Die Gartenlaube (1867)/Heft 29

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[449] No. 29.
1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.


Das Geheimniß der alten Mamsell.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Eine Viertelstunde später rollte Felicitas den Kinderwagen inmitten des Hofes langsam und vorsichtig auf und ab. Die fieberrothen Flecken auf den Wangen des jungen Mädchens erblichen allmählich unter dem erfrischenden Hauch der Luft, aber den Ausdruck finsteren Brütens auf der blassen Stirn vermochte er nicht wegzuwischen. … Es währte nicht lange, so kam Frau Hellwig in Begleitung der Regierungsräthin zurück; zu gleicher Zeit stieg der Professor die Treppe herab; er war im Begriff auszugehen, denn er hielt Hut und Stock in der Hand. Alle Drei traten in den Hof. Die Regierungsräthin trug ein großes Paquet, und nachdem sie ihr Kind begrüßt und geliebkost hatte, schob sie die Papierumhüllung des Paquets ein wenig zurück und lächelte in reizend schalkhafter Weise nach ihrem Cousin hinüber.

„Sieh ‘mal her, Johannes, bin ich nicht eine recht leichtsinnige Frau?“ scherzte sie. „So sehr mein Herz gegen weiblichen Putz gestählt ist, so wenig widersteht es den Verlockungen einer Leinenhandlung. Da sah ich in einer Auslage dies wundervolle Tischzeug – glaubst Du, ich hätte vorübergehen können? Nicht möglich! Ehe ich mich dessen versah, hatte ich das Tischzeug im Arm und dies Schock superfeine Leinwand dazu. … Nun adieu, Winterstaat! Wenn ich gewissenhaft sein will, so muß ich diese Lücke in meinem Etat durch Weglassung verschiedener Wintertoiletten wieder ausfüllen – sei’s drum – eine echte, deutsche Hausfrau kann nun einmal ihren Leinenschrank nicht voll genug haben!“

Der Professor antwortete nicht. Er sah über die Sprechende hinweg nach der Hofthür. Dort trat eben die Bürgersfrau heraus, die Felicitas neulich im Studirzimmer des zweiten Stockes gesehen hatte. Sie schien unter ihrem großen, verhüllenden Mantel sehr bepackt zu sein und schritt in fast ehrfurchtsvoller Haltung auf den Professor zu.

„Herr Professor, mein Wilhelm sieht wieder – er sieht so gut wie ich und alle gesunden Menschen,“ sagte sie; ihre Stimme bebte und ein Thränenstrom stürzte aus ihren Augen. „Wer hätte das gedacht! Ach, was war das für ein unglücklicher Mensch und wir Alle mit! … Nun kann er wieder sein Brod verdienen, und ich darf mich einmal ruhig hinlegen, denn ich hinterlasse kein blindes, hülfloses Kind. … Ach, Herr Professor, alle Schätze der Welt wären mir nicht zu viel für Sie! Aber wir sind ja so grundarme Leute – es ist ja gar nicht daran zu denken, daß wir Ihnen das je vergelten können, was Sie an uns gethan haben. … Seien Sie nicht böse, Herr Professor, ich meinte, wenigstens eine geringe Kleinigkeit –“

„Nun, was soll’s werden!“ unterbrach sie der Professor barsch und trat einen Schritt zurück.

Die Frau hatte während ihrer letzten Worte den Mantel zurückgeschlagen; ein großer Vogelbauer und eine Rolle Leinwand kamen zum Vorschein.

„Sie haben die Nachtigall da so gern gehört, wenn Sie bei uns waren,“ hob sie wieder an; „wenn Sie das Thierchen in einen kleinen Bauer thun, da können Sie’s getrost mit nach Bonn nehmen. … Und das Stück Leinwand – es ist nicht fein, aber fest, ich hab’s selbst gesponnen – wenn es Madame Hellwig zu Leintüchern brauchen wollte –“

„Sind Sie denn nicht recht gescheidt, Frau, daß Sie Ihrem Mann den Vogel da wegnehmen?“ fuhr sie der Professor grimmig an – man sah seine Augen fast nicht, so finster runzelten sich die überhängenden Brauen. – „Ich kann Vögel gar nicht leiden – absolut nicht leiden – und meinen Sie denn, Sie seien berufen, für unsere Leibwäsche zu sorgen? … Packen Sie auf der Stelle Ihre Sachen zusammen und gehen Sie nach Hause!“

Die Frau stand bestürzt und wortlos vor ihm.

„Das hätten Sie sich und mir ersparen können, Frau Walther!“ sagte er milder. „Ich habe Ihnen wiederholt erklärt, daß Sie mir damit nicht kommen sollen. … Nun, da gehen Sie jetzt und grüßen Sie mir Ihren Wilhelm, morgen werde ich noch einmal nach ihm sehen.“

Er reichte ihr die Hand und schlug den Mantel über die Gegenstände der verunglückten Expedition. Die Abgewiesene knixte mit niedergeschlagenen Augen und entfernte sich. … Frau Hellwig und die Regierungsräthin waren stumme Zeugen gewesen; das Gesicht der Ersteren drückte jedoch entschiedene Mißbilligung aus, und einmal hatte es sogar geschienen, als wolle sie sich selbst in den Handel mischen.

„Nun, das verstehe ich aber nicht recht, Johannes,“ sagte sie in zurechtweisendem Ton, nachdem die Frau das Haus verlassen. „Wenn ich bedenke, was Dein Studium gekostet hat, so sollte ich meinen, hättest Du gar keine Ursache irgend eine Entschädigung zurückzuweisen. … Die Idee mit dem Vogel war freilich dumm – das Gezwitscher könnte mir fehlen in meinem stillen Hause – aber die Leinwand hätte die Frau hier lassen müssen, wenn es auf mich angekommen wäre – Leinen wirft man nicht so mir nichts, dir nichts zum Fenster hinaus!“

„Ach Tantchen, da wäre ich wohl sehr schlecht bei Dir angekommen mit meinen barmherzigen Gedanken, die vorhin in mir [450] aufstiegen?“ sprach die Regierungsräthin leicht scherzend. „Denke Dir nur, Johannes,“ fuhr sie ernster werdend, mit einem sanften Aufschlag ihrer Augen fort, „da haben wir heut Morgen von einer unglücklichen, aber braven Familie gehört – die armen Kinder haben nicht einmal Wäsche unter ihren elenden Kleidern – das dauert mich unsäglich – Tantchen und ich haben auch schon an eine Collecte gedacht. … Hättest Du die Leinwand angenommen, da wäre ich als Bettlerin zu Dir gekommen – Du hättest sie mir, wohl oder übel, schenken müssen; sie hätte prächtige Hemden für die Kinder gegeben – ich würde sie selbst genäht haben –“

„O, über diesen Tiefsinn christlicher Barmherzigkeit!“ unterbrach sie der Professor mit einem ingrimmigen Auflachen. Das letzte Scherflein einer armen Familie muß her, damit die Noth anderer Bedürftiger gestillt werde – und über diesem Liebeswerk steht die großmüthige Vermittlerin und zeigt der zerknirschten Welt den Glorienschein weiblicher Mildthätigkeit um ihre blonden Locken!“

„Du bist boshaft, Johannes!“ rief gekränkt die junge Wittwe. „Ich gebe sehr gern –“

„Aber es darf mich um’s Himmelswillen nichts kosten, nicht wahr Adele?“ ergänzte er in bitterer Ironie. „Warum greift denn die echte, deutsche, fromme Hausfrau nicht in ihren vollen Leinenschrank? … Hier dies völlig überflüssige Stück z. B.,“ – er griff nach der Leinwandrolle auf ihrem Arm. Beide Damen wehrten entsetzt seine Hand ab, als beabsichtige sie ein Attentat auf das Leben der jungen Wittwe selbst.

„Nein, das geht denn doch über den Spaß, Johannes!“ klagte sie, „dies wunderfeine Linnen!“

„Ich habe vorhin den Vorwurf von Dir hören müssen,“ wandte sich der Professor an seine Mutter, ohne den Kummer seiner tiefbeleidigten Cousine weiter zu beachten, „daß ich die Früchte meines sehr theuern Studiums nicht so verwerthe, wie es nöthig sei … Ich kann Dir versichern, daß ich auch praktisch bin und es für eine Aufgabe des Mannes halte, zu erwerben – aber nebenbei habe ich doch auch noch eine etwas höhere Meinung von meinem Beruf; er führt weit mehr als jeder andere Wirkungskreis – der des Geistlichen nicht ausgenommen – auf das weite Gebiet menschlicher Barmherzigkeit. Ich werde nie zu den Aerzten gehören, die mit der einen Hand einem unbemittelten Kranken von seinem Schmerzenslager aushelfen, um ihn auf der anderen Seite in die Sorge, wie er wohl diese Hülfe bezahle, zu stürzen.“

Er hatte bis dahin Felicitas’ Anwesenheit völlig unbeachtet gelassen. Auch jetzt streifte sein Blick nur wie unbewußt nach ihr hinüber; aber er blieb an diesem in innerer Befriedigung förmlich leuchtenden Gesicht hangen – zum ersten Mal begegneten sich diese vier Augen mit dem Ausdruck innigen Verständnisses – freilich nur mit der Schnelligkeit des Blitzes; das junge Mädchen senkte tödtlich erschrocken die Lider, und der Professor zog plötzlich seinen Hut mit einer fast zornigen Bewegung so tief in die Stirn, daß das stark geröthete Gesicht unter der breiten Krempe beinahe verschwand.

„Nun meinetwegen, das ist Deine Sache, Johannes, das magst Du halten, wie Du willst,“ sagte Frau Hellwig eiskalt. „Deinem Großvater Hellwig hättest Du übrigens mit der Ansicht nicht kommen dürfen. Die ärztliche Praxis ist Dein Geschäft, und ‚im Geschäft‘, pflegte er zu sagen, ‚darf man keine sentimentalen Anwandlungen dulden.‘“

Sie schob mißgelaunt ihre schwerfällige Gestalt nach der Hofthür. Die Regierungsräthin drückte mit einer lieblich schmollenden Geberde das Paket an ihr Herz und folgte ihr, neben dem Professor fortschreitend. In der Hausflur wandte der Letztere den Kopf noch einmal nach dem Hofe zurück. Felicitas hob eben Aennchen aus dem Wagen, um sie auf ihre Bitten noch einige Mal auf und ab zu tragen. Man hätte meinen mögen, die zarte, leichte Gestalt müsse zerbrechen in dem Augenblick, wo das Kind, die Arme um den feinen Hals des Mädchens schlingend, in seiner ganzen Schwere emporgehoben wurde. Der Professor kehrte sofort in den Hof zurück.

„Ich habe Ihnen schon einigemal das Tragen des Kindes verboten – es ist zu schwer für Sie!“ rief er ihr verweisend und ärgerlich zu. „Hat Ihnen Friederike nicht gesagt, daß Sie Heinrich zu Hülfe nehmen sollen?“

„Das hat sie vergessen; – Heinrich ist auch nicht zu Hause.“

Der Professor nahm ihr das Kind vom Arm und setzte es in den Wagen, wobei er ihm ernst zuredete. Der Ausdruck seines Gesichts war strenger und finsterer als je – zu jeder anderen Zeit würde ihm Felicitas trotzig den Rücken gekehrt haben, aber heute war sie schuld an dieser üblen Laune; sie hatte das ernste, tiefe Studium des Arztes durch ihren Gesang unterbrochen und ihm möglicherweise eine sich eben gestaltende, neue Idee verscheucht. Es half nichts, und wenn er auch noch so zornig und gereizt war, sie mußte um jeden Preis die Last loswerden, die ihre Seele bedrückte, er mußte erfahren, daß sie unwissentlich gefehlt hatte. Der Moment war ihr insofern günstig, als sie ihren Gegner nicht anzusehen brauchte; er neigte sich über den Wagen und sprach noch mit Aennchen.

„Ich habe Sie sehr um Verzeihung zu bitten, daß Sie durch mein Lied belästigt worden sind,“ sagte sie schüchtern. Dieser ihm völlig neue, lieblich bittende Ton ihrer Stimme übte eine merkwürdige Wirkung auf ihn aus; er fuhr empor und warf einen durchdringenden Blick auf das Gesicht des Mädchens. „Wenn Sie mir doch glauben wollten,“ fuhr sie eindringlich fort, „daß ich nicht die entfernteste Ahnung von Ihrer Anwesenheit im Hause gehabt habe!“

Das Wort „Lied“ mochte die Erinnerung an Felicitas’ Thränen in Aennchen wecken. „Böser Onkel! Arme Caroline hat geweint!“ schalt sie und hielt ihm drohend die kleine, geballte Faust entgegen.

„Hat das Kind Recht, Felicitas?“ fragte er rasch.

Sie vermied es, diese Frage direct zu beantworten. „Ich war sehr unglücklich in dem Gedanken –“

„Daß man glauben könne, Sie wollten sich hören lassen?“ unterbrach er sie, während ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht hinhuschte. „Darüber mögen Sie sich beruhigen… Für wie rachsüchtig und bösartig unversöhnlich ich Sie auch halte – an Gefallsucht Ihrerseits denkt meine Seele nicht – das brächte ich mit dem besten Willen nicht fertig… Ich habe Sie bitten lassen, zu schweigen – nicht eigentlich, daß Sie mich gestört hätten – sondern weil ich – unfähig bin, Ihre Stimme zu hören… Das kränkt Sie wohl nun über die Maßen?“

Felicitas schüttelte lächelnd den Kopf.

„Nun, das ist vernünftig… Uebrigens will ich Ihnen etwas sagen.“ – Er bog den Kopf tief herab und sah ihr fest und aufmerksam forschend in die Augen. „Ihr heutiger Gesang hat mir ein strengverschlossenes Geheimniß verrathen!“

Felicitas erschrak tödtlich. Er war ihrem Verkehr mit Tante Cordula auf die Spur gekommen. Sie fühlte, wie sie flammendroth wurde, und sah ihn ängstlich verwirrt an.

„Ich weiß nun, weshalb Sie sich jedweden fernern Beistand unsererseits für die Zukunft verbeten haben. In die Sphäre, in der Sie später leben und wirken wollen, reicht freilich unser Arm nicht – Sie werden auf die Bühne gehen!“

„Da irren Sie sich!“ antwortete sie entschieden und sichtlich erleichtert. „Wenn ich es auch für eine der herrlichsten Aufgaben halte, seinen Mitmenschen die Schöpfungen großer Geister vorführen zu dürfen, so fehlt mir doch dazu gänzlich der Muth. Ich bin unsäglich feig der Oeffentlichkeit gegenüber und würde es jedenfalls schon aus Mangel an Selbstvertrauen in meinen Leistungen nicht über die Mittelmäßigkeit hinausbringen… Weiter gehören zu diesem Beruf gründliche musikalische Kenntnisse, und die werde ich nie besitzen.“

„Das läge doch ganz und gar in Ihrer Macht.“

„Eben deshalb. Ich habe mir als Kind eingebildet, die Musik sei ein Ding, das man durchaus nicht wie Lesen und Schreiben lernen könne – ein Etwas, das, so ungefähr wie die Lehre Jesu, direct vom Himmel gekommen sein müsse – und diese kindische Vorstellung will ich behalten… Daß das, was mich zu Thränen rühren und mehr begeistern kann, als viele andere Herrlichkeiten der Welt, auf steifen pedantischen Gesetzen beruhen und auf dem Papier in einer Anzahl dicker, häßlicher Notenköpfe stehen soll, die ängstlich nachgezählt werden müssen – der Gedanke schon raubt mir allen Genuß; er berührt mich so abstoßend wie die Thatsache, daß das Knochengerüst eines schöngebildeten Menschengesichts ein Todtenkopf ist – ich thue deshalb grundsätzlich keinen Blick in die leidige Maschinerie.“

„Da haben wir ja gleich wieder den Grundton in Ihrer Natur, der sich gegen Alles auflehnt, was Gesetz und Regel heißt, [451] sagte er sarkastisch, obwohl er mit sichtbarem Interesse ihrer eigenthümlichen Definition der Musik gefolgt war. „Also mein Schluß war falsch und Ihre sehr auffallende Beklommenheit vorhin überflüssig,“ fügte er nach einer Pause scharf hinzu. „Es muß das ein merkwürdiges Geheimniß sein! … Ich hätte fast Lust, schließlich doch noch kraft meines Amtes als Vormund auf eine Darlegung Ihres Lebensplanes zu dringen.“

„Das würde umsonst sein,“ erwiderte sie ruhig und entschieden. „Ich werde nicht sprechen… Sie haben es mir selbst freigestellt, nach Verlauf von zwei Monaten zu handeln, wie ich wolle.“

„Ja, ja, der Fehler ist leider gemacht,“ versetzte er gereizt. „Aber ich finde es denn doch – gelind gesagt – verwegen, in Ihrem noch sehr jugendlichen Alter Lebensfragen ganz nach eigenem Belieben, ohne jedweden Rath und Beistand eines Verständigen, entscheiden zu wollen… Ich setze den Fall, es handle sich um den wichtigsten Schritt im Leben des Weibes – um ein Gebundensein für immer –“

„In einem solchen Fall wäre mein Vormund der Letzte, den ich um Rath bitten würde!“ unterbrach ihn Felicitas flammendroth im Gesicht. „Ich wäre bereits gebunden, und zwar an einen verhaßten, charakterlosen Menschen, besäße ich nicht eben die Verwegenheit, in meinen Lebensfragen selbst entscheiden zu wollen. … Sie hätten getrost Ja und Amen zu jenem sogenannten ehrenvollen Antrag Wellner’s gesagt, wenn ich schwach genug gewesen wäre, mich durch vorhergehende schlechte Behandlung und Drohungen einschüchtern zu lassen!“

Dieser Vorwurf traf wie ein zweischneidiges Schwert, denn er war gerecht. Der Professor biß sich auf die Lippen – sein Blick irrte einen Moment unsicher über die Steinplatten zu seinen Füßen.

„Ich habe freilich gemeint, die mir von meinem Vater gewordene Aufgabe so am besten zum Abschluß zu bringen,“ sagte er nach einer peinlichen Pause – seine Stimme hatte bei Weitem nicht die gewohnte Festigkeit. „Es war ein Irrthum; aber durchaus kein hartnäckig behaupteter, wie Sie wissen. Wenn ich auch auf den Rath und das Zeugniß meiner Mutter hin ohne nähere Prüfung meine Einwilligung gegeben habe, so bin ich doch weit entfernt gewesen, Ihren Entschluß durch Zureden oder wohl gar Strenge beeinflussen zu wollen… Uebrigens sollen meine Worte von vorhin der letzte Versuch gewesen sein, mein Vormundrecht zu gebrauchen,“ fuhr er nicht ohne Bitterkeit fort. „Ich muß Sie Ihrem Schicksal überlassen… Sie gehen ihm froh und hoffnungsvoll entgegen?“

„Ja!“ antwortete das junge Mädchen mit leuchtenden Augen.

„Und glauben, in dem neuen Verhältniß glücklich zu werden?“

„So gewiß, als ich an ein schöneres Jenseits glaube!“

Er hatte bei seiner letzten Frage einen jener durchdringend prüfenden Blicke auf ihr ruhen lassen, wie er sie wohl bei seinen verstocktesten Patienten anzuwenden pflegte; als aber ihr Gesichtsausdruck immer strahlender wurde, wandte er wie verletzt oder geärgert den Kopf weg. Er sagte kein Wort mehr. Zerstreut reichte er Aennchen die Hand, griff leicht grüßend an seinen Hut und ging langsam nach dem Hause zurück. –

An demselben Abend saß Rosa in der Gesindestube. Ein zartblauer, duftiger Stoff bauschte sich auf ihrem Schooße und ihre Finger handhabten die Nähnadel mit beinahe fieberhafter Geschwindigkeit. Friederike leistete ihr Gesellschaft. Das Kammermädchen sah sich genöthigt, bis nach Mitternacht zu arbeiten, und da hatte die alte Köchin den vortrefflichen Einfall gehabt, einen „steifen“ Kaffee zu kochen „nur von wegen des Munterbleibens“.

Es hatte längst Zehn geschlagen. Felicitas war in die Schlafkammer gegangen, um sich zur Ruhe zu begeben, aber das unaufhörliche Geplauder der nebenansitzenden Kaffeetrinkerinnen machte ihr den Aufenthalt in dem dumpfen, schwülen Raum unerträglich. Sie öffnete das Fenster weit, setzte sich auf den Sims, die gefalteten Hände um die Kniee legend, und sah hinaus in den Hof. Er war nicht ganz dunkel. Auf den Vorsälen des ersten und zweiten Stockes brannten noch die Astrallampen. Durch die hohen Fenster fielen lange Lichtsäulen auf das Steinpflaster; sie streiften den silbern aufblitzenden Wasserstrahl des rauschenden Röhrenbrunnens, ließen in unheimlichen Ecken trübe Glasscheiben aufglühen und warfen schließlich noch einen falben Schein auf die ziemlich weit entfernte Façade des Hinterhauses. Ueber das große Viereck der Gebäude aber spannte sich der flimmernde Nachthimmel. Unverändert, wie vor längst verrauschten Zeiten, sahen seine Sternbilder herein in den Hofraum, den die Sage mit haarsträubenden Gespenstergeschichten bevölkerte – sie hatten Diejenigen, die jetzt als wehklagende Schemen hier angstvoll umherschweben sollten, in blühender Leibesgestalt gesehen, edle Ritter und stattliche Handelsherren, vornehme Damen in seidener Schleppe und die ehrbar im Leinenkleid einherschreitende bürgerliche Hausfrau; zu ihnen hatten Augen aufgeblickt, aus denen Weltlust glühend begehrlich sprühte, auch solche, die im aufgeblasenen Eigendünkel kalt und theilnahmlos an Gottes wundervollster Schöpfung vorüberstreiften, scheue Augen, hinter denen das Verbrechen lauerte, und in Thränen schwimmende, bang blickende Kinderaugen – der Glanz war verlöscht, sie alle moderten; aber die große Lehre der Natur, daß Alles vergehen müsse, bleibt unbegriffen. Geschlecht nach Geschlecht that die Augen auf und schloß sie wieder, und was zwischen diesen zwei Momenten lag, das war Kampf und Ringen um ein Stück Erde, Titel und Würden, volle Kästen und Kleiderpracht gewesen. Und ein die Welt bewegender Zug im Menschencharakter, er trat auch hier hervor: die Herrschsucht, der unheimliche Trieb, andere Menschenkinder hinabzudrängen und ihnen den Fuß auf den Nacken zu stellen; und wo äußeres Ansehen und eigenes Geistesvermögen nicht ausreichte, da hüllte man sich in die Weihrauchswolke des Glaubens – Nichts ist mehr verdreht und ausgebeutet worden im Interesse weltlicher Zwecke, als Gottes Wort, nie ist mehr gesündigt worden, als in Gottes Namen!

Während diese Gedanken hinter der Stirn des jungen Mädchens kreisten, wechselten drüben in der Gesindestube Friederikens blecherne Stimme und der schneidend hohe Sopran der Zofe unaufhörlich im Zwiegespräch.

„Ja,“ sagte Rosa, plötzlich auflachend, „meine Gnädige fiel aus den Wollen, als der Professor heute gegen Abend zurückkam und erzählte, daß er mit verschiedenen Herren und Damen übermorgen eine Partie auf den Thüringer Wald machen wolle – der und eine Partie! Gott im Himmel! In Bonn hockt er Jahr aus, Jahr ein hinter den Büchern, geht zu seinen Patienten und auf die Universität – das ist Alles! Kein Ball, keine Soirée… Gräulich! An den Männern kann ich nun einmal das Frommthun nicht ausstehen!“

„Pfui, schämen Sie sich, Rosa!“ schalt Friederike entrüstet. „Wenn das Ihre gnädige Frau hörte!“

„Na ja, Alles hat seine Grenzen… Im Institut ist er so gewesen, daß er am liebsten nicht mehr gegessen und getrunken hätte, um heilig und selig zu werden – damals hat ihn kein Mitschüler ausstehen können!“

„Die Menschen sind zu schlecht! – Da können sie ihn wohl jetzt auch noch nicht leiden?“

„Ach nein – jetzt wird er vergöttert… Wie er’s angefangen hat, weiß ich nicht, aber seine Studenten hätscheln ihn wie ein Wickelkind, und die Damen – na, das ist geradezu schauderhaft – die küssen ihm wo möglich die Hände, wenn er ihnen ein Recept verschreibt. Meine Gnädige macht’s ja nicht besser – ich möchte mich manchmal grün ärgern! Ja, wenn er noch hübsch wäre! Aber so ein häßlicher Mann mit dem rothen Bart und den ungeleckten Manieren! Mir sollte er kommen, der ungeschliffene Bär! … Der curirt Alles mit Grobheit. Meine Gnädige liegt z. B. in Krämpfen; da tritt er an das Bett, sieht sie an, als ob er sie mit den Augen spießen wolle, und spricht: ‚Nimm Dich zusammen, Adele! Auf der Stelle stehst Du auf! Ich werde einen Augenblick hinausgehen, und wenn ich zurückkomme, wirst Du angekleidet dort auf dem Stuhle sitzen – hast Du mich verstanden?‘ Und er kam wieder herein, und sie saß richtig da – die Krämpfe sind auch weggeblieben; aber sagen Sie selbst, ob das nicht scheußlich ist, eine Dame von Stande so zu behandeln?“

„Er hätte es höflicher machen können, freilich!“ meinte die alte Köchin.

„Er tyrannisirt sie überhaupt fürchterlich… Ihre ganze Freude ist, sich gut anzuziehen. Ich sage Ihnen, Friederike, wir haben in Bonn Schränke voll Kleider, daß man sich nicht satt sehen kann, und was die Mode bringt, das wird mitgemacht. Weil aber der Herr Brummbär immer salbungsvoll von der Einfachheit predigt, da läßt sich meine Gnädige nie in einem eleganten Anzug vor ihm sehen – Mull, nichts als Mull! … Wenn er nur wüßte, wie theuer die weißen Fähnchen kommen! … Er [452] wollte ja auch durchaus, die arme Frau sollte übermorgen zu Hause bleiben, Aennchens wegen; aber da kam die andere Reisegesellschaft und hat vorgebeten – was konnte er da machen? … Dies blaue Kleid wird ihr hübsch anstehen zur Reise, meinen Sie nicht, Friederike?“

Die Enthüllungen der leichtsinnigen Kammerjungfer machten auf Felicitas einen peinlichen Eindruck. Sie glitt vom Sims herab, um noch einmal in die Gesindestube zurückzukehren; vielleicht verhinderte ihre Anwesenheit weitere Mittheilungen über Verhältnisse, die doch sicher nicht zu fremden Ohren dringen sollten. Ohne eigentliches Ziel streifte ihr Auge noch einmal das ihr gegenüberliegende Seitengebäude – sie stutzte. Die Astrallampe im Vorsaal des zweiten Stockes warf ihren Schein auch in den langen Corridor, der nach Tante Cordula’s Wohnung führte. Die ersten zwei Fenster waren ziemlich hell erleuchtet, man konnte die schlechtgetünchte Hinterwand sehen, aus welcher die alten Balken braun heraustraten. An dieser Wand hin glitt eine Gestalt, aber nicht als durchsichtiger, spukhafter Schatten – Er war’s, den die Kammerjungfer so häßlich nannte. Felicitas sah deutlich die kräftigen Linien seines Kopfes, die starren Wellen des mächtigen Bartes, den hünenhaften Oberkörper, der in seinen Formen, seinen Bewegungen freilich jeden Begriff von Eleganz ausschloß. Er durchschritt, mechanisch und unablässig mit der Hand über den Bart gleitend, die ganze Länge des Corridors bis an das letzte Fenster, das an den Vorplatz mit der gemalten Thür stieß, und hinter welchem der sehr entfernte Lampenschein nur noch matt und unheimlich aufdämmerte; dann kehrte er zurück. Er machte ohne Zweifel seine nächtliche Promenade, und weil unter seinem Zimmer die Regierungsräthin und das Kind schliefen, so durchwandelte er ungehört den einsamen, abgelegenen Gang… Was trieb ihn wohl so rastlos auf und ab? Grübelte er über einem medicinischen Problem, oder umflatterte ihn das Bild der Entfernten, um deren willen er einen „einsamen Lebensweg“ gehen mußte?

Sinnend schloß Felicitas das Fenster und zog die alten, verblichenen grünwollenen Vorhänge dicht zusammen, welche seit Menschengedenken die Träume der Köchinnen im alten Kaufmannshause behüteten.


18.

Draußen im Garten, auf dem großen Wiesenfleck, den die Nußbäume beschatteten, war vor wenigen Tagen das Gras gemäht worden. Ein herzerquickender, kräftiger Duft entstieg den Heuhaufen, auf deren einem Aennchen behaglich die armen, kleinen Glieder ausstreckte. Felicitas lehnte am Stamm des größten der Nußbäume; er war immer ihr Liebling gewesen. Da droben hatten einst ihre leichten Kinderfüße gestanden, und nicht allein das Rasenstück unten, sondern die ganze, weite, himmlische Welt war ihr blumenbestreut erschienen. Ihr Auge glitt an dem Riesenstamm empor bis in das dunkle Herz, von wo aus das gewaltige Geäst sich weit und verwegen in die Lüfte hinausreckte. Da drin, hinter der rauhen Rinde, pulsirte auch Leben; es stieg hinauf und fluthete bis in das zarte Geäder der Blätter, die wie Fühlfäden hinaustrieben in die Welt und dem alten Stamm wohl schwer zu schaffen machten – sie zitterten in jedem Lufthauch, brausten jäh auf, wenn der rauhe Wind über sie hinstrich, und sanken schlaff nieder unter dem sengenden Strahl der Sonne; aber mochte es droben auch zittern, seufzen und rauschen, der Stamm stand ungebeugt – und das Menschenkind? Wie leicht brach es zusammen, wenn der Sturm des Schicksals über sein Empfinden hinbrauste!

Dieser ernste Gedanke – so oft er sich auch bewahrheitet – hinter der weißen Mädchenstirn, die sich leuchtend abhob von der dunklen Baumrinde, war er wohl nicht ganz gerechtfertigt. Gerade dies junge Geschöpf, so eigenartig, so zart und tief in seinem Empfinden angelegt, hatte Stürmen getrotzt, die tausend Andere seines Geschlechts in den Staub niedergeworfen haben würden. Vielleicht entsprang jene trübe Reflexion der unbewußten Furcht, der plötzlichen Ahnung einer unbekannten Gefahr, unter welcher der gestählte Wille des jungen Mädchens doch dereinst zusammenbrechen konnte. Wie wenig vermögen wir selbst die Vorgänge in unserem Seelenleben zu begreifen – wir fassen sie so verkehrt und ungeschickt auf, wie es einem fremden, unparteiischen Blick gar nicht einmal möglich sein würde, und erst wenn hereinbrechende Katastrophen vorüber sind, erkennen wir, daß wir ihr Eintreten vorher gefühlt und gewußt haben.

Seit der Abreise des Professors und der Regierungsräthin waren bereits zwei Tage verstrichen. Der Erstere war mit einem Gesichtsausdruck und einer Bewegung in den Reisewagen gestiegen, als schüttle er eine schwere Last ab, die er gern und freudig der guten kleinen Stadt X. hinterlasse. In der Hausflur hatte er Rosa, Heinrich und der alten Köchin abschiednehmend die Hand gereicht – an Felicitas aber war er, die Hutkrempe leicht berührend, vorübergeschritten, fremd und so ruhig, als habe dieser Mädchenmund nie ein herbes Wort zu ihm gesprochen, als kenne er die Augen nicht, die ihn so oft durch ihren trotzigen Ausdruck geärgert hatten. Nun, das war ja recht und vernünftig, meinte Felicitas mit zusammengepreßten Lippen, nun war er doch, wie er sein sollte… Ihm gegenüber hatte die junge Wittwe Platz genommen. Sie war wie eine Fee inmitten bläulicher Wolken an den Abschiednehmenden vorübergeschwebt, und unter dem italienischen Strohhütchen hatte das Gesicht so hoffnungsvoll gestrahlt, als sei sie gewillt, von dieser Reise ein langersehntes Glück mit heimzubringen.

Es war der zweite Nachmittag, den Felicitas mit Aennchen allein im Garten verbringen durfte – das waren nicht blos friedliche Stunden, sie hatten ihr auch Angenehmes – Wunderbares, wie sie es nannte – von außen her gebracht. Der Nachbargarten, den nur ein lebendiger Zaun von dem Hellwig’schen Grundstück trennte, zwar vor einigen Tagen in den Besitz der Frank’schen Familie gekommen. Gestern hatte der Rechtsanwalt über den Zaun hinweg in seiner liebenswürdigen, vertrauenerweckenden Weise freundliche Worte mit ihr gewechselt, und heute hatte plötzlich eine alte Dame im schwarzen Seidenkleid, das liebe, gütevolle Gesicht von einem weißen Häubchen umrahmt, dort gestanden und sie angeredet. Es war die Mutter des jungen Frank gewesen. Sie lebte äußerst zurückgezogen nur für ihren Mann und den einzigen Sohn und war eine in der Stadt hochgeachtete Persönlichkeit. Sie hatte im Hinblick auf Felicitas’ baldiges Scheiden aus dem Hellwig’schen Hause dem jungen Mädchen Rath und Beistand angeboten – ein ungeahnter Sonnenstrahl im Leben des mißachteten Spielerskindes! … Und dennoch lehnte Felicitas jetzt in ernstes Sinnen verloren, da am alten Nußbaum. Ueber ihr zog es leise durch den dunklen Wipfel – sie lächelte trübe – in dem Geflüster hörte sie Nachklänge eines versunkenen Paradieses. – Ihre halbzertretene erste Jugend zog an ihr vorüber, und jetzt klang ihr das leise Rauschen anders in der finsteren Prophezeiung: sie sei berufen zu kämpfen, zu leiden bis zum letzten Athemzug… Daß aber das Verhängniß in diesem Augenblick bereits über ihre schwachen Lebenshoffnungen zermalmend hinschreite – das hörte sie doch nicht.

Heinrich war vor wenigen Augenblicken zur Gartenthür hereingekommen; es hatte ausgesehen, als wolle er auf Felicitas in stürmischer Eile zulaufen, dann aber war er hinter einer Taxuswand verschwunden. Jetzt kam er langsam hervor. Mit dem ersten Blick auf dies breite, ehrliche, aber furchtbar verstörte Gesicht wußte das junge Mädchen, daß er Unheil bringe – von welcher Seite kam es? Sie sprang ihm entgegen und faßte angstvoll seine Hand.

„Ja, Fee’chen, ich kann Dir nicht helfen, – erfahren mußt Du’s doch einmal,“ sagte er tonlos, während er sich mit der verkehrten, schwieligen Hand über die erhitzte Stirn strich und die Augen wegwandte. „Siehst Du, armes Ding, das ist ja nun einmal so der Welt Lauf –“

„Weiter!“ unterbrach sie ihn rauh, fast aufschreiend; dann biß sie krampfhaft die Zähne zusammen.

„Ja doch – daß Gott erbarm, wenn Du so bist, wie soll ich Dir’s denn da beibringen? … Die alte Mamsell –“

„Ist todt!“ vollendete sie in gellenden Tönen.

„Noch nicht, Fee’chen, noch nicht; aber freilich – so gut, als wär’s schon vorbei, sie kennt schon Niemand mehr – der Schlag hat sie gerührt… Ach du lieber Gott, und so mutterseelenallein ist sie gewesen! Die Aufwartfrau hat sie gefunden, in der Vogelstube, auf dem Boden hat sie gelegen – hat erst noch für die armen Creaturen gesorgt –“ Die Stimme versagte ihm, er weinte wie ein Kind.

Felicitas stand im ersten Augenblick erstarrt, der letzte Blutstropfen war aus ihrem weißen Gesicht entwichen; mechanisch preßte

[453]

Der junge Hund im Eifer.
Nach seinem Originalgemälde auf Holz gezeichnet von Fr. Lossow.



sie die schmalen Hände gegen die klopfenden Schläfe, aber keine Thräne kam aus ihrem Auge. Nur einen Moment irrte ein unsäglich bitteres Lächeln um ihre Lippen, dann griff sie mit unheimlicher Ruhe nach ihrem Hut, der auf einem Heuhaufen lag, rief Rosa herbei, die arbeitend unter den Akazien saß, und übergab ihr das Kind.

„Sind Sie unwohl?“ fragte das Kammermädchen. Das bildsäulenartige Aussehen, die unheimliche Starrheit in dem aschbleichen Gesicht des jungen Mädchens erschreckten sie.

„Ja, sie ist krank,“ antwortete Heinrich an Felicitas’ Stelle, die rasch nach der Gartenthür zuschritt.

„Fee’chen, nimm Dich zusammen,“ mahnte er, ein Stück Weges neben ihr herschreitend; „die Madame ist bei ihr – gut, daß das die arme Mamsell nicht weiß! … Doctor Böhm ist schon wieder fort – er kann nichts mehr thun… Ach, und gerade heute, gerade heute! Du bist nun einmal ein Unglückskind!“

Felicitas hörte nicht, was er sagte; die Worte schwirrten unverstanden an ihren Ohren vorüber, wie sie auch die Menschen auf den Straßen nicht sah, die ihr begegneten. Von Friederike ungesehen betrat sie das Haus und stieg die Treppe hinauf. Auf dem Vorplatz der Mansarde warf sie ihren Hut in eine Ecke. Die [454] Thür der Vogelstube klaffte, ein wildes Geschrei scholl heraus. Wie war diese Thür sonst gehütet worden, damit kein Flüchtling entschlüpfe! Jetzt ging das junge Mädchen vorüber, ohne die Hand zu bewegen – mochten diese verlassenen Geschöpfe ihre Nahrung unter Gottes freiem Himmel suchen, sie hatten ja keine Pflegerin mehr.

Sie trat in die große Wohnstube; aus dem anstoßenden Schlafcabinet scholl das unbiegsame, eintönige Organ der Frau Hellwig herein in den Raum, der seit vielen Jahren nur die Sprache der Musik oder den seltenen Wohllaut einer unsäglich milden, seelenvollen Frauenstimme gehört hatte. Die große Frau las eines jener sogenannten alten Kernlieder, welche, für die Anschauungen eines noch auf niederer Bildungsstufe verharrenden Volksgeistes gedichtet, in ihrem leitenden Gedanken, ihrer Ausdrucksweise den Zweck als Vermittler zwischen dem Himmel und der Menschenseele für unsere Zeit völlig verloren haben. Diese grobzugehauenen, von gemein sinnlichen Ausdrücken strotzenden Verse vor den Ohren einer Sterbenden, die ihr ganzes Leben lang dem wahrhaft Schönen gehuldigt, die ihrer Gottesverehrung nur Ausdruck gegeben hatte in dem, was von seinem Geist ausgegangen: in der Poesie, in den himmlischen Melodien gottbegnadeter Meister!

Geräuschlos wie ein Schatten glitt Felicitas in das Sterbezimmer. Frau Hellwig las weiter, ohne sie zu bemerken. … Dort, unter den weißen Gardinen des Bettes, die sich leise wie Flügel in dem Luftzug des geöffneten Fensters hoben und senkten, als seien sie bereit, die scheidende Seele zu empfangen und hinaufzutragen, lag ein aschgraues Gesicht… O, wie grausam ist der Tod, daß er das, was wir auf Erden nicht wiedersehen sollen, vor unseren Augen erst noch so furchtbar entstellt, daß wir mit unwillkürlichem Grauen und Entsetzen in Züge blicken müssen, in denen wir gewohnt waren, die traute Sprache der Liebe, eines uns innig verwandten Geistes zu lesen!

Festgeschlossen waren die tief herabgesunkenen Lider dort noch nicht. Die Augäpfel irrten rastlos hin und her, ein leises Röcheln begleitete die schweren Athemzüge; in kurzen Unterbrechungen hob sich wie zum Schlag ausholend der rechte Arm und ließ dann die wachsbleichen, gekrümmten Finger kraftlos auf die Decke niedersinken… Welch’ ein furchtbarer Anblick für das junge Mädchen, dem dort der letzte Liebesstrahl in seinem armen Leben erlosch! – Felicitas trat an das Bett. Mit maßlosem Erstaunen hob Frau Hellwig die Augen von ihrem Gesangbuch und starrte in das todtenbleiche, thränenlose Gesicht, das sich da über das Bett neigte.

„Was willst denn Du hier, unverschämtes Geschöpf?“ fragte sie laut und rücksichtslos; ihre große Hand hob sich und deutete gebieterisch nach der Thür.

Felicitas antwortete nicht, aber die Unterbrechung der eintönigen Vorlesung schien Eindruck auf die Sterbende zu machen. Sie suchte ihren verschleierten Blick zu fixiren – er fiel auf Felicitas. In diesem Strahl lag ein freudiges Erkennen; ihre Lippen bewegten sich, anfänglich freilich ohne Erfolg – es lag eine namenlose Angst in diesem Streben, sich verständlich zu machen; und siehe, die willenskräftige Seele siegte in der That und zwang den halberstorbenen Mechanismus des Körpers noch einmal zum Dienst. „Gericht holen!“ klang es eigenthümlich gurgelnd, aber deutlich von ihren Lippen.

Das junge Mädchen verließ sofort das Zimmer – hier war keine Minute zu verlieren. Sie flog durch den Vorsaal, allein in diesem Augenblicke, als sie an der Vogelstube vorüberkam, wurde die Thür derselben weiter aufgerissen – Felicitas fühlte sich rückwärts von gewaltigen Fäusten gepackt, ein furchtbarer Stoß schleuderte sie mitten in die Stube, während hinter ihr die Thür zugeschlagen und von außen verschlossen wurde. Ein wahrhaft höllischer Lärm umtobte sie drinnen; die Vögel flatterten erschreckt mit sinnverwirrendem Gekreisch durcheinander. Felicitas war zu Boden gestürzt; im Vorwärtstaumeln hatte sie eine der inmitten des Raumes stehenden Tannen ergriffen und mit niedergerissen… Was war geschehen? … Sie richtete sich empor und warf das in vollen Strähnen über ihr Gesicht fallende Haar zurück. Sie hatte Niemand gesehen, keinen Schritt gehört, und doch hatte ein Mensch hinter ihr gestanden und sich mit dämonischer Gewalt ihrer bemächtigt in einem Moment, wo es galt den letzten Willen einer Sterbenden auszuführen, wo sie mit jeder Minute Verzug die schrecklichste Verantwortung auf ihre Seele nahm.

Sie stürzte nach der Thür, aber die war fest verschlossen; ihr Pochen und Rütteln ging unter in dem entsetzlichen Geschrei, das sich abermals erhob. Die aufgeregten Thiere kreisten über ihrem Haupt, fuhren wie sinnlos gegen die Wände und beruhigten sich auch dann noch nicht, als das Mädchen in stiller Verzweiflung die Arme sinken ließ… Wer sollte ihr denn auch öffnen? Die Hände, die sie hier hereingestoßen hatten, sicher nicht! – Sie kannte diesen eisernen Griff nur zu gut – es waren dieselben Hände, die eben noch das Gesangbuch gehalten; sie hatten es fortgeworfen, um einen Gewaltstreich auszuführen, und nun saß das schreckliche Weib wieder am Sterbebett und las mit eintöniger, unbewegter Stimme weiter; sie ließ es erbarmungslos geschehen, daß die Sterbende mit übermenschlicher Willenskraft den Todeskampf verlängerte, in dem Wahn, noch einmal, und sei es auch nur für Secunden, hienieden nöthig zu sein… Arme Tante Cordula! Sie schied aus der Welt, die sie einsam durchwandelt hatte, mit einer bitteren Täuschung – die letzten Eindrücke, die ihre Seele mit hinwegnahm, waren der religiöse Fanatismus in Gestalt jener verabscheuten Frau und die sprüchwörtlich gewordene menschliche Undankbarkeit, deren sich Felicitas scheinbar schuldig machte. Dieser Gedanke trieb dem jungen Mädchen das Blut siedend nach dem Kopfe. Sie lief außer sich auf und ab und pochte mit erneuter Kraft abermals an die Thür – vergebens… Warum war sie eingesperrt? Sie solle das Gericht holen, hatte Tante Cordula geboten – galt es ein letztes Bekenntniß? Nein, nein, die alte Mamsell hatte nichts zu bekennen! Wenn sie die Last einer Schuld durch’s Leben hatte tragen müssen, so war es eine fremde gewesen, die sie erst da droben abwerfen durfte; denn das war Felicitas allmählich klar geworden: sie war unschuldige Mitwisserin, niemals aber Mitschuldige irgend eines verbrecherischen Geheimnisses gewesen… Sie hatte vielleicht über ihr Eigenthum verfügen wollen, und das war nun durch die Gewaltthätigkeit der großen Frau vereitelt. Wenn Tante Cordula ohne Testament starb, so fiel ihr ganzes Vermögen an das Haus Hellwig … wer weiß, wie viele Arme und Unglückliche in diesem Augenblick einer Unterstützung beraubt wurden, die sie vielleicht glücklich gemacht hätte für ihr ganzes Leben, während die Kaufmannsfamilie, deren Reichthum für sehr groß galt, durch die List einer Frau auf’s Neue ihre Kisten und Kästen füllte.

Felicitas trat an das Fenster und sah hinab auf die Nachbarhäuser. Sie spähte angstvoll nach einem Menschengesicht, das sie um Hülfe anrufen konnte, aber die Wohnungen lagen zu tief drunten, sie wurde weder gehört, noch gesehen… Wie klopften ihre Pulse in Seelenqual und fieberischer Aufregung! Sie warf sich auf den einzigen Stuhl, der im Zimmer stand, und brach in Thränen der Verzweiflung aus… Jetzt war es auf alle Fälle zu spät, auch wenn sie in diesem Augenblick noch frei wurde. Vielleicht waren die lieben Augen da drüben bereits gebrochen und das Herz stand still, das in seinen letzten Augenblicken mit gesteigerter Angst vergebens auf Felicitas’ Wiedererscheinen gehofft hatte. … Den allgemeinen Trost, daß die verklärte Seele nun wisse, woran ihr letzter Wunsch gescheitert sei, hatte dies junge, sehr scharf und logisch erwägende Mädchen nicht – es ist schwer zu denken, daß der menschliche Geist, der, wie alles Geschaffene, dem großen Gottesgedanken gemäß, zahllose Phasen bis zu seiner höchsten Vollkommenheit allmählich durchlaufen muß, nach der beschränkten irdischen Kurzsichtigkeit sofort die göttliche Eigenschaft der Allwissenheit annehmen und aus dem Jenseits herüber in das Handeln und Treiben der Erdbewohner, in die geheimsten Motive der Menschenbrust wie in ein aufgeschlagenes Buch blicken könne.

Sie mochte weit über zwei Stunden abwechselnd in dumpfem Hinbrüten und verzweiflungsvollen Anstrengungen, sich zu befreien, in ihrer Hast zugebracht haben. Ihre Umgebung war ihr geradezu entsetzlich geworden. Diese unvernünftigen Geschöpfe, einst ihre Lieblinge, die bei jeder rascheren Armbewegung ihr furienhaftes Gekreisch erhoben und umhertobten, wurden für ihre überreizte Phantasie zu wahren Spukgestalten – sie zitterte vor ihren eigenen Bewegungen. Dazu brach der Abend herein; es wurde dämmerig in dem unheimlichen Raum, der erste, wilde Schmerz um die Verlorene brannte in ihrer Brust – es war eine Situation zum Wahnsinnigwerden! Noch einmal lief sie nach der Thür – wie betäubt vor Ueberraschung blieb sie stehen, das Schloß wich ohne den geringsten Widerstand unter ihren Händen… Draußen [455] auf dem Vorsaal war es todtenstill; Felicitas hätte meinen können, ein schrecklicher Traum habe sie gequält, wäre nicht das Wohnzimmer fest verschlossen gewesen. Sie sah durch das Schlüsselloch; ein heftiger Zugwind brauste ihr entgegen, die losen Epheuranken drin an den Wänden bewegten sich schaukelnd hin und her; man hatte die Fenster geöffnet – ja, es war Alles vorüber, vorüber! …

(Fortsetzung folgt.)




Charaktere aus der Thierwelt.
1. Der junge Hund.
Von Gebrüder Adolph und Karl Müller.


Ein moderiger Stall, eine morsche, dürftige Hütte oder gar ein verlassener, fast obdachloser Winkel, das ist nur zu oft die Wiege des Thieres, das vermöge seiner Intelligenz, seiner großen Charakterausprägung und seiner ganzen Lebensgeschichte dem Menschen in der großen Kette der lebenden Wesen am nächsten steht. Wahrlich! hier bewährt sich die Wahrheit der Erfahrung, daß aus Armuth und Niedrigkeit zumeist das Gute und Beste erwächst.

Nehmen wir den kleinen Thierweltbürger aus seinem Geniste hervor, erheben wir ihn mit Liebe – denn er hat gleich uns eine Seele! – zu der Stelle, die ihm gebührt, an unsere Seite, und begleiten wir ihn durch seine Jugendzeit.

Fürwahr, ein unbeholfener kleiner Bündel, dieses vielfach in Farbe, Gestalt und Größe ändernde Hundekind! Aber in dem einen Ausdruck bleibt es sich durch alle Racen gleich: in seinem runzeligen, hieroglyphendurchfurchten Gesichte, das eher die Runenschrift des Alters, als die glatten, hellen Züge glücklicher Jugend trägt. Alles an dem Kerlchen ist noch chaotisch: der Kopf mit der vom Nasenbein fast senkrecht herunter hängenden Nase, die unentfalteten Ohren, die in dicken, fleischigen Läppchen oder in schlaffer Formlosigkeit an den Seiten sitzen, das noch blinde Gesicht, die kurzen, schiefen Beine und der runde, noch formlose Körper, den larvenartig eine dehnsame Haut umgiebt. Gewiß nichts Einnehmendes bietet das junge Hündchen in seiner ersten Lebensepoche. Alles an ihm ist noch finster, verschlossen, wüst und unbestimmt. Aber schon in der zweiten Woche öffnen sich seine Augen, die das erste Fünkchen Licht auf des Thieres Seele fallen lassen. Ja, das ist der erste Abglanz aller der schönen Grundzüge unserer treuesten Lebensbegleiter, hier des muthigen, hochherzigen Jagdhundes und des geweckten Dächsels, dort des treuen, unbestechlichen Pommers, hier des spiellustigen, munteren Wachtelchens, dort des gelehrigen, heiteren Pudels. In dem Auge liegt die Seele – ein Seelenspiegel ist auch das Auge des jungen Hundes. Nun entwickelt sich ein Zug nach dem andern an unserem Lieblinge. Das sprechendste Glied unseres Thieres, gleichsam seine zweite Physiognomie, der Schwanz oder die Ruthe, beginnt zum ersten Male seine Zeichensprache zu reden. Wie die Indianer und andere Naturvölker sich in ihrer lebhaften Gesticulation kennzeichnen, wie sich ingleichen bei den Affen jene Beweglichkeit in ihren hervortretendsten Gliedmaßen, den Händen, entwickelt: so bildet sich die Ruthe des Hundes vor allen anderen Gliedmaßen zuerst aus. Kaum kann das Hündchen sehen, so drückt es schon sein Behagen an der Zitze durch ein Wedeln aus. Durch Wedeln begrüßt es seine Mutter und durch Wedeln giebt es sein Erkennen dem sich mit ihm Beschäftigenden kund. Nicht lange, so erhebt sich aus dem Gewimmer, dem Lallen seiner Kindheit, heraus plötzlich auch seine tönende, vernehmliche Sprache: es bellt. Nun steht es auch auf seinen vier Beinen gerade; es geht, es läuft, ja es galoppirt ebenso unbeholfen wie drollig, während es seither nur schwerfällig herumkroch. Mehr und mehr lernt es seine vier Läufe gebrauchen, von denen die hinteren bei der weichen, runden Knorpelform der Knochen und den zarten Sehnen besonders in ihren Knieen noch Schwäche und Schwanken zeigen. Die Ohren, sind sie stehend, haben sich jetzt gespitzt und beweglich geformt, sind sie hängend, so verdünnen und verbreitern sie sich allmählich immer mehr zu dem geschmeidigen, feindurchäderten und langen Behang, der eine Zierde des Hühnerhundes, des Pudels, und des Wachtelchens, oder der Fuchs- und englischen Jagdhunde, besonders aber der Stöber wird.

Mit dem Recken seiner Gliedmaßen tritt der junge Hund in das erste Stadium der Kinderspieles. Von der Täppigkeit und Ungeschlachtheit bis zur graciösen Beweglichkeit stufen sich nun alle die Eigenthümlichkeiten der besonderen Racen bei diesen Spielen ab. Durchgängig sind die schwereren, fleischigeren Arten auch die unbehülflichsten in ihren Bewegungen, während die leichtgebauten, hochbeinigen Pinscher, Fuchshunde, Bracken, Windhunde u. a. m. schon frühe die Behendigkeit, Flüchtigkeit und Ausdauer zeigen, worin sie sich später als so bedeutende Meister bewähren. Was flüchtig werden will, rührt sich frühe, und was ein Dörnchen werden soll, spitzt sich bei Zeiten. Der Körper mit seinen Gliedern ist die Phase, in welcher die Fertigkeiten der verschiedenen Hunderacen sich dem beobachtenden Blicke schon frühe andeuten. Alle gestreckten, flüchtigen Arten, ingleichen lebhafte Temperamente entwickeln ihre Formen eher und für das Auge viel sichtbarer, als derbe, plumpe und große Racen mit trägem Temperamente. Aber die rasche körperliche Entwickelung führt nicht immer in gleichem Grade die geistige Befähigung mit sich. Das zeigt uns z. B. unser trefflicher deutscher Hühnerhund, das in hohem Grade unser deutscher Urhund, der Pommer, und nicht weniger der Schäferhund und der Dächsel, die sich alle vier nur langsam aus ihrer körperlichen Unbeholfenheit entwickeln und denen die Natur – wie es scheint – diesen kräftigen, dauerhaften Körper zur soliden Grundlage ihrer vorzüglichen Sinne und ihrer hervorragenden Charakterausprägungen erst bauen muß. Die edleren Früchte zeitigen am spätesten.

Bald wird Winkel, Hütte und Stall dem kleinen Volk der Hunde zu enge: es betritt zuerst schüchtern und bei ungewohnten Erscheinungen in’s Dunkel zurückflüchtend die helle, bewegte Bühne der Außenwelt. Der Hof wird die neue Welt der Entdeckungen und Erkenntniß, der Tummelplatz der Spiele. Mit lebhaftem Rufe begrüßt die jungen Bürger des Hofes der Haushahn und mit neugierigem Gackern beäugen sie die Hühner. Nicht minder zeigt sie der trompetende Gänserich und die zischende Frau Gänsin an, und die erregte Entenmutter, auf den Eiern in der Remise oder unter dem Wachholderbusche einer Mauernische brütend, pfaucht den munter Bellenden zornig entgegen. Immer lebhafter setzen sich die Jugendlichen mit der Außenwelt in Verbindung, und ihr Vertrautsein mit den Erscheinungen in Haus, Hof und Garten geht allmählich in Selbstbewußtsein und Keckheit über. Unter Spiel und muthwilliger Kurzweil aller Art geht so Woche um Woche herum; unsere hoffnungsvollen Hündchen sind längst aus der Epoche der Säuglinge getreten, da sie die Mutter nicht mehr zu der ersten Quelle ihrer Nahrung zuläßt. Jetzt ist’s hohe Zeit, daß wir uns unter der Schaar oder dem „Wurf“ den Meistversprechenden oder auch Einige dieses Schlags für die Zucht heraussuchen. Es herrscht unter den Hundezüchtern die bis jetzt noch unbegründete Annahme, daß die Jungen, welche der Mutter gleichen, die Eigenschaften des Vaters ererbten und umgekehrt. Auch verlassen sich Leute von der alten Schule hin und wieder noch auf die Probe, daß sie sämmtliche Junge eines Wurfs vor den Stall bringen und nun diejenigen für die Besten halten, welche die Mutter zuerst wieder zum Neste schaffe. Man kann sich vernunftgemäß nur an allgemeine Anhaltspunkte bei der Auswahl unserer Lieblinge halten. Vor Allem entscheidet der Körperbau. Eine breite Brust mit tiefen Einschnitten beiderseits des Brustbeins, gewölbte Rippen, gerade, starke Läufe, ein gerader, nach hinten etwas abschüssiger Rücken und eine dünne Ruthe, sowie überhaupt kräftiger Knochen- und Lendenbau sind die allgemeinen Kennzeichen für Gesundheit, Kraft und Ausdauer, sowie für Reinheit der meisten Racen. – In gleicher Linie maßgebend sind die Sinne und das Temperament. Hier ist der Zweck, für welchen man das Thier gebrauchen will, von besonderem Einfluß. Bei allen Jagdhunden sind, neben einer guten Nase, Muth und Ausdauer versprechende Kraft besonders vonnöthen. Herzhaftigkeit wird sich schon frühe zeigen, ebenso eine gewisse Unempfindlichkeit. [456] Schrecken die Hündchen bei ungewöhnlichen Erscheinungen oder bei raschem Eintritt in den Stall furchtsam zurück, winseln oder schreien sie leicht beim Emporheben an der Nackenhaut, so ist dies gewöhnlich ein sicheres Zeichen, daß sie sich weder durch besondere Beherztheit, noch durch Unempfindlichkeit auszeichnen werden. Die entgegengesetzten Eigenschaften bekunden die Kleinen aber gar bald durch ihr Gebahren in Stall und Hof. Empfangen sie durch entschiedenes Gebell den zu ihnen in den Stall Kommenden und gehen sie auf Alles offen und ohne besonderes Zagen los, so verspricht dies ebensowohl Selbstständigkeit und Muth, als Wachsamkeit. Die Feinheit der Nase verräth sich schon in den ersten Monaten. Eine hohe Stirn und eine breite Schädelbildung zeigen nicht allein Verstand, sondern auch einen guten Witterungssinn an, da die Schädelhöhle den Raum für das Gehirn und die Ausbreitung des Riechnervs von der Schleimhaut der Nase aufwärts in’s Gehirn abgiebt. Der scharfe Geruch steht in unmittelbarem Verhältniß zur Größe seines entsprechenden Nervs. Eine breite Nase mit starken Nüstern und ein hoch und breit gewölbter Schädel werden uns also die Wahrscheinlichkeit bieten, daß auch die dieser äußeren Form entsprechenden inneren Organe, der Sitz der Intelligenz und derjenige Sinn sich tüchtig entwickeln können, welcher uns an unserem Thiere so vieles Vergnügen und so großen Nutzen gewährt.

Soll uns das Temperament einen Entscheidungsgrund für die Wahl eines jungen Hundes abgeben, so hat man sich hierbei vor Täuschungen zu hüten. Schläfrigkeit und Trägheit offenbaren sich gar bald als die Begleiter von Geistlosigkeit, während man dagegen jedes lebhafte Wesen in seinen einzelnen Kundgebungen wohl zu beobachten und zu unterscheiden trachten muß. Starkmüthigkeit, desgleichen ein frohmüthiges Wesen sind wohl zu trennen von Ueberreizung, die gewöhnlich Bosheit und Launenhaftigkeit begleiten. Die Ruthe ist auch hier, neben anderem untrüglichen Gebahren, wieder der treueste Telegraph der Seele. Ein bissiger Hund wird nie mit der Offenmüthigkeit, dem entschiedenen Wedeln und dem hellen und frohen Gebell uns entgegenkommen. Dem Kenner verräth sich ein hinterlistiger, zorniger Charakter in einem kurz abgesetzten Wedeln, das oft ein Emporrecken oder ein kaum merkliches Abwärtskrümmen des sprechenden Gliedes und ein mehr verstecktes Gebell und Geknurr unterbricht. Sträubt das Thier dabei schon frühe und leicht die Haare über Rücken und Hals und fletscht es die Zähne, so empfiehlt es sich wenig oder gar nicht zur Zucht. Besonders beim Spiel und Gebalge mit den Geschwistern offenbart sich der bissige und unfriedfertige Hund gar bald, wie durch urplötzlichen Zorn, hinterlistiges Beißen und dergleichen mehr. Eine verschlossene, jähzornige Natur versteht eben keinen Spaß, ihr fehlt der Humor, und gerade diesen findet der eingeweihte Blick auch in unserem begabten Thiercharakter nicht selten so schön ausgeprägt. Uebrigens verwirft man ein hitziges Temperament bei manchen Racen nicht unbedingt, ja man betrachtet dessen nicht zu starkes Vorwalten, wie z. B. beim Dächsel, Pinscher u. a., als eine Eigenthümlichkeit oder Bevorzugung. – Sehr zu trennen ist von Offenmüthigkeit und Lebhaftigkeit ein Zuviel der Ruthe, jenes schwer zu beschreibende und doch so sichtliche unterwürfisch-kriechende Wesen, was wir mit dem Worte „hündisch“ bezeichnen, was aber eher der leider schon so viele Generationen andauernden tyrannischen Behandlung, als dem angeborenen Grundcharakter unseres Thieres zuzuschreiben sein wird. Ein ebenso entschieden selbstbewußtes wie offen-freundliches Betragen ist gemeiniglich die Form, unter der sich der liebenswürdige Normalcharakter unseres Thieres kundgiebt, und hiernach soll man vorzugsweise seinen Hund wählen. Schönheit in Gestalt, Farbe und Zeichnung kommen ebenfalls, aber nicht in erster Reihe, in Betracht. Geschmack und Mode dehnen nur zu leicht auch hier ihre Herrschaft aus und verdrängen nicht selten tiefere Einsicht. Im Allgemeinen läßt sich der Kenner durch Farbe und regelmäßige Zeichnung nicht bestechen; obgleich bei reinen Racen auch bestimmte Grundfarben obwalten, die immerhin der Beachtung werth sind.

Gesetzt, wir haben uns nach diesen allgemeinen Merkmalen ein junges Thier irgend einer Race gewählt, so werden wir uns, wenn irgend menschliches Gefühl in uns wohnt, von der oft unerklärlichen Launenhaftigkeit und Modesucht, mehr von der Grausamkeit emancipiren, unserem Thiere Ruthe und Ohren zu beschneiden. Vom Pinscher aufwärts bis zum Bullenbeißer paradiren unsere lieben Begleiter in abgestutzten Ohren, der Hühnerhund entbehrt nicht selten noch eines guten Theils seiner Ruthe, der Pudel wird oft als wahres Phantasiestück beschnitten und zurechtgestutzt, wie die Taxushecken und Laubgänge ehemaliger französischer Anlagen. Ein gewisses Scheeren langhaariger Racen mag zuweilen gerechtfertigt sein, aber das läßt sich physiologisch und psychologisch darthun, daß mit jedem Stück der Ruthe dem Hunde ein Theil seiner Physiognomie, ein Glied seiner Geberdensprache und daß durch das Beschneiden der Ohren dem Thiere ein nicht unwesentlicher Schutz dieses wichtigen Organs genommen wird. Der wahre Kenner und Freund unseres Hundes wird also Ohr und Ruthe als unentbehrliche Mitgift der Natur unbehelligt lassen.

Es sei – gemäß unserer trefflichen Illustration – unsere Wahl auf ein junges Hühnerhündchen von langhaariger Race gefallen. Dasselbe trägt noch das Wollkleid der zarten Kinderjahre, das, im ersten Werden der Langhaarigkeit begriffen, dem Kerlchen etwas Biderb-Drolliges verleiht. Die pfauchende Ente hat unter dem Hollunderbusch eine Schaar Entchen ausgebrütet, aber diese werden, wie die Küchelchen von der Henne auf dem Hofe, von der federsträubenden, zornigen Brutente nur zu sehr bewacht. Das Kratzen und die Schnabelhiebe der tapferen Frau „Glucke“ hat unser kleiner Springinsfeld selbst durch sein dickes Wollkleid hindurch schon zum Oefteren empfunden, wenn er einen Angriff auf das junge Völkchen gewagt, sei es nun in der harmlosen Absicht des Spieles, sei es in dem sich regenden Jagdeifer und dem auftauchenden Gelüste, ein ernstlicheres Attentat an dem jungen Federvieh zu verüben. Heute hat er wieder einem solchen heimlichen Gelüste entschiedener als zuvor Raum gegeben, und wir sehen den Kindskopf – dessen Gesicht aber ebenso große Offenheit, wie seine hochgewölbte Stirn Begabung bekundet – in eifrigem Verfolgen eines von der Alten getrennten Trupps Entchen begriffen. Wie das behagt in der warmen, lebhaften Hingabe des Augenblicks, in dem natürlichen, ungebundenen Feuer zur Jagd! O glücklich vergeßliche Hundejugend! wie verzeihlich ist deine heutige Regung, zu der du dich trotz der Verwarnungen, welche dir dein aufmerksamer Freund vielleicht schon mehrmals im Hofe bei ähnlichen Knabenstreichen gegeben, wiederum vom ungestümen Feuer deiner langhaarigen Race hinreißen lässest! Wie wird dir das dicke Röckchen ausgeklopft werden, wenn dich das Auge deines Herrn bemerkt! Gewiß, Carochen, du mußt aus dem glücklichen Raum der Freiheit und Ungebundenheit in den Zwang und Drang der Erziehung, der Schule! Aber sei getrost, du kommst weder in den Zwinger von System und Methode, noch in die Zwangsjacke der Pedanterie! Dir wird eine lebendige, natürliche Erziehung unter der Hand der Freimüthigkeit und Milde zu Theil werden, wie wir sie in einer spätern Nummer der Gartenlaube zu entwickeln gedenken.




Eine Stunde auf der Berliner Börse.


Der Fremde, der zum ersten Male Berlin durchwandert und etwa zehn Minuten vor zwölf Uhr auf der Colonnade des herrlichen Neuen Museums tretend über die neue Friedrichsbrücke schaut, erblickt am jenseitigen Ufer einen prächtigen Palast im Renaissancestil, mit doppelter Fronte, korinthischen Säulen, mit symbolischen weiblichen Statuen-Gruppen, mit einem schönen Säulengange. Dort stehen ernst blickende Männer in lebhaftem Gespräche, ihrer Rede durch beweglichste Geberde Nachdruck verleihend; zu ihnen gesellen sich Neuankommende; Equipagen und Droschken fahren vor, aus denen elegant gekleidete, meistens jüngere Männer steigen und sofort mit den Wartenden in eifriges Gespräch treten, und wohl mag der mit den Oertlichkeiten wenig Vertraute denken, dieser Palast sei ein Tempel der Wissenschaft, eine neue Akademie oder ein Lyceum, wo der Berliner Plato oder Aristoteles lehrt, und die wartenden oder rasch herbeieilenden Männer seien wißbegierige Schüler, die dem Cursus eifrig folgen [457] und ja keine Minute des Unterrichts, kein Wort des Lehrers versäumen wollen.

Weit gefehlt! Nicht um einen Cursus, sondern um die neuesten Curse zu hören, stehen die Männer da, nicht Wissen, sondern Haben ist ihr Zweck; die kleinen Händler und Pfuschmäkler und die kleinen Getreidespeculanten und -Mäkler, die noch vor Beginn der Börse die „Stimmung“ zu erforschen versuchen, keine Philosophie ist diesen Allen bekannt, als unbewußt die pythagoräische, nach welcher die Welt aus Zahlen besteht (obwohl auch Manche unter ihnen entschieden nur durch Nicht-Zahlen bestehen). Sie unterhalten sich über die letzten Ereignisse, ob der Kaiser von Oesterreich wirklich constitutionell regieren wird und welches Papier dabei am meisten in die Höhe gehen dürfte; ob durch das polnische Attentat „Russen flau oder fest“ sein werden; ob man nicht süddeutsche Actien „fixen“ (d. i. zu einer gewissen Zeit liefern) sollte, da die Einigung mit Norddeutschland doch größere Militärlast und nothwendigerweise auch neue Anleihen nach sich ziehen müßte. Wahrlich, sie verstehen es, die Weltgeschichte zu taxiren!

Es schlägt Zwölf. Die Pforte öffnet sich, der Schwarm dringt in das Innere und vertheilt sich. Es ist noch still. Die alten und die neuen Bankiers – ich werde diesen Ausdruck später genau erklären – sind noch nicht angelangt, das Geschäft ist unentwickelt. Sehen wir uns ein wenig um. Der herrliche Saal ist durch eine Reihe von einhundert achtundzwanzig Granitsäulen, die längs den Wänden gehen und ihn dann in der Mitte durchschneiden, in zwei Räume getheilt; in dem vordern wird die Fondsbörse, in dem andern die Fruchtbörse abgehalten.

Oben erblicken wir zuerst prachtvolle Wandgemälde von Klöber: die Sinnbilder der Landescultur, Holzhauer, Fischer, Erntewagen, in der Mitte die altgriechische Göttin der Naturkräfte, Kybele – für welche schon die römischen Kornhändler und -Wucherer besondere Ehrfurcht hegten – endlich Amor und Venus. Ueber der Fondsbörse schwebt Vulcan als Geldpräger, Mercur, der Gott der Kaufleute, ein feuriges Roß als Sinnbild der Dampfkraft, endlich in einer Ecke – bedeutsames memento! – eine Gruppe, welche die Fabrikation des Papiergeldes darstellt. Im Saale selbst stehen rechts und links Bänke, auf deren Rückseite Metallplatten die Namen der Bankiers und Kaufleute anzeigen, welche hier ihre Plätze fest gemiethet haben. In dem Raume zwischen den beiden Reihen bewegen sich die Kleinen, Kleineren und Kleinsten. Es ist ein Viertel auf Eins. Die Bankiers, die beeidigten Makler sind eingetroffen und sitzen auf ihren Plätzen, das Geschäft ist entwickelt, überall zeigt sich Bewegung; ich treffe einen jungen Bankier, Freund der Tonkunst und Literatur, er bietet sich mir als Cicerone an, und wir beginnen eine Wanderung durch den Tempel Mercurs.

Die kleinen Makler und Händler laufen hin und her mit ihren Bleistiften und Notizbüchern, sie fragen fast Jeden, dem sie begegnen, ob er irgend etwas zu kaufen oder zu verkaufen hat. „Dollars geb’ ich,“ ruft der Eine. „Dollars, Dollars!“ – „Italiener nehm’ ich,“ ein Zweiter. – „Wie sind Mecklenburger zu haben?“ schreit ein Dritter. Russen, Oesterreicher, Franzosen, Lombarden, alle Nationen werden hier ausgerufen und verhandelt. Die Bietenden und Nehmenden drängen sich, schieben sich, stoßen einer den andern bei Seite – mitunter sogar etwas unsanft – doch hierüber entsteht kein Streit, „in diesen heil’gen Hallen kennt man die Rache nicht“[WS 1] – nur’s Geschäft.

Wir gehen etwas weiter und beobachten einige ergötzliche Scenen. Da sprechen Zwei über einen wichtigen Handel; dabei kann der Eine nicht unterlassen, des Andern schwere goldene Kette zu prüfen, er faßt sie an, wiegt sie in der Hand, und in dem Augenblick, als er die Lieferung und den Curs des Papieres feststellt, kann er nicht umhin zu fragen: „Was kost’ die Kett’?“ Neben diesen Beiden erblicke ich eine Gruppe, würdig, durch den Griffel unseres Hogarth’s vom Kladderadatsch verewigt zu werden. Ein junger Bankier sitzt an seinem Platze und zeigt seinem Nachbar zwei Ringe; vor ihm steht ein Mann mit eifrigster Rede und Geberde. Er bewundert den Glanz, das Feuer der Steine, die Schönheit der Fassung, die Vortrefflichkeit des Goldes, die enorme Billigkeit des Preises; er ruft alle Götter zu Zeugen, daß in der ganzen Stadt kein ähnlicher Ring um so weniges Geld zu haben ist. Der Mann aber – so erklärte mir mein Mentor – will gar kein Geld, sondern ein Börsengeschäft abschließen. Er betreibt eine höchst originelle Industrie: er kauft und verkauft die billigsten Prämien[1] auf der Berliner Börse. Er ist Juwelenhändler, kennt die Wege der Gelegenheitskäufe, erwirbt Steine und Pretiosen zu sehr billigen Preisen und bietet sie den Bankiers für Prämien, die er dann sofort wieder verkauft. Man muß ihn sehen, wie er seinen baumwollenen Regenschirm bald in die rechte, bald in die linke Hand nimmt, um mit der frei gebliebenen kräftiger gesticuliren zu können; wie er vor einem zu niedrigen Angebot zurückprallt, als wollte man ihm an’s Leben; wie er sich dann ein wenig entfernt, mit sich zu Rathe geht, mit den Fingern Zahlen in die Luft schreibt, um zu berechnen, wie viel er noch ablassen könne vom geforderten Preise; wie er darauf wieder an den Käufer tritt, neuerdings handelt und feilscht, bis das Geschäft abgeschlossen ist und er gleich weiter rennt, um nun für die Prämie einen Abnehmer zu finden. Der Preis, um welchen er die Ringe erstanden hat, ist jedenfalls viel geringer, als der Werth der für diese eingetauschten Prämie, er kann daher die letztere mit kleinstem Gewinnste – ja vielleicht unter dem Einkaufspreise – abgeben, und wird noch immer „ein gutes Geschäft machen“.

Neben seiner wirklich genial erdachten und ausgeführten Industrie bietet der Mann mir noch die interessante Erscheinung, daß er als Juwelier die geschmackloseste Busennadel trägt, die mir je untergekommen ist. Während ich ihn noch betrachte, um mir sein Bild genau in’s Gedächtniß zu prägen, vernehme ich hinter mir eine bekannte Stimme; ich wende mich und erblicke Herrn X., einen der elegantesten jungen Börsenhelden, der sich vom Buchhalter eines Großmaklers durch große Geschicklichkeit als „Agent“ zum Chef eines eigenen Comptoirs, zum „neuen Bankier“ emporgeschwungen hat. Er fährt in einer sehr hübschen Equipage, verkehrt sehr viel mit Künstlern und Schriftstellern, am liebsten allerdings mit berühmten und schönen Schauspielerinnen; er hat den Ruf eines liebenswürdigen und gefälligen jungen Mannes, und nur der eine Vorwurf wird gegen ihn erhoben, daß er zu viel schwört; er thut dies auch in jenem Augenblicke.

„Was,“ ruft er, „ich soll mit drei geben, mich kosten sie drei und ein Achtel; bei meinem Leben! Gott der Gerechte! eine Stange Gold kann man verlieren bei solchen Geschäften“ – in diesem Augenblick sieht er mich an der Seite meines freundlichen Führers – „Ah,“ meint er, „ich habe Sie heute Morgen mit dem Legationsrathe X., dem Vertrauten unseres allmächtigen Ministers, gesehen; Sie wissen gewiß etwas Wichtiges und kommen hierher, um einen Coup auszuführen.“

„Ja wohl,“ antworte ich, „einen Auftrag zu vollführen bin ich allerdings hier, für das Haus Keil; wollen Sie mir das Geschäft abkaufen? es ist kein schlechtes.“

„Was haben Sie zu machen?“ fragt Jener.

„Ich kann Ihnen das nicht mittheilen, nur das darf ich sagen, Sie können das Geschäft ungeprüft abkaufen.“

„Das heißt man kein Gebot stellen, auf Wort! Heute könnte man schon alle Geschäfte aufgeben!“ mit diesen Worten will der Elegante sich entfernen, doch die Neugierde ist stärker als sein Unwille; er flüstert meinem Begleiter die Frage zu: „Weiß er denn etwas Neues? Hat er etwas erfahren?“ Der Gefragte zuckt geheimnißvoll die Achseln – ich muß mich einige Schritte entfernen, um nicht in helles Lachen auszubrechen. Horch! Ein Kunstgespräch trifft mein Ohr; es „handelt“ von einer neuengagirten Sängerin.

„Ich sage Ihnen,“ meint Einer, „ich habe sie gestern gehört; sie singt faul, es ist nichts aus ihr zu machen.“

„Das können Sie noch nicht so sicher behaupten,“ entgegnet ein Anderer, „sie hat eine sehr schöne Stimme; übrigens eine Lucca ist sie natürlich nicht.“

Bei diesem Namen verklären sich die Gesichter der Beiden. Wer sind sie, diese Männer, die mitten im Geräusche und der Bewegung noch Zeit und Sinn haben für Kunst und Künstler? Es sind kleine Makler, die nebenbei mit Theaterbillets handeln, sich deren für jede Vorstellung verschaffen, wo der Andrang des Publicums voraussichtlich groß ist, und sie dann mit bedeutendem [458] Agio auf der Börse verkaufen, oder auch, wie jener Juwelenhändler seine Ringe, in anderer Weise verwerthen. Für sie hat jede Sängerin und jede Oper die Bedeutung von Actien, von „Brief“ und „Geld“. Die Afrikanerin von Meyerbeer steht immer über Pari, dann kommt Figaro’s Hochzeit, wenn die Lucca und die Artot singen, dann der Prophet und Lohengrin mit Niemann etc., und es hat schon Tage gegeben, wo ein Parquetsitz ihnen mit acht bis zehn Thaler bezahlt worden ist. Dagegen sind z. B. Beethoven’s Fidelio und Mozart’s Don Juan auf der Börse gar nicht notirt.

Zu diesen beiden Kunstmännern gesellt sich ein Mann, der als Specialität besondere Beachtung verdient: es ist der Satiricus der Börse, ihr privilegirter Witzmacher; über jedes Ereigniß, über jede Persönlichkeit hat er sein Bonmot, und es muß ihm zugestanden werden, manches derselben ist treffend. So z. B. meinte er von einem sehr rasch emporgekommenen Unternehmer, der nur noch in Millionen speculirt, sich als großer Herr manchmal auf der Börse zeigt und über dessen wirkliches Vermögen verschiedenartige Meinungen im Gange sind: „Zwei Dinge kann Herr X nicht ablegen: seine Parvenü-Manieren und – eine genaue Rechnung.“ Ueber einen Financier, der „Consul“ geworden war, stellte er die Frage: „Welcher Unterschied herrscht zwischen Herrn Y und dem amerikanischen Consul? Dieser ist ein überseeischer, jener ein überflüssiger.“ Unter seiner Firma circulirt auch der Witz über einen reichen Leinenwaarenhändler, der viel und glücklich auf der Börse speculirt: „Er macht wohl bessere Geschäfte als Hemden!“

Es ist ein Uhr. Mein Führer leitet mich an das Büffet, wo wir vortreffliche kalte Küche genießen und ein Glas des besten Berliner Bieres trinken, das einige Börsenbesucher im stolzen Selbstgefühle „Judenbier“ getauft haben, wahrscheinlich um anzudeuten, daß dem neuerwählten Volke nicht blos das Land mit Milch und Honig prophezeit war, sondern auch der beste Gerstentrank. Dort (nicht in Palästina, sondern am Büffet) treffe ich einige Schriftsteller, die von Redactionen beauftragt sind, die täglichen Bewegungen an der Börse zu beobachten und darzulegen. Jedes große Journal der Residenz hat seinen eigenen Berichterstatter. Voran unter diesen ragen die Redacteure der Börsenzeitung und deren Gründer – dieser, der noch vor wenigen Jahren eine untergeordnete Stellung einnahm, hat durch Geschicklichkeit, durch richtiges Errathen der Conjuncturen, durch sehr geistreiche Artikel über manche Banken und Unternehmungen sich jetzt zu einer Höhe emporgeschwungen, von der er selbst auf seine Mitarbeiter Glanz verbreitet; die „alten“ Häuser blicken mit Achtung, die „jungen“ Häuser mit Ehrfurcht auf ihn, alle Unternehmer, die Actien ausgeben, vermeiden es, sein Mißfallen zu erregen, und in dem Augenblick, wo ich ihn an der Börse erblicke, wird er von jenem Manne hofirt, gegen welchen der Satiricus den Witz vom „Ablegen“ gerichtet hat; dieser Mann, der große Gütercomplexe besitzt, eine politische Stellung anstrebt, der unleugbar die schärfste Combinationsgabe und unerschütterlichen, vielleicht nicht gerade beneidenswerthen Muth besitzt, er fürchtet vielleicht keine Macht als die der Börsenzeitung; ein Angriff von dieser kann ihn gefährlicher treffen als ein halbes Dutzend Leitartikel anderer Blätter.

Das Geschäft ist fast als beendet zu betrachten. Der Tag war ein „stiller“. Doch sieh! in einer Ecke giebt sich plötzliche Aufregung kund. Laute Rufe „ich geb’, ich nehm’“ erschallen, es entsteht ein Gedränge. Einige kleine Mäkler, die gemüthlich am Büffet standen, eilen mit der halben Butterstulle, die sie in der Aufregung zu verschlucken ganz vergessen, nach dem Kampfplatze – selbst einige Bankiers erheben sich von ihren Plätzen und blicken nach dem wirren Knäuel, der sich im Nu gebildet hat. Einige „neue“ Bankiers, von denen die Meinung verbreitet ist, daß sie mit wohlunterrichteten Leuten verkehren und auch Aufträge reicher Privatmänner vollführen, haben starke Posten eines Papiers gekauft, von allen Seiten laufen die kleinen Händler herbei, wie die Hühner eines Geflügelhofes, wenn die Magd Futter streut, doch die Aufregung geht vorüber; der Conflict wird nicht weiter angeregt, die Curse gehen nicht höher, es scheint nur ein Versuch, sie hinaufzutreiben, angestellt worden zu sein, und die Gesichter, welche einen Augenblick einen eigenthümlichen Ausdruck zeigten, erschlaffen, die funkelnden Augen blicken matt und die vom Büffet Weggeeilten kauen ihre halbe Stulle mit Ruhe zu Ende. Ich nehme Abschied von meinem freundlichen Führer; er versichert mir, daß der Tag „ein sehr stiller“ war und daß überhaupt manche interessante Persönlichkeit gefehlt hätte, die allerdings nur in sehr bewegten Zeiten auftauchte. So konnte man z. B. während des amerikanischen Krieges einen sehr berühmten Sänger fast alle Tage auf der Börse sehen. Er „machte sehr viel“; wahrscheinlich hatte er Apoll mit Mercur verwechselt, da auch dieser eine Leier trägt. –

Sagen wir nun einige Worte von den Börsen und den Bankiers im Allgemeinen. Die Berliner Börse kann ebenso wenig mit denen anderer großer Residenzen verglichen werden, wie der Berliner Bankier mit dem Wiener „Großhändler“ oder mit dem Pariser Financier. In Wien und Paris ist an einem „stillen“ Tage mehr Spectakel und mehr Gezänke, als in Berlin an einem sehr bewegten Abrechnungstage (Ultimo), und es findet in den beiden erstgenannten in mancher Woche ein größerer Geldumsatz statt, als in Berlin in einem Monate. Aber dafür wird dort auch mehr gespielt, während das Geschäft in Berlin fast durchwegs auf solidester Grundlage ruht. In Paris spielt fast alle Welt auf der Börse – und es ist ein öffentliches Geheimniß, daß sehr hochstehende Personen ihre genaue Kenntniß der politischen Ver- und Entwickelungen auf der Börse verwerthen ließen.

Wenn also die Politiker Börsenspeculanten sind, so ist es die natürliche Folge, daß jeder glückliche Speculant auch eine politische Rolle anstrebt, daß der Bankier dahin trachtet, einen Sitz im Staatsrathe zu erlangen, oder doch wenigstens die Minister, wenn nicht gar Mitglieder der kaiserlichen Familie zu empfangen. Frankreich ist ja das Land der Gleichheit, d. h. des gleichen Druckes für Alle, und mit vielem Gelde und loyalem Luxus kann man sich zur „besten Gesellschaft“ emporschwingen. Der Wiener „Großhändler“ ist durch die früheren Verhältnisse Oesterreichs von der activen Politik fern gehalten worden; dagegen stand ihm der Weg zum „Geadeltwerden“ frei, und das Prädicat „Edler von“ oder gar „Ritter“, „Freiherr“, ein „Cavalier“ zu werden und ein großes Wappen auf den Wagenschlag malen zu lassen, schwebte ihm immer als höchstes Ziel vor; und wie die meisten österreichischen Cavaliere waren auch die meisten Wiener Großhändler von jeher liebenswürdige Lebemänner, „gute Kerls“, galant, generös, „fesch“.

Das Wesen des Londoner Bankiers genau darzulegen, bedürfte es eines viel größeren Raumes, als mir hier geboten ist; er ist so verschieden von allen andern, wie die Institutionen seines Landes von denen des Continents. Hier mögen nur einige Thatsachen angeführt werden. Die großen Londoner Bankiers gehen nie auf die Börse; es giebt ungeheuer reiche Häuser, die große Anlehen abgeschlossen haben und gar kein Bankgeschäft machen, ja nicht einmal ein Comptoir halten (Montefiore, Goldsmith, Attwood); das Haus Rothschild gehört in London zu den reichsten, aber nicht zu den ersten Bankhäusern. Sie nehmen im Allgemeinen keine hohe gesellschaftliche Stellung ein, aber wenn sie Parlamentsglieder oder Municipalbeamte werden, dann steht ihnen der Weg zur Pairie offen; so ist Lord Asburton aus dem Hause Gebrüder Baring hervorgegangen und Lord Overstone aus dem Hause Lloyd.

Der alte Berliner Bankier hat nie eine politische Rolle angestrebt – Camphausen und v. d. Heydt sind Rheinländer – er ist auch kein Lebemann und hat nichts vom Cavalier; zum englischen Plutokraten fehlt ihm der ungeheure Reichthum; gegenüber dem Pariser, dem Wiener, dem Londoner erscheint er als Philister, aber er kann sich eines Vorzugs rühmen, vor dem Reichthum, Rang und Glanz erbleichen: keine andere Stadt hat so viele Größen der Kunst und der Wissenschaft aufzuweisen, die Bankierhäusern entsprossen sind, wie Berlin. Aus dem Hause Mendelssohn, das von dem großen Philosophen und edlen Menschenfreunde stammt, ging jener Felix hervor, dessen Musik so weit reicht, als sich Menschen der Sommernacht erfreuen und als der gestirnte Himmel ihre Herzen zur Andacht erhebt. Dem mit Reichthum und Wohlthätigkeitssinn hochgesegneten Hause Beer entstammte der Componist des Robert der Teufel und der Hugenotten, welcher die unbestrittene Herrschaft über die Opernbühne ausübt, dessen reichen Gaben selbst die erbittertsten Gegner Anerkennung zollten und dessen Bruder als Dichter nicht großen Ruhm, aber hohe Achtung um seines edlen Strebens willen genossen hat. Stolz weist das Haus Magnus auf seine Söhne, den Professor und einstigen Rector der Berliner Universität, und den Maler. Der große [459] Rechtsgelehrte Hitzig, der bekannte Architekt des gleichen Namens, sie entstammen reichen Geschäftsleuten. Und wenn alle die Genannten jüdischen Ursprunges waren, so ist dies nur ein Beweis mehr, daß nicht der Geldbesitz und dessen Vermehrung, nicht der Glanz durch Reichthum dem Berliner Bankier das Höchste ist, daß er vielmehr die persönliche Geltung noch höher würdigt.

Dieses Bewußtsein prägt sich in der Haltung und dem Gebahren des alten Berliner Bankiers aus; im gesellschaftlichen Leben macht er kein Haus, ist gewöhnlich zurückhaltend, wenig liebenswürdig, im Geschäft geht er immer sehr vorsichtig zu Werke und giebt ihm nicht einmal die Ausdehnung, die von einem großen Hause zu erwarten ist, – aber er genießt als Persönlichkeit große Achtung und seine Accepte betrachtet der vorsichtigste Londoner bill-broker (Wechselmakler)[2] als first-rate (erster Classe).

Seit etwa fünfundzwanzig Jahren ist ein neues Geschlecht im Werden, das in vielen Dingen die Traditionen verlassen hat, ja geradezu einen Gegensatz bietet: es sind die Leute, die ich im Anfange dieser Skizze als „die neuen Bankiers“ bezeichnete. Sie sind meistens ehemals kleine Makler oder Speculanten gewesen und durch glückliche Combinationen zu Vermögen gekommen. Gar Mancher von ihnen ist verschwunden, nachdem er eine Zeit lang sein Schifflein auf der Oberfläche glänzenden Lebens herumgetummelt hatte, Mancher ist wieder emporgetaucht, als man ihn ganz versunken wähnte, nur einige Wenige haben den Weg des bürgerlichen freundlich-bequemen Lebens eingeschlagen, den die „Alten“ gegangen sind und haben sich und ihren Familien einen festen Grund gesichert. Die Mehrzahl eifert den französischen und Wiener Modellen nach; man rühmt von ihnen, daß sie meistens sehr gutmüthige und liebenswürdige Leute sind und daß sie mehr Kühnheit, mehr „Genie“ besitzen als die „alten Philister“.
E. H.




Kaukasische Civilisation.


Die große Slavenwallfahrt nach Moskau, von welcher erst vor wenigen Wochen die politischen und unpolitischen Pilgrime in ihre weitvertheilten Heimathen zurückkehrten, hat im germanischen Europa noch mehr als im romanischen (Italien, Frankreich, Pyrenäische Halbinsel) mancherlei Bedenken über die drohende Zukunftstellung des „Panslavistischen Weltreichs“ wach gerufen, welche durch unsere Tagespresse noch nicht völlig beseitigt worden sind. Oft trägt aber der Einblick in ein einzelnes Haus mehr zur genauen Kenntniß über Charakter und Bedeutung einer Stadt bei, als der schönste Ueberblick über dieselbe vom höchsten Kirchthurm. Das lassen wir uns auch für diese panslavistische Bewegung zur Lehre gereichen, indem wir einen dieser Stämme des großen Russenstaates genauer betrachten. Erwägen wir, daß Rußland unzählige solcher Stämme zu beherrschen und zu civilisiren hat, wie das folgende Lebensbild aus dem Kaukasus uns einen vorstellt, so wird der einfachste politische Hausverstand uns sagen, daß noch Jahrhunderte vergehen müssen, ehe aus solchem Brockenwerk das feste Conglomerat einer bewußten Nationaleinheit entsteht, wie trefflich auch die Natur aller einzelnen Bruchtheile desselben sei.

Bei dem bewegten und regen politischen Leben in ganz Europa während der letzten zehn Jahre sind die kaukasischen Völker und namentlich die ernsten und einst mit so großer Begeisterung geführten Freiheitskämpfe der Bergvölker des östlichen Kaukasus heute fast vergessen, und nur zuweilen, wenn der Name des alten Imam Schamyl, des berühmten Lesghierhäuptlings, hie und da noch erwähnt wird, tauchen uns alte Erinnerungen daran wieder auf. Derselbe lebt jetzt in der russischen Provincialstadt Kaluga, erhält vom Kaiser Alexander eine jährliche Pension von zehntausend Rubel Silber und wird fürstlich behandelt.

Ob sich dieser kühne Krieger, dieser Stifter einer neuen Religion, der es verstanden hatte, sich aus dem Volke heraus, von einem gewöhnlichen Muriden bis zum Häuptling, zum Propheten seines Volkes zu erheben, der die Kraft besaß, eine ganze Unzahl verschiedener Stämme des kaukasischen Volkes nicht nur zu vereinigen, sondern auch zusammen zu halten und sie die lange Reihe von fast dreißig Jahren zum Kampfe gegen die ungeheure Uebermacht der Russen zu führen – ob sich dieser gewaltige Mann, trotz aller durchaus edlen Behandlung, die ihm widerfährt, und trotz seiner häufigen Loyalitätserklärungen in Kaluga wohl fühlen mag, ist eine andere Frage.

Wenn man die Sache im Großen und Ganzen vom Standpunkt der Civilisation aus betrachtet, so lag es nach einmal angefangenem Kampfe und dem Recht der Eroberung zufolge in Rußlands Beruf, die wilden und halbwilden Bergvölker des Kaukasus der europäischen Cultur zugänglich zu machen, und wenn auch ein großer Theil dieser Stämme heute die Wohlthaten dieser Cultur noch nicht einzusehen vermag, so ist dies in der Natur der Sache begründet und kann erst die Zeit etwas hierin ändern.

Betrachtet man die große Menge der einzelnen Volksstämme im Kaukasus, so findet man sie in Sprache, Sitten, Religion, Tracht und Gebräuchen von einander verschieden, und nur eine Sitte besitzen sie alle, die Adighés (die eigentlichen Tscherkessen) wie die Kabardiner, die Lesghier wie die Tschetschenzen, die Mingrelier wie die Abchasen, Osseten, Georgier, Grusiner und wie sie alle heißen, – Eins haben sie Alle miteinander gemein: die Blutrache. Die Ursachen zu dieser viele hundert Jahre bestehenden Sitte geben die fortwährenden Streitigkeiten über Grund und Boden, die oft zu völligen Fehden eines Stammes gegen den andern ausarten, – oder auch der Raub von Weibern und Sclaven, das Stehlen von Vieh etc. etc. Gerade diese Fehden von Stamm gegen Stamm aber waren es, die es der russischen Regierung leicht machten, im Kaukasus festen Fuß zu fassen, denn unter dem Vorwande, dem schwächern Stamme beizustehen, der auch diese Hülfe stets gern benutzte, drangen die Russen immer weiter in’s Land, errichteten überall Festungen und waren dann stets Herren des einmal beschützten Gebiets.

Auf diese Weise wurden die Russen schon im vorigen Jahrhundert Herren der Kabarda, die, von einem der begabtesten Stämme des Kaukasus bewohnt, ganz im Norden des letztern, östlich vom Beschtau-Gebirge und südlich unter den russischen Bezirken von Pjätigorsk und Mozdok gelegen, viel flaches Land bietet, welches den Russen das Eindringen um so mehr erleichterte, als dies kleine Heldenvolk auf solchem Terrain dem Andrang regulärer Armeen auf die Dauer nicht widerstehen konnte. Die Kabardiner, deren Land vom Terek durchströmt und durch denselben in die kleine und große Kabarda getheilt wird, zeichnen sich durch schönen Körperbau und ritterliche Sitten ebenso wie die Tscherkessen vortheilhaft vor den andern kaukasischen Stämmen aus. Nächst der Blutrache ist ihnen vor Allem die Gastfreundschaft heilig. Den Armen wie den Reichen nehmen sie mit stets gleicher Freundlichkeit in ihrem Hause auf; der Hausherr weist dem Gaste den besten Platz an, setzt ihm die besten Speisen vor und nimmt selbst nicht eher wieder Platz, als bis Jener sich gesetzt hat, – ja sogar ihr Feind genießt dieselben Rechte, sobald er die Schwelle des Hauses einmal überschritten hat. So lange er im Hause weilt, hört die alte Feindschaft auf; der Wirth schützt seinen Gast gegen jede Unbill, und mag derselbe seinen eigenen Sohn getödtet haben – so lange er sein Gast, ist er auch unter seinem Schutz. Sobald er jedoch den ihm feindlichen Aoul (Dorf) verlassen hat, treten auch die alten Rechte der Feindschaft wieder in Kraft. Draußen vor dem Aoul erwartet der kühne Eindringling seinen Wirth zum ritterlichen Zweikampf, und da derselbe, schon durch den Besucher herausgefordert, sich selten zweimal bitten läßt, so entspinnt sich bald außerhalb des Aouls ein Kampf auf Tod und Leben, der an Wildheit, Ausdauer und Gewandtheit, mit der beide Gegner aufeinander eindringen, nicht seines Gleichen hat. Die [460] oft wunderbar dressirten Pferde unterstützen die Kämpfenden auf jegliche Weise, indem sie der kleinsten Bewegung ihrer Herren folgen, und so endet so ein Zweikampf nicht früher, als bis Einer unterliegt.

Erfüllte „Pflicht“ im Kaukasus.

So sehen wir auf unserm von einem russischen Maler nach eigener Anschauung gezeichneten Bilde einen Kabardiner, der eben von solchem Zweikampf, die Blutrache ausübend, in seinen Aoul zurückkehrt. Seine ganze Gestalt hebt sich stolz im Sattel, er hat eine ihm heilige Pflicht erfüllt und sein Gesicht glänzt vor wilder Freude, indem er auf den Schauplatz des Kampfes zurückschaut. Er hat Eile, die Trophäe des Kampfes, den Kopf seines Feindes in den heimathlichen Aoul zurückzubringen, wo ihn das ganze Dorf mit Triumph empfangen wird.

Indeß stehen neben einer gewissen Ritterlichkeit der Kabardiner auch Eigenschaften, welche den sehr tiefen Standpunkt kennzeichnen, den dieser Stamm, wie alle Urbewohner des Kaukasus, noch einnimmt. So pflegt sich der Kabardiner eines gelungenen Raubes ebenso zu rühmen, wie seiner andern Großthaten, was fast der alten spartanischen Ansicht vom Diebstahl gleichkommt: „man darf [461] stehlen, aber sich nicht ertappen lassen“. Die ertappten Diebe werden denn auch auf die originellste Weise bestraft, indem sie das Geraubte am hellen Tage vor allem Volke seinem Herrn zurücktragen müssen – eine für sie fürchterliche Strafe, welche sie dann auch auf Lebenszeit dem Spott des ganzen Aouls aussetzt.

Was die Kabardiner neben den Tscherkessen noch auf’s Vortheilhafteste über die andern kaukasischen Stämme, namentlich die Georgier, erhebt, ist ihre fast an die alten Germanen erinnernde Keuschheit und die Achtung gebietende Stellung, welche sie den Frauen eingeräumt haben, deren sie stets auch nur eine haben, trotzdem ihnen der Koran die Polygamie gestattet. Die Achtung vor der Frau ist so groß, daß in ihrer Gegenwart die Blutrache nicht ausgeübt werden darf, ja daß sie sogar einen Verfolgten, dem es gelingt, in ihr Gemach zu dringen, vor seinen Feinden schützen kann und daß ein Kabardiner es nie wagen wird, in Gegenwart einer Frau auf seinen Feind einzudringen. Und doch ist das Loos dieser Frauen nicht zu beneiden, denn ihre kleinen Söhne werden ihnen, kaum ein Jahr alt, kaum der Mutterbrust entwöhnt, genommen und einem Fremden, einem Erzieher (Atalik genannt) übergeben, der den Knaben, meist in einem entfernten Aoul, pflegt und erzieht. Die Mutter sieht ihn nicht eher wieder, als bis er ein Mann geworden, und dann ist es natürlich, daß er seinen Erzieher mehr liebt als die Eltern.

Die Ehelosigkeit ist bei diesem Volke streng verpönt, weshalb es geschieht, daß die Kabardiner meist schon sehr früh heirathen. Wenn der Atalik die Erziehung des jungen Mannes beendigt hat, ist er auch noch behülflich, ihn zu verheirathen, und wenn sich sonst die jungen Leute gefallen und gleichen Standes sind, worauf sehr gesehen wird, so bestimmt der Vater der Braut, je nach den Vermögensumständen des Bewerbers, den Brautpreis, welcher in Geld, Pferden, Schafen oder dergleichen besteht. Erst nachdem dieser Preis entrichtet ist, darf sich der junge Mann seine Auserkorene aus dem Hause ihrer Eltern holen, wo ihn dieselbe in prächtigen Gewändern und umhüllt von der weißen Tschadra erwartet. Nach der Sitte des Landes darf sie dem Manne jedoch nicht willig folgen, sondern muß sich sträuben, mit ihm ringen, und je mehr sie sich wehrt und schreit, für desto sittiger wird sie gehalten. Auf ihren Hülferuf eilen die Bewohner des Hauses herbei, dem Bräutigam kommen seine Freunde ebenfalls zu Hülfe, ein kleiner Scheinkampf beginnt und im allgemeinen Wirrwar wird es dem Bewerber leicht mit der schönen Bürde sein schnelles Pferd zu erreichen und davon zu jagen.

Die Hochzeit wird namentlich durch Kampfspiele gefeiert, bei denen starke Verwundungen nicht selten sind. In Gegenwart Fremder gestatten sich die Eheleute nicht die geringsten Zärtlichkeiten, weder einen Kuß noch einen Händedruck. Auch würde es der Ehemann sogar übel nehmen, wenn sich Jemand erlaubte, ihn auf europäische Weise nach dem Befinden seiner Frau zu fragen. Die Frau lebt stets zurückgezogen in ihren Gemächern, und während sie dort ihre weiblichen Besuche empfängt, erhält der Mann den Besuch seiner Freunde in seinen Räumen. Eheliche Treulosigkeit kommt von beiden Seiten nie vor, und da der Mann unumschränkter Herr seiner Frau ist, so würde auch schon ein bloßer Verdacht das Todesurtheil der Frau sein. – Gewiß, es ist ein tüchtiger Kern in dem Volke, aber vor der Hand auch nur dieser und die Zeit noch fern, bis ein Staat, der noch viele solcher roher Elemente zu seinen Bestandtheilen hat, im Ernste den modernen Culturstaaten beigezählt, geschweige als Leiter und Stimmführer im Rathe derselben betrachtet werden kann, wie gern auch der ungemessene Nationaldünkel der Slaven diese Rolle zu spielen sich anmaßen möchte.
A. M.




Tief unter der Erde!
Brief aus Lugau.


„Hoffnungslos verloren!“ Das ist die Antwort auf der Neufundgrube bei dem Dorfe Lugau in Sachsen, wenn wir nach den einhundert und zwei Bergleuten fragen, die am Morgen des ersten Juli dort durch einen Schachtbruch verschüttet worden sind.

Man kann es von der lieblichen Landschaft schwer glauben, daß sie so gräßliches Unglück bedeckt. Recht den Menschen zum Wohlgefallen ist das langgestreckte Thal gemacht, auf das wir, von Chemnitz kommend, hinabsehen. Grünes, freundliches Hügelland, mit Nadelholzgruppen und Weiherspiegeln geschmückt und von ferneren Waldhöhen begrenzt, ist die Heimath von Bauern und Bergleuten, denen der Reichthum unter dem Boden die geringere Fruchtbarkeit der Oberfläche ersetzt, oder ersetzen könnte, wenn die menschlichen Einrichtungen dies überall zuließen. Lugau gehört zu dem großen Zwickauer Steinkohlenbecken und ist durch den Kohlenbergbau aus einem gewöhnlichen Ackerbauerdorf ein stattlicher Ort mit allem Schein des Wohlstandes geworden, wegen seiner Kohlenschätze durch eine Eisenbahn mit aller Welt verbunden.

Aber wer fragt heute danach! Unser Auge sucht nur den einen der vielen ringsum mit Schachtgebäuden gekrönten Hügel, ihm gehört unsere ganze Theilnahme.

Ich ging von Lugau der Bahn entlang, welche am Karlsschacht und Gottessegenschacht vorüber zu dem Orte unsäglichen Jammers führt. Das Unglück lastet so schwer auf allen Herzen, daß kein lächelnder Mund, kein frohblickendes Auge mir begegnete, an so vielen Menschen ich auch vorüberging. Je näher ich dem Hügel kam, der so frischgrün und sanft ansteigt, bedeckt von den dunklen Schachtgebäuden und überragt von der hohen Esse und dem Glockenthürmchen, je lauter das Dröhnen der Werkzeuge an mein Ohr schlug, die dort rastlos am Rettungswerke arbeiten, um so drückender ward mir der Gedanke, daß ich in Gottes Licht über einem Boden wandelte, unter welchem hundert Männer als treue Märtyrer der Arbeit lebendig begraben liegen. Unwillkürlich bohrt die Phantasie durch Erde und Gestein sich den Pfad zum Orte des Grauens, wir sehen die armen Menschen mit den letzten Funken der Lebenshoffnung um ihre Errettung ringen, angstkeuchend dem Lichte entgegenarbeiten! Es ist vielleicht nur eine Erdstrecke, die man in fünf Minuten zurücklegt, zwischen ihnen und dem Leben des Tags! Nur fünf Minuten, und sie sollen die ewige Trennung von ihren Lieben bedeuten! Es ist nicht möglich, den Hügel zu betreten mit anderem, als scheuem Fuß. So betritt man keinen Friedhof mit seinen stillen Gräbern, so kein Schlachtfeld mit seinen Opferzeichen: hier ist Beides vereint – Schlachtfeld und Grab – und alle Schreckniß des Lebendigbegrabenseins dazu!

Und doch befürchtet man ein ganz anderes Bild menschlichen Schmerzes dort zu sehen, als uns wirklich erscheint. Die Gruppen der wimmernden Angehörigen der Verunglückten, von denen die erste Kunde des Schreckens berichtete, sah ich nirgends. Rührige Arbeiter, Bergleute, Schmiede, Zimmerleute, Handlanger, die ihr Herz unablässig noch immer für Rettung antreibt, obwohl ihr Kopf dazu schüttelt, waren umstellt und umwallt von noch immer zahlreichen Zügen Theilnehmender von nah und fern. Nur einzeln schlichen stumme Gestalten, auf deren Antlitz viel Tieferes als nur menschliche Theilnahme sprach, zwischen ihnen, alte Männer, alte Mütterchen; an den Zügen der armen Kinder hatte der erste Schmerz keine Furchen hinterlassen, Gottlob, sie glätten sich noch so leicht! – Aber an jenem Tage des Unglücks, da war es fürchterlich, da riß es Männer nieder, die eigenem Schmerz tyrannisch gebieten können. Haufen um Haufen zogen von allen Thalseiten die Weiber und Kinder und Greise herbei, von Lugau, Oelsnitz, Lungwitz, von Gersdorf, Erlbach, Würschnitz und all’ den Orten, wo die Bergleute dieses Schachtes wohnen. Das Wehgeschrei erfüllte die Luft, Alles drängte zur abgesperrten Unglücksstätte – im Wahnsinn des Schmerzes warfen Mütter und Kinder sich auf den Boden und wühlten die Erde auf, als wenn sie mit ihren blutenden Händen sich hinunter arbeiten wollten zu ihren Männern, ihren Vätern, ihren Söhnen und Brüdern! – Nichts brachte sie von der Unglücksstätte, kein Wort der Hoffnung und des Trostes beruhigte sie, – der Schmerz mußte austoben. Einzeln, allmählich schlichen die wimmernden Häuflein der Familien, [462] der Verwandten und Freunde der öden Heimath zu – und die alltägliche Noth des Lebens, so oft die Klage des armen Volkes, wurde diesmal zum Balsam für die wunden Seelen. Die Arbeit fesselt sie an Haus und Feld und den Schmerz in die Brust.

Wie war ein so ungeheures Unglück möglich? Das ist die erste Frage eines Jeden, der die Schreckenskunde vernahm. Ich aber will lieber erst den Vorgang erzählen; an ihn schließen die Ursachen sich von selbst an.

Am Montag, dem ersten Juli, fuhren zur Tagesschicht früh sechs Uhr die Bergleute der Neufundgrube hinab in die Tiefe. Sie verrichteten wohl ihr Morgengebet so fromm, wie der Ernst ihres Ganges „tief unter die Erde“ Jedem gebot, den nicht der leichte Sinn der Jugend darüber hinwegsetzte; mit sorgenfreiem Herzen soll diese Grube seit längerer Zeit überhaupt nicht befahren worden sein. Aber wer weiß, ob gerade heute Einem der hundert kräftigen Männer und Jünglinge beim Betreten des Schachthauses der Gedanke gekommen, daß er die Sonne zum letzten Mal gesehen habe. Und doch rieselten die Wasser schon unter ihren Füßen, welche die Wände des Schachts über ihre Häupter zusammenstürzen sollten! Nur vier Bergleute, die am selben Morgen mit ihren Genossen im Schacht eingefahren waren, sind dem Schicksal der Andern entgangen. Einer derselben, der Oberzimmerling Götzold, erzählte mir seinen Antheil an dem furchtbaren Erlebniß einfach und sicherlich mit der Treue, die in seinen offenem Antlitz ausgeprägt ist. Damit aber unsere Leser seiner Erzählung folgen können, muß ich eine kurze Beschreibung des Schachtes vorausschicken.

Der Schacht der Neufundgrube in seinen vier Abtheilungen des Fahr-, Förder-, Kunst- und Wetterschachts hat eine Tiefe von neunhundertdreißig Ellen; der Fahrschacht, d. h. derjenige, in welchem die Bergleute ab- und aufsteigen, ist in achtundfünfzig Bühnen, d. h. Absätze für eine je sechszehn Ellen lange Leiter, abgetheilt. Wenn unser Bergmann von der siebenten, zehnten oder dreiundzwanzigsten Bühne spricht, so meint er damit die Tiefe von 112, 160 oder 368 Ellen. Im Förderschacht gehen die Tonnen an Drahtseilen auf und ab, und der Kunstschacht ist der Raum für das Kunstgestänge, d. h. das Wasserhebungszeug; für beide arbeitet die Dampfmaschine. Der Förderschacht wird auch zum An- und Auffahren von Personen benutzt, namentlich von den Aufsehern und ihren Beauftragten, soll aber hier, bei der Beschwerlichkeit und dem Zeitraubenden des Anfahrens der Arbeiter auf den Leitern oft auch für diese benutzt worden sein und ist in diesem Augenblick der Zugangsort zu allen Rettungsarbeiten.

Bei der siebenundvierzigsten Bühne, also in einer Tiefe von 736 Ellen, ist ein Querschlag nach dem Kohlenflötz hingetrieben, welcher der „obere Querschlag“ heißt und mit welchem alle tiefer gehenden Steig- und Strichörter in Verbindung stehen.

Es ist schwer, mit Hülfe der bloßen Zahl sich ein Bild von der Tiefe dieses Schachtes zu machen, es hilft uns auch nicht viel, wenn wir sagen, daß er vier Male tiefer war, als der Wiener Stephansthurm hoch ist. Der Leser wird ganz andere Achtung vor diesem Abgrund bekommen, wenn er erfährt, daß die Bergleute eine volle halbe Stunde von Sprosse zu Sprosse ihrer achtundfünfzig Leitern niederzusteigen hatten, um zu ihrem Tagewerk in der Tiefe zu gelangen; das Heraufsteigen nahm sogar dreiviertel Stunden in Anspruch.

So tief sind die hundert Männer begraben!

Oberzimmerling Götzold erzählte mir nun, daß er noch am Sonntag den Schacht gut gefunden habe, daß ihm da wenigstens kein Anzeichen von irgend welcher Gefahr aufgestoßen sei. Am Montag früh sei er mit der übrigen Mannschaft angefahren. Um etwa halb acht Uhr sei Steiger Krüger unten angekommen und habe ihm mitgetheilt, daß es ihm geschienen, als ob bei seinem Herabfahren im Förderschacht an der zehnten Bühne das Fahrgestänge „strenge gegangen“ sei. Er beauftragte Götzold, sofort mit zwei anderen Zimmerlingen auszufahren, die Schachtstelle bei der zehnten Bühne genau zu untersuchen, dem Director der Grube, Müller, alsbald Meldung zu machen und dann ihm selbst sein Frühstück mitzubringen und ihm im oberen Querschlag zu geben. So wenig dachte dieser Mann selbst an die Nähe der äußersten Gefahr, daß er sein Leben ihr so sorglos aussetzte, wie das seiner Arbeiter! Götzold fand die bezeichnete Stelle schon bedeutend verschlimmert (die Zimmerung noch weiter ausgebaucht), konnte aber das „Gestelle“ noch durchbringen und eilte mit dieser Nachricht zum Director. Dieser befahl ihm, mit seinen Genossen zur Untersuchung und entsprechenden Ausbesserung des Schadens nochmals einzufahren. Götzold gehorchte, allein bei der zehnten Bühne blieb nun das Gestelle sitzen. Kaum hatte er das Halt-Signal (ein Glockenschlag) gegeben, so bemerkte er, daß die Zimmerung sich bereits verschoben hatte und gleich darauf in Bewegung gerieth. Er konnte nur noch „Rettet euch! Rettet euch!“ in die Schachttiefe rufen und den nebenan im Kunstschacht beschäftigten Kunstwärter auf die Gefahr aufmerksam machen, – jeder andere Rettungsversuch war unmöglich, und die vier Männer vermochten aus dem schauerlichen Bereich sich selbst nur dadurch zu retten, daß sie theils am Drahtseil, theils am Signalschlagzeug, theils an den Steigröhren der Drucksätze (des Wasserhebungsapparats) emporkletterten bis zur siebenten Bühne, wo der Schacht noch gesund in Zimmerung stand.

Diesen Rettungsvorgang erzählt ein anderer Bergmann in der „Zukunft“ ausführlicher so: Götzold und einer seiner Genossen beeilten sich, schnell zur Rettung der Zurückgebliebenen wieder einzufahren, und ließen einen Dritten auf der Leiter zum Signalisiren hinabgehen. Als aber Beide mit dem Gestelle den Punkt erreichten, wo der Bruch hernach stattfand, blieb dasselbe sitzen; sie ließen zum Hinaufholen signalisiren, doch der Maschinenwärter brachte das Gestelle schon nicht mehr vom Flecke, und inzwischen sahen die Zimmerlinge, wie der Schacht neben, unter und über ihnen zusammenging; sie ergriffen das Seil, an welchem das Gestelle eingehängt war, und arbeiteten sich daran bis in die Nähe der sechsten Bühne, wo sie eine Latte erreichten, welche ein in den Fahrschacht führendes Loch verdeckte. Von dort aus nahmen sie ihre Zuflucht in den Fahrschacht. Eine gleiche Gefahr hatte der Signalist, welcher seine Stellung in dem Fahrschacht hatte, zu bestehen. Er sah, wie der Schacht um und neben ihm zusammenbrach, wie ihm ein Tritt der Leiter um den andern unter den Füßen weggerissen ward und die Möglichkeit der Fahrt in die Höhe verschwand. In aller Hast konnte er gerade noch das Signalzeug, welches bis zu Tage geht, mit den Händen packen und sich, den Tod stets vor Augen, auf die siebente Bühne retten. Noch schlimmer erging es dem auf der zehnten Bühne sich befindenden Kunstwärter Kolbe; selbiger sah ebenfalls, wie die Holzwände neben ihm verschwanden, Fahrten und Bühnen unter und über ihm wichen, und wie ein Regen von Einstrichen, Wandruthen, Fahrten, Pfosten, Erde und Steinen über ihn hereinstürzte. Er dachte, sein letztes Stündchen habe geschlagen, hielt es nicht mehr für möglich, sich zu retten; doch in der größten Todesangst erfaßte er das Steigrohr des Drucksatzes, durch den das Wasser aus dem Schacht geschafft wurde, und glücklich kletterte er daran achtundvierzig Ellen in die Höhe, bis er ebenfalls auf die siebente Bühne gelangte. Halb todt stürzte er da hin, und mußte einige Zeit ausruhen, wenn er gleich nicht wußte, ob nicht auch diese Stelle in den Abgrund versenkt würde. Als er sich wieder stark genug fühlte, raffte er seine Kräfte zusammen und kam auf der Fahrt glücklich über Tags, wie die anderen drei Mann.

Während Götzold mit dieser Schreckensnachricht zum Director eilte, erdröhnte plötzlich tief aus der Erde ein langanhaltender dumpfer Donner – der Schacht war zusammenstürzt – das Unglück vollendet.

Es war in der That in diesem Augenblick schon vollendet, wie die Untersuchung des Unheils ergab, wenn auch Hoffnung und Thatkraft nicht daran glauben wollten. Zur ersten Untersuchung fuhr der Director Müller mit Götzold an. Sie fanden von der siebenten bis zur zehnten Bühne, also auf eine Länge von etwa hundert Fuß, eine weite Höhle an der Stelle des Schachts; das aus diesem nicht sofort zu bemessenden (später auf zwölf bis zwanzig Ellen verschiedene Tiefe geschätzten) Raume ausgebrochene Erdreich hatte alle Zimmerung bis zur dreiundzwanzigsten Bühne mit sich hinabgerissen und schien hier, vielleicht durch kreuzweise durcheinander geschobene und von dem Bühnengebälk gehaltene Zimmerungshölzer gestützt, eine Verstopfung zu bilden, unterhalb welcher der übrige Schachtraum noch wohl erhalten sein konnte.

Diese Annahme lag auch den ersten Rettungsversuchen zu Grunde, die jedoch durch den Betriebsdirector des benachbarten Schachts Gottessegen, Kneisel, von dem Augenblick an geleitet wurden, wo Director Müller, man sagt, zu seiner eigenen Sicherheit vor Ausbrüchen des tief gegen ihn aufgeregten Volksunwillens, zur Untersuchungshaft nach Chemnitz abgeführt worden war. Die [463] erste Arbeit mußte auf die Sicherung der Rettungsmannschaft selbst gerichtet sein. Sie bestand in der Verankerung des oberen noch unversehrten Schachttheils von etwa hundertundzwölf Ellen Länge; bis zum Abend des siebenten Juli (Sonntag), wo das Betreten des Schachthauses mir gestattet wurde, waren die ihn haltenden Drahtseile schlaff geblieben, ein Zeichen, daß er bis dahin noch nicht gewichen war. Um den Verschütteten Luft zuzuführen, versuchte man, da Bohrungen nicht zum Ziele führten, auch die Bruchstellen des Schachts sich noch um zwei vermehrten und häufige bedeutende Nachstürze erfolgten, die Verstopfung dadurch zu durchbrechen, daß man mit Steinen beladene schwere Wassertonnen mit möglichster Gewalt hinabließ. Einer der Steiger wagte sogar eine nochmalige Untersuchungsfahrt und versicherte, bis über siebenhundert Ellen Tiefe hinabgekommen zu sein. Da man deshalb die Hoffnung hegte, bis zum oberen Querschlag vorzudringen, so hatte man die mit einem eisernen Dache zum Schutze gegen Nachsturzmassen versehenen Tonnen auch mit Nahrungs- und Labungsmitteln versehen, während oben für die etwa geretteten Kranken und Verwundeten Matratzen und ärztliche Hülfe bereit gehalten wurden.

Das war eine Zeit großer Aufregung für die armen Angehörigen der Verschütteten, die in diesen ersten Tagen noch in Schaaren die Schachtgebäude umlagerten. Tag und Nacht, wie die Rettungsarbeit fortging, hielt die Liebe sie am Ort, und wie lauschten sie den Signalen, sie, denen die sämmtlichen Zeichen des Glöckchens nicht unbekannt waren. Wenn es zum Halt, zum Tiefergehen signalisirte, wie zitterten die erregten Herzen! Wie standen sie lauschend still, wenn zum Emporfahren signalisirt wurde, und wie mochten sie in Schmerz sich zusammenziehen, wenn die sieben Schläge der Gefahr ertönten! Ein einziges kleines Glöckchen, aber welche Sprache redete es zu diesen Unglücklichen in der bangen Nacht und an den schrecklichen Tagen!

Mit einer Aufopferung, einem Muthe, wie kein noch so gepriesener Held ihn auf dem Schlachtfeld größer aufzuwenden braucht, trotzten die tapferen Männer jeder Gefahr, über den ungeheuren Abgrund schwebten sie in ihrer Tonne, umstarrt von wankendem Erdreich, das sie jeden Augenblick mit in die Tiefe reißen konnte. Die Maurer von Postelwitz bei jenem Einsturze an der Elbe, von dem vor einigen Jahren die Gartenlaube Kunde gab, haben ihres Gleichen gefunden, wenn diese armen Bergleute von Lugau nicht noch um Größeres zu bewundern sind.

Und wie groß wäre auch der Preis ihres Sieges! Wie schrecklich bettet der Tod dort Alter und Jugend zusammen! Ein Vater wird bei seinen beiden Söhnen liegen; Väter werden dort erstarren, welchen sechs, sieben, ja zehn Kinder nachweinen; vierzehn junge Männer, die der Tod bei Gitschin und Königsgrätz verschont hat, sind auf diesem „Feld der Ehre“ gefallen! Jeder Ort der Umgegend hat seine Trauer, Neuwiesen und Oberdorf haben je einen, Stollberg und Lungwitz je drei, Oelsnitz und Erlbach je acht, Würschnitz hat fünf, Gersdorf vierundzwanzig und Lugau neunundvierzig Tode in diesem tiefsten Grabe Sachsens zu beklagen. Und wie hat der Zufall, oder, wie das Volk jetzt sagt eine Ahnung Einzelne gerettet, die Andern in den Tod geführt! Etwa fünfzehn Bergleute fuhren an diesem Tage nicht mit an, andere wurden von ihren Frauen beredet, der Arbeit keinen Tag zu entziehen – wie schuldlos sind diese an dem Unglück und wie lastet es nun dennoch auf den Gewissen! Ein junger Mann, der in diesem Schacht schon drei Beinbrüche erlitten, hat auch das große Unglück getheilt, und ein Anderer, der, obwohl krank, durch Daheimbleiben seinen Lohn nicht verkürzen wollte, nahm seine Arzneiflasche mit – zur letzten Schicht.

Denn so ist es nunmehr. Der Menschenkraft trotzt hier spielend mit ihren Kräften die ungeheuere Natur der Tiefe. Die erste Enttäuschung brachte die Wassermasse, welche sich auf der Verstopfungsstelle angesammelt hatte. Sie deutete an, daß die Unglücklichen von jeder Luftverbindung mit oben abgeschnitten seien. Selbst die Rohre des Ventilators fand man durch die Brüche unterbrochen. Da nun die Temperatur in dem tiefen Schacht ohnedies, trotz aller Ventilationsarbeiten, nie unter vierundzwanzig Grad zu bringen war und oft bis auf dreißig Grad stieg, so konnte eine solche Absperrung vom frischen Lebenshauch der Höhe nur im Dienst des Todes stehen. Selbst an labendem Wasser würde es den Verschütteten gefehlt haben, auch wenn Luft ihnen vergönnt gewesen wäre. Einmal gelang es zwar, dem Wasser Abfluß zu verschaffen, aber die Grubendünste, welche aus ihrem Bereiche aufstiegen, waren ebenso wenig hoffnungerweckend, wie die fortwährenden Nachstürze, welche endlich den Lebenden geboten, durch neue Menschenverluste das Unglück nicht noch größer zu machen.

„Die Hoffnung kann man aufgeben, aber die Arbeit nicht!“ Nach diesem Grundsatze ist ein anderer Plan, bis zu den Verschütteten vorzudringen, entworfen und sofort begonnen worden.

Wir müssen den doppelten Umstand voraus bemerken, daß der kühne Steiger Schubart,[WS 2] als er, nach seiner Messung, bis in große Nähe des oberen Querschlags niedergefahren war, wonach ein Niederstürzen der ganzen Verstopfungsmasse in den untersten Schachtraum stattgefunden haben mußte, dennoch kein Lebenszeichen der Verschütteten hervorrufen konnte, trotzdem diese, nach Annahme der Fachmänner, in diesen oberen Querschlag sich nicht nur sämmtlich hätten zusammenfinden können, sondern ohne Zweifel auch dorthin würden geflüchtet haben, und daß endlich spätere Nachforschungen mittels niedergelassener Tonnen den Schacht abermals in der Nähe der dreiundzwanzigsten Bühne verstopft zeigten. Dies Alles sammt den sich mehrenden Nachstürzen bestimmte die nunmehr von der sächsischen Regierung beauftragten Leiter der Rettungsarbeiten im Schacht, die Versuche, vor Allem schnell zu den Verschütteten zu gelangen, aufzugeben und einen zwar langsameren, für die Arbeiter selbst aber weniger gefahrvollen Weg einzuschlagen.

Dieser Beschluß mag hart klingen, vor Allem von den Hinterbliebenen der armen Opfer der Tiefe als niederschmetternde Härte empfunden werden, aber er ist gerechtfertigt durch die Pflicht gegen die Lebenden, sie nicht nutzlos Todesgefahren preiszugeben. Das Wegbleiben der Angehörigen von der Unglücksstelle ist wohl in der Vernichtung ihrer letzten Hoffnung mitbegründet: erst das Auffinden, das Emporziehen der hundert Leichen, wenn sie überhaupt gefunden werden, wird den Schachthügel noch einmal zur Stätte namenlosen Jammers machen.

Man hat beschlossen, zunächst den noch vorhandenen Schachtzimmerbau zu verstärken und das Schachthaus selbst durch mächtige Säulen zu stützen, um es fähig zu machen, die Niederbringung der furchtbaren Lasten auszuhalten, die man ihm nun zumuthen wird. Man will nämlich einen ganzen Eisenschacht in die Tiefe führen, indem man Rohre von starkem Eisenblech, in Einzelstücken von zehn Ellen Länge und einer Elle zwölf Zoll Durchmesser, im Schacht zu Stücken von hundert Ellen Länge zusammenschmiedet und an Drahtseilen hinabläßt, bis man die Tiefe des jetzigen Verfüllungsorts, dreihundertachtundsechszig Ellen, erreicht hat. Dann sollen in diesem Eisenschacht gegen fernere Brüche und Nachstürze des Erdreichs möglichst gesicherte Arbeiter niederfahren und die den Schacht sperrenden Massen zu bewältigen suchen. Zeigt unterhalb der bewältigten Masse der Schacht sich noch gut erhalten, so ist der Zugang zu den Verschütteten geöffnet; ist er auch dort brüchig, so haben die Arbeiten ihr Ende gefunden. Sehr wahrscheinlich ist der ganze untere Schacht bis weit über den oberen Querschlag vollständig ausgefüllt, und dann bleibt nichts übrig, als auch die Leichen nunmehr der Erde zu lassen, den ganzen Schacht zuzufüllen und den Abbau des Kohlenwerks von Neuem zu beginnen.

Das Schachthaus sah ich bereits gestützt und die Zimmerleute am Schachte thätig, gegen hundert Ellen Eisenrohre, für deren rascheste Herstellung Richard Hartmann in Chemnitz seine bekannte Kraft aufbietet, lagen bereits im Hofraum und wurden zusammengenietet. Die Balkenunterlage des Röhrenschachtes wurde in den Schacht befördert. Es sind Arbeiten, die ebenso viel Muth, wie Kraft und Ausdauer in Anspruch nehmen. Und welch’ ein Bild gewährt diese Arbeit! Der ganze Schachthügel mit seinen Gebäuden ist eine Stätte geregeltester Betriebsamkeit. Wüßte man nicht, wozu hier Alles geschieht, man freute sich der schönen industriellen Thätigkeit. Die Directoren und sonstigen „Oberen“ sitzen bald zu Rath in ihrem Comptoirzimmer, bald gehen sie, zu den einzelnen Werkstellen, Alles ruhig und fest, ohne Hast! Zimmerleute und Maurer, Schmiede und Schlosser, alle wie an altgewohnter Arbeit. Nur schweigsamer ist hier Alles, als auf anderen Werkstätten, und nur, wenn der Bergmann, welcher am Eingange zum Schacht sitzt, auf seine Schiefertafel immer neue Erdstürze im Schacht aufzeichnet und wenn mitunter so mächtige Schläge in der Tiefe erschallen, daß oben Boden und Gebälk zittert, blickt Mancher besorgt zur Backsteinmauer des Schachthauses hinauf und fragt: „Wie lang wirst du noch stehen?“ Wer berechnet [464] die seit acht Tagen in die Tiefe gestürzte Masse? Ist die furchtbare Höhle nicht bald groß genug, um, besonders wenn die Tausende von Centnern des Eisenschachts auf sie drücken, Haus und Menschen zu verschlingen? Gott bewahre die braven Männer vor Unglück!

Mag der neue kühne Schacht, wie man hofft, in fünf bis sechs Tagen zum Ziele führen, oder mag das Grab sich geschlossen zeigen, – sicher ist nur Eines: die Ernährer von vierundvierzig Familien sind todt – aber ihre Frauen und Kinder leben und für sie recht mit dem innigsten Mitgefühl des Herzens zu sorgen, ist unser Aller heilige Pflicht! –

Aber auch Das ist nun allgemeine Pflicht, auf die Frage: „Wer trägt die Schuld eines solchen Unglücks?“ mit der Aufzählung von Thatsachen ohne Schonung irgend einer Person zu antworten. Richtet man diese Frage an den Ersten Besten der dort uns Begegnenden, so verfinstert sich sein Blick. „Sehen Sie sich das Ding von außen an, so wissen Sie, wie’s drinnen ausgesehen hat“ – war die Antwort einer Frau auf meine Frage. Ich hatte das verwahrloste Aeußere der Schachtgebäude den anfangs ohne Zweifel sehr stürmischen Rettungsarbeiten zugeschoben; jetzt erfuhr ich, der Volksmund habe die Neufundgrube schon längst als den „liederlichen Schacht“ bezeichnet. Und dennoch haben sich die Bergleute nicht geweigert, noch einen Schritt in diesen Schacht zu thun?

Auf diese Frage antwortete mir ein Bergmann, mit dem ich in der Mittagsstunde unter einem Breterdach vor einem Regenschauer Schutz fand. „Lieber Herr, so fragen Alle, die das Unglück ansehen, aber womit sollen wir unsere Kinder satt machen, wenn wir nichts verdienen? Weigert sich ein Bergmann, einen Schacht zu befahren, so kommt er leicht in den Ruf der Widerspenstigkeit und findet auch in anderen Schachten keine Arbeit. Alle, die jetzt da drunten liegen, hat nur die liebe Noth hinuntergezwungen.“

„Und wie hoch steht sich ein fleißiger Arbeiter?“ fragte ich.

„Wenn er Glück hat, so kann er die Woche fünf Thaler und vielleicht noch ein wenig drüber verdienen, oft werden’s aber auch kaum vier. Wer fünf, sechs Kinder daheim hat, kann Zeiten erleben, wo er kein Stückchen Butter auf’s Brod bringt.“

„War der Schacht wirklich baufällig?“ fragte ich weiter.

„Ja! Das wußte Jedermann. Warum man die Reparatur immer verschoben hat, weiß ich nicht, das nur ist allbekannt, daß ein braver Obersteiger vom Dienst kam, weil er auf die Ausbesserung des Schachtes drang; er liegt, weil er noch vor seinem Abgang im Schacht durch einen Gesteinssturz ‚geschmissen‘ wurde, jetzt krank daheim, aber der sein Nachfolger geworden wäre, liegt todt im Schacht, Gott habe auch ihn selig!“

„Sie meinen den Krüger? Fällt diesem wirklich ein großer Theil der Schuld zur Last?“

„Lieber Herr, wir wollen nicht richten, denn Gott hat gerichtet. Wenn vielleicht nicht die Einrichtung wäre, daß der Steiger von jedem Hund Kohlen zwei und der Director fünf Pfennige erhält, so wäre ihnen eine Arbeitsunterbrechung durch die Reparatur wohl gleichgültiger gewesen. Krüger muß aber wirklich den Schacht nicht für so baufällig gehalten haben, sonst läge er jetzt nicht selber in ihm begraben.“

So spricht der Volksmund. Ueber die nächste Ursache der Katastrophe wurde von competenter Seite mir mitgetheilt, daß Form und Lage der obersten Bruchhöhle, wie man aus den Anschauungen derer schließen müsse, welche an Ort und Stelle fuhren, zu der Vermuthung leite, daß eine Kluft (Spalt) eine mächtige Masse Gesteins gelöst und nun dessen ganzes ungeheures Gewicht gegen die Wandungen der Schachtzimmerung gedrückt habe. Solche Klüfte, in welchen gewöhnlich Wasseradern rinnen, könnten durch den vergangenen sehr nassen Winter außergewöhnlich reiche Wasserzuflüsse erhalten haben und von denselben so ausgewaschen worden sein, daß die Loslösung von der übrigen compacten Felsmasse erfolgte und der Druck gegen die Schachtwände begann, die selbst im gesundesten Zustand ihm dann hätten weichen müssen. Doch ist auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß zwischen der siebenten und zehnten Bühne das Wasser des Gebirgs nicht gehörig dem Kunstgezeuge zugeführt wurde, sondern hinter der Zimmerung abfloß, so daß diese dann auf der Innenseite verfaulte, während sie von außen noch ganz gesund ausgesehen haben kann. Darüber bringt vielleicht die gerichtliche Untersuchung Licht.

Die Presse greift dem Amte des Richters nicht vor, wenn sie dem Publicum das Thatsächliche einfach, wie man es an Ort und Stelle überkommt, mittheilt, anstatt dem Gerücht die Verbreitung allein zu überlassen. Die Strafe ist des Richters Recht; des Volks und seiner Vertreter Sache wird es aber sein, für beruhigenderen gesetzlichen Schutz desjenigen Arbeiters zu sorgen, welcher von allen Erdenloosen das undankbarste gezogen hat.

Das sei eine Arbeit der nächsten Zukunft: der Augenblick aber erfordert Hülfe, Hülfe für vierundvierzig Wittwen und einhundertsiebenunddreißig Waisen! Möge keine glückliche Mutter ihr Kind küssen, kein Weib des Gatten Gruß, keinen Vater des Sohnes Anblick erfreuen, ohne daß sie an den Jammer von Lugau gedenken! Opferstöcke stehen überall, wo der Dank gegen Gott sie sucht.
Fr. Hofmann.




Blätter und Blüthen.


Ein Vorschlag in Güte. Der bekannte amerikanische Dichter Longfellow lebte vor einigen Jahren zu Newport in tiefster Zurückgezogenheit, mit der Abfassung eines neuen poetischen Werkes beschäftigt, das seiner „Evangeline“ in keiner Weise nachstehen sollte. Eines Tages begehrte ein Fremder ziemlich ungestüm, den Dichter zu sprechen, wurde jedoch von dem Dienstmädchen rund abgewiesen. Er wollte sich dies durchaus nicht gefallen lassen, und die Dienerin ging, weil der Unbekannte hartnäckig darauf, bestand, ihren Herrn selbst noch einmal zu fragen, ob er den Mann empfangen wolle, allein der Dichter wünschte durchaus ungestört zu bleiben. Als der Besucher diesen Bescheid erhielt, schob er das Mädchen ohne Weiteres bei Seite und drang in das Studirzimmer des überraschten Dichters ein, der den Eindringling mit finsterer Miene empfing.

„Mr. Longfellow,“ sagte der Letztere, „Sie müssen meine Dreistigkeit entschuldigen, allein mich führt ein Geschäft hierher, welches bei Weitem wichtiger für Sie als für mich ist, und ich komme deswegen extra von Boston aus hierher. Dort existirt nämlich eine große Stiefelwichsfabrik, die Ihnen wohl bekannt sein wird, Sie wissen ja – Warren und Compagnie. Diese Leute halten sich einen Dichter, der ihnen gereimte Annoncen und Etiketten für ihre Wichse verfertigt, und sie machen durch diese Verse sehr gute Geschäfte. Nun müssen Sie wissen, daß ich ebenfalls ein Wichsfabrikant bin, und so dachte ich, wenn wir in Compagnie arbeiteten – Sie lieferten die Reime und ich die Wichse – so könnten wir ein famoses Geschäft machen, noch viel besser als Warren und Compagnie. Sie würden dabei nicht schlecht fahren, sage ich Ihnen – was meinen Sie dazu?“

„Werft ihn hinaus! Werft ihn hinaus!“ rief Longfellow im höchsten Zorn, und so verließ der indiscrete Wichsfabrikant das Zimmer mit noch größerer Eile, als er es betreten hatte, indem er dabei viel von „unpraktischen Menschen, die ihren Vortheil nicht einsehen“, vor sich hin murmelte.




Freiligrath-Dotation.


Bei der Redaction der Gartenlaube gingen ein: O. B. in Cassel 5 Thlr.; einige Bürger beim Gastwirth Foltz in Anneweiler 10 fl. Rh.; einige Schüler des Gymnasiums in Riga (80 Rubel) 72 Thlr. 3 Ngr.; S. in Coburg 1 Thlr.; aus Germersheim am Rhein 2 Thlr.; Liederhalle in Crimmitzschau 10 Thlr.; einige Deutsche in Rouen, durch Wanckel 8 Thlr. und 1 fl. Oestr.; von 5 westfälischen Lehrern nach Lesung des Herbst’schen Artikels gegen Freiligrath 10 Thlr.; Feuer-, Rettungs- und Turnverein in Gleiwitz 3 Thlr. 15 Ngr.; Sammlung durch Dr. Seitz in Jever 6 Thlr. 12 ½ Ngr.; Wagner in Serpuchow (Rußland) 10 Thlr.; A. Z. in Frankfurt a. O. 1 Thlr.; von Freunden des Dichters 1 Thlr. 22¼ Ngr.; C. B. in Weißenfels 2 Thlr.; Bruns in Celle 1 Thlr. 23 Ngr.; Sammlung des Hannover’schen Couriers in Hannover 23 Thlr. 15 Ngr.; Nolan und Faust 1 Thlr. 15 Ngr.; Dr. Br. und Fräulein Br. 3 Thlr.; Sammlung des Wochenblattes in Zwickau 37 Thlr. 10 Ngr.; gesammelt von Mitgliedern des deutschen Vereins Eintracht in Pest-Ofen (129 fl.) 69 Thlr. 8 Ngr.; Hälfte-Ertrag einer Vorlesung von Consistorial-Rath Krause in Weimar über „Frauenadel in Rost’s Ludwig der Eiserne“ 52 Thlr. für die Freiligrath-Dotation, „insbesondere für Frau Freiligrath, unsrer Landsmännin“; 8 Thlr. für 6 Exemplare vom Freiligrath’s Glaubensbekenntniß. – Quittung des Barmer Comités in nächster Nummer.
Die Redaction.




Inhalt: Das Geheimniß der alten Mamsell. Novelle von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Charaktere aus der Thierwelt. 1. Der junge Hund. Von Gebrüder Adolph und Karl Müller. Mit Illustration. – Eine Stunde auf der Berliner Börse – Kaukasische Civilisation. Mit Abbildung. – Tief unter der Erde! Brief aus Lugau. Von Fr. Hofmann. – Blätter und Blüthen: Ein Vorschlag in Güte. – Freiligrath-Dotation.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Prämie kaufen ist ein Geschäft, bei welchem der Käufer durch Vorausbezahlung einer gewissen Summe das Recht erwirbt, an einem bestimmten Tage eine Anzahl Actien zu einem festgestellten Curse zu nehmen: Die Summe ist quasi als Reugeld zu betrachten, wenn die Actien nicht übernommen werden, dafür ist auch kein weiterer Verlust zu decken.
  2. Von dieser englischen Specialität und deren Bedeutung hat man auf dem Festlande keinen Begriff. Ich traf im Jahre 1857 in London einen Schulcameraden, der seit fünfzehn Jahren in der englischen Residenz lebte. Er genoß großes Vertrauen in der Handelswelt und erwarb jährlich fünfzehn bis zwanzigtausend Thaler als Wechselmakler, wobei er etwa für zwei Millionen Thaler Wechsel in Umsatz brachte. Und wohlgemerkt, der Mann nahm nie das Accept von Privatleuten an, ja nicht einmal für Kaufleute (merchants) arbeitete er! Sein Geschäft bestand darin, daß ihm große Banken aus den Landbaudistricten baares Geld zum Placiren, dagegen die Banken aus den Industrie-Districten Wechsel zum Verwerthen sandten. Er meinte, in einigen Jahren würde er wohl fünfzigtausend Thaler jährlich erwerben, – wenn er einmal ganz Makler-Maschine geworden wäre.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. aus der „Zauberflöte“, Text von Emanuel Schikaneder (1751–1812)
  2. vergleiche dazu die Berichtung in Das furchtbare Trauerspiel in Lugau.