtlegen, auf dem wir unsern Lesern das Bild eines Mannes zeichnen wollen, dem jene classischen Breter, welche die Welt bedeuten, mehr als vielen Andern schuldig geworden sind. Wir glaubten dem Manne, den wir noch vor wenigen Wochen geistig frisch und körperlich rüstig in unserer Mitte weilen sahen, dem wir gar manchesmal begegneten, wenn er mit munterem Schritte die Straßen seines alten, vielgeliebten Leipzigs, der heimathlichen Stätte seiner ersten Wirksamkeit, durcheilte, – wir glaubten ihm eine frohe Ueberraschung zu bereiten, wenn wir ihm zur Feier seines nahen achtzigsten Geburtstages in der Gartenlaube einen bescheidenen Denkstein stifteten, der älteren Generation, namentlich unter seinen Leipziger Mitbürgern, zu lieber Erinnerung an vergangene schöne Tage, der jüngeren zur Kenntniß und Beherzigung. Und nun – deckt schon der erste Schnee seinen Hügel auf dem St. Johannis-Friedhofe der Vaterstadt, und das unerbittliche Geschick hat uns die gehoffte Freude vereitelt. Wir können jetzt nur noch unsern Kranz niederlegen neben den vielen, welche das Grab des Greises schmückten, indem wir in kurzen Worten das reiche Leben und Streben des Geschiedenen schildern, – Karl Theodor’s von Küstner, des berühmten Bühnenleiters, ja in gewissem Sinne des Regenerators und Neuschöpfers der deutschen Bühne, wenigstens ihrer Verwaltung.

Es giebt keine Pflanzschulen und Seminarien zur Erziehung guter Bühnenleiter, sondern diese pflegen aus den verschiedenartigsten Berufen und Beschäftigungen, meist durch eine besondere Verkettung äußerer Umstände getrieben, zu einem solchen Wirkungskreise überzugehen, für den sie sich in der Regel durch eine alte leidenschaftliche Liebe zum Theater bestimmt, oder auch durch eigene künstlerische Versuche vorbereitet haben. Auch der Bühnenlaufbahn Küstner’s ging mehrfache gelehrte und praktische Thätigkeit und mannigfache Erfahrung und Bethätigung im Dienste des Lebens und der Zeit voran. Ein geborener Leipziger, der Sohn eines in der kaufmännischen Welt noch heute hochgeachteten Bankhauses, besuchte Küstner von jeher das Theater in Leipzig, wo damals die Franz Seconda’sche Gesellschaft spielte und das sogenannte Conversationsstück, die Iffland’schen und Kotzebue’schen Dramen, mit großer Lebenswahrheit und Virtuosität gab. Iffland selbst, Ludwig Devrient, die Unzelmann-Bethmann nebst ihrem Gemahl, die Fleck, die Hendel-Schütz, Beschort und Rabenstein, Alles in der Bühnenwelt hochgefeierte Größen, gastirten häufig bei der Gesellschaft. Ganz besonders aber übten die Darstellungen des von Goethe und Schiller geleiteten Weimarischen Theaters im nahen Lauchstädt und in Leipzig selbst, wo die herzoglich-sächsischen Hofschauspieler 1807 als Gäste erschienen, eine mächtige Anziehung auf den jungen Bühnenenthusiasten und gaben seiner Neigung für die Bühne jene ernste und gediegene, classische Richtung, welcher er seitdem stets treu blieb.

Auf Reisen durch Deutschland, Frankreich und Italien lernte er nach und nach alle größeren und ersten Künstler des In- und Auslandes kennen, namentlich auch das Theatre français zu Paris und mit ihm Talma, die Georges, Duchesnois und Mars, die unübertroffenen Heroen der tragischen und komischen Muse Frankreichs. Die Anschauung des Theaters verband sich aber auch noch mit dem Studium der besten dramaturgischen Werke, sowie endlich mit eigenen mimischen Versuchen. Auf einem wahrhaft ausgezeichneten Liebhabertheater im Hause des auch in weiteren Kreisen bekannten Gelehrten und Kunstkenners, Oberhofgerichtsraths Blümner in Leipzig, wurden während mehrerer Jahre classische Dramen, z. B. „Nathan“, „Emilia Galotti“, „Minna von Barnhelm“, „Tasso“, „Iphigenia“, „die Laune des Verliebten“, „die Geschwister“ u. s. w. von einem Vereine hochgebildeter Männer und Frauen (Blümner selbst, Rochlitz, Müllner, Limburger, Wilhelmine Reichenbach, Caroline Hoffmann, Julie Limburger, Betty und Caroline Tischbein) mit Lust und Fleiß gegeben und mit einer Gründlichkeit, die nicht auf allen Dilettantenbühnen heimisch ist. Küstner schloß sich mit Begeisterung diesem Vereine an und übernahm unter Anderen die Rolle des Tasso, des Orest, des Wilhelm (in den Geschwistern).

So lebte und webte denn bereits der junge Mann in einer reichen und bunten Kunstwelt, als die mächtige Bewegung von 1813 alle Geister mit Sturmesgewalt ergriff und auch ihn gewaltig packte. Die Katastrophe in Rußland hatte im Frühling des genannten Jahres die Franzosen aus Sachsen vertrieben, da kam Theodor Körner mit einer Anzahl seiner Cameraden vom Lützow’schen Corps nach Leipzig. Ein gemeinschaftlicher Freund, von Behrenhorst aus Dessau, führte den Sänger von „Leier und Schwert“ auch mit Küstner zusammen, und bei diesem war es, wo sich die Jünglinge dann oft in traulichen Abendgesellschaften sahen.

Nach der Leipziger Schlacht im October 1813 meldete sich Küstner zu dem damals sich bildenden „Banner der freiwilligen Sachsen“, verschaffte demselben für Equipirung Unbemittelter bedeutende Summen und wurde demzufolge bei der Kammer des Freicorps angestellt. Er und Professor Krug, die ersten, die sich gemeldet hatten, waren auch die ersten vom Fürsten Repnin und General Carlowitz ernannten Officiere. Doch hatte, wie man weiß, das Banner keine Gelegenheit mehr, seinen Muth im Felde zu bewähren; schon auf dem Marsche nach Frankfurt a. M. traf es die Nachricht vom Einzuge der Verbündeten in Paris.

Das Kriegerthum hatte aber unseren Küstner nicht der Muse entfremdet, der er schon früh mit Innigkeit huldigte. Es kam vielmehr die Zeit, wo er zur Anknüpfung eines entschiedenen Verhältnisses für seine Lieblingsthätigkeit überging, die ihm, der nach wohlbestandenem Examen bereits seit 1810 zum Doctor juris promovirt und als Docent an der Leipziger Universität habilitirt war, schon lange als eigentlicher Lebensberuf gewinkt hatte. Er war es, der 1817 hauptsächlich den neuen Theaterbau und die Errichtung einer stehenden Bühne in seiner Vaterstadt förderte; er wußte das Interesse für Gründung einer solchen unter der Bewohnerschaft zu wecken und sammelte eine Menge gewichtiger Unterschriften zu einer von ihm verfaßten Adresse an den König von Sachsen, mit dem Gesuch um Erlaubniß zu einem stehenden Theater und um Aufhebung des Privilegiums, vermöge dessen die Seconda’sche Hofschauspielergesellschaft aus Dresden während der Messe in Leipzig gespielt hatte. Das Gesuch wurde genehmigt. Küstner erbot sich zur Uebernahme der Direction und zu dem bedeutenden Pachtzins von jährlich dreitausend Thalern, welche Summe die Zinsen des für den Theaterausbau aufgewendeten Capitals deckte, und so wurde die Errichtung des Leipziger Stadttheaters möglich gemacht. Er ist mithin der eigentliche Begründer desselben und verdient um so mehr den Dank seiner Mitbürger, als er seiner elfjährigen Unternehmung große finanzielle Opfer brachte.

Unter Küstner’s von künstlerischer Begeisterung und praktischem Talent getragener Leitung stieg die Bühne Leipzigs zu einer ersten Kunstanstalt Deutschlands empor. Die äußeren Erfolge wie die artistischen Früchte dieser Leipziger Theaterepoche waren glänzend. Indem er der Anstalt eine allseitige Ausbildung, und zwar nach dem höchsten Maßstab, zu geben suchte, faßte er auch die gesellschaftliche und juristische Seite eines Bühnenverbandes in’s Auge, wie es vor ihm noch nie mit solch umfassendem, alle Einzelheiten aus dem Gesichtspunkt eines großen und würdigen Ganzen durchdringendem Blick geschehen war. Bereits die Gesetze, welche er für seine Leipziger Schauspielergesellschaft aufstellte, bewiesen seine Befähigung zum Bühnenleiter, – ein Talent, das er später in München und Berlin unter noch schwierigeren und verwickelteren Verhältnissen abermals zu bethätigen Gelegenheit erhielt. Die günstigen Wirkungen dieser Gesetze zeigten sich in Leipzig nicht blos in der Strenge der inneren Disciplin, welche Küstner jederzeit aufrecht erhielt, sondern auch in der Einigkeit und dem regen Kunsteifer aller Mitglieder – Dingen, die bekanntlich weiße Sperlinge in den Bühnengesellschaften zu sein pflegen. Für die auserlesene Vorzüglichkeit des Personals sprechen die Namen Wohlbrück Vater, Genast und Frau, Doris Böhler, nachherige Devrient, Löwe, Stein, Emil Devrient, Wurm und Frau, Vetter und Frau, frühere Miedke, Anna Sessi, Corona Werner und Katharina Canzi. So steigerte sich natürlich die Theilnahme für das Theater in Leipzig ungemein und mit ihm die Einnahme desselben. Trotzdem und ungeachtet er es war, welcher auch die wirklich mustergültige Pensionsanstalt des Leipziger Theaters gründete, die jetzt so manche dienstunfähig gewordene frühere Mitglieder vor Noth und Entbehrung schützt, sah er sich doch durch örtliche und zufällige Umstände veranlaßt, seine in der gesammten deutschen Bühnenwelt Epoche machende Direction [749] schon zu Ostern 1828 niederzulegen. Wie er in allen Dingen eine freimüthige Oeffentlichkeit liebte, so ließ er auch diesen ersten bedeutenden Abschnitt seines Theaterlebens nicht vorübergehen, ohne dem Publicum in seinem „Rückblick auf das Leipziger Stadttheater“ einen Rechenschaftsbericht seiner Verwaltung vorzulegen.

Karl Theodor von Küstner.

Viel und mancherlei Interessantes könnte aus der Zeit der Küstner’schen Leitung noch erzählt werden; wir wollen uns darauf beschränken, einen Besuch in seiner dicht neben der Bühne befindlichen Directorialloge zu machen. Wir sehen darin verschiedene Notabilitäten, den Herzog Karl von Braunschweig, Generalissimus Fürst Schwarzenberg, Staatskanzler Fürst Hardenberg und Frau, Kotzebue, Spontini, C. M. von Weber u. A. Auch der nach seiner Abdankung sich Oberst Gustavson nennende König von Schweden besuchte in Leipzig sehr oft Küstner’s Loge und war z. B. einmal bei der Aufführung des „Freischütz“ gegenwärtig. Als im ersten Act Samiel erschien, fragte er Küstner, was dieser vorstelle. Die Antwort lautete: „Das böse Princip oder, geradezu gesagt, den Teufel.“ Da entfernte sich der König mit zwei Riesenschritten und kam nie wieder; offenbar glaubte er an die leibhaftige Existenz des Höllensohnes. – Herzog Karl von Braunschweig, der später bekanntlich aus seiner Residenz fliehen mußte, kam zur Vorstellung des „Oberon“ nach Leipzig. Am nächsten Tage erkundigte sich Küstner, wie der Fürst geschlafen habe. Der Herzog entgegnete, daß er von einem lebhaften Traum beunruhigt worden sei: er habe sein Schloß brennen sehen und flüchten müssen; ein sehr fatalistischer Traum, der bald genug sich verwirklichte.

Kotzebue sah in Leipzig die Oper: „Der Bergsturz von Goldau“. Küstner bemerkte ihm, daß wegen der darin dargestellten Katastrophe die Maschinerie nicht gestatte, hinterher noch ein anderes Stück zu geben, und daher die Vorstellung sehr früh endige. Jener erbot sich hierauf gleich, ein Lustspiel zu schreiben, das vor dem Vorhang seinen Schauplatz habe – ein neues Beispiel seiner unerschöpflichen Erfindungsgabe. Doch – er ging nach Mannheim, wurde von Sand ermordet, und Küstner erhielt das Stück nicht! Weber war auf der Reise nach London in Leipzig und besprach sich mit Küstner bis tief in die Nacht über die Aufführung seines „Oberon“ daselbst. Noch von der englischen Hauptstadt aus, wo er bekanntlich starb, schickte er die Partitur an Küstner, und so wurde es möglich, die Oper bereits ein Jahr früher, als auf allen übrigen deutschen Theatern, und zwar mit einer glänzenden Ausstattung, zu geben, welche eine Menge fremder Fürsten und Intendanten nach Leipzig zog. Um unserer Neugierde hier gleich auch einen Blick in Küstner’s Logen in München und Berlin zu gönnen, gedenken wir der Dichter Eduard v. Schenk und Grillparzer als häufiger Besucher der ersteren, wogegen uns in letzterer der liebenswürdige englische Gesandte und große Beschützer der Musik, Lord Westmoreland, ferner der Fürst Pückler-Muskau und seine Gemahlin, geb. v. Hardenberg, mit ihrem Zwerge, die Herzogin von Sagan, Fürst Lichnowsky, Gutzkow u. v. A. begegnen.

Durch seine Leipziger Direktion hatte sich Küstner einen so großen Ruf erworben, daß es ihm jetzt, als jene Unternehmung aufgegeben, nicht an mannigfachen Anträgen zu einer anderweitigen Wirksamkeit fehlte. So ergingen an ihn Berufungen zur Uebernahme der Dresdner Bühne auf eigene Rechnung und zur Leitung des Theaters in Frankfurt a. M. Beides lehnte er ab und ward statt dessen im Jahre 1830 Director der Hofbühne zu Darmstadt. Es war ihm jedoch nicht lange vergönnt, sich in den dortigen freundlichen Verhältnissen zu bewegen, da das betreffende Kunstinstitut bereits nach Verlauf eines Jahres aufgelöst werden mußte, weil der Hof sich veranlaßt sah, die Subvention zurückzuziehen. Küstner’s nächster Wirkungskreis [750] ward nun München, wo ihm 1833 auf Veranlassung des Ministers und Dichters Eduard von Schenk die Intendanz des Hoftheaters angeboten wurde. Hier in München erhielt er ganz besonders Gelegenheit, nicht blos den ihm vorausgegangenen Ruhm seiner artistischen Verwaltungsgabe zu rechtfertigen, sondern auch seine Kunst einer ersprießlichen Theaterökonomie zu bewähren, durch welche letztere er nicht etwa in Folge einseitiger Sparmethode, vielmehr lediglich in Folge richtiger Berechnung der Ausgaben die Einnahmen beträchtlich zu erhöhen wußte. Es wurde ihm die Aufgabe gestellt, den Zuschuß von 78,000 Gulden, der bisher nie ausgereicht hatte, nicht zu überschreiten und außerdem eine Schuldenlast von 44,000 Gulden zu decken. Er erreichte vollkommen das ihm gesteckte Ziel, ohne im Mindesten der Kunst Eintrag zu thun, die vielmehr unter seiner Leitung an allgemeiner Anerkennung bedeutend gewann. Während der Leipziger Direction, die er für eigene Rechnung führte, war er überall und immer mit größter Liberalität zu Werke gegangen, ohne ängstliche Wahrnehmung seines pecuniären Vortheils. Bei den späteren Hoftheaterleitungen für fürstliche Rechnung hatte er dagegen streng das ihm bestimmte Maß des bewilligten Zuschusses im Auge und scheute keine, auch mit Unannehmlichkeiten verknüpfte Maßregel, die dazu dienen konnte, jenes Maß aufrecht zu halten. Der König von Baiern wußte übrigens Küstner’s Verdienste zu würdigen, er ertheilte ihm 1837 den Adel.

Die ungemein glücklichen Erfolge seiner Münchner Wirksamkeit zogen die Aufmerksamkeit auch des Königs von Preußen auf sich, welcher im Jahre 1841 sich am bairischen Hofe zu Besuch befand und früher schon das Küstner’sche Theater in Leipzig kennen gelernt hatte. In Küstner glaubte Friedrich Wilhelm IV. den geeigneten Mann zu finden, der die Berliner Hofbühne innerhalb eines beschränkteren Finanzetats, als bisher, zu halten und trotzdem nach dem höchsten artistischen Maßstab weiterzuführen wissen würde. So verließ denn Küstner im Jahre 1842 München und übernahm, von einer Reise nach Italien zurückgekehrt, im Juni die Generalintendanz der königl. Schauspiele zu Berlin unter Zusicherung lebenslänglicher Anstellung.

Auch seine nun folgende Thätigkeit in der preußischen Hauptstadt zeigte das consequente Streben: eine musterhafte Disciplin in der Verwaltung mit vollster Hingebung an die Kunstinteressen und an die Forderungen der Gegenwart zu vereinigen. Alle seine Versuche und Schritte gingen dahin, eine Bühnenreorganiation in zeitentsprechender, auf der künstlerischen und gesellschaftlichen Höhe der Gegenwart stehender Form zu vollbringen. Wenn es nun auch in den verschiedenen Kreisen, welche durch seine Reformversuche, wie überhaupt durch seine mit Entschiedenheit und Freimuth behauptete Stellung berührt wurden, nicht an mannigachen Gegenwirkungen fehlen konnte, so mußte man doch bei allen Parteien stets dem aufrichtigen und biedern Sinn, dem edlen, völlig selbstlosen Streben, sowie dem ebenso energischen, wie humanen Charakter, mit dem Küstner unter all den ihm bereiteten schwierigen Verhältnissen sich immer Herr seines Handelns und Wollens zu bleiben wußte, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Unter den neuen Einrichtungen, die er in Berlin traf, verdient obenan der Autorenantheil, die Tantième, genannt zu werden, welche im Jahre 1844 gleichzeitig an dem Berliner Hoftheater und der Wiener Burg, die damals unter Holbein’s Direction stand, zumeist auf Küstner’s Anregung und wesentlich nach dem von ihm ausgearbeiteten Plane eingeführt wurde. Das allein bleibt ein unvergeßliches Verdienst der Küstner’schen Theaterverwaltung. Die Tantième wurde in beiden genannten Städten vorerst nur versuchsweise auf drei Jahre in’s Leben gerufen, und obwohl es von gewisser Seite her nicht an Opposition fehlte und sogar Stimmen erstanden, die in ihr ein staatsgefährliches, die Schriftsteller zur Aufregung der Massen verführendes Element erkennen wollten, so blieb doch die Anerkennung ihrer Ersprießlichkeit Sieger und sie ward Anfang 1847 bis auf Weiteres prolongirt. Ein zweites, tief in das Bühnenwesen eingreifendes Verdienst erwarb sich Küstner durch das Theatergesetzbuch, den vollständigsten Bühnencodex, der je zusammengestellt worden ist und dessen Nutzen und Milde Zeit und Erfahrung an’s Licht gebracht haben.

Auch die Abstellung eines alten Mißbrauchs ist unserm Küstner zu verdanken. Als er seine Berliner Stellung antrat, stand noch auf allen deutschen Theaterzetteln vor den Namen der Darstellerinnen Madame und Demoiselle, und bei Knaben von zehn bis vierzehn Jahren – höchst komischer Weise – Monsieur. Er verbannte diese lächerliche Ausländerei und setzte, wie sich’s gehört: Frau, Fräulein, und bei Kindern einfach die Vor- zu den Familiennamen. Schon früher hatte er mehreren Intendanzen den Vorschlag hierzu gemacht; sie trugen aber Bedenken, darauf einzugehen. Da kam das Revolutionsjahr 1848 und räumte auch mit diesen kleinlichen Bedenklichkeiten auf. Küstner führte die neue Einrichtung ein, und alle Theater folgten.

Während er indeß in Berlin unablässig für die innere Verfassung des dortigen Bühnenwesens zu sorgen bemüht war, richtete er seine Blicke zugleich auch nach außen auf den Gesammtbestand der deutschen Theaterwelt überhaupt, in der bisher anstatt des gegenseitigen Rechtsschutzes fast nur wechselseitige Uebervortheilungen und Ablistungen gegolten hatten. – Die Idee eines rechtlich begründeten Theaterstaats, die Küstner innerhalb des einen Instituts durchzuführen bestrebt war, brachte ihn so auf den Gedanken einer allgemein deutschen Theaterassociation. Es sollte ein Verein der deutschen Bühnen begründet werden, dessen ausgesprochener Zweck dahin ging, „contractlich erworbenen Rechten in den Theaterverhältnissen durch Anerkennung derselben von Seiten sämmtlicher contrahirender Bühnen eine größere Sicherheit zu verleihen und mit diesem gehobenen Rechtszustand zugleich den Schauspielerstand moralisch zu heben.“ Der von Küstner ausgearbeitete Plan wurde die Grundlage vieler mühsam angeknüpfter und verfolgter Unterhandlungen mit allen deutschen Bühnenvorständen und hatte das erfreuliche Resultat, durchgängig Anklang zu finden und namentlich von Seiten der Fürsten und Regierungen lebhafteste Förderung und besonderen Schutz zu erfahren, so daß fast sämmtliche größere Bühnen Deutschlands (zweiunddreißig) sich dem Vertrage anschlossen. Seitdem ist ihre Zahl noch beträchtlich gestiegen.

Der glücklichen und bedeutenden Wirksamkeit Küstner’s in Berlin lassen sich auch die dort von ihm erlangten finanziellen Resultate beizählen. Wenn die Einnahme im dreijährigen Durchschnitt vor ihm 170,000 Thaler betragen hatie, stieg sie unter ihm in den Jahren 1842, 1845 bis 1847, auf welche die Folgen des Opernhausbrandes und der Revolution nicht einwirken, auf die Durchschnittseinnahme von 210,000 Thalern jährlich, vermehrte sich sonach um 40,000 Thaler. Mehr noch als diese Verbesserungen in der Theaterökonomie zeugen aber für die Thätigkeit, Umsicht und den Kunstgeschmack Küstner’s die während seiner Leitung vollzogenen Engagements. Künstlerinnen, wie eine J. Wagner, Köster, Thomas, Hoppé, Viereck, Adolphine Neumann, Marie Taglioni; Künstler, wie Hendrichs, Döring, Hoppé, Dessoir, J. Wagner, Liedecke, Krause, Salomon, Hogunt-Vestris sprechen für sich selbst. Auch Ch. Birch-Pfeiffer, die beliebte Dichterin, ward durch Küstner für Berlin gewonnen.

Hatte er zu Leipzig und München in friedlichen und glücklichen Zeiten gewirkt, so legten ihm in Berlin der Brand des Opernhauses (1843) und die Jahre der Unruhen (1848 und 1849) große Hindernisse und Erschwerungen seiner Aufgabe in den Weg, ja gefährdeten selbst seine persönliche Stellung. Doch auch dies überwand er, obwohl nicht ohne Nachtheile für seine Gesundheit, ein Umstand, der ihn 1851, nachdem er die Generalintendant neun Jahre geführt, und seit 1817, also während ganzer vierunddreißig Jahre als Bühnenleiter thätig gewesen war – eine Zeitdauer, welche weder Schröder’s noch Iffland’s Regiment erreichte – um seine Pensionirung einzukommen bestimmte.

Allein dem Theater, der dramatischen Kunst sollte auch ferner noch seine Thätigkeit gewidmet bleiben. Zunächst schrieb er die „vierunddreißig Jahre seiner Theaterleitung“ und legte darin über seine sämmtlichen vier Bühnenverwaltungen ausführliche und genaue Rechenschaft ab. Das Feld der Theaterstatistik war vor ihm ein noch völlig unbebautes, und das von ihm in zwei Auflagen herausgegebene Taschen- und Handbuch für Theaterstatistik ist darum als ein höchst bedeutsames zu bezeichnen. Ingleichen gelang es seinen von Anderen unterstützten, vielfältigen Bemühungen, sowohl für Preußen, als durch Annahme von Seiten des Bundestags für ganz Deutschland ein Gesetz zu erwirken, vermöge dessen kein Stück, sei es gedruckt oder Manuscript, ohne Einwilligung des Verfassers aufgeführt werden darf, während früher diese Bestimmung nur für ungedruckte Werke zu Recht bestand. Hierdurch erst wurde das geistige Eigenthum der dramatischen Dichter in Deutschland vollständig gesichert, sowie es in Frankreich schon seit der französischen Revolution 1791 gewesen war.

[751] Küstner hatte nach seiner Pensionirung zunächst wieder eine Reise nach Italien gemacht, dann aber seinen Aufenthalt auf’s Neue in Berlin genommen. Im Frühjahr 1860 siedelte er, sich nach größerer Ruhe sehnend, in seine Vaterstadt Leipzig über, wo ihm noch nahe Verwandte lebten. Auch daselbst legte er sowohl für Theater und Kunst, als für alle politischen Begebenheiten und socialen Fortschritte ein fortdauerndes warmes Interesse an den Tag. Nach wie vor schrieb und wirkte er für die Tantième der dramatischen Schriftsteller, in deren Einführung den beiden Theatern zu Wien und Berlin leider bisher nur noch die Münchner Hofbühne nachfolgte, während anderwärts Küstner’s dringendste Aufforderungen von den Theatervorständen noch immer unbeachtet gelassen sind.

Mit vollstem Recht galt Küstner in allen Angelegenheiten des Theaters als eine Autorität, die ihren guten Rath, ihre reiche Erfahrung Niemandem versagte, der sich an sie wendete. Dabei hielt er in Leipzig stets offenes und gastfreies Haus und versammelte allwöchentlich mehrmals einen heitern, geistig angeregten und gemüthlichen Kreis von Gelehrten und Künstlern, deren Seele und Mittelpunkt immer er selbst war. So schienen sein frischerhaltener jugendlicher Sinn und sein warm gebliebenes Herz das Alter fast spurlos an ihm vorübergehen lassen zu wollen, da, kurze Zeit nur vor seinem achtzigsten Geburtstage, erkrankte er an einem Unterleibsleiden, um, nach einem wohlvollbrachten Tagewerk und einem behaglichen schönen Lebensabende, am 27. October d. J. die Augen zu schließen.




Blätter und Blüthen.

Ein Braver. Am 16. April d. J. verbreitete sich bei unserem Regimente die Nachricht, daß die Düppeler Schanzen in der nächsten Nacht gestürmt werden würden. Wir zogen auf Vorposten. „Wirst Du zurückkommen?“ so fragten sich wohl Alle, und die Meisten mögen sich darauf mit Nein geantwortet haben: denn ein Blick auf die Physiognomie der Leute ließ dies leicht ahnen. Da saßen die braven märkischen Jungen, theils mit zusammengepreßten Lippen vor sich hin auf die nahen Dänenwerke schauend, während das Auge des Geistes in der fernen lieben, ach so lieben Heimath bei den Eltern, dem Weibe, den Kindern oder der rosigen Braut weilte, theils mit einander leise plaudernd von alle dem, was den jungen Herzen nun gerade am nächsten lag. Doch einen und denselben Schluß hatten alle Gedanken: „Besser stürmen und siegen oder fallen, als hier auf Vorposten länger alle nur denkbaren Strapazen ertragen.“

Die Nacht zum 17. April verging wider Aller Erwarten ruhig; wir wurden am Abend des genannten Tages vom achtzehnten Regiment abgelöst und marschirten nach Nübel, wo noch spät Nachts die Fleischportion mit der Weisung vertheilt wurde, „bis fünf Uhr das Mittagsbrod abgekocht zu haben.“ Dies sowohl, wie das Zusammenstehen der höheren Officiere, brachte abermals die Idee, daß etwas Wichtiges im Werke sei, in Aller Köpfe. „Diesmal wird’ s doch endlich den Schanzen gelten,“ sagte Der und Jener seinem neben ihm liegenden Schlafcameraden.

„Es wäre Zeit.“

„Gute Nacht.“

Der Morgen des 18. April machte die Idee fast zur Gewißheit; denn der Donner der Batterien war noch niemals so stark gehört worden, wie an diesem Tage; es gab keine Pause unter dem Krachen der einzelnen Schüsse, ein Dröhnen verband sich mit dem andern zum furchtbarsten Donner. Auf der Büffelkoppel, einer mit prachtvollen Buchen bewachsenen Anhöhe, sammelte sich unser Regiment, und hier erst erfuhren wir aus dem Munde des Obersten, daß der Sturmlauf auf die Schanzen eins bis sechs um zehn Uhr beginnen werde. Das Regiment stand, mit Ausnahme von zwei Compagnien, die durch’s Loos zu den Sturmcolonnen gekommen waren, in der ersten Reserve.

Die Uhr zeigte zehn Minuten vor Zehn, als das Commando „an die Gewehre!“ ertönte. In diesem Augenblick sah ich kein rothes Gesicht, keinen lachenden Mund; mir selbst aber drängte sich der Gedanke mit aller Macht auf: „Dies ist dein letzter Gang.“ Ich war überzeugt, wie ich auch gegen diese Ahnung anzukämpfen versuchte, daß ich heute bleiben würde. Ich hatte einen Cameraden, der mir in diesem Feldzuge ein lieber, herziger Freund geworden war, T… ist sein Name, ihn bat ich, sich die Adresse der Meinen aufzuschreiben.

„Weshalb?“

„Ich werde heute bleiben, und sie mögen daheim bald Nachricht haben.“

„Sei kein Thor und fort mit diesen trüben Gedanken!“

„Mir sagt’s aber eine Ahnung, und Ahnungen sind wahr.“

„Nun, wenn Ahnungen nicht trügen, dann sehen wir Beide heute Abend von den Schanzen ganz gemüthlich nach Alsen hinüber. Auch ich habe Gefühle so ganz anderer Art wie sonst, die aber alle sagen: Du und ich, wir werden siegen und leben; wie kann der einfältige Tod nur wagen, Dich von mir zu reißen, die wir ja Eins sind! Ade, mein Junge, ich gehe zu meinem Zuge. Apropos,“ drehte er sich noch einmal um, „meine Cigarren sind alle geworden, Du hast doch noch einige?“

„Etwa dreißig Stück.“

„Ah, sehr gut, wir werden sie heut Abend brauchen. Ade.“

Vorwärts ging’s. Die erste Reserve, also auch wir, kam in’s Gefecht, nicht etwa als ob die Sturmcolonnen geworfen worden waren, sondern um die Schanzen sieben bis zehn und den Brückenkopf anzugreifen. Das Regiment wurde auseinandergerissen und ging theils auf diese, theils auf jene vor, unsere Compagnie gehörte zu der nach dem Brückenkopf dirigirten Colonne. Wir hatten die Schanzen, auf denen der Kampf noch wüthete, im Rücken, vor uns aber nicht allein den Brückenkopf mit seinen Tod und Verderben speienden Geschossen, sondern auch die mit dänischen Schützen dicht besetzten Knicks. Jeder einzelne derselben mußte genommen werden, und das war die leichteste Arbeit nicht; denn die Dänen fochten brav; wenige wurden gefangen genommen, die meisten starben den Heldentod.

Wir hatten einen solchen Knick genommen und uns dahinter festgesetzt, ein heftiges Feuer mit einer uns gegenüberliegenden, etwa hundert Schritt entfernten dänischen Abtheilung unterhaltend. Einige Schritt vor uns lagen drei schwer getroffene Dänen. Die armen Kerle jammerten und ächzten ganz schrecklich und mühten sich vergeblich ab, zu ihren Cameraden zu gelangen. Mein Freund T… lag einige Schritte von mir, er rief mich zu sich, ich kroch zu ihm heran.

„Höre,“ sagte er, „ich kann das Schreien und Jammern nicht länger ertragen, ich hole die armen Kerle, sie müssen verbunden werden.“

Ich suchte ihn abzuhalten mit Güte, mit Gewalt; denn ich und jeder Andere wußte, daß ein derartiges Unternehmen sicherer Tod durch die Kugeln der gegenüberliegenden Feinde sein würde. Doch alles Bemühen war vergeblich, er drängte uns von sich und sprang über den Knick. Das Feuer unserer Gegner wurde von diesem Moment an heftiger; über uns hinweg zischten die Kugeln, massenweis schlugen sie klatschend in den Erdwall ein, daß Schmutz und Staub in die Höhe spritzte. Wieviel mochten nach jenem kühnen Jüngling gerichtet sein, wieviel trafen ihn? Mitten unter den Kugeln ging er schleunigen Schrittes zu den drei Verwundeten, keine traf ihn. Er erfaßt den Einen, er schleppt ihn zu uns; noch immer schießen die Dänen, obschon nicht mehr so heftig, er geht zum zweiten Male vor, hebt den zweiten Verwundeten auf, der arme Teufel schreit furchtbar dabei, da jedenfalls durch die Bewegung die im Unterleib sitzende Kugel ihm noch größere Schmerzen verursacht, mit einem Male ist er ganz still – eine Dänenkugel hat ihm, dem Dänen, den Kopf zerschmettert. Hatte sie ihm gegolten oder dem wackern Preußen, der sein Retter werden wollte? Wir hörten ein dänisches Commando, kein Flintenschuß fiel mehr von drüben.

Zum dritten Male geht der Brave vor, den letzten bringt er zu uns heran. Wir ziehen den Dänen behutsam zu uns herüber, ich reiche meinem lieben T… die Hand zur Stütze beim Uebersteigen des Knicks, da schreit’s „Bombe“, im nächsten Augenblick ein Knall, Erde, Dampf, Steine fliegen in die Höhe, ich fühle die Finger des T. eisenfest, bis zum Schmerz, sich um die meinen klammern, dann lassen sie los, der Arm fällt schlaff mit dem Oberkörper zusammen.

Ein Loch hier und dort, ein wilden Hurrah längs des ganzen Walles, und hinüber ging’s mit wildem Ungestüm; kaum eine Minute darauf war der nächste Wall mit dem Bajonnet genommen. Er aber, der vor wenigen Stunden noch so gar nicht an Sterben und Fallen denken wollte, dem das junge Herz so ganz voll von frischer Hoffnung schlug, der arme, arme Junge lag zu einem blutigen Klumpen zusammengebrochen am Boden, eine Hohlkugel, die ganz in seiner Nähe geplatzt, hatte seinen Unterleib buchstäblich auseinandergerissen. Eine halbe Minute noch durfte ich bei dem geliebten Leichnam knieen und in das sonst so schöne treue Auge schauen, das jetzt starr und glanzlos auf mich blickte. Dann kam die Pflicht; einen Kuß noch der bleichen Stirn, und weiter vorwärts.

Wo und mit wie Vielen mag er zusammen ein Grab gefunden haben? Ich weiß es nicht. Als ich am nächsten Morgen ihn zu finden kam, fand ich zwar die von Blut geröthete Stelle, wo er gefallen, sein Leichnam aber war nicht mehr da, jedenfalls ruhte er schon in seiner letzten Wohnung.

Schlaf in Frieden, wackeres deutsches Jünglingsherz!
R. 




Ist die Erde im Laufe der Zeiten kälter geworden? Wenn einmal, wie es im laufenden Jahre geschehen, unsere Breitengrade einen kühleren Sommer als gewöhnlich haben, da entsteht so oft die obige Frage, trotzdem daß die Wissenschaft sie schon längst unzweifelhaft verneinte. Natürlich von jener Zeit an gerechnet, in der die Erde als feuriger, flüssiger oder doch als weicher Ball entstand, hat sie sich abgekühlt bis zu dem Punkte, auf welchem angekommen sie durch Ausstrahlung in den kalten Weltraum nur ebensoviel Wärme verliert, wie sie andererseits jährlich von der Sonne empfängt. Dabei hat die Oberfläche unseres Planeten, wenn man die ganze Wärmemenge des Jahres über alle Punkte desselben sich gleichmäßig vertheilt denkt, eine Temperatur von 11,7° R. Soviel aber hat sie vor tausenden, vielleicht hunderttausenden von Jahren auch gehabt, jedenfalls so lange schon, als Menschen auf ihr herumwandeln. Einen Beweis dafür liefert die Pflanzengeographie, welche lehrt, in welcher mittleren Jahrestemperatur diese oder jene Pflanze im Freien gedeihe, und welche dafür die geographischen Grenzen, denen also doch eine bestimmte mittlere Temperatur zukommt, angiebt. Die allerältesten Nachrichten nun, verglichen mit den Erfahrungen unserer Tage, weisen jeder Pflanze noch einen und denselben Standort an; die Temperatur dieser einzelnen Gegenden kann sich also nicht vermindert haben, sonst wären die Grenzen, welche den von der Natur gegebenen Standort der Pflanzen bezeichnen, südlicher, d. h. näher nach dem Aequator gerückt, das ist aber nicht der Fall. Im Gegentheil hat die intensive Cultur, die Entwaldung vieler Bodenstrecken, eher eine wenn auch sehr geringe höhere Erwärmung derselben Gegenden hervorgebracht.

[752] Doch noch einen Beweis giebt es, der unumstößlich darlegt, daß eine Verminderung der Summe der Wärme des ganzen Erdballs nicht stattgefunden hat. Er ist zwar keineswegs neu, doch verdient er durch seine sinnreiche Ableitung sicher eine größere Verbreitung, als er bis jetzt haben wird. Bekanntlich dehnt die Wärme alle Körper aus, die Kälte zieht sie zusammen. Wenn ein Körper sich um seine Axe dreht, und zwar mit einer gewissen sich gleichbleibenden Kraft, so wird seine Drehung eine um so schnellere, je kleiner derselbe wird. Hätte die Temperatur der Erde abgenommen, so würde sie sich in dem Maße ihrer Abkühlung zusammengezogen, also verkleinert haben, ihre Umdrehung würde mithin schneller geworden sein. Mit unseren irdischen Uhren hätten wir das freilich nicht controlirenn können, wenn die Differenz für vierundzwanzig Stunden etwa 1/100 Secunde betrüge. Wenn wir aber außer unserem Planeten liegende Uhren benutzen, nämlich die Beobachtung der Stellung anderer Himmelskörper zu einander, wie sie uns von der Erde aus erscheint, so wird doch eine Controle möglich. Nun hat nämlich Hipparch vor etwa zweitausend Jahren die Länge des Tages nach den in gewisse unwandelbare Perioden eingeschlossen wiederkehrenden Mondfinsternissen bestimmt, zwischen denen allemal so und so viel Tage, Stunden, Minuten und Secunden verlaufen, und heute – beträgt der Zeitraum noch ebensoviel. Drehte sich aber die Erde täglich um 1/100 Secunde schneller um ihre Axe, so würde das im Verlaufe eines Jahres schon etwas über 31/2 Secunden Differenz für die vorausberechneten Finsternisse ergeben, ein Unterschied, der bei den so unendlich genauen Beobachtungsinstrumenten der Jetztzeit schon viel, viel eher bemerkbar werden müßte.

Also getrost! – so lange das Menschengeschlecht besteht, hat sich die Temperatur der Erde gewiß nicht um 1/100 Grad vermindert, und wenn einmal ein Sommer bei uns kühler ist, dann hat ihn die westliche Halbkugel der Erde desto wärmer, und ein späterer wird das Versäumte auch bei uns einholen.




Gifthandel und Gifttrinker in England. In England, wo die Mäßigkeitsvereine zu Gesellschaften für gänzliche Enthaltsamkeit von dem sich ausbildeten, was mit Feuerwasser, mit dem Hopfen des Gambrinus oder mit Vater Noah’s Weinrebe auch nur in verdünntester Stiefverwandtschaft steht, floriren bekanntlich die „Teatotaler“, d. h. totale Theetrinker, und leichtgläubige Gemüther glaubten lange, in dieser Weise wenigstens ein gutes Häuflein alter Sünder dem Verderben entrissen zu haben. Aber sie haben leider außer Augen gelassen, daß ihre Landsleute ein instinctmäßiges Talent für buchstäbliche Auslegungen haben und sich die Auslassungen im Enthaltsamkeitsgelübde bald zu Nutze machten. Bier, Wein und Feuerwasser rührten sie nicht an, aber – an Gifte, recht eigentliche Gifte, hatte der begeisterte Mäßigkeitsapostel Pater Mathew seiner Zeit freilich nicht denken können.

Auf Veranlassung der englischen Regierung hat jetzt ein Arzt, Dr. A. Taylor, an dieses fürchterliche, aber öffentliche Geheimniß gerührt und, was er entdeckt, dem Publicum vorgelegt. Beginnend mit der Angabe, daß die Mittel und Wege sich Gifte jeder Art zu verschaffen in England in unbeschränkter Anzahl vorhanden und Jedermann für drei Pence genug davon erhalten könne, um zwei ausgewachsene Leute auf stille und reinliche Weise aus der Welt zu fördern, verbreitet er sich über das in jedem Dorfe blühende Geschäft in betäubenden oder berauschenden Flüssigkeiten von tödtlicher Wirkung. Laudanum, eine Opiumtinctur, z. B. werde den Armen wie den Reichen, Alt und Jung mit unparteiischer Gleichgültigkeit von den profitliebenden Händlern credenzt. In sumpfreichen Districten des Landes prahlen die Apotheker und Quacksalber, welche sich selbst unter dem edlen Namen „Chemiker“ begreifen, damit, daß sie an jedem Sonnabend, dem Lohntage der Arbeiter, je drei- bis vierhundert Kunden mit solchem Getränk bedienen. Ein Ehemann beklagte sich Dr. Taylor gegenüber wegen der Verschwendung seiner Ehehälfte, welche seit ihrer Verheirathung gegen siebenhundert Thaler auf Mohnsaft vergeudet hätte! Händler in diesem Artikel gestanden, daß sie durchschnittlich zweihundert Pfund davon im Laufe eines Jahres loswürden. Und dies beschränke sich keineswegs auf Marschgegenden, wo Entschuldigungen hin und wieder darin gesucht werden, daß jener Saft verhütend gegen rheumatische Störungen des Nervensystems wirke! Tausende von Pfunden Opium und Laudanum werden auch jährlich selbst in Districten verkauft, wo Rheumatismus und verwandte Krankheiten unbekannt sind. Der Apotheker reiht am Sonnabend auf seinem Ladentisch zahllose auf Flaschen gezogene Giftsummen und Betäubungs-Drachmen an einander.

Die Orientalen verdammen die Flasche und die Bowle, aber sie entschädigen sich in anderer Selbstbetäubung. Und in England, wo 34,000 Menschen jährlich an den Folgen übermäßiger Trunksucht sterben, wird der sogenannte enthaltsame Theil der Bevölkerung durch Opium und Laudanum decimirt und durch gewisse verderbliche Mischungen, die unter ästhetischen Namen das Ohr täuschen und das Gehirn bestehlen. Ein anderer angesehener Arzt Englands, Johnson, sagte schon vor einem halben Menschenalter: „Bei uns fliehen die Armen vom Becher von Thon zum Kopfe voll Mohn“. Alljährlich ist der Export von Opium aus Indien und China nach England im Wachsen begriffen. Die Apotheker machen ein glänzendes Geschäft mit diesen Opiumpräparaten, ja in den Provinzen kann die Apotheke oft nur durch die Nachfrage nach Laudanum allein bestehn, versichert mein Gewährsmann.

Dr. Taylor läßt es nicht an einer erschütternden Nutzanwendung auf Morde, Todtschläge, Selbstmorde und tödtliche Unfälle fehlen. Unter letztern Kategorie und als Folge der ungehinderten Geschäfte mit Giften rechnet er die allgemein verkauften Insektengifte, die ganzen Familien von naschhaften Kindern das Leben gekostet hätten. Bleizucker, Grünspan, Zinnober sieht er in allen Ladenfenstern der Zuckerbäcker; gebe doch selbst der Arsenikhändler seinem Artikel eine schöne Farbe von Roth oder Grün, ehe er ihn dem Apotheker für dessen zierliche Büchsen ablasse. „Thörichte englische Mädchen, die davon gehört, daß steirische Bauern zwölf bis dreizehn Gran des Tages nehmen, zur Stärkung ihrer Athmungswerkzeuge, sind auf den Gedanken gekommen, sich auch zu arsenificiren, um einen schönen, reinen Teint zu erhalten.“ So lautet eine andere Stelle des Rapports an die Regierung und zählt viele Fälle von solcher Selbstvergiftung auf, über welche sich Todtenjuries die Köpfe zerbrochen. Man verwendet diese Gifte, um Bädern damit Wohlgeruch zu verleihen, Blumen zu verschönern, Briefe, Fächer, Handschuhe zu parfümiren und Riechfläschchen verführerisch zu machen – mit dem Geruch des Todes. Arsenik kommt centnerweise in den Detailhandel, Laudanum aber ist so billig geworden, daß man für einen Penny genug zum sicheren Selbstmord erstehen könnte.




Ein echtes Volksbuch. Unserer heutigen Nummer liegt die Anzeige eines Werkes bei, das sich, schon durch die Namen seiner beiden Verfasser, ganz von selbst empfiehlt und, anerkannt wie es bereits ist, keines anpreisenden Wortes durch Buchhändler und Presse mehr bedarf. Es ist ein solches auch durchaus nicht unsere Absicht, wir wollen einfach nur nochmals aufmerksam machen auf jene Anzeige und auf das vortreffliche Buch – Dr. J. G. A. Wirth’s Geschichte der Deutschen. Vierte Auflage neu durchgesehen und bis auf die Gegenwart fortgesetzt von Dr. W. Zimmermann – das sich, wie kaum ein zweites, dafür eignet, vom deutschen Vater dem deutschen Sohne auf den Gabentisch unter den nun bald wieder lichterstrahlenden Christbaum gelegt zu werden.

Wohl ist kein Mangel an Darstellungen unserer vaterländischen Geschichte, kein Mangel auch an guten und empfehlenswerthen, allein wir kennen in der That keine andere, die sich wie Wirth’s, des edlen deutschen Patrioten und Märtyrers, des Redners vom Hambacher Feste und des späteren Mitgliedes des deutschen Parlaments, Geschichte der Deutschen bei einer wahrhaft großartigen Auffassung und Beherrschung des reichen Stoffes durch eine gleich schwungvolle und doch volksthümliche Darstellung auszeichnet. Die buchhändlerische Reclame pflegt sehr freigebig umzugehen mit dem Prädicate „echtes Volksbuch“ oder „Volksbuch im besten Sinne des Wortes“, um unter solchen Titeln manch Geistesproduct einzuschmuggeln, das lediglich der gewöhnlichsten materiellen Speculation und der rührigen Bücherfabrikation seine Entstehung verdankt, – Wirth’s Geschichte der Deutschen aber ist wirklich einmal ein Buch, das auf jene schönste aller Bezeichnungen vollgültigen Anspruch hat.



Kleiner Briefkasten.



Dr. H. St. in D–h. n. Wiederholt müssen wir Ihnen bemerklich machen, daß wir, bei der großen Zahl der uns täglich werdenden Eingänge, Manuscripte, welche uns unverlangt zugesandt werden, nicht zurückschicken können, falls sie aus einem oder dem andern Grunde keine Verwendung für die Gartenlaube finden. Wir nehmen vielmehr an, daß die betreffenden Verfasser sich stets eine Abschrift der uns bestimmten Beiträge zurückbehalten. Lediglich bei umfänglicheren novellistischen Manuscripten machen wir, wie Sie selbst bereits erfahren haben, unter Umständen wohl eine Ausnahme von dieser unserer Regel.


Berichtigung. In der in Nr. 45 enthaltenen letzten Quittung über bei mir eingegangene Beiträge für Schleswig-Holstein muß es heißen: 40 Thlr. und 60 fl. rhein., Erlös einer von den Frauen im Bezirke Herbstein im Großherzogthum Hessen veranstalteten Verloosung anstatt blos 40 Thlr., wie irrthümlich aufgeführt worden ist.
Ernst Keil. 

Ferdinand Stolle’s


ausgewählte Schriften.


Volks- und Familien-Ausgabe.
28.-30. Band.
IV. –VI. Supplement-Band.
Preis jedes Bandes 71/2 Ngr.

Indem ich den geehrten Abnehmern der ausgewählten Schriften von Ferdinand Stolle eine neue Fortsetzung, den 28. Band derselben:

Moosrosen dritter Theil

hiermit übergebe, hege ich die Hoffnung, daß diese gemüthlich-humoristischen Erzählungen gern empfangen und mit nicht geringerer Freude und Befriedigung als die früheren Bände aufgenommen werden. Stolle ist jetzt fast der einzige Repräsentant des deutsch-gemüthlichen Humors.

Leipzig, im Oktober 1864.
Ernst Keil 

  1. Bei diesem Erker befindet sich der Standpunkt, von welchem aus die Abbildung des Schloßhofes aufgenommen ist.
  2. S. Nr. 44
  3. Bei Anschaffung einen Respirators sehe man aber ja darauf, daß derselbe aus sehr vielen feinen Metallfäden, und nicht etwa aus durchlöcherten Blechplatten oder einem Sieb und Haargeflechte besteht; denn solche billige Nachäffungen des Jeffrey’schen Respirators schaden nur. In Leipzig sind echte Respiratoren beim Mechanikus Reichel zu haben.