Die Gartenlaube (1868)/Heft 13
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No. 13. | 1868. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Marianne wurde bleich, bleicher als das vor ihr liegende Linnen.
Sie stieß einen Schrei der Ueberraschung, des Schreckens aus, sie sank
auf ihre Bank zurück, während ihre Hände schlaff die Strähnen
zu Boden fallen ließen, die sie hielten. Sie hatte Friedrich nicht
an seinen Zügen, nicht an seiner Gestalt erkannt, sie hatte ja
gar nicht zu ihm aufgeblickt; ihr Gewissen sagte ihr, daß er es sei.
„Sie erschrecken ja gewaltig,“ sagte Friedrich gutmüthig lächelnd und leicht die Hand mit einer Bewegung nach seiner Mütze hin aufwerfend.
In einer andern Stimmung hätte er wohl sehr ernst und bitter von dem jungen Mädchen Rechenschaft verlangt. In dem Gefühl von Glück und in den glänzenden Hoffnungen schwelgend, welche ihm gemacht waren, nahm er es leichter und war geneigt, die ganze Sache wie einen schlechten Spaß aufzufassen.
Sie faltete die Hände zusammen, lispelte ein leises „Du gerechter Gott!“ und brach in einen Strom von Thränen aus, die über ihre bleichen Wangen niederrannen, während sie mit einem flehenden Blicke zu dem großen jungen Mann aufsah, der vor ihr stand.
„Nun, weinen Sie nicht!“ sagte dieser, gerührt von der Sprache dieses merkwürdig innigen Blicks, und dabei ließ er sich neben ihr auf die Bank nieder, „ich kam ja nicht, um Ihnen etwas Uebles anzuthun! Sie sind ja,“ setzte er lachend hinzu, „meine Braut, ich wollte nur gern hören, wie das eigentlich zusammenhängt … und dazu komme ich …“
„O mein Gott!“ rief das junge Mädchen noch einmal, „wenn ich nur todt wäre, nur todt und begraben unter dem Rasen läge!“
Friedrich ging es, wie so manchem Manne, der in der Absicht auszieht, einer Frau eine gerechte Vorhaltung zu machen, und bald inne wird, daß sich die Sachen umgekehrt verhalten, daß er die Vorwürfe verdient und daß ihm die Rolle des Beschwichtigens und Entschuldigens zukommt. Er ergriff eine der Hände, welche Marianne wie im tiefsten Leid, in grenzenloser Beschämung vor ihr Gesicht geschlagen hatte, und sagte:
„Seien Sie doch nicht so außer sich, Marianne … weshalb versündigen Sie sich denn mit solchen Reden? Sehen Sie, ich kann mir ja Alles denken und messe Ihnen ja keine Schuld bei. Ihr Vater und der Doctor Rostmeyer haben zusammen ein kleines Complot geschmiedet … ist’s nicht so? … Ihr Vater hat dabei einen wunderlichen Hintergedanken gehabt und hat ihn zu früh ausgeschwatzt, und so ist’s in aller Leute Mund gekommen … und das Unglück ist ja so gar groß auch nicht … was die Leute schwatzen, thut uns Beiden weiter nicht weh …“
„O nein, nein, nein!“ brach hier Marianne leidenschaftlich aus … „so ist es ja nicht, so ist es nicht, ich habe alle, alle Schuld ganz allein, und Sie können nicht anders als mich auf’s Tiefste verachten … ich … ich … aber wenn Sie wüßten, wie es kam … wie es mir abgepreßt wurde …“
„Nun,“ fuhr Friedrich fort, „so erzählen Sie mir es, wie es kam, hübsch ruhig und ordentlich; wahrhaftig: es ist so vieler Thränen nicht werth … fassen Sie sich, Marianne, erzählen Sie mir, ich schwöre Ihnen, daß ich Sie nicht verachten werde!“
„Ja, ich will es Ihnen erzählen … Alles … Alles … Sehen Sie,“ sagte Marianne von Schluchzen unterbrochen, „der Vater bedarf einer Frau für den Hof und die Wirthschaft, und er hat auch die Anna vom Kamphofe gern und sie mag ihn auch, aber sie wollte ihn nicht nehmen, so lange ich unversorgt auf dem Hofe sei, sie denkt, eine Stiefmutter und eine Tochter von gleichem Alter, das thue nicht gut; und der Vater wurde verstört und unglücklich darüber und drängte mich, und ich konnte mich doch nicht entschließen, unter denen, die mich zur Frau begehrten, einen zu wählen, und neulich, wo der Vater wieder davon anfing und mich ganz außer mich brachte vor Verdruß und Pein darüber, da dacht’ ich, du sollst ihn nur erst einmal beruhigen und ihm sagen, du seiest verlobt und werdest der Stiefmutter Platz machen, dann hat er doch seinen Frieden. Und da sagt’ ich ihm, ich sei verlobt, ich dacht’, in den nächsten Tagen werd’ ich’s ja doch sein und mir ein Herz fassen und dem Raffelsberger oder dem Erdmann oder dem Wallfurth mein Wort geben … aber damit war er nicht zufrieden, und ich sollt’ durchaus sagen, mit wem, und ich wußt’ doch keinen zu nennen, und da nannt’ ich in meinem sündhaften Leichtsinn Ihren Namen, weil ich Jemand nennen mußte und zwar Einen, der es nie erfahren würde, der recht weit war und niemals in’s Dorf kommen würde … und da wußt’ ich Niemand anders aus der ganzen Gegend als Sie … und so verführte mich der böse Feind, und ich nannte Sie!“
„So, so, so …“ sagte Friedrich begütigend … „so ist es gekommen? Nun, das Verbrechen ist ja am Ende so groß nicht …“
„Aber ich beschwor den Vater,“ fuhr Marianne hastig fort, „keiner Menschenseele ein Wort davon zu sagen … er versprach es mir auch, doch in dem Eifer um seine Anna ging er noch denselben Abend zum Advocaten, um wegen der Abschichtung mit ihm zu reden, und am andern Morgen wußte schon die Großmagd von ihm, was ich gesagt, und den Abend ging er zum Vater Tillmann und … mit einem Worte am verwichenen Sonntage [194] schon wußte es das ganze Dorf, zusammt der Bauernschaft! Da half nur nun nicht mehr, daß ich dem Vater sagte: ,ich hab’s ja nur so dahin gesagt, ich kenne den Friedrich ja gar nicht und habe mein Leben nicht an ihn gedacht, ich will ja auch den Raffelsberg oder den Erdmann oder den Wallfurth nehmen, welchen Ihr wollt, sagt nur selber, welcher es sein soll, es ist mir just Alles Eins’ – er fuhr mich an, ganz roth vor Zorn im Gesicht: ,jetzt leugnest Du’s ab,’ schrie er, ,just, wo ich Dir gesagt hab’, daß der Friedrich ein Baron ist, Du denkst, jetzt läßt er Dich sitzen, und Du willst die Schande und den Spott darüber nicht haben – nichts, sag’ ich Dir, komm’ mir wieder mit dem Raffelsberg oder Wallfurth, und Du sollst sehen, was ich thu’! Der Friedrich wird schon Fuß beim Male halten – er soll, sag’ ich Dir’? So fuhr er mich an, und ich hab’s müssen aufgeben, ihn und die Leute zur Vernunft zu bringen … sie sind einmal alle wie toll! Und nun wissen Sie Alles, und wenn Sie’s mir vergeben können, so dank’ ich Ihnen aus Herzensgrunde, aber ich, ich kann’s mir Zeitlebens nicht vergeben!“
„Liebe Marianne,“ sagte Friedrich gerührt, nachdem er eine Weile schweigend das voll bitterer Verzweiflung die Hände zusammenfaltende junge Mädchen angesehen – „zu verzeihen ist da nicht viel … es ist am Ende mehr Unglück für Sie als für mich dabei … aber so fürchterlich ist das Unglück auch nicht, daß Sie so verzweifelt darüber zu sein brauchen. Ich denke, wir gehen ruhig jeder unseres Weges und lassen die Leute schwatzen … endlich müssen sie doch aufhören zu schwatzen …“
Marianne nickte weinend mit dem Kopfe.
„Es ist das Einzige, was wir thun können,“ sagte sie.
„Ich könnte auch mit Ihrem Vater ein offenes Wort reden,“ fuhr Friedrich nach einer Pause fort.
„Das könnten Sie,“ sagte Marianne, „ich will gern das Unwetter aushalten, welches dann über mich käme!“
„Ja so – daran dacht’ ich nicht!“ fiel Friedrich ein. „Das sollen Sie nicht! Es ist also nichts zu thun, als daß jeder von uns ruhig seines Weges geht …“
„Es ist das Beste!“ sagte Marianne.
Friedrich wurde nun durch nichts mehr davon abgehalten, diesen weisen Entschluß sofort auszuführen, und doch schien er keine Lust zu haben, seines Weges zu gehen. Er sah wieder auf Marianne; er redete nicht, aber er suchte offenbar ihr Auge.
Aber sie vermied seinem Blicke zu begegnen; sie starrte wie noch immer rathlos aus das Gras des Rasens vor ihr.
„Marianne!“ sagte er nach einer Weile. Sie sah flüchtig fragend nach ihm auf.
„Ich weiß noch recht gut, wie wir zusammen als Schulkinder in die Kirche gingen.“
Marianne nickte mit dem Kopfe; sie schien dieser Thatsache kein großes Gewicht beizumessen.
„Sie waren die Hübscheste in der ganzen Mädchenschule.“
Marianne seufzte blos.
„Sie sind seitdem noch viel hübscher geworden … ich hätte nicht gedacht, daß es ein so hübsches Mädchen in der Welt gäbe.“
Sie fuhr zusammen und sah ihn mit einem ernsten, schwermüthigen Blick an.
„Sie vergeben mir also?“ sagte sie; „und wir müssen nun jeder seines Weges gehen; es darf uns auch kein Menschenauge je zusammen erblicken!“
„Nein, niemals!“ antwortete Friedrich. „Und ich muß jetzt gehen. Ich gehe jetzt auch schon. Und … Marianne … um’s gerade heraus zu sagen … ich merke jetzt erst, daß Sie doch etwas recht Schlimmes angestiftet haben … wär’s nicht deswegen, so dürft’ ich jetzt hier bleiben und ruhig mit Ihnen plaudern und vielleicht auch morgen wiederkommen …“
„Ach ja, ach ja, es ist eine böse Sache,“ seufzte Marianne, ohne ganz zu wissen, was sie sagte; „aber jetzt müssen Sie gehen, der Vater könnt’ erwachen und kommen …“
Friedrich erhob sich und reichte ihr die Hand; sie nahm sie und sah ihn mit ihren feuchten Augen seelenvoll und innig an.
„Ich danke Ihnen aus Herzensgrunde, daß Sie so gut sind, ein gar so guter Mensch und mir so vergeben haben … Leben Sie wohl … Gott sei mit Ihnen!“
Friedrich hielt die Hand und sah in die Augen Mariannens und blickte dabei so seltsam, so nachdenklich … was er dachte, mußte ihn’ ganz vergessen lassen, daß man eine Hand nur nimmt, um sie nach einem herzlichen Druck wieder fahren zu lassen. Er hielt Mariannens Hand fest in der seinen.
Sie entzog sie ihm.
„Adieu, Herr Friedrich!“ sagte sie mit einem Tone, in dem die Rührung zitterte.
„Adieu, Marianne!“ antwortete er, wandte sich und ging.
Als er die Hausecke erreicht hatte, kehrte er plötzlich zurück.
„Marianne,“ sagte er mit einem schüchtern leisen Ton … „mir ist eben etwas eingefallen!“
„Und was, Herr Friedrich?“
„Wir könnten auch etwas Anderes thun.“
„Was denn?“
„Wir könnten auch den Leuten, welche durchaus wollen, daß wir verlobt seien, und so viel Geschwätz darüber machen, sagen: ,Nun ja, in Gottes Namen, wir sind es!’“
„Aber,“ antwortete Marianne, „dann gäben sie uns ja nie Ruhe mit ihren Fragen, mit ihrem Gerede!“
„Ruhe … ach, sie würden uns schon Ruhe geben, wenn sie erst sähen, daß es wirklich an dem sei, daß …“
Marianne wurde purpurroth.
„O mein Gott!“ rief sie aus, „was denken Sie?“
„Sie gefallen mir so, Marianne,“ fuhr Friedrich fort, „mehr als mir je ein Mädchen in der Welt gefallen hat, je eins wieder gefallen kann … und ich … ich glaube, ich bin ein ehrlicher Kerl, auf den eine Frau bauen kann … und unser Auskommen hätten wir auch; Doctor Rostmeyer sagt wenigstens, daß mir Alles …“
„O hören Sie auf, hören Sie auf,“, rief jetzt Marianne aus, „o nimmermehr, lieber ging’ ich in den Tod, als jetzt, jetzt Sie nehmen!“
„Marianne,“ sagte Friedrich mit bebender Lippe und erbleichend … „ist das Ihr Ernst?“
„Nimmermehr, nimmermehr!“ schrie sie wie ganz entsetzt auf, schlug die Hände vor’s Gesicht und rannte davon.
Friedrich stand wie angewurzelt und starrte ihr nach.
„Sieh,“ murmelte er endlich, tief Athem holend, „da hab ich einen Korb bekommen! Pfui Teufel!“
Friedrich war für seine Leute der nachsichtigste und gutmüthigste Vorgesetzte, den es geben konnte, aber hätte er heute seinen Zug bei den leichten vierpfündigen Hinterladern zu exerciren gehabt, sie hätten ihn nicht wiedererkannt. Er war zornig, er war erbittert, er war grenzenlos niedergeschlagen, er war schwermüthig, daß er hätte weinen mögen … er hatte sich vollständig verliebt in Marianne während der Unterredung mit ihr; jetzt, wo sie ihn ausgeschlagen, wo sie ihm wie etwas Unerreichbares vor Augen stand, liebte er sie leidenschaftlich und das Leben schien ihm keinen Werth zu haben ohne sie.
Und sie hatte ihn so gründlich, so entschieden, so hoffnungslos ausgeschlagen; so beleidigend, so heftig sogar … „lieber in den Tod!“ hatte sie ausgerufen … das wäre doch wenigstens nicht nöthig gewesen, sagte sich Friedrich gedemüthigt und empört. Ich muß ihr wohl gründlich mißfallen haben, setzte er hinzu. Ich wollte lieber, ich hätte ein Bein gebrochen, bevor ich in dies verzweifelte Dorf zurückgekommen … der Teufel hole die Baronschaft … kann ich sie mir jetzt noch mit Ehren von diesem Bauer Herbot mit seinen tausend Thalern einkaufen lassen? Jetzt, wo mir seine Tochter einen Korb gegeben hat … nimmermehr! Und was soll ich nun machen? … soll ich einfach nach Hause gehen und den Unterofficier spielen wie vorher und dem Hauptmann Alles verschweigen? … Aber halt, da kommt mir ein Gedanke …
Der Gedanke, welcher Friedrich gekommen, war einfach der, daß ja der Hauptmann jetzt nicht mehr blos sein Vorgesetzter sei, sondern sein Bruder. Er hatte einen Bruder, … und den Bruder konnte er zur Hülfe rufen!
Als er in seinem Wirthshause wieder angekommen, forderte er Schreibzeug und setzte in einer sehr schönen, wie eine Vorschrift aussehenden Handschrift folgenden Brief auf:
[195] „Geehrter Herr Hauptmann!
Sie haben uns oft gesagt, der Hauptmann sei der Vater, wie der Oberfeuerwerker die Mutter der reitenden Batterie. Dies giebt mir den Muth, mich an Sie zu wenden. Ich bin hier in eine verwickelte Sache gerathen, worin ich einer väterlichen Hülfe bedarf; sie ist sehr verwickelt und betrifft auch Sie … so sehr, daß es nicht sträfliche Insubordination von mir ist, wenn ich Sie inständig bitte: kommen Sie hierher und sehen selbst, was zu thun ist, und besprechen es mit Frau von Thorbach, denn Frau von Thorbach ist Ihre Feindin nicht, es ist auf Ehre ein Irrthum von Ihnen, Herr Hauptmann; sie wird, denk’ ich, nichts lieber thun, als es Ihnen mündlich selber sagen.
Als der Hauptmann diesen Brief erhielt, mußte er dies Schriftstück, diese respectwidrige Aufforderung zum Kommen, gerichtet von einem Unterofficier an seinen vorgesetzten Officier, zu ungewöhnlich finden, um nicht sofort daraufhin ebenfalls einen Urlaub zu nehmen und sich auf die Reise zu machen, um die Veranlassung zu ergründen.
Er langte früher noch bei Friedrich an, als dieser erwartet hatte, d. h. er langte am Wirthshause Friedrich’s an, denn dieser war, als der Hauptmann eintraf, nicht daheim. Friedrich war in der Zeit, nachdem er seinen Brief abgesendet, wenig daheim gewesen. Wo er war, wußte Niemand; einmal war er bei dem Anwalt gewesen, um dem Doctor Rostmeyer auf’s Entschiedenste zu verbieten, das Geld des Bauern Herbot anzunehmen und überhaupt irgend etwas zu thun, bevor der Hauptmann angekommen sei. Der Doctor Rostmeyer war so unwillig darüber geworden, daß er Friedrich fast die Thür gewiesen hätte, Friedrich aber war gegangen, ohne ein Wort von dem, was er gesagt, zurückzunehmen. Wo er jedoch in den übrigen Stunden des Tages steckte, wußte Niemand; vielleicht hatte Marianne allein eine Ahnung davon - sie hatte um die Nachmittagsstunde am Saume des Gehölzes jenseits des Baches und der Wiesen eine dunkle Uniform auftauchen sehen … zu ihrem großen Schrecken und Entsetzen . : . sie war ängstlich in’s Haus gegangen … und doch, so widerspruchvoll ist das menschliche Herz … doch war sie um die nächste Nachmittagsstunde wieder, und zwar allein, mit ihrer Arbeit zu der Bank hinter dem Hause gegangen, wo sie die Wiesen und den Wald übersehen konnte.
Da der Hauptmann von Mechtelbeck Friedrich nicht fand und Mutter Tillmann, welche allein zu Hause war, auch nicht geneigt schien, die Gewähr zu übernehmen, daß er bald heimkehren werde, so entschloß sich der Officier mit kühnem Muth, zum Schlosse zu gehen und sich bei Frau von Thorbach melden zu lassen, wenn anders Friedrich nicht in der Zeit komme, welche der Hauptmann bedurfte, sich umzukleiden. Friedrich kam nicht, und eine halbe Stunde später sah der Hauptmann Schloß Stromeck vor sich.
Er hatte die kurze Wanderung allerdings mit kühnem Muth angetreten, aber er fühlte ihn entschwinden, als er in den Salon der gnädigen Frau geführt wurde und er Aug’ in Auge dem Feinde oder besser der Feindin gegenüberstand. Das war nicht zu verwundern, denn Frau von Thorbach unterließ nichts, ihm den Muth von vornherein zu nehmen; sie war so merkwürdig beflissen, ihn gleich bei seinem Eintreten aus der Fassung zu bringen. Sie war aufgesprungen, sie hatte sich dann ebenso schnell wieder gesetzt, als ob sie bereue, mit dem Aufstehen ihm zu viel Ehre angethan zu haben, sie war bleich geworden und wieder roth, während ihr Schooßhund ein fürchterliches Gebell machte, welches sie sich gar nicht die Mühe nahm, zu beschwichtigen. Und währenddeß hatte sie ein paar Worte gesagt, so leise, daß der Hauptmann sie gar nicht verstanden.
„Gnädige Frau,“ stotterte er und griff dann krampfhaft nach der Lehne eines Stuhles, da ihm war, als ob sie mit der Hand eine einladende Bewegung nach demselben hin gemacht. „Sie müssen mir zu Gnaden halten, daß ich es wage,“ fuhr er fort, „ich habe von einem meiner Untergebenen, dem Unteroffizier Friedrich, eine Meldung erhalten, die mich veranlaßt … es ist das erste Mal, daß ich Haus Stromeck betrete … obwohl wir eigentlich sehr nahe Nachbarn sind…“
Frau von Thorbach hatte sich unterdeß so weit gefaßt, um die große Verlegenheit bemerken zu können, mit welcher der Hauptmann sprach. Dies gab ihr ihre Geistesgegenwart wieder, und während ihr feines, hübsches Gesicht seine gewöhnliche rosige Färbung wiederbekam, um doch wieder rasch eine dunklere anzunehmen, antwortete sie mit ruhigem Tone:
„Ich höre zu meiner Verwunderung, daß Sie an diese Nachbarschaft erinnern, Herr von Mechtelbeck. Als ich den Winter in der Stadt war, schienen Sie diese ganz vergessen zu haben…“
„Vergessen?“ rief er aus, „ach nein, ich erinnere mich ihrer zu wohl und auch der unglücklichen Verhältnisse, die mir den Muth raubten, mich Ihnen vorstellen zu lassen … ich würde auch heute nicht kühner sein, wenn der bravste Mann unter meinen Leuten mich nicht um meinen Beistand angefleht hätte … und so komme ich, gnädige Frau, Sie um die Mittheilung dessen zu bitten, um was es sich eigentlich handelt, der Friedrich verweist mich in seinem Briefe an Sie …“
„An mich?“ rief Frau von Thorbach aus und wurde plötzlich wieder bleich … sie sollte dem Hauptmann von Mechtelbeck, der sie für seine Feindin hielt, auseinandersetzen, wie sie mit ihrem Rechtsanwalt in einem Complote sei, um ihn seines Erbes zu Gunsten Friedrich’s zu berauben? … Wie ein Stein fiel ihr das auf die Seele … sie konnte unmöglich dem Manne ihr gegenüber solche Eröffnungen machen, es war etwas in ihrem Herzen, was es ihr furchtbar erscheinen ließ, und erschrocken fuhr sie fort: „Um Alles in der Welt willen, verlangen Sie das nicht von mir … ich versichere Sie nur, ich bitte Sie bei Allem, was Ihnen heilig ist, mir zu glauben, daß diese ganze Geschichte auch nicht im Mindesten von mir angerührt ist, daß sie mich nichts angeht … mir war Alles, Alles völlig fremd … o mein Gott, woher soll ich Worte nehmen, Ihnen die Ueberzeugung zu geben …“
Der Hauptmann blickte mit der äußersten Ueberraschung die plötzlich in solche Aufregung gerathende Frau an, deren Wesen ihm völlig räthselhaft war, aber er sah, daß ihr namenlos viel daran gelegen schien, sich wegen irgend etwas in seinen Augen zu rechtfertigen, und dies erfüllte ihn mit einer großen und nicht zu beschreibenden Freude.
„Gnädige Frau,“ rief er mit großer Wärme aus, „ich begreife durchaus nicht, was für Verhältnisse es sind, von denen Sie reden, allein ich kann Ihnen die Beruhigung geben, daß ein Wort von Ihnen mir genügt, Alles zu glauben, was Sie verlangen, daß ich glauben soll; ich schwöre Ihnen, daß keine Lippe auf Erden ist, auf deren Wort ich fester, rückhaltloser und unbedingter baue, als die Ihrigen … Sie thun mir weh, wenn Sie glauben, daß es besonderer Versicherungen bedürfe…“
„Aber, mein Gott,“ unterbrach ihn Frau von Thorbach, ohne ihrer Erregung Meister werden zu können, „Sie ahnen ja nicht, wovon es sich handelt, Sie glauben, ich sei Ihre Feindin …“
„O, halten Sie ein … nein, nein, nein, ich glaube es nicht mehr … und lassen Sie es mich aussprechen, eine ganze Fülle von Glück überfluthet mich bei der Ueberzeugung, daß ich ein Thor war, es zu glauben, daß ich unter dem Eindrucke alter aus meinen Knabenjahren mit herübergenommener Vorstellungen blieb, die mein verstorbener Vater in mir geweckt hatte, auch da noch blieb, als ich Sie sah, Sie, so gütig, so himmlisch gütig blickend und mit Ihren Blicken voll Engelshuld Alle beglückend, von denen ich Sie umringt zu sehen pflegte …“
Frau von Thorbach’s Erregung legte sich bei diesen Worten ihres Gegenüber, aber ihre frühere Befangenheit schien wieder über sie zu kommen, obwohl sie zu lächeln und in leichtem Tone zu antworten versuchte:
„Ich glaube doch nicht, Sie immer besonders gütig angesehen zu haben, wenn ich Ihnen in Gesellschaften begegnete, Herr von Mechtelbeck. Ich war Ihnen oft wenigstens bitterböse, daß Sie so geflissentlich die Pflichten versäumten, welche Sie gegen eine so nahe Nachbarin hatten.“
„Freilich, darin muß ich Ihnen Recht geben,“ erwiderte der Hauptmann, „und das war es ja eben, was mich glauben ließ, mein Vater habe Recht gehabt mit seinen Hindeutungen auf eine alte Blutsfeindschaft zwischen unseren Familien …“
„Eine alte Blutsfeindschaft … das ist mir neu, völlig neu,“ rief Frau von Thorbach aus, „mein Vater hat nie auch nur mit einer Silbe darauf hingedeutet … aber Ihr Vater …“
Sie stockte plötzlich.
„Mein Vater? … vollenden Sie.“
[196] Frau von Thorbach blickte schweigend zu Boden.
„Ich kann nicht vollenden,“ sagte sie dann.
„O wohl, dann keine Silbe weiter davon. So bitter die Vorwürfe sind, welche ich mir in diesem Augenblicke über meine grenzenlose Thorheit mache, so glücklich bin ich in diesem selben Augenblick auch, sie mir machen zu können … und kein Wort von Ihnen könnte dies Glück steigern, noch es verringern, ich habe Sie von dem ersten Augenblicke an, wo ich Sie sah, zu sehr, zu enthusiastisch bewundert, zu leidenschaftlich an Ihrem Bilde gehangen, zu unausgesetzt dies Bild in meiner Seele getragen, als daß es mich nicht namenlos glücklich machen sollte …“
Der Hauptmann wurde in der schwungreichen Liebeserklärung, zu der ihn sein Gefühl unbezwinglich hinriß, plötzlich unterbrochen.
Die Thür öffnete sich, und die Zofe mit den Korkzieherlocken trat auf die Schwelle.
„Der Herr Friedrich!“ sagte sie meldend.
Frau von Thorbach schien in hohem Grade erleichtert aufzuathmen.
„Ganz recht,“ sagte sie, „führ’ ihn ein.“
Der Hauptmann hatte einen sehr zornigen Blick auf die störende Zofe geworfen; die junge Frau starrte mit einem Antlitz, aus dem wieder die Farbe gewichen, die Thür an, als ob sie auf das Eintreten Friedrich’s im höchsten Grade gespannt sei.
Friedrich kam, mit bewegten Zügen, mit geröthetem Gesichte.
„Ich hörte im Wirthshause, daß Sie gekommen seien, Herr Hauptmann,“ rief er aus, „und eilte hierher – in größter Unruhe, in halber Verzweiflung. Zürnen Sie mir nicht … es ist eine unselige Sache … ich bin nicht schuld daran … wahrhaftig, ich bin nicht schuld daran … ich gäbe ein paar Jahre meines Lebens darum, hätte ich nichts damit zu schaffen, wär’ ich nie in dies Dorf zurückgekommen … und für Sie muß es doch ganz niederschmetternd, ganz entsetzlich sein … ich bin außer mir darüber, seit ich mich so recht in Ihre Lage versetzt habe.“
„Aber, mein Gott, was hast Du denn, Friedrich?“ sagte der Hauptmann äußerst überrascht und erschrocken über die ungeheuchelte Verzweiflung, welche sich in Friedrich’s Worten und in seinem ganzen Wesen kundgab, und zugleich daran denkend, daß ihn auch Frau von Thorbach mit diesen seltsamen Unschuldsbetheuerungen empfangen habe.
„Was ich habe? … Aber haben Sie’s denn von der gnädigen Frau noch nicht gehört … daß … daß die gnädige Frau und ihr Advocat ein vollständiges Complot geschmiedet haben, daß man Ihnen alles Ihrige, Ihr Gut nehmen will … um es mir zu geben?“
„Ah bah!“ rief der Hauptmann aus, bald auf den Unterofficier, bald auf Frau von Thorbach blickend … „Du bist wohl wahnsinnig geworden?“
„Fast,“ sagte Friedrich mit lakonischer Bitterkeit … „es wär’ auch kein Wunder.“
Dabei warf er sich, ohne eine Einladung abzuwarten, in einen Sessel.
„Aber so rede doch weiter,“ fuhr der Hauptmann fort.
Friedrich schüttelte melancholisch den Kopf.
„Es ist mir lieber, wenn’s Andere Ihnen sagen,“ sagte er, „ich mag’s nicht.“
„So viel seh’ ich, die Subordination scheint Dir wunderbar schnell hier abhanden gekommen,“ bemerkte der Hauptmann noch immer höchst gespannt von ihm in die Züge der Frau blickend.
„Ich sehe,“ sagte diese in großer Erregung, „ich muß das Wort nehmen und Ihnen Alles erklären, Herr von Mechtelbeck. So hören Sie, um was es sich handelt.“
Frau von Thorbach begann nun dem Hauptmann den Stand der Sache mitzutheilen, so gut sie als Frau es konnte; sie umging den eigentlichen Grund der Handlungsweise des alten Barons Mechtelbeck klar zu legen; sie hielt sich an die Thatsachen, an das, was sie über die Geständnisse der Hebamme und die Mitwissenschaft ihres alten Jägers wußte.
Der Hauptmann hatte sie groß und mehr mit dem Ausdrucke der Zerstreutheit als der Spannung angesehen; er hatte Frau von Thorbach, während sie redete, mit keiner Silbe unterbrochen.
Als sie geendet hatte, sprang Friedrich auf.
„Und nun sag’ ich Ihnen,“ rief er aus, „daß die ganze unselige Geschichte umsonst aufgerührt ist. Das Gewicht von dem ganzen Uhrwerk, welches in Gang gesetzt werden soll, wie Rostmeyer sich ausdrückt, habe ich von mir geschleudert, ich habe dem Advocaten verboten, irgend einen weitern Schritt zu thun. Mir ist die Welt vollständig verleidet, und ich kümmere mich nicht im Mindesten darum, ob ich ein ausgesetzter Freiherrn- oder ein Taglöhner-Sohn bin …“
Auch der Hauptmann erhob sich.
„Das kann nichts entscheiden, Friedrich,“ sagte er sehr ernst und fast gebieterisch. „Was wir in diesem Augenblick empfinden, kann nicht maßgebend für unser Handeln sein, und ob wir mehr oder weniger niedergeschmettert sind durch diese Thatsachen, darauf kommt es nicht an. Auch nicht auf die Befehle, welche Du Deinem Anwalt gegeben haben magst, denn ich sehe nicht ein, wozu überhaupt hierbei ein Anwalt nöthig ist. Nach dem, was ich gehört, gebe ich ohne Zögern die Erklärung ab, daß ich an der Wahrheit von dem Allen, was Frau von Thorbach mir eben eröffnete, nicht zweifle, Dich als meinen älteren Bruder anerkenne und Deinem Erstgeburtsrecht bereitwillig sofort Alles hingebe, was nicht mir, sondern Dir zukommt. Ich thue dies mit dem Gefühl, daß ich dabei gewinne, weil ich, der bisher im Leben so ziemlich allein stand, einen Bruder finde … ich kenne Dich lange genug, um zu wissen, was ich an diesem Bruder finden werde, ein echtes, treues, warmes Bruderherz, wie ich es für Dich haben werde.“
Friedrich stand wie eine Statue vor dem Hauptmann, während dieser in größter Bewegung und ihm die Hand entgegenstreckend die schlichten Worte sprach, deren Ton verrieth, wie sehr sie ihm aus der Seele kamen. Nicht mehr Verdruß und Kummer blickte aus Friedrich’s Zügen heraus, sondern seine Augen schauten feucht, mit einem Ausdruck unendlicher Gutmüthigkeit und Hingabe in die Augen des Hauptmanns. Mit zitternder Lippe sagte er jetzt:
„Herr Hauptmann, Sie … Bruder, Du bist der bravste, edelste …“
Er konnte nicht weiter, die Thränen strömten ihm über die Wangen, und die beiden Brüder lagen sich in den Armen.
Auch Frau von Thorbach war von der Scene zu Thränen gerührt; sie war an’s Fenster getreten, um diese Thränen zu verbergen, ihr Tuch vor den Augen … Friedrich sah es, und sich aus dem Arme seines Bruders lösend, rief er mit seiner brüsken Gutmüthigkeit:
„Ach, ich möchte Dir noch mehr geben als blos einen Bruder in dieser Stunde … Frau von Thorbach, wenn ich nun einmal der Bruder bin, so darf ich auch für den Bruder sprechen … ich weiß, daß er Sie …“
„Friedrich, was thust Du?“ unterbrach der Hauptmann ihn in hohem Grade erschrocken und einen Schritt vortretend, wie um sich zwischen ihn und die junge Frau zu stellen.
Diese wandte sich eben so rasch – mit hochgeröthetem Gesicht, durch ihre Thränen lächelnd, sagte sie, dem Hauptmann ihre Hand entgegenstreckend, zu Friedrich:
„Glauben Sie denn, es sei nöthig, daß Jemand für ihn bei mir spreche? Viel eher hätte ich Jemand nöthig, der für mich das Wort spräche, das so schwer für eine Frau auszusprechen ist … doppelt schwer nach … so langer böser Erbfeindschaft.“
Der Hauptmann blickte sie an, keines Wortes mächtig; dann ließ er sich auf ein Knie vor ihr nieder, zog die Hand, die sie ihm gereicht hatte, an seine Lippen und sagte selig zu ihr aufblickend:
„Sind denn Worte nöthig? Das wäre grausam für mich, denn ich finde keine.“
In der Nachmittagsstunde, als der Bauer Herbot mit seiner Tochter und seinem Gesinde eben vom Kaffee aufgestanden waren, wurde die Ruhe des stillen Hofes plötzlich durch einen leichten Charabanc gestört, der mit zwei hübschen Eisenschimmeln in Zuckergeschirr bespannt vor der großen Tennenthür hielt und von dem Frau von Thorbach und der Hauptmann von Mechtelbeck stiegen.
Der Bauer ging ihnen entgegen, Marianne folgte zaghaft einige Schritte hinter ihm, um den Besuch ihrer Gönnerin zu empfangen – als sie sah, daß Frau von Thorbach sich, wie sie die Tenne herabkam, beim Gehen auf den Arm eines Mannes in einer Uniform stützte, schoß ihr plötzlich alles Blut zum Herzen zurück – aber nur für einen Augenblick … sie sah bald, daß ihr Erschrecken ohne Grund gewesen. Frau von Thorbach kam ihr lebhaft entgegen.
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[198] „Ich komme, Dir meinen Bräutigam vorzustellen, Marianne!“ sagte sie mit großer Herzlichkeit.
„Ach,“ rief Marianne, auf den stattlichen Officier blickend, „das ist eine Ueberraschung … und wie gut und lieb ist es, daß Sie so an mich denken und selbst zu uns kommen; wie gerührt bin ich, daß Sie so gut sind …“
„Gerührt darüber brauchst Du nicht zu sein, Marianne,“ antwortete Frau von Thorbach, mit dem jungen Mädchen die Küche durchschreitend und dem Hauptmann überlassend, sich mit dem Bauern in ein Zwiegespräch zu verstricken – „Du brauchst mir nicht dafür zu danken; es ist umgekehrt, ich muß Dir danken, denn mein Glück ist ganz allein Dein Werk!“
„Mein Werk? Sie scherzen, gnädige Frau!“
„Nicht im Mindesten …“
„Aber wie käme ich dazu, Theil zu haben an …“
„Ja, wie kamst Du dazu? Du sprachst ein Wort, ein einziges, noch dazu unwahres Wort, und dies eine Wort war wie ein Zauber, der Geister beschwor und schlummernde Dinge weckte und in Bewegung setzte … es ist die merkwürdigste Verkettung, die sich denken läßt, und am Ende dieser Kette, als zwei glücklich verbundene Glieder, siehst Du uns, meinen Bräutigam und mich - aber was sage ich, was spreche ich von einem Ende – eine ordentlich geschlossene Kette darf kein Ende haben, das Ende muß sich wieder an den Anfang schließen, und deshalb komme ich zu Dir … wie Du das erste Worte gesprochen, mußt Du auch das letzte sprechen, damit dieser wunderliche Roman seinen Abschluß erhalte … deshalb eben komme ich zu Dir und gehe nicht, bis Du das Wort gesprochen … aber setzen wir uns irgendwo, wo wir ungestört plaudern können.“
Marianne führte die gnädige Frau quer durch die Küche und die offenstehende Seitenthür zu der Bank hinter dem Hause.
„Hier sind wir ganz allein!“ sagte sie leise und sehr beklommen.
„Sag’ mir, Marianne,“ begann hier Frau von Thorbach, „weshalb schlägst Du die Hand Friedrich’s aus, der jetzt ein vornehmer und reicher Herr ist und …“
„Ach, das ist es gerade,“ rief Marianne erbleichend aus, „es ist ja gar nicht möglich - alle Welt würde ja sagen, ich hätte mit meinem Vater zusammen eine ganz schändliche, ganz abscheuliche, ganz elende Speculation gemacht, um ihn zu bekommen!“
„Also, das ist’s allein? Du hast sonst nichts wider ihn?“
„Was sollt’ ich wider ihn haben? Er ist so gut … er war so sanft und so gut gegen mich, wie ich gar nicht verdiente, gar nicht glaubte, daß ein Mann sein könnte …“
„Und wenn ich Dir nun sage, daß er Dich leidenschaftlich liebt, daß er bodenlos unglücklich und wie ganz zerschlagen ist, weil Du seine Hand zurückgewiesen hast; daß er darüber an die Veränderung seiner Lage gar nicht denkt und allem Gefühl von Glück unzugänglich ist, welches ein Anderer an seiner Stelle empfinden würde …“
„Gerechter Gott … das … das ist mir schrecklich, ganz schrecklich … aber ich kann doch nicht anders!“ brachte Marianne mühsam hervor.
„Wenn Du mehr an das denkst, was die Leute über Dich sagen werden, als an ihn, dann kannst Du nicht anders; das ist richtig. Aber bist Du denn solch eine Egoistin? Kannst Du so ruhig denken: wenn nur die Leute mir nichts vorwerfen, mag er dann immerhin beschimpft sein?“
„Beschimpft sein? Er? Das versteh’ ich nicht!“
„Das ist doch klar!“ fiel Frau von Thorbach ein. „Wenn Du jetzt nicht seine Frau wirst, so werden die Leute sagen: da sieht man’s, als er Unterofficier war, da war ihm eine Tochter vom Herbotshof ganz recht, jetzt, wo er ein Baron geworden, läßt er sie sitzen; er ist ein wortbrüchiger, meineidiger Mensch!“
„Mein Gott,“ rief Marianne aus, „werden sie das glauben?“
„Ganz ohne Zweifel! – Und dann noch Eines,“ sprach Frau von Thorbach weiter. „Wenn ein junges Mädchen Einen in sich verliebt macht, so muß sie ihn auch ehrlich nehmen, sonst ist sie eine herzlose Kokette …“
„Aber können Sie mir denn vorwerfen …?“
„Gewiß, Marianne – hab’ ich Dir nicht eben gesagt, daß Dein Wort die schlummernden Geister ganz allein geweckt habe, und unter diesen Geistern ist auch die schlummernde Leidenschaft in ihm gemeint!“
Marianne schüttelte den Kopf und sah vor sich hin. „Nein, nein,“ sagte sie, „daran bin ich nicht schuld. Aber wenn er wirklich für wortbrüchig und meineidig gehalten würde … wenn das die Folge wäre …“
„Es wird die Folge sein!“
„Dann hätte ich freilich die Schuld. O, rathen Sie mir, liebe gnädige Frau, ich bin so grenzenlos unglücklich, Sie glauben es gar nicht!“
Frau von Thorbach legte lächelnd ihre Hand auf die Mariannens.
„Ich rathe Dir ja … rathe auf’s Eifrigste und Wärmste … und wenn Du Dich unglücklich fühlst, so giebt es ja das vortrefflichste Mittel, dem ein Ende zu machen. Du sprichst: Ja, und Du wirst sehen, wie bald eine so aufrichtige Liebe, wie die Friedrich’s, Dich glücklich macht. Redet denn nichts in Deinem Herzen für ihn?“
„Ach, das ist’s ja gerade, daß er mir gar zu gut gefällt und ich Niemanden auf Erden möchte, als gerade ihn, und nun Sie sagen, daß auch er so unglücklich sei … nun mein’ ich, ich könnt’ gar nicht mehr leben ohne ihn!“
Frau von Thorbach legte ihren Arm um die Schulter des in ein herzbrechendes Schluchzen verfallenden jungen Mädchens.
„Dann ist’s doch klar, daß Euch Beiden nichts Anderes übrig bleibt, als Euer beiderseitiges bodenloses Unglück zusammenzulegen,“ rief sie lachend aus. „Und das sollt Ihr gleich thun. Komm’ mit, Friedrich ist drüben im Wagen geblieben und harrt in tödtlicher Spannung auf uns … komm’, komm’!“
Frau von Thorbach zog Mariannen fort. Aber sie hatten nicht bis zum Wagen zu gehen. Friedrich hatte ihn verlassen und stand im Obstgarten an einen Baum gelehnt; als sie um die Ecke des Hauses kamen, eilte er stürmisch auf sie zu.
„Friedrich,“ rief Frau von Thorbach lachend aus, „bei Ihnen kann man nicht sagen: Wer das Glück hat, führt die Braut heim, sondern: Wer die Braut hat, führt ein ganzes Häuflein Unglück heim. Da nehmen Sie’s und umarmen es, Ihr Häuflein Unglück, da es doch nun einmal – Ihre Braut ist!“
Zwei Tage im Schnee.
Anfang Februar dieses Jahres brachten die Zeitungen unter andern Nachrichten auch die, daß die Eisenbahnlinie von Herlasgrün, einer kleinen Station bei Reichenbach im sächsischen Voigtlande, nach Eger in Böhmen durch anhaltende Schneefälle und Schneewehen unfahrbar geworden sei; eine Nachricht, die an und für sich nichts Ungewöhnliches gewesen ist und jeden Winter vorkommt. Denn nicht blos im Norden, sogar im Süden, in Spanien und Italien, gelingt es wohl Sturm und Schnee im Verein, die flüchtigen Renner aufzuhalten, die uns Zeit und Raum verrückt haben.
Als daher die ersten telegraphischen Nachrichten von diesen eingetretenen Verkehrsstockungen auf der obenerwähnten Linie im Bahnhof zu Reichenbach eintrafen, überraschten sie eigentlich nur insofern, als wir in diesem Winter noch keine größere, tagelange Störung gehabt hatten. Deshalb trat ich auch am 31. Januar früh vier Uhr die Fahrt von Reichenbach nach Eger mit einer gewissen Neugierde an, besonders da ein widerwärtiges, garstiges Wetter das Möglichste versprach. Lang anhaltende, dichte Schneefälle hatten vorgearbeitet und eine zwei bis drei Fuß hohe, weiße, lockere Decke über das Voigtland ausgebreitet, die bei den beiden hochgelegenen Orten Auerbach und Falkenstein diese Höhe noch um ein Beträchtliches überstieg. Heftige Windstöße jagten und trieben darüber hin, warfen Hügel und Wände auf und veränderten im Handumdrehen die Oberfläche durch ihr launiges Spiel. Mühsam, aber unaufgehalten durchkämpfte die starke Lastzugsmaschine die zahlreichen, im Augenblicke entstandenen kleinen Wehen bis Auerbach; hier stand noch querfeldein die durch Schnee und Eis Tags vorher am Eingänge des Bahnhofs aus dem Geleise [199] gehobene Locomotive mit fünf stark beschädigten Wagen und erinnerte an den schlechten Weg, den wir erst zur Hälfte hinter uns hatten. Indeß gelangten wir mit unserem schweren Zug im schnellen Tempo glücklich über das im Winterschlafe liegende Gebirge hinweg und nach Eger, hatten aber die Erfahrung gemacht, daß, wenn kein Umschlag der Witterung stattfände, wir auf der Rückfahrt kein leichtes Spiel haben würden.
Leider bestätigte der Telegraph nur zu bald unsere Befürchtungen durch die Mittheilung, daß auf’s Neue zwischen den etwa eine Meile von einander entfernten beiden Städtchen Auerbach und Falkenstein Züge im Schnee stecken geblieben seien. Dies trieb zur Eile. An den waldigen Höhen Sachsens windet sich die Bahn in weitem, ununterbrochenem Bogen hinauf und führt in künstlichen, aber höchst malerischen, von graugranitnen Mauern eingefaßten Pässen durch das Urgestein der Felsenmassen, welche die Bergrücken ausmachen. Ein unerbittlich kalter Wind kam uns aus diesen Felsengassen schneidend entgegen und brüllte zuletzt als wilder Sturm aus den links und rechts im Abendschatten liegenden Waldschluchten, so daß das Knacken und Prasseln zu Boden geworfener Bäume in kurzen Pausen schaurig an’s Ohr schlug. Nur Schritt vor Schritt kämpften wir uns auf der bedeutenden Steigung die schlüpfrige Bahn hinauf zu dem zu erstrebenden Brechpunkt, wo ein heftiger Fall uns dann von selbst von der steilen Höhe hinabgleiten läßt und der Locomotivführer seine ganze Geschicklichkeit und Besonnenheit aufbieten muß, um den fortgesetzten wachsenden Druck des ihn gewaltig schiebenden Zuges auszugleichen.
Ein dichter, feuchtkalter Nebel verwandelte den sinkenden Tag in eine mißfarbene Nacht, die der spähende Blick des Auges umsonst zu durchdringen versuchte. Doch das Glück war noch mit uns; trotz Sturm und Nebel kämpften wir uns auch durch die auf den Weg getriebenen Schneemassen und erreichten, wenn auch aufs Höchste erschöpft, Station Falkenstein, wo wir zum Bleiben genöthigt wurden, weil die im Schnee festgefahrenen Züge noch nicht wieder flott zu bringen gewesen waren und die Strecke nur eingleisig ist. Unterdessen war es wirkliche Nacht geworden, die siebente Abendstunde rückte heran, und der am Perron haltende kleine Personenzug nach Eger, mit zwei starken Locomotiven bespannt, um die sich immer mehr steigernden Schwierigkeiten auf der bedrohten Bahn gut zu überwinden, gab eben das Signal zur Abfahrt, als plötzlich wie mit Donnerschlag ein solches Höllenwetter losbrach, daß man meinte, der Engel der Zerstörung wolle den jüngsten Tag verkünden. Wie rasch auf einander folgende Salven aus schweren Geschützen, schlug es donnernd durch die Lüfte und schleuderte kubikfußgroße, festgefrorene Schneestücke empor; der bisherige Sturm schien uns dagegen ein sanftes Säuseln der Luft. In diesem furchtbaren Wetter huschte der Personenzug wie ein mächtiger Schatten an uns vorüber und flog in die dickste Finsterniß hinaus, die mit einem Male wie eine zweite Nacht herabgefallen war. Aber kaum war das letzte Licht des flüchtigen Zuges verschwunden, dem alle Augen ängstlich nachstarrten, als auch schon seine Hülfssignale wie ersterbende schwache Laute in’s Ohr klangen.
In zwei Minuten hatte ich Befehl, Hülfe zu leisten. Ein Druck der Hand, und hinaus stürmte ich in den grausen Wirrwarr, Schneewand auf Schneewand thürmte sich uns entgegen, um durchrannt und von den Rädern zermalmt zu werden, und bald stand ich keuchend am festgefahrenen Zuge, über den sich unaufhörlich ganze Wogen aufgewühlten Schnees gleich der Meeresbrandung stürzten und wälzten. Die Zugkette des letzten Wagens wurde schnell gefaßt, und mit aller Kraft der starken, auf’s Höchste angespannten Maschine begann ich die hintere Hälfte des Zuges, ein paar kleine Personenwagen mit einigen halb verzweifelten Passagieren, aus dem verderblichen weißen Leichentuche hervorzuziehen und nach dem Bahnhof zurückzuschaffen. Glücklich gelang es, und ein zweites Mal ging es hinaus, um die zurückgebliebenen Wagen und Maschinen zu holen. Wieder wurden die weißen Mauern durch den Stoß des Riesenpferdes zerstört, und wieder näherte ich mich dem fast im Schnee verschwundenen Zuge, als ein Ruck, ein darauf folgender erschütternder Stoß und dann ein verdächtiges Wirbeln der Räder um sich selbst mich belehrten, daß der Tender entgleist, aus den Schienen geworfen und ich nun selbst ein der Hülfe bedürftiger Mensch geworden war. Diese suchend tappte ich an den Wagen hin, an welchen sich die Zugmannschaft beharrlich gegen die Gefahr stemmte und das Leben mehrfach auf’s Spiel setzte, um den Zug mit den beiden Maschinen nicht zu verlassen. Die dem Sturm entgegengesetzte Seite desselben war noch einigermaßen gangbar. Ich fand hier bereite Arme, und es wurde sofort versucht den entgleisten Tender wieder auf die Schienen zu winden, aber der heftige Anprall des Schneesturms vernichtete diesen Versuch im Keime. Wer sich nicht an den Laufbrettern der Wagen oder an sonstigen festen Gegenständen anklammerte, wurde sofort zu Boden geworfen und im Schnee begraben, der sich ringsumher haushoch aufthürmte. Ein gegenseitiges Verständniß war unmöglich geworden. Das Tosen der Elemente übertönte die menschliche Stimme und ein ununterbrochener feiner Regen nadelspitzer Eiskrystalle schlug schmerzend in’s Gesicht und erlaubte nur selten die Augen zu öffnen.
Schiffbrüchigen ähnlich, die in dem schwankenden Boote ihre einzige Rettung erblicken, erkletterten wir, vom Froste geschüttelt, den im Zuge befindlichen Postwagen, unsere Hoffnung, und schürten aufs Neue das Feuer des darin befindlichen kleinen Ofens, der auch bald eine wohlthuende Wärme spendete, welche nicht blos die am Körper festgefrorenen Kleider, sondern auch unsere menschlichen Gefühle wieder aufthauen ließ, die sich vor Allem in einem seit Mittag ungestillten Hunger bemerkbar machten. Diesem gesellte sich aber auch bald ein weit heftigerer Durst zu, den wir vergebens durch zerlassenen Schnee zu stillen suchten. Todtmüde streckten wir uns endlich auf den Boden, der nur für die Hälfte der Leute ausreichte, indeß die losgelassenen Elemente noch mit aller Wuth tobten und uns mit Dank empfinden ließen, daß wir dies schützende Asyl erlangt hatten. Doch bald schickte die mit Hochgenuß empfundene Wärme ein neues Ungemach herab, indem sie den über und an den Wänden des Wagens liegenden Schnee zum Schmelzen brachte und das Schneewasser sich in Folge dessen mit aller Macht durch die Ritzen und Oeffnungen drängte und unser Lager völlig überschwemmte.
Rathlos sahen wir uns an. Da entschlossen sich mehrere der Rüstigsten, das Unmöglichscheinende zu wagen, um eine nur ein paar hundert Schritt entfernt liegende Schäferei zu erreichen, obwohl es eine traurige Gewißheit war, daß, wenn sie den Weg dahin verfehlten, der feindliche Schnee ihr Grab sein würde. Wir versuchten unterdessen, so lange als irgend möglich, das Feuer der Maschinen zu unterhalten, wenigstens bei zweien, die dritte war vollständig verweht und uns einen Weg zu ihr zu bahnen, wollte unsern wenigen Kräften nicht gelingen. Unsere Hoffnung beruhte in dem Gedanken, wenn mit dem anbrechenden Tag auch die Schneearbeiter eintrafen, durch die Feuerkraft unserer Rosse selbstthätig in unser Geschick eingreifen zu können.
Bis dahin war es aber noch lange Zeit, denn die zehnte Stunde war erst vorüber und der ungestillte Hunger und der durch das Schneewasser auf’s Höchste gesteigerte Durst vergrößerten das Maß der Leiden. Auf dem Bahnhofe zu Falkenstein war mittlerweile Alles aufgeboten worden, uns Hülfe zu senden, allein Niemand wagte sich in die Schreckensnacht hinaus und die Arbeiter, welche einen Pfad auswerfen sollten, hatten sich davon gemacht. Schließlich war es jedoch dem braven Stationsvorstand gelungen, noch drei muthige Samariter zu gewinnen, mit welchen er sich auf den Weg machte, um sich über unser Schicksal Gewißheit zu verschaffen. Nach mehrstündigen fürchterlichen Anstrengungen, häufig im Schnee untersinkend, ermöglichten sie es, den nur zehn Minuten langen Weg zurückzulegen und zu uns zu gelangen. Mit unaussprechlicher Freude begrüßten wir früh gegen drei Uhr die mit wollnen Decken, Brod und stärkendem Wein bepackten wackern Männer, die uns wie rettende Engel erschienen und die bereits die Hoffnung aufgegeben hatten, uns noch am Leben zu treffen. Wir fühlten uns neu gekräftigt, aber die Zweifel über das Loos der nach der Schäferei Geflüchteten ließen uns keine Ruhe. Wie wir später hörten, waren indeß auch sie, Einer den Andern gefaßt haltend, der Gefahr entronnen, wenn gleich zwei von ihnen durch den Sturm von der über den Einschnitt gespannten zwanzig Fuß hohen Brücke herabgeschleudert wurden. Nur schweren Herzens ließen wir unsere neuen Freunde, denen der Sturm nach dem Bahnhof zu glücklicher Weise in den Rücken kam, wieder umkehren, da man sicher um ihr Schicksal ebenso besorgt geworden war wie um das unsrige. Langsam wich indessen die verhängnißvolle Nacht dem ungeduldig ersehnten Tage, dem 1. Februar, der uns dann und wann einen Blick durch die Schneewolken thun ließ, die uns wie gespenstische Schwadronen umkreisten. Aber was [200] wir sahen, war nicht tröstlich. Unser Zug war verschwunden, ein paar schwarze Schornsteine allein ragten traurig, wie die Kirchhofskreuze, aus dem Schnee hervor, während der Orkan immer noch wie die wilde Jagd über die Hochebenen bei Falkenstein hinsauste.
Die Bahnbewachungsorgane, die Ingenieure und Oberbahnwärter, boten für das Schneeauswerfen umsonst die höchsten Lohnsätze, die arbeitslose, hülfsbedürftige Bevölkerung der Stadt und Umgegend, meist arme Weber, blieb lieber zu Haus und hungerte, als daß sie sich dem fürchterlichen Wetter aussetzte, das übrigens noch immer jede angefangene Arbeit augenblicklich vernichtete. Wie wir später erfuhren, versuchte man auch zur selben Zeit, also den 1. Februar früh, von zwei Seiten, von Reichenbach und von Oelsnitz aus, mittels Maschinen zu den festsitzenden Zügen vorzudringen, aber ebenfalls vergebens. Eilig hatten sich diese Expeditionen wieder zurückziehen müssen, um nicht unser Schicksal zu theilen, und Augenzeugen berichteten uns, daß es an jenem Morgen ausgesehen habe, als ob der ganze Schnee, vom Sturmwind angeführt, in einer fortwährenden Wanderung begriffen gewesen sei und seinen verheerenden Zug fast bis Herlasgrün ausdehnte, während merkwürdiger Weise unweit dieses Streifens und an seinen Grenzen das Thauwetter mit aller Heftigkeit auftrat.
Unter solchen Umständen, und besonders da das Wasser und die Kohlen zu Ende gingen, war es nutzlos, die aufreibende Arbeit, das Heizen der Maschinen, fortzusetzen. Der Zugang zu ihnen wurde immer schwieriger und unsere Kräfte erlahmten abermals beim Durchwühlen des Schnees. Unsere im durchweichten Wagen noch nicht trocken gewordenen Kleider waren wiederum so hart gefroren, daß wir uns kaum bewegen konnten und wandernden Eiszapfen glichen. Ernstlich mußten wir deshalb an eigene Rettung denken, an die Rückkehr nach dem Bahnhof, die für uns erstarrte, kraftlos gewordene Männer das Schwierigste und Gefährlichste blieb; vorzüglich gefährlich war der Uebergang über einen unmittelbar hinter uns liegenden, von einer geländerlosen schmalen Brücke unterbrochenen ziemlich hohen Damm, von dem der Schnee herabgefegt worden. Hier wüthete der Sturm am tollsten. Auf Händen und Füßen langsam fortrutschend und mit den erstarrten Fingern mich krampfhaft an die Schienen klammernd, vom Sturme fortwährend gepackt, aufgehalten und wieder zurückgeworfen, zog ich mich Zoll für Zoll an den Eisen vorwärts, überkletterte dann die vielen weißen Hügel und Mauern, bis ich, auf allen Vieren kriechend, so ziemlich besinnungslos in ein Haus gelangte, wo man mich in ein Bett brachte.
Als ich wieder erwachte, hatte sich der Sturm gelegt; es war zwar noch windig, aber man konnte doch jetzt dem übermüthigen Schnee auf den Leib rücken. Von allen Seiten eilten deshalb willige Arbeiter herbei; die kleine Stadt Oelsnitz sandte ihr Militär, und fünf- bis sechshundert Arbeiter mochten auf der kurzen Strecke vom Bahnhof bis zu dem verwehten Zuge hin in Thätigkeit sein, um die Bahn dem Verkehr zurückzugeben. Wir drei verschlagenen Landsteuerleute aber eilten wieder auf unsere Plätze; uns nach zogen einige Schlitten mit Kohlen und Holz und nicht lange, so stiegen Rauchsäulen aus den schwarzen Essen in die Höhe, in die geleerten Tender und Kessel strömte das durch die Schläuche einer Spritze herbeigeschaffte Wasser des nahen Baches. Der entgleiste Tender wurde wieder auf die Schienen gehoben, und ungeduldig harrten wir der Stunde der Erlösung. Allein trotz der Tag und Nacht anhaltenden unausgesetzten Thätigkeit der Arbeiterschaar, kam der Mittag des 2. Februar heran, ehe ich die frohe Nachricht: „Abfahren, die Strecke ist frei!“ durch einen kräftigen, herzstärkenden Pfiff beantworten konnte. Mittlerweile waren auch meine Leidensgenossen bei Auerbach aus ihrem Gefängniß geschaufelt und hinter ihnen her dampften wir Auferstandenen, die Gefahren vergessend, wieder dem Hafen der Ruhe, dem großen Reichenbacher Bahnhof zu, den wir Alle glücklich wieder sahen.
Der Leser, welchem ich mit dieser Erzählung einen Einblick in unser modernes Fuhrwesen verschafft habe, wird daraus ersehen haben, daß uns Locomotivführern noch ganz andere Gefahren drohen, als die, mit denen uns der allgemeine Glaube meist umgiebt; denn wirklich verhängnißvolle Katastrophen, durch das Eisenbahnpersonal, durch das Material oder durch unausbleibliche Irrthümer herbeigeführt, sind äußerst selten. Die statistischen Tabellen haben es glänzend dargethan, daß man mit der Eisenbahn nicht blos am schnellsten, sondern auch am sichersten reist. Der durch Pferde und anderes Fuhrwerk verursachten Unglücksfälle sind wenigstens dreißig Mal mehr, aber die körperlichen Anstrengungen unseres Dienstes, der neben allergrößter Ruhe und Besonnenheit ein stetes Wachsein der höheren Sinne bedingt und eine ungeheure Verantwortlichkeit auf sich hat, schaffen uns zahllose Leiden, die mit Gicht und Reißen früh genug anfangen, und die aufgeführten eigenen Erlebnisse beweisen nur, daß man in unserem Stande sogar in den cultivirtesten und besteingerichteten Ländern Tage erlebt, wie sie am Saume des nördlichsten Sibirien, fern von den Stätten der Menschen, kaum schauerlicher vorkommen können, und daß man, obgleich mit der Schnelligkeit des Vogels wetteifernd und mit der höchsten Kraft im Bunde, doch nichts gegen die Launen der Natur und gegen so manche tägliche kleine Vorkommnisse vermag, die ich vielleicht in einem späteren Artikel schildern werde.
Erinnerungen an König Ludwig den Ersten von Baiern.
König Ludwig der Erste von Baiern war in vielen Beziehungen eine so bedeutende, eigenthümliche und großartige Erscheinung, daß er gewiß für immer im Munde des Volkes fortlebt, wenn auch Manches, was er gethan, vergessen und Vieles, was er geschaffen, der Zeit zum Opfer gefallen sein wird. Sind es die Züge aus dem Privatleben und dem persönlichen Umgang, die über die Popularität eines Fürsten entscheiden, so sind sie gewiß nicht die werthlosesten zur Zeichnung seines Charakters. Das Gedächtniß hält sie am liebsten fest; sie bringen ihn uns als Menschen näher, als jene Erinnerungen aus dem öffentlichen Leben, die uns überall in Fracturschrift entgegen glänzen, wohin er seinen Fuß gesetzt, wohin sein Geist gereicht hat. – Ich war so glücklich, ihm persönlich bekannt zu sein, und bin während vierzig Jahren vielfach mit ihm in Berührung gekommen, in friedliche und freundliche, aber allerdings zuweilen auch in bedenkliche. Wenn er es aber auch ungern sah, daß ich eine der seinigen entgegengesetzte Ansicht aussprach und festhielt, ja, wenn er selbst heftig werden konnte: für einen Gegner – das wußte er wohl! – durfte er mich nicht halten, und so erlitten die guten Beziehungen nie eine langandauernde Unterbrechung. Ueber politische Angelegenheiten bin ich nie mit im in Conflict gekommen, und während der beklagenswerthen Verirrung von 1847 habe ich weder mündlich noch schriftlich ein Wort mit ihm zu wechseln Gelegenheit gehabt. Vieles aber von dem, was mir aus der Zeit vorher und nachher von dem Verkehr mit ihm in Händen und im Gedächtniß geblieben, halte ich für werth, unverloren zu bleiben. Sind es auch nur vereinzelte Züge: sie werden doch das Bild des deutschen Mannes, des Fürsten, des Menschen von natürlicher Denk- und Empfindungsweise vervollständigen helfen. –
Meine erste Bekanntschaft mit König Ludwig fällt in das Jahr 1827; sie wurde nur auf dem Papier gemacht, wo sich unsere Handschriften begegneten. Ich war beauftragt, das Programm für die Fresken des Hofgartens zu entwerfen, und bekam mein Manuscript zurück mit Bemerkungen, Correcturen und mit der Genehmigung desselben von des Königs Hand, woraus ich sah, welche gewissenhafte Aufmerksamkeit er einer im Ganzen sehr untergeordneten Aufgabe geschenkt hatte.
Wir hatten bereits in den Arcaden zu malen angefangen, als eines Tages heftig an die Thür angeklopft wurde. Es war in der Mittagstunde und außer mir Niemand da. Das Klopfen wurde so stark wiederholt, daß ich den Rock, den ich an den Nagel gehängt, hängen ließ und die Thür öffnete. Da stand der König! „Ich muß doch sehen, was Sie schaffen!“ fing er an. „Wie heißen Sie?“ und als ich meinen Namen genannt – „vielleicht ein Bruder von Friedrich Förster?“ – „Ja!“ – „Ah, das freut mich. Ihren Bruder schätze ich sehr! Sein köstliches Gedicht auf die [201] langwierigen Pariser Verhandlungen habe ich in Paris auswendig gelernt: Wie lange wollt’ ihr noch abern und odern?“ und nun sagte er das ganze Gedicht her (das übrigens zufällig und mit Unrecht unter meines Bruders Namen geht, während es von A. Bercht aus Bremen herrührt) und trug mir wiederholt viele, viele Grüße an ihn auf. Dann mußte ich ihm meine Arbeit und die Arbeiten meiner Genossen zeigen, dazu eines Jeden Namen und Heimath angeben, wobei es sich herausstellte, daß wir von Nord, Ost und West nach München gekommen, zu seiner großen Freude. „Schön! das ist sehr schön! Aus allen Gauen Teutschlands (er sprach und schrieb immer Teutschland!) kommen die Künstler zu mir! Wir wollen ein rechtes Kunstleben führen.“ Er wiederholte seine Besuche sehr oft und nahm den lebhaftesten Antheil an dem Fortgang der Arbeiten. – Er hatte ein sehr gutes Gedächtniß, besonders für Personen, aber einen einmal gefaßten Irrthum hielt er mit derselben Beharrlichkeit fest. Obschon ich ihm bei oben genannter Gelegenheit Bercht als den Verfasser des Gedichts genannt, so begrüßte er mich doch bei jedem seiner Besuche in den Arcaden mit der Erinnerung an Friedrich Förster’s köstliches Gedicht: „Wie lange wollt ihr noch etc.“
In den dreißiger Jahren war die Erinnerung an die Befreiungskriege noch sehr lebendig in Deutschland und Kriegslieder von Theodor Körner und seinen Kampfgenossen wurden auch in München häufig in Concerten gesungen. In einem solchen Concerte im neuerbanten Odeon wurde unter andern meines Bruders Lied auf Theodor Körner’s Tod: „Bei Wöbbelin auf freiem Feld etc.“ gesungen. König Ludwig war zugegen, wie er ungern ein Concert im Odeon versäumte. Als das Lied zu Ende war, erhob er sich, sah sich um und ging, als er mich erblickte, auf mich zu, faßte meine Hand und sagte, sichtlich tief erregt, zu mir: „Diese Zeit, Förster, gehört uns und wir wollen sie festhalten im Herzen! Wir wollen ihr treu bleiben, treu bis in den Tod! Schreiben Sie das Ihrem Bruder!“ Als dann im Jahre 1838 bei der fünfundzwanzigjährigen Gedächtnißfeier des Aufrufs König Friedrich Wilhelm’s des Dritten „An mein Volk“ meines Bruders Kriegslieder erschienen und er mir ein Exemplar für den König geschickt hatte, schrieb derselbe an mich:
„Herr Ernst Förster! Ich habe mit Ihrer Zuschrift vom 20. d. M. das von Ihrem Bruder Friedrich Förster für Mich zugesandte Exemplar seiner im Druck herausgegebenen Kriegslieder, als Festgabe zur fünfundzwanzigjährigen Jubelfeier der freiwilligen Jäger, empfangen. Mich freut es aufrichtig, wenn ich sehe, daß man in der gegenwärtigen Zeit jener Tage gedenkt, wo solche Begeisterung und Einigkeit der teutschen Stämme das gemeinsame teutsche Vaterland befreyt hat. Bewahren wir diese Zeit, Mir ist sie keine Vergangenheit, wie ich Ihnen einst mündlich äußerte, treu im Herzen, und droht wieder ein Feind Deutschlands Grenze, dann finde er in derselben Eintracht mit dem nehmlichen glühenden Gefühle alle Teutschen wieder! Dieses ist meiner Seele glühender Wunsch. Drücken Sie Ihrem Bruder, der der guten Ausnahme seiner Gabe gewiß seyn konnte, für seine Aufmerksamkeit Meinen Dank aus und empfangen Sie die Versicherung Meines Königlichen Wohlwollens. München, den 23. Februar 1838.
König Ludwig wußte die stärksten Contraste in sich zu vereinigen. Er hielt sehr streng auf Etikette und duldete keine Vernachlässigung der seiner königlichen Würde gebührenden Achtungsbezeigung, und doch liebte er natürliches Gebahren und mochte vorkommenden Falles weder sich noch Andere geniren. Einem Studenten, der ihn auf der Straße nicht grüßte, schlug er die Mütze vom Kopf; einem Recruten, der Schildwache stand und aus Unbekanntschaft nicht salutirte, rief er schon von weitem zu: „Präsentirt! Der König!“ Und doch litt er bei der obenerwähnten Begegnung in den Arcaden nicht, daß ich meinen Rock anzog, und ging, mich am Arm fassend, auf und nieder mit mir; und als ich ihm einmal bei starkem Regen und Wind auf der Straße in den Weg kam und eben grüßen wollte, rief er mir zu: „Nicht, nicht! Das ist kein Wetter für Höflichkeiten!“ Den Maler Gust. König, den er gern besuchte, redete er gewöhnlich in heiterem Scherz mit „Ew. Majestät!“ an. Ueberhaupt unter Künstlern legte er gern die Krönungs-Insignien beiseite. Bei einem Künstler-Maskenfeste erschien er in der vorschriftmäßigen Narrenkappe, vor der mehr als ein ernster Würdenträger zurückgeschreckt war. Ich erinnere mich eines anderen Künstlerfestes auf der nahen Menterschwaige, auf welchem er am Schluß des Diners erschien, da die Stimmung bereits sehr erregt war. Mit Jubel empfangen, mit Toasten bestürmt, mochte er doch eine Besorgniß empfinden vor den immer höher gehenden Wogen der Begeisterung und suchte nach kurzem Verweilen den Ausgang, fand ihn aber besetzt und sah sich als den Gefangenen seiner Verehrer. Ohne sich viel zu besinnen, ging er rasch nach dem nächsten Fenster (der Saal war ebener Erde) und mit dem Rufe „Freiheit!“ sprang er in’s Freie und eilte nach seinem Wagen, aus dem er noch siegesfrohe, aber herzlich heitere Grüße zurückwinkte.
Dabei aber nahm er es sehr ernst, wenn er sich in seiner Ehre verletzt fühlte, in seinem Handeln verkannt oder verleumdet glaubte. Ich selbst, trotz all’ seiner unverkennbaren Freundlichkeit gegen mich, bin mehrmals mit ihm in schwere Conflicte gerathen. Nach Beendigung der Frescomalereien in der Ludwigskirche (1840) war Cornelius bei dem König in Ungnade gefallen und sah sich von ihm so tief gekränkt, daß er um seine Entlassung einkam und Baiern den Rücken kehrte. Um diese Zeit ließ mich einmal der König in sein Cabinet rufen und wendete sich sogleich mit der Frage an mich, was ich von den Frescomalereien von Cornelius in der Ludwigskirche halte? Ich wollte das Bedeutende der Conception, die Klarheit der Anordnung, den großen Stil der Zeichnung hervorheben, als mir der König in’s Wort fiel:
„Aber die Malerei! Die Malerei taugt nichts! Ein Maler muß malen können!“
Ich erwiderte: „Aber Cornelius ist mehr, als ein Maler, er ist ein Künstler und zwar einer der allergrößten!“
„Und doch kein Maler!“ rief der König mit erhöhter Stimme. „Er will fort. Ich werde ihn nicht halten!“
„O Majestät,“ sagte ich, „das ist sehr traurig für München, für Alle! Und Sie, Majestät, verlieren mit ihm eine Perle aus Ihrer Krone!“ –
Dies letzte Wort brachte den König in eine ungeheuere Aufregung.
„Was,“ sagte er, „wer ist die Kunst in München? Ist es Cornelius? Ich, der König – –“ Die laute, heftige Sprache des Königs hatte die Königin im Nebenzimmer aufgeschreckt; sie trat ein, und mit ihr auch zugleich Beruhigung. Der König ging sogleich in eine sanftere Tonart über, aber doch nur vorläufig, wie ich noch an demselben Tage erfahren mußte, da mir mehrere Künstler, die er in ihren Werkstätten nach aufgehobener Tafel besucht hatte, mittheilten, er habe mich bei ihnen wegen Ueberschätzung von Cornelius verklagt und sie selbst damit nicht recht gewürdigt. – In der Folge hat er freilich wohl die Größe des Verlustes erkannt, zumal als auch noch Schnorr ihn verließ und Schwanthaler, Nottmann, Gärtner starben, Kaulbach vornehmlich für und in Berlin thätig war, und hat sich aufrichtig bemüht, das alte freundschaftliche und herzliche Verhältniß mit Cornelius wiederherzustellen.
Inzwischen hatte der König das gegen mich gefaßte Mißtrauen, wie grundlos es auch war, festgehalten, wie es denn überhaupt schwer war, ihn von seiner Meinung abzubringen oder auf seine Vorstellungen einen bestimmenden Einfluß auszuüben. In München ist es allgemein bekannt, wie er stets die beiden Naturforscher, die unter seines königlichen Vaters Regierung Brasilien bereist hatten, Spix und Martius, mit einander verwechselte und immer Einen für den Andern anredete. Spix starb; der König begegnete Martius und das erste Wort der Begegnung war: „Ah, Spix! wie freut es mich, daß der … Martius todt ist und ich Sie nun doch nicht mehr mit ihm verwechseln kann!“ – Als ich in den dreißiger Jahren im neuen Königsbau im Salon der Königin mit Malereien zu Wieland’s Dichtungen beschäftigt war, zugleich mit Eugen Neureuther, der den Oberon illustrirte, kam der König eines Mittags herein, die Arbeiten zu besichtigen. Neureuther war nicht zugegen; ich mußte den Cicerone machen. Bei dem Gastmahl des Kalifen von Bagdad fiel ihm der reichgekleidete Großvezier als besonders dick auf. „Sagen Sie Neureuther,“ sprach er zu mir, „der Türke ist zu dick! Ein dicker Türke schickt sich nicht für den Salon der Königin!“ Neureuther änderte die Gestalt und gab ihr eine feine Taille. Vergebens! Der Türke war noch immer „viel zu dick!“ Neureuther schnürte ihn nun zur Unmöglichkeit zusammen – Alles umsonst, er blieb „zu dick!“ So löschte ihn Neureuther ganz aus. Aber auch das half noch nichts: der Türke war und blieb zu dick für den Salon der Königin, bis ich mir erlaubte, dem gnädigsten Herrn auf’s Gerüst [202] zu helfen und ihn von dem Thatbestand letzter Hand zu überzeugen, womit er sich alsdann vollkommen befriedigt erklärte.
Uebrigens hinderte ihn seine Beharrlichkeit nicht, nachzugeben, oft sehr rasch nachzugeben, wenn er den Widerspruch für begründet erkannte. Viele Beispiele stehen mir zu Gebote, ich will mich mit zweien begnügen. Er hat bekanntlich Jean Paul in Baireuth eine Ehrenbildsäule errichtet. Als die Statue gegossen war, kam ich in die Gießerei und sah die für das Postament bestimmte Inschrift: „Jean Paul Friedrich Richter, Schriftsteller.“
Ich erlaubte mir, dem König – der, beiläufig gesagt, mehrfach in Betreff der Statue mit mir Rücksprache genommen – zu schreiben: „Entweder ist der Zusatz ‚Schriftsteller‘ nöthig, so verdient Jean Paul die Statue nicht, oder er verdient sie: dann ist die Bezeichnung überflüssig.“ Noch denselben Nachmittag ging der König in die Gießerei und gab den Auftrag, die Bezeichnung „Schriftsteller“ wegzulassen. Ja, er scheint den Fall über zwei Jahrzehnte im Gedächtniß behalten zu haben, denn bevor er im Jahre 1863 die Schillerstatue in München aufstellen ließ, schrieb er unterm 2. November 1862 an mich: „Herr Dr. Ernst Förster, wünsche recht bald zu erfahren, welche Inschrift Sie am Fußgestell Schiller’s für die geeignetste halten. Ihr wohlgewogener Ludwig.“
Nach Errichtung des Ehrenstandbildes von Jean Paul in Baireuth hatte ich im Auftrag der Familie den König gebeten, des Dichters Handschrift zu seinem letzten Werke, der „Selina“, als schwaches Dankeszeichen annehmen zu wollen, und erhielt von ihm die Antwort:
„Herr Dr. Förster! Ich nehme mit Vergnügen die mir von Ihnen und im Auftrage von Jean Paul’s Hinterbliebenen, mit Schreiben vom 10. dieses vorgelegte Handschrift des gesicherten Verfassers letzten Werkes: ,Ueber die Unsterblichkeit der Seele’, als ein Geschenk für Meine Hof- und Staatsbibliothek an, und erwiedere dabey den Mir für das – dem unvergeßlichen Manne, von mir bestimmte Denkmahl, dargelegten Dank mit dem Ausdrucke meiner geneigten Gesinnungen. Ich bemerke zugleich zu Ihrer Verständigung, daß die auf des befraglichen Denkmahles Fußgestelle nach Meiner Vorschrift angebracht werdende Inschrift die Bezeichnung ,Schriftsteller’ nicht enthalten werde. Mit Königlicher Gnade Ihr wohlgewogener
München, 13. October 1841.
Ein anderer Fall war etwas weniger harmlos, aber nicht weniger ein Zeugniß für die Bereitwilligkeit des Königs, gegründetem Widerspruch gerecht zu werden. Seit dem Tode Schorn’s 1842 war ich mit Franz Kugler in Berlin Redacteur des Kunstblattes, einer Zeitschrift, welcher der König aus erklärlichen Gründen viel Aufmerksamkeit schenkte. Die Gemäldesammlung der Pinakothek war 1843 durch drei Bilder bereichert worden, von denen das eine den Namen Giotto’s, das andere den des Montagna, das dritte den des Giov. Bellini, und zwar nach meiner Ansicht ein jedes mit Unrecht, trug. Ich hatte es unter den kleinen „Nachrichten“ im Kunstblatt einfach mitgetheilt. Einige Zeit danach wurde mir von Stuttgart aus ein Manuscript als „Berichtigung“ zur Redaction für das Kunstblatt zugeschickt, das von hier aus dorthin gegangen war und in welchem ich wegen jener Nachricht mit Uebermuth und mit Verunglimpfung angegriffen wurde. Ich kannte die Handschrift des Verfassers, erkannte aber auch sogleich an einigen Correcturen darin des Königs Handschrift. Ich schrieb deshalb sogleich an den König, daß dieses Manuscript (das, wie ich ersehen, ihm nicht unbekannt sei) in meine Hände gelangt sei, daß dem Verfasser desselben in seiner Unbekanntschaft mit den Werken der italienischen Kunst jede Berechtigung zu seiner „Berichtigung“ fehle und daß ich dies, wenn der Artikel nicht umgeändert würde, in sehr entschiedener Weise in einer Nachschrift aussprechen würde. Das Manuscript wurde im Auftrag des Königs (im Mai) abgeholt und kam im October zu einer anständigen Kritik umgearbeitet wieder in meine Hände und dann ohne Nachschrift in’s Kunstblatt.
Der König hatte nachgegeben; er mochte es am Ende als die Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Kunstschriftstellern auffassen, von der es ganz passend war, wenn sie in gemessener Weise zu Tage trat. –
Der König war sehr ökonomisch und galt darum bei Vielen für geizig, während er nur leichtsinnige sogenannte Ehrenausgaben vermied, aber in großartigster Weise Wohlthaten spendete. Er konnte im Schloßthor umwenden, um sich statt des guten Regenschirmes seinen „alten“ vom Lakai holen zu lassen, „weil es regnete!“ Er führte kein Geld bei sich; es traf sich aber, daß er einen Blumenstrauß für zwölf Kreuzer bei der Verkäuferin am Hofgarten borgte, sie aber durch einen ihm bekannten Herrschaftsbedienten, zu dessen Schuldner er sich nun machte, befriedigen ließ. Den Bedienten ließ er nach einigen Tagen zu sich rufen, um ihm – die zwölf Kreuzer zurückzuerstatten! während dieser wie die Blumenverkäuferin sich auf ein „königliches Douceur“ gespitzt hatte. – Bei einem starken Regenguß, der ihn in der Vorstadt überfallen, trat er in einem kleinen Hause unter und hörte bald laut, bald leise über sich wimmern. Er ging den Lauten nach und trat in ein ärmliches Zimmer, wo eine Frau mit ihrem Kinde neben einem Krankenlager saß. Er erfuhr, es sei ihr Mann, ein Maurer, der vom Gerüste gefallen und arbeitsunfähig geworden, und nun, ohne Verdienst, fehle alle Nahrung; alle Wege, eine Unterstützung zu finden, seien vergeblich gewesen.
„Seid Ihr denn schon,“ frug sie der König, „beim König gewesen?“
„Ach, bei dem Geizhals,“ war ihre Antwort, „ist vollends nichts zu holen!“
Der König, der sich unerkannt sah, bestellte unter einem leicht gefundenen Vorwand sie auf’s Schloß und dort erhielt sie eine Rolle mit hundert Gulden unter der Aufschrift: „Von dem Geizhals Ludwig.“
Diese Kraft der Selbstbeherrschung zu bewähren, bot ihm das Jahr 1848 vielfach Gelegenheit. Ich sah ihn eines Tages vor mir hergehen, es war im März desselben Jahres. An einer Straßenecke saß ein altes Weib mit Lithographien. Der König nahm eines der Blätter auf, sah es an und legte es der Alten ruhig wieder hin. Ich nahm es auch auf: es war eine Caricatur auf König Ludwig am (oder unterm) Galgen! Natürlich zerriß ich die Blätter.
Der Künstlerdeputation, die nach der Thronentsagung ihm unser Aller Schmerz ausdrücken sollte und eine von uns unterschriebene Adresse überreichte, sagte er: „Drei Stunden habe ich gebraucht zu dem Entschluß, mich von der Krone zu trennen, aber drei Tage zur Resignation auf die Kunst!“ Und er hat doch alle seine unternommenen Werke zu Ende geführt! Er dankte in einem Gedicht, das er Jedem, dessen Name unter der Adresse stand, einzeln in Couvert zuschickte.
Im Jahre 1850 wurden die Fresken an der neuen Pinakothek in München begonnen, zu denen W. v. Kaulbach die ausgeführten Entwürfe geliefert hatte. Bekanntlich ist ihr Gegenstand das Kunstwirken des Königs Ludwig und zwar nach einer sehr satirischen Auffassung, die Anklagen und Vertheidigungen in öffentlichen Blättern hervorrief. Ich schrieb damals ungefähr folgende Zeilen in die Allgemeine Zeitung: „Die Gemälde Kaulbach’s an der neuen Pinakothek in München sind entweder wahr, dann ist das ganze Kunstleben des Königs Ludwig eine Thorheit; oder sie sind, was ich glaube, nicht wahr, dann sind sie der Vernichtung verfallen! Wind und Wetter werden bald das Ihrige dazu thun; aber ein hochherziger Entschluß sollte dem zuvorkommen!“
Der König hat die Arbeit den Elementen überlassen, die ihre Schuldigkeit bereits ausgiebig gethan haben; mich aber redete unmittelbar nach meiner obigen Erklärung der König auf offener Straße an: „Nicht Kaulbach, ich habe die Bilder angegeben, ich, der König!“ worauf ich ruhig, aber mit Bestimmtheit erwiderte: „Majestät! wir leben in einem constitutionellen Staate! Nicht der König, sondern wer seine Befehle vollzieht, ist verantwortlich!“ worauf denn natürlich keine Antwort erfolgte. Ich traf aber nach der Zeit mit ihm in der Werkstatt Kaulbach’s zusammen, wo der Entwurf zu einem neuen Gemälde jener Bilderfolge, ein Künstlerfest, auf der Staffelei stand. Den Mittelpunkt bildete die Statue des Königs, die von Mädchen aus dem Volk in nicht sehr anständiger Haltung bekränzt, von einer Schaar ziemlich roh aussehender Künstler angesungen wurde. Kaum, daß der König einen Blick darauf geworfen, brach er in die Worte aus: „Das ist ja Satire! Auf den König darf man keine Satire machen!“ Und als Kaulbach sagte: „Man kann ja da noch ändern!“ rief er: „Man kann? Nein! Man muß!“ Die Aenderung ist erfolgt. Auch ich erfuhr eine Veränderung von Seiten des Königs, der sich meines oben erwähnten Wortes zu erinnern schien. Er war wieder freundlich und gnädig.
[203]
Ein Besuch im Kloster.[1]
„Sie haben wohl manche harte Tage in Ihrem Leben durchgemacht?“ sagte ein Genesender am Rheine zu seinem Pfleger, welcher dem Alexianer-Orden angehörte, der bekanntlich die besten Krankenwärter liefert, die überhaupt zu finden sind. „Ihr Beruf ist wahrlich kein leichter und die Aufopferung, die der Orden im Ganzen in den letzten Kriegen, in Schleswig-Holstein, in Böhmen und am Maine bethätigt hat, kann nicht hoch genug belobt werden. Bitte, erzählen Sie mir ein wenig aus Ihren Erlebnissen.“
„Was könnte ich Ihnen erzählen?“ antwortete der Alexianer. „Unsere Pflicht gebietet uns, den Leidenden beizustehen, die Verwundeten und Kranken zu pflegen – wir erlernen diesen Beruf, wie einen anderen, in unseren Stiftshäusern, wo wir besonders Idioten, Geisteskranke und unheilbare Kranke aufnehmen, und wenn wir ihn erlernt haben, suchen wir uns der Menschheit nützlich zu machen, so viel es in unseren schwachen Kräften steht. Davon ist weiter kein Aufhebens zu machen.“
„Aber Sie selbst, haben Sie nicht unendlich viel zu leiden gehabt in diesen Kriegen, wo Ihnen oft Alles fehlte, nur nicht der Muth und die Hoffnung auf Besserung?“
„Manche unserer Brüder sind unterlegen,“ antwortete der Alexianer, „und ich selber habe oft nicht geglaubt, die Mühen, Strapazen und entsetzlichen Eindrücke, die auf mich einstürmten, überwinden zu können. Aber was ich auch Schlimmes dort erduldet – es wird aufgewogen durch das, was mir während meines Noviziats auferlegt wurde. Ich mußte während achtzehn Monaten zwei Affen verpflegen.“
„Zwei Affen?“ fuhr der Kranke auf. „Wie in aller Welt kann man auf den Gedanken verfallen, Menschen dadurch zur Krankenpflege vorzubereiten, daß man sie in eine Menagerie steckt?“
„Verstehen Sie mich nicht falsch,“ erläuterte der Alexianer. „Es waren Kinder wohlgebildeter Eltern, Menschen der Geburt nach, aber Affen in ihrem Thun und Treiben, in ihrem ganzen Wesen – zwei Brüder – der ältere boshaft, tückisch, verschlagen und listig, der jüngere gutmüthig, sanft, aber jähzornig, wenn er geneckt wurde - Beide unfähig zu sprechen, unzugänglich jeglicher Erziehung und Dressur – körperlich Menschen bis auf den Kopf, geistig Affen in jeder Beziehung! Dieser Geschöpfe Pflege war mir im Stifte speciell übertragen, und das war eine härtere Probe, als das Wirken unter leidenden, aber doch denkenden Menschen.“
Während des Kriegsjahres 1866 hatte ich mich mit eingehenden Studien über die sogenannten Affenmenschen oder Mikrocephalen (Kleinköpfe) beschäftigt, deren Resultate ich im zweiten Bande des „Archivs für Anthropologie“ niedergelegt habe. Meine Wandervorlesungen benutzte ich zugleich zu Nachforschungen über noch lebende Wesen dieser Art. War es ein Wunder, daß ich aufhorchte, als mir dieses Gespräch erzählt wurde?
„Ich glaube,“ sagte ein anwesender Arzt aus der Gegend, „daß ich diese beiden Wesen einmal in dem Alexianerstifte gesehen habe. Wollen Sie mir sagen, worauf ich zu achten habe, damit ich Sie nicht auf eine falsche Spur führe? Ich werde mich dann in das Stift begeben, nachforschen und wenn die beiden Wesen wirklich in die Kategorie gehören, die Sie suchen, so benachrichtige ich Sie und führe Sie dort ein, damit Sie selbst untersuchen können.“
„,Der Himmel vergelte Ihnen Ihre Wohlthat im Ehestand auch ohne Vermehrung des Kindersegens,‘ pflegte mein Vater zu sagen, lieber Doctor. Was kann ich Ihnen sagen? Diese Wesen werden mit absolut zu kleinem Schädel und Gehirn geboren. Die Stirn ist höchstens zwei Finger breit und schief nach hinten abgeflacht; der Schädel hat wenig mehr, als die Größe einer Mannesfaust; die Augenbrauenbogen springen vor, noch mehr die von dicken Lippen bekleideten Kiefer, welche meist mit prächtigen großen Zähnen bewaffnet sind. Der Schädel ist so klein, so flach gewölbt, daß die Ohrmuscheln fast so hoch stehen, als der Scheitel. Der Ausdruck der Augen und des ganzen Gesichtes ist bald gutmüthig, bald boshaft, stets aber mehr demjenigen eines Thieres, als dem eines Menschen ähnlich. Sie sprechen nicht, sondern stoßen nur unarticulirte Laute und Gurgeltöne aus. Sie stehen und gehen mit vorhängendem Kopfe, gekrümmtem Rücken, einwärts gebogenen Armen und Beinen. Verwechseln Sie diese ,Idioten’ nicht mit Cretinen. Bei diesen letzteren haben Sie Stumpfheit, Muskelschwäche, langsame, plumpe Bewegungen, eingekniffene Nasenwurzel – bei den Affenmenschen lebhafte, blitzschnelle Bewegungen, ausdrucksvolle Mimik, Nachahmung der Bewegungen, Stellungen und Mienen Anderer, unruhiges Umherfahren der Aufmerksamkeit, schnelle Uebergänge von Fröhlichkeit zu Trauer und dabei ein entwickeltes Gesicht, welches an dasjenige der Azteken erinnert, die man vor wenigen Jahren zur Schau stellte und die nichts Anderes waren, als solche hirn- und schädelarme Mißgeburten, freilich aus anderer Race entsprungen.“
„Genug,“ antwortete der Doctor. „Damit kann ein Laie sich auf die Suche begeben. Wenn etwas vorhanden ist, soll mir’s nicht entgehen.“
Einige Tage darauf gab mir der Doctor Rendezvous am Bahnhofe.
„Ich habe gefunden!“ rief er mir entgegen. „Der ältere Bruder ist unterdessen gestorben, der jüngere lebt, und Sie sollen ihn sehen.“
Wir begaben uns auf den Weg.
„Haben Sie schon andere lebende Wesen dieser Art gesehen?“ fragte mich der Doctor, während wir durch aufgeweichten Schnee und Straßenkoth stapften.
„Freilich wohl,“ entgegnete ich, „ein jetzt siebenzehnjähriges Mädchen, Sophie Wyß, das sich gegenwärtig im Asyl von Hindelbank bei Bern befindet. Ich habe meinen Besuch dort im ,Archiv für Anthropologie’ beschrieben. Das Mädchen wurde in der Nähe von Ollon im Canton Waadt geboren, mußte aber auf Befehl der Regierung in die Anstalt gebracht werden. Es war der Schrecken der Hunde in seinem Orte, steht in geistiger Beziehung auf der Stufe eines wenig intelligenten Hausthieres, besitzt aber einen vorstechenden Nachahmungstrieb. Das täglich mehrmals wiederholte Gebet ahmt sie mit ausgezeichneter Mimik und vortrefflich im Tonfälle ihrer Gurgeltöne nach; jede Bewegung, jeder Gesichtsausdruck wird, wenn sie gut gelaunt ist, blitzschnell aufgefaßt und nachgeahmt; die articulirte Sprache fehlt durchaus; das einzige halb articulirte Wort, welches sie sich in der Anstalt angewöhnt hat, ist: Amen – aber auch dieses wird nicht vollständig ausgesprochen, es lautet fast: hamm – der vocal wird mit starker Aspiration hervorgestoßen und das m ist fast eine halb ausgeführte Niesbewegung. Ich werde nie den Eindruck vergessen, den mir eine Scene machte, die ich auf dem Hofe der Anstalt sah. Wir hatten bei unseren Messungen Haar und Kleider etwas in Unordnung gebracht, und als wir mit Sophie und der Wärterin den Hof durchschritten, kam eine alte triefäugige Halb-Cretine, die, wie die Töchter des Phorkys, nur einen Zahn im Munde hatte, auf Sophie zu und begann an ihrem Haar und ihren Kleidern zu nesteln. ,Sophie mag sie nicht leiden,’ sagte die Wärterin, und in der That fuhr plötzlich das Mädchen herum, wie ein gereizter Affe, krallte die Finger, bleckte die Zähne und pfauchte, daß man sich an den Käfig eines Panthers versetzt glauben konnte. Die Halb-Cretine fuhr zurück, sperrte den weiten Mund mit dem einzigen Hauzahne auf, pfauchte und spie ebenfalls – Callot hätte ohne Zweifel den Gegenstand eines unsterblichen Blattes gefunden, wenn er dieser Scene beigewohnt hätte. Aber in dem Augenblicke, wo es den Anschein [204] hatte, als sollten Thätlichkeiten den Demonstrationen folgen, erschien eine dritte Person auf dem Schauplatze – eine arme, kränklich aussehende, abgehärmte Person mit gutmüthigem Gesichtsausdruck. ‚Was hast Du, Sophie? Sei nicht bös! Sei brav!’ Und als das Mädchen den Ton dieser Stimme hörte, breitete sich ein Ausdruck unendlicher Freude über das eben noch zornige Gesicht; mit gefälligem Gurgeln und Grunzen lief es herzu, leckte der Alten das Gesicht, wie ein Hund thut, und legte die Wange an die ihrige.“
„Wir sind am Ziele!“ sagte der Doctor, indem wir unter eine kleine Vorhalle traten. „Seien wir vorsichtig. Ich habe Ihren Namen nicht genannt; wüßte man ihn, so könnte dies ein Hinderniß
für unsere Absichten sein. Sie sind also nur ein Freund, der sich für Fälle dieser Art interessirt. Freilich, wenn Noth an den Mann geht und wir geradezu gefragt werden, wollen wir keinen falschen Namen angeben; bis dahin aber den Ihrigen verschweigen, ist wohl keine Sünde.“
Der Pater Rector gewährte unsere Bitte, ohne nach meinem Namen zu forschen, und ertheilte augenblicklich Befehl, den Jungen vorzuführen.
„Emil,“ erzählte er uns, „ist von wohlgebildeten Eltern. Der Vater ist gestorben, die Mutter lebt noch. Der stärker verbildete ältere Bruder, der mit ihm hier lebte, starb vor zwei Jahren; eine weniger verbildete, aber auch noch thierische Schwester lebt in einer andern Anstalt. Er hat hier noch einen Bruder, der ein hübscher, intelligenter Knabe ist. Wir halten den Jungen wie ein Hausthier. Man spielt und amusirt sich mit ihm, wie mit einem gutmüthigen, aber schlecht erzogenen Hunde. Der Bruder war bösartig und tückisch, biß gefährlich und ließ sich, einmal in Wuth, kaum von ein paar Männern bändigen; dieser würde Keinem etwas zu Leide thun, und so thut ihm auch Niemand etwas zu Leide.“
Das seltsame Wesen trat ein, in einen Kittel von grobem, braunem Wollstoff gehüllt, der ihm bis zu den Füßen reichte, einen Shawl nachlässig um den Hals geschlungen. Als ob ich den Zwillingsbruder von Sophie Wyß sähe! Dieselbe Haltung mit krummem Rücken, einwärts gebogenen Knieen, gebogenen und etwas nach innen gedrehten Armen, dasselbe freundliche Grinsen in dem stupiden Gesichte mit den dicken, beständig geifernden Lippen, den vorgewulsteten Augenbrauenbogen, hervorstehenden Backenknochen und der zurückweichenden niedrigen Stirn, über welcher damals ganz kurz geschnittene, struppige Haare den kaum faustgroßen Schädel deckten. Freund Richard Seel aus Elberfeld, der vielbewährte Meister, der später, mit vieler Mühe freilich, ein wunderbar gelungenes, lebensgroßes Portrait von Emil fertigte, dessen verkleinerte Nachbildung ich hier gebe, hat vielleicht etwas zu viel geistigen Ausdruck in diese Augen gelegt, die uns gutmüthig anstierten, jeder unserer Bewegungen hastig folgten und Fragen an uns zu stellen schienen, welche die Intelligenz des Wesens doch nicht zu formuliren im Stande war. Willig reichte er dem Einen und Andern die Hand, ließ sich mit Behagen an dem Kopfe krauen, betasten, messen. Es war leicht, zu constatiren, daß der knöcherne Schädel, die Gehirnkapsel, noch weit kleiner sei, als der Kopf auf den ersten Blick erschien, denn die Kopfhaut zeigte sich beim Betasten bedeutend verdickt, hie und da selbst wulstig, so daß sie den Raum zwischen den vortretenden Augenbrauen und dem Stirnknochen vollständig ausfüllte und ebnete, während in der That die knöcherne Stirn einen tiefen Eindruck bietet.
[205] Emil spricht einige Worte nach. Der Pater Rector deutet mit dem Zeigefinger nach oben und fragt mehrmals: „Wo ist Gott?“ Endlich hebt der Affenmensch ebenfalls den Finger und stößt dabei die Silbe „stah, stah“ aus. Wir hören, daß diese Silbe bedeuten soll: „Was ist das?“ und in der That wird dieselbe bei jeder Gelegenheit mit scharfer Betonung des durch die Zähne gezischten s hervorgebracht. Er soll außerdem das Wort „Muda“ (Mutter) aussprechen. Wir hören nur noch „Ah Diah! Ah Diah!“ von ihm, während er den Umschlag meines Pelzrockes streichelt. Er hält den Marderpelz an die Wange, nimmt die Hand eines Jeden, um diesen auch den Pelz streicheln zu lassen; offenbar will er sagen: „Ein Thier! Ein Thier!“ Eine wahre Glückseligkeit strahlt bei dieser Entdeckung aus seinen Zügen und stets kommt er wieder auf den Pelz und das vermeintliche Thier zurück.
Die höchste Erregung und Spannung
malt sich aber auf seinem Gesichte, wenn
eine Drehorgel gebracht wird, die eine
jämmerliche Melodie quiekt. Den Zeigefinger
zum Himmel erhoben, „stah! stah!“
hervor pressend, wiegt er sich auf und
ab auf den Füßen, während das weite
Maul grinst und die Augen vor Entzücken
strahlen. In dieser Stellung hat
ihn Freund Seel aufgefaßt und mit
wenigen markigen Strichen festgehalten.
Die Erregung steigert sich, der Pater
Rector muntert ihn auf, den Tact zu
schlagen und sich tanzend zu wiegen;
endlich stürzt er sich auf das Instrument,
sucht die Handhabe zu fassen und mit
rasender Energie zu drehen. Ließe man
ihn gewähren, er würde drehen und
tanzen, bis er erschöpft zu Boden fiele.
„Wie ist wohl die Entstehung eines solchen Wesens zu erklären?“ werde ich gefragt, nachdem der Junge wieder abgeführt ist. „Es ist mehr Affe, als Mensch – Affe seinem Betragen, seiner Intelligenz, seiner Sprachlosigkeit, dem Aussehen seines Kopfes nach – und doch von Körper nicht schlecht gebildet und von wohlgebildeten, intelligenten Eltern erzeugt!“
Ich suche die Ergebnisse meiner Forschungen in kurzen Umrissen darzustellen. „Der eigentliche Schädel, die knöcherne Kapsel mit den beiden darin eingeschlossenen Hälften des großen Gehirnes,“ sage ich, „sind dem Affentypus entsprechend gebildet und entwickeln sich nach denselben Wachsthumsgesetzen, welche für den Affen maßgebend sind. Das Großhirn, der Sitz der Denkthätigkeit, ist kaum so groß, wie beim Affen, seine einzelnen Theile sind wie beim Affen gebildet – die Function entspricht dem Organe – ein Affengehirn kann keine Menschengedanken erzeugen. Deshalb fehlen alle jene Eigenschaften, die den Menschen als höheres, denkendes Wesen charakterisiren: die articulirte Sprache, die Fähigkeit der Abstraction und was Alles noch Philosophen, wie Moralisten, ja selbst Naturforscher als specielle geistige Attribute der Menschengattung gegenüber dem Thiere angesprochen haben. Damit hört aber auch die Aehnlichkeit auf. Wie thierisch auch der Ausdruck des Gesichtes sein mag, seine naturgeschichtlichen Charaktere sind menschlich: die convexe Nase, der durch die Lippen hindurch fühlbare untere Nasenstachel, Anordnung und Gestalt der Zähne, das vorspringende Kinn – alles dies gehört dem Menschen, aber der niedersten Race, an. So schiefstehende Zähne, so vorgezogene Kiefer finden Sie kaum bei einem Australier, geschweige denn bei einem Menschen höherer Race, von welcher doch das Individuum stammt und der es auch seinem übrigen Körper nach angehört.
So haben Sie denn in dem Affenmenschen eine Zusammenschweißung dreier an und für sich verschiedener Typen, des Affen im Schädel und den höheren, denkenden Theilen des Gehirns, des Menschen niederster Race im Gesicht, des Menschen höherer Race im Körper. Das ganze, gewissermaßen unnatürliche Gemisch entwickelt sich langsam unter widerstrebenden Tendenzen; der Kleinkopf bildet sich nur langsam aus, ist vielleicht in der Jugend mehr schädlichen Einflüssen ausgesetzt und bleibt zuweilen zwergenhaft, oft aber wird er groß, mannbar, kräftig und erreicht ein tüchtiges Alter. Nach den Ergebnissen der Untersuchung, die freilich nicht durch die Erfahrung bestätigt sind, unterliegt es kaum einem Zweifel, daß diese Wesen fortpflanzungsfähig sind und vielleicht unter sich Kinder haben könnten.“
„Das Alles giebt aber noch keine Antwort auf meine Frage,“ sagte einer der Anwesenden. „Wir fragen nach der Entstehung solcher Bildungen, und Sie antworten mit einer Analyse ihrer Zusammensetzung.“
„Gemach, gemach! Erst, denke ich, muß man wissen, was ein Wesen ist; dann kann man fragen, wie es geworden ist. Packen wir jetzt die Sache bei der Wurzel an.
Zwei große Gesetze ziehen sich, wie die rothen Fäden durch alle Taue der englischen Kriegsmarine, durch die ganze organische Natur: das Gesetz der Vererbung und das Gesetz der Veränderlichkeit. Beide gehen Hand in Hand, beide können schlummern, nicht sichtbar in die Erscheinung treten während langer Zeit, einander gegenseitig beschränken, aber nie vollständig aufheben. Jeder Organismus trägt in sich die ganze Geschichte seines Aufbaues mittels der steten Concurrenz dieser beiden Kräfte – jeder Durchgangspunkt, bei welchem die Vorfahren stehen blieben, kennzeichnet sich in der Entwickelung des Nachkömmlings durch ein vorübergehendes Bildungsstadium. Daß die Eltern eine Summe von Charakteren auf ihre Nachkommen verpflanzen, brauche ich nicht nachzuweisen; Sie sehen dies alle Tage, sehen auch, daß diese Charaktere erst in bestimmtem Alter auftreten, bis dahin aber ruhen. Allein nicht minder deutlich ist die Veränderlichkeit. Kein Kind ist den Eltern absolut ähnlich. Jeder Organismus hat also in sich die Fähigkeit, sich zu ändern; aber in den meisten Fällen kommt diese Fähigkeit nur zur Production sehr unwesentlicher Resultate. Auch das kann nicht wundern. Jedes Ei, jeder Keim hat die Fähigkeit, sich zu entwickeln und ein selbständiges Wesen zu werden, – Suchen Sie aber einmal zu berechnen, wie viele Eier eines Bandwurms dazu kommen, wieder ein Bandwurm zu werden, und Sie werden zu dem Resultate gelangen, daß von einer Million Eier vielleicht nur ein einziges das ihm gesteckte Ziel erreicht, indem es den günstigen Boden, die zu seiner Existenz nöthigen Nebenbedingungen findet. Ganz so die Organismen. Jeder trägt den Keim der Veränderlichkeit in sich; unter Millionen findet vielleicht nur einer die nöthigen Nebenbedingungen zur Entfaltung dieses Keimes und das erreichte Resultat vererbt er auf Nachkommen.“
„Ich sehe noch immer nicht, wo das hinaus soll,“ warf Einer ein.
„Gleich sollen Sie bedient werden. Wenn Vererbung wie Veränderung ihre Resultate in die Geschichte des Organismus einschreiben, wenn beide während gewisser Zeiten und durch Generationen hindurch latent bleiben können, um beim Eintreten günstiger Bedingungen sich zu offenbaren, so können wir uns erklären, warum in den Generationsfolgen oft Erscheinungen auftreten, die außerhalb des gewöhnlichen Entwickelungsganges sich [206] stellen und die wir theilweise als Hemmungsbildungen, teilweise als Ahnenbildungen (Atavismen, von Atavus, der Ahn oder Aeltervater) bezeichnen. Beide Erscheinungen sind im Princip gleich, nur weisen uns die letzteren mehr auf nähere Charaktere zurück, die wir bei den Vorfahren in ausgebildetem Zustande auftreten sehen, während die Hemmungsbildungen durch Stehenbleiben eines Organs aus einer gewissen Entwickelungsphase uns nur diese repräsentiren. Erlauben Sie mir eine Erklärung. Wenn Menschen mit Hasenscharten, Wolfsrachen und ähnlichen Mißbildungen geboren werden, so werden wir dies eher eine Hemmungsbildung nennen, weil das Organ auf einer sehr früh von dem werdenden Individuum durchlaufenen Bildungsstufe stehen geblieben ist, welche, so weit wir bis jetzt wissen, von keinem ausgewachsenen normalen Typus dargestellt wurde. Wenn dagegen ein Pferdefüllen mit Streifen an den Füßen, wie ein Zebra, oder mit dreizehigen Füßen statt einer einzigen Mittelzehe geworfen wird, so nennen wir dies eher eine Ahnenbildung, einen Atavismus, weil wir mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit annehmen können, daß der Stammtypus der Pferde ähnlich gestreift war, wie die jetzigen wilden Pferde Afrikas, und weil ein Vorgänger des Pferdes der jetzigen Schöpfung, der in der jüngeren Tertiärzeit lebte und von den Versteinerungsforschern Hipparion genannt wurde, solche dreizehige Fuße besaß.
Das jetzige Pferdefüllen besitzt im Mutterleibe während einer früheren Periode in den stummelartigen Anlagen seiner Glieder ebenfalls Andeutungen von, nicht nur drei, sondern sogar fünf Zehen – dieselben schwinden aber wieder und zwar in der Weise, daß zuerst die äußeren, dann die beiden nächsten Zehen sich nicht entwickeln und nur die Mittelzehe sich ausbildet. Wenn statt dessen, wie es zuweilen vorkommt, auch zwei Seitenzehen sich ausbilden, die dann meistens, wie die sogenannten Afterklauen des Schweines, in einiger Höhe über dem Boden schweben, so daß das ausgewachsene Thier doch nur mit der Mittelzehe auftritt, so ist diese Bildung zugleich Hemmungsbildung – denn der Schwindungsproceß der beiden seitlichen Zehen wurde gehemmt – und zugleich Ahnenbildung, denn die ursprünglich nur in der Anlage vorhandenen und erst später weiter entwickelten Zehen, die Knochen, Bänder, Sehnen etc. haben, stellen die Füße des geologischen Ahnen vor, der in der Erdgeschichte dem Pferde vorausging.“
„Fiat applicatio – Nutzanwendung folge,“ sagte der Doctor, indem er eine Prise nahm.
„Sie haben Recht, Doctor,“ bestätigte ich; „die Nutzanwendung folgt gleich. Alle Anatomen sind jetzt, nach den genauesten Untersuchungen, darin einig, daß das Gehirn der Affen und der Menschen nach demselben Grundplane gebaut ist, gemeinsam selbst die feinsten Einzelheiten der Organtheile besitzt – daß beide nur durch die Ausarbeitung und die Proportion der einzelnen Theile, sowie durch die Massenentwickelung sich unterscheiden. Das Gehirn des menschenähnlichen Affen, selbst des Gorilla, dessen Körper doch wohl denjenigen des Menschen an Größe und Gewicht übertrifft, ist dennoch um zwei Dritttheile kleiner, als das Gehirn des Menschen, und diese Reduction betrifft wesentlich das sogenannte Großhirn, daß heißt diejenigen Theile, welche in der engsten Beziehung zu den geistigen Fähigkeiten stehen. Diese Ueberlegenheit des Menschengehirns ist zwar schon zum Theile vor der Geburt gegeben, denn das Kind kommt mit einem Gehirngewicht auf die Welt, welches dasjenige des neugeborenen Affen gewiß übertrifft, aber demjenigen des erwachsenen menschenähnlichen Affen nachsteht, freilich nicht in sehr hohem Grade; die Ueberlegenheit bildet sich aber wesentlich erst nach der Geburt und vorzugsweise im ersten Lebensjahre aus. Das Volumen des Gehirnes des neugeborenen Menschenkindes verhält sich zu demjenigen des erwachsenen menschenähnlichen Affen wie 4 zu 5; das des erwachsenen Menschen zu demjenigen des erwachsenen Affen wie 15 zu 5. Der Mensch erhält also sein Gehirnübergewicht hauptsächlich erst durch Wachsthum nach der Geburt, und dieser Umstand allein beweist schon, daß dieses Uebergewicht auch in der Geschichte der Gattung erst verhältnißmäßig spät erworben worden sei.
Nun stellen Sie sich ein Wesen vor, welches weder Mensch, noch Affe in des Wortes ganzer Bedeutung ist, dessen Gehirn nach dem allgemeinen Grundplane beider angelegt ist, das aber noch nach beiden Züchtungen hin sich entwickeln kann. Eine solche Bildung, welche eine Entwicklung nach beiden Richtungen hin gestaltet, besitzt das Gehirn der menschlichen Leibesfrucht in einer frühen Zeit. Die Gehirne aller Menschen ohne Ausnahme sind durch einen solchen Bildungspunkt hindurch gegangen. Stellen Sie sich vor, daß in diesem Zeitpunkte durch irgend einen Einfluß, den wir noch nicht weiter zu enträthseln vermögen, eine Bildungshemmung eintritt und ein Proceß sich entwickelt, ähnlich wie bei dem Füllen, welches dreizehige Füße zur Welt bringen wird. Das in seiner menschlichen Ausbildung gehemmte Gehirn wächst; – aber dieses Wachsthum schreitet nicht fort in der normalen Richtung, sondern es bleibt auf niederer Bildungsstufe theilweise stehen, theilweise folgt es der Richtung, welche der niederen Stufe angehört – es entwickelt sich in der Richtung des Affentypus. Das große Gehirn, besonders die Stirnlappen, die mit dem höheren Denken in engster Beziehung zu stehen scheinen, sowie diejenigen Theile der Stirnlappen, welche den neuesten chirurgischen Beobachtungen zufolge der Sitz der articulirten Sprache sind, bilden sich nach dem Gesetze der Affenentwickelung, nicht nach dem menschlichen Gesetze aus, wachsen auch nach der Geburt dem Affentypus nach, und die umgebenden Theile, die knöchernen Gehirnkapseln, modeln sich ebenfalls nach diesem Gesetze. Deshalb sehen wir auch bei Mikrocephalen, die ein mannbares Alter erreichen, dieselben Leisten und Kämme des Schädels sich ausbilden, welche bei dem alternden Affen sich entwickeln – kurz alle jene Zustände hervortreten, welche ich Ihnen vorher als charakteristisch für diese Mißbildungen darstellte.“
„Sie nehmen demnach an, daß diese Mißbildungen zugleich Hemmungsbildungen und Ahnenbildungen sind?“ sagte der Doctor.
„Gewiß,“ antwortete ich. „Sie führen uns hinsichtlich des Gehirns bis zu dem Punkte zurück, von welchem aus die beiden Zweige eines gemeinschaftlichen Stammes, Affe und Mensch, sich nach verschiedenen Richtungen hin entwickelt und mehr und mehr von einander entfernt haben, führen Sie sich einmal in Ihrer Vorstellung junge Affen und Kinder, alte Affen und erwachsene Menschen vor. Die Jungen sehen sich ähnlicher als die Alten – der Schädel eines jungen Affen ist demjenigen eines Kindes weit ähnlicher, als der Schädel eines erwachsenen Affen demjenigen eines Mannes. Im Wachsen entfernen sich die beiden Typen. Setzen Sie die auseinanderweichenden Linien, welche das beiderseitige Wachsthum darstellt, nach rückwärts fort, so werden sich dieselben in einem Punkte schneiden, und dieser ist, für das Gehirn, der Zeitpunkt, wo eine Bildungshemmung das Organ in die falsche Richtung hinüberleitet. Die letzte Schlußfolgerung aus diesen Prämissen ergiebt sich von selbst. Der Ursprung des Menschen kann nicht in einem jetzt lebenden Affen gesucht werden – die Affenmenschen führen uns zu einem Stamme, zu einem Ahnentypus zurück, der in früheren geologischen Perioden gesucht werden muß und von welchem aus die Typen sich spalteten. Aber so wie die menschenähnlichen großen Affen, Orang, Chimpanse und Gorilla, von verschiedenen Seiten her dem Menschen sich nähern – der erstere durch sein Gehirn, der zweite durch Schädel und Zähne, der dritte durch seine Gliedmaßen, und keiner von ihnen dem Menschen unbedingt näher steht als der andere, so zeigen sich auch bei den verschiedenen Menschenracen verschiedene Charaktere, wodurch dieselben ihren Ursprung und dadurch auch die Verwandtschaft mit dem Affen bekunden. Das haben die vortrefflichen, mit ebensoviel Umsicht wie Mühe ausgeführten Messungen der Herren Scherzer und Schwarz an Bord der Rovara, die neulich von Dr. Weißbach in Wien bearbeitet worden sind, deutlich nachgewiesen. Selbst die am höchsten stehenden Racen, die durch Maß und Ausbildung des Gehirnes über allen anderen stehen, sind noch, wie sich die Verfasser ausdrücken, mit solchen Erbstücken versehen, welche auf den gemeinschaftlichen Stammvater hinweisen.“
„Ich bescheide mich als Laie,“ sagte der Pater Rector, „und maße mir kein Urtheil über die von der Wissenschaft gewonnenen Resultate an, die schließlich doch meiner festen Ueberzeugung nach, mit dem zusammenstimmen werden, was uns Religion und Kirche lehren. Aber ein seltsames Geschöpf ist der Emil doch, und ich bin fest überzeugt, der Vogt würde viel darum geben, wenn er ihn haben könnte, um ihn den Aachenern in Person vorzustellen. Die würden Augen machen!“
„Das ließe sich vielleicht noch einrichten!“ antwortete ich, mit Mühe mein Lachen unterdrückend. „Wir könnten ja den Vogt, der noch in verschiedenen Städten hier am Rhein seine Vorlesungen hält, benachrichtigen, und ich bin überzeugt, er würde mit Vergnügen die Gelegenheit ergreifen. Würden Sie ihm den Emil [207] für den Fall leihen und ihm erlauben, ihn in Aachen und anderen Städten vorzustellen?“
„Ich?“ lachte der Pater. „Gewiß nicht! Abgesehen davon, daß unsere Regeln es nickt erlauben und meine Oberen mich mit Recht zur Verantwortung ziehen könnten, möchte ich mich um keinen Preis dem Zorne der Aachener aussetzen, indem ich dem Vogt solche Waffen in die Hände lieferte.“
„Ist schon geschehen,“ sagte ich, mich verneigend. „Ich habe die Ehre, Ihnen in meiner Person den Professor Carl Vogt von Genf vorzustellen.“
„Wahrhaftig!“ rief der Pater aus. „Nun, ich hätte mir es denken sollen! Aber es freut mich dennoch, Ihre Bekanntschaft gemacht und mich mit eigenen Augen überzeugt zu haben, daß Sie einem Affen nicht ähnlicher sehen, als der Doctor oder ich. Ohne diesen Augenschein hätte ich nach all’ dem Scandal, den man Ihrethalben gemacht, wohl das Gegentheil glauben können.“
Blätter und Blüthen.
Ein paar Stunden bei Sophie Schröder. „Sie kennen doch das Märchen von Schneewittchen, nicht wahr?“ sagte eine junge, liebenswürdige Dame eines schönen Tags zu mir, als ich mich ihr vis-ȧ-vis auf einen Divan gesetzt hatte und soeben meine Ueberraschung ausdrücken wollte über die geheimnißvolle Weise, in der sie mich hatte zu sich bitten lassen. „Sie kennen doch das Märchen von Schneewittchen?“ sagte sie.
„Jawohl, gnädige Frau, wenn Sie das allbekannte Märchen meinen von den ,sieben Zwergen über den sieben Bergen’ und dem ,Spieglein an der Wand’ –“
„Ganz recht,“ sagte sie, „eben das meine ich: würden Sie wohl geneigt sein, die Rolle des Prinzen zu übernehmen, wenn dieses Märchen dramatisirt würde und durch Dilettanten zur Aufführung gelangen sollte?“
„Warum nicht, gnädige Frau? wenn anders ich im Stande bin, die Rolle durchzuführen, da ich keine Uebung in Liebhaberrollen habe.“
Die Dame lächelte.
„Seien Sie ohne Sorge, es wird schon gehen,“ sagte sie. „Ich darf mich also darauf verlassen, Sie sind bereit die Rolle zu übernehmen?“
„Mit Vergnügen.“
Sie sagte mir noch einige schmeichelhafte Sachen – ich war damals soeben vom Gymnasium abgegangen, also sehr jung – und entließ mich wie immer mit einem gnädigen Lächeln, wobei sie mir die kleine feine Hand entgegenstreckte. Ich ging. Bald darauf erfuhr ich Näheres von der Sache. Das Stück war wirklich von einer Dame gefertigt worden, die einen nicht unbekannten Namen als Dichterin hat; die Rollen wurden ausgetheilt und begannen einstudirt zu werden.
Ich kann mich nicht dabei aufhalten, zu erzählen, wie hochkomisch es mir vorkam, wenn ich zwanzig Mal und noch öfter vor einem gepolsterten Lehnstuhl, der Sarg und Schneewittchen zugleich darstellte, auf die Kniee sinken mußte, sodann mit ausgebreiteten Armen mich über das nicht vorhandene todte Kind beugte und es zum frohen Erwachen voll heißer Liebessehnsucht auf den rothen Mund küßte, auf einen Mund, der nichts anderes war, als ein Stückchen Zeug von einem Sessel. Es war zum Sterben langweilig. Endlich war Alles fertig. Auch die andern Theilnehmer, die böse Königin, die sieben Zwerge, der böse Jäger, der Geist von Schneewittchens todter Mutter und endlich Schneewittchen und ich, der Königssohn, wir Alle hatten unser Möglichstes gethan.
Man hatte mir lange vorher schon gesagt, Sophie Schröder, die berühmte Schauspielerin, habe sich bereit erklärt, das Stück vor der Aufführung anzuhören und, was etwa fehlte in Auffassung und Darstellung der einzelnen Figuren, zu verbessern. Jetzt endlich war der Besuch bei Sophie Schröder auf einen bestimmten Tag festgesetzt. Als ich dort mit meinem Freunde, dem Anführer der Zwerge, ankam, waren bereits alle übrigen Theilnehmer versammelt; sie saßen um einen Tisch herum, in der rechten Ecke des Sophas aber sah ich eine alte kleine Frau sitzen, ein weißes Negligéhäubchen auf dem Kopfe, die uns mit ihren blitzenden kleinen Augen neugierig betrachtete. Es war Sophie Schröder selbst. Ich muß gestehen, als ich sie sah, die vierundachtzigjährige Frau, und ihr lautes eigenthümlich klingendes Organ hörte, als sie sprach: „So, so, das ist also der Königssohn!“ da war ich nicht sonderlich erbaut von ihr und erwartete mir wenig Verbesserung der Fehler. Die Probe begann. Sophie Schröder in einem Lehnsessel war das einzige Publicum. Vor Allem überraschte mich das ungeheuere Gedächtniß, das diese Frau noch in solch’ hohem Alter hatte; wenn sie irgend eine Scene von allen, die vorhanden waren, ein paar Mal durchgelesen hatte, so war sie im Stande dieselbe auswendig zu spielen. Und wie gewaltig erstaunte ich, als sie sich herbeiließ die Scene zu spielen, in welcher die böse Königin als Bettlerin verkleidet vor Schneewittchen kommt und, nachdem sie sie getödtet, den Mantel abwirft und im königlichen Gewande die Bühne verläßt. Ich habe nie mehr seitdem zwei Contraste stärker auf mich wirkend gefühlt. Da kam das kleine vom Alter gebeugte Frauchen herangetrippelt, so arm, so schwach, so krank und elend, und wie mit einem Schlag, als sie sich erhob und den Bettlermantel abwarf, stand sie da aufrecht und groß, als wäre sie nicht die alte Frau, sondern die junge, schöne Königin. Nachdem sie die Scene ausgespielt, sank sie wieder zusammen und war klein und auf den ersten Anblick unscheinbar wie zuvor.
Auch meine Scene[WS 1] mit dem Lehnsessel und dem Kuß mußte natürlich gespielt werden, diesmal aber mit Schneewittchen. Der ewige Lehnsessel aber oder was es sonst gewesen sein mag, hatte mich etwas kühl gemacht und ich war der alten Frau durchaus nicht feurig und nicht verliebt genug.
Nachdem sie mir lange Zeit zugehört und mich corrigirt hatte, sagte sie plötzlich:
„Junger Mann, kommen Sie ’mal vor mich her.“
Ich that, was sie wünschte.
„Sagen Sie mir“ fuhr sie sort, „wo haben Sie Ihre linke Seite?“
Ich deutete darauf hin.
Nun pochte sie mir mit ihrer kleinen Faust in die Herzgegend und rief: „Ja, haben Sie denn gar nichts da drinnen?“
Welche Frage allgemeine Heiterkeit hervorrief, umsomehr, als ich mir zu bemerken erlaubte, ich hätte wirklich nichts drinnen. Etwas später rief sie mir zu, sie sprach nämlich sehr laut, da sie etwas schwerhörig geworden war: „Sind Sie denn nicht verliebt?“ worauf ich mit „Nein“ antwortete.
Hierbei kann ich nicht mithin zu erwähnen, daß der Geist von Schneewittchens Mutter, der Frage und Antwort gehört hatte, und ebenso die böse Königin einigen Zweifel in die Wahrheit meiner Antwort zu setzen schienen; die Eine sagte nämlich: „’s ist halt noch nicht da!“ die Andere: „Ich glaub’ aber doch schon!“ welche Aeußerungen ich in einem unbegreiflichen Anfall von Schwerhörigkeit gar nicht vernahm.
Nachdem wir das Stück zwei Mal durchgespielt, wurden wir gnädig entlassen, meine Wenigkeit mit der besondern Ermahnung, ich möchte mich bis zur nächsten Probe etwas verlieben. Wirklich scheine ich dieser Ermahnung Folge geleistet zu haben, denn sie war das zweite Mal sehr mit mir zufrieden, wie denn überhaupt nur ihr allein es zu verdanken ist, wenn die Darstellung gerundet vor sich ging. Die zweite Probe war die letzte. Ein eigenthümliches Gefühl ergriff mich, als ich ihr beim Abschied die Hand küßte – wir thaten es Alle, denn sie sah sehr darauf – und sie uns noch zunickte, die alte kleine Frau mit dem weißen Negligéhäubchen auf dem Kopfe und den blitzenden kleinen Augen – ich habe sie seitdem nicht wieder gesehen. Lange Zeit sprachen wir, der Anführer der Zwerge und ich, der Prinz, über die denkwürdigen Stunden jener Theaterproben, und die Stunden bei Sophie Schröder waren uns die denkwürdigsten.
Der gelesenste Schriftsteller Frankreichs. In der Rue Lafayette ist soeben ein Prachtbau ausgeführt worden, dessen Fassade durch Sculpturen, Vergoldungen und Verzierungen aller Art die Blicke der Vorübergehenden lebhaft anzieht. Am Giebel dieses Hauses gewahrt man ein Medaillon in Bronze. Das Medaillon ist aber nichts Anderes als ein Sousstück von kolossalem Umfang. Was bedeutet diese Münze? Daß das Haus durch einzelne Soustücke, die von allen Enden und Ecken Frankreichs herbeigeströmt, erbaut worden. In dem neuen Gebäude wird nämlich das Petit Journal gedruckt und von dort täglich in zweimalhunderttausend Exemplaren verbreitet. Treten wir durch den hohen, mit Bildsäulen geschmückten Eingang in den Hofraum, so sehen wir einen fünfstöckigen Hinterbau, in welchem das genannte Tagblatt das Licht der Welt erblickt. Zu ebener Erde befinden sich vier Schnellpressen, von denen jede sechsunddreißigtausend Exemplare in einer Stunde druckt, so daß in weniger als zwei Stunden der Druck des Journals bewirkt wird. Der Satz wird im ersten Stock clichirt; im zweiten Stock arbeiten die Setzer; im dritten befindet sich die Redaction; im vierten wird das Blatt gefaltet, und endlich im fünften befindet sich die Expedition. Der Gründer des Petit Journal ist der Finanzmann Millaud; die außerordentliche Verbreitung dieses Blattes ist aber dem Journalisten Léo Lespès zu verdanken, der unter dem Namen Timothée Trimm seit 1863 täglich den Hauptartikel liefert. Trimm hat seit dem Bestehen des Blattes über achlzehnhundert Artikel geschrieben, und es giebt kein Dorf in Frankreich, in welchem sie nicht gelesen worden. Daß diese Artikel nicht lauter Meisterwerke sind, versteht sich von selbst; ebenso versteht es sich von selbst, daß Trimm sich oft wiederholt und daß ihm sehr häufig das Conversationslexikon aus der Noth helfen muß; allein schon der außerordentliche Erfolg seiner journalistischen Thätigkeit beweist hinlänglich, daß es ihm nicht an Begabung fehlt, um so mehr, als er nicht in den Fehler so vieler seiner Collegen verfällt, um jeden Preis die Leser anzuziehen, und Alles, was das Sittlichkeitsgefühl verletzen könnte, sorgfältig vermeidet. Er hat eine Anzabl kleiner Genrebilder, Erzählungen und Skizzen geschrieben, von denen einzelne in der That vorzüglich sind.
Léo Lespès ist im Jahre 1813 geboren. Er diente als Corporal im fünfundfünfzigsten Linienregiment, ohne sich Lorbeeren zu erobern. Sein Oberst überraschte ihn beim Versemachen und erklärte ihn für einen schlechten Corporal. Lespès selbst sah ein, daß ihm die Natur das Talent zu einem guten Corporal versagt hat; er zog daher die Uniform aus und trat 1840 als Journalist auf. Seit jener Zeit hat er die Schriftstellerfeder nicht mehr niedergelegt. Seine große Popularität datirt indessen erst von dem Erscheinen des Petit Journal, dem er eine solche Verbreitung verschaffe, daß von demselben im Jahre 1866 täglich dreihundert und zwanzigtausend Exemplare abgesetzt wurden. Dieser ungeheure Absatz hat zwar seit jener Zeit durch die Concurrenz des von der Regierung herausgegebenen Petit Moniteur abgenommen, das Petit Journal ist aber noch immer das gelesenste Blatt in Frankreich.
Léo Lespès ist ein ganz eigenthümlicher Kauz und seine äußere Ankündigung höchst auffallend. Ein kurzer, wohlbeleibter Mann, trägt er eine Art sammtner Blouse, sehr weite Beinkleider mit Stegen, ein rothes, lose geknüpftes Halstuch und eine faltenreiche Weste, auf welcher eine dicke, goldene Uhrkette glänzt, so daß man ihn für einen Menageriebesitzer oder den Eigenthümer eines Wachsfigurencabinets halten könnte. Er geht selten und nur eine ganz kurze Strecke zu Fuß, sondern fährt fast immer in [208] einer Droschke und theilt mit Rossini die Furcht vor der Eisenbahn. Die Photographen haben sein rundes, lachendes Gesicht schon so oft vervielfältigt, daß ihn in Paris so ziemlich Jedermann kennt. Von den Journalisten der sogenannten kleinen Presse wird er aus Neid sehr häufig angegriffen; er läßt sich aber mit ihnen wohlweislich in keine Polemik ein. Lespès hat mehrere Bände kleiner humoristischer Schriften veröffentlicht, von denen Manches wohl verdient, in’s Deutsche übersetzt zu werden. Welcher Popularität sich das Petit Journal erfreut, kann man daraus ersehen, daß dem neuen Gebäude gegenüber, in welchem es jetzt gedruckt wird, vor Kurzem eine Weinschenke mit dem Schilde „Au Rendez-vous du Petit Journal“ eröffnet wurde.
Das Geheimniß der alten Mamsell. Nachdem von E. Marlitt’s „Goldelse“ im Verlaufe von elf Monaten bereits drei starke Auflagen gedruckt werden mußten, ist nunmehr auch „das Geheimniß der alten Mamsell“ in einer besonderen Ausgabe erschienen. Auch über diese Erzählung wird also die Kritik erst ihr Urtheil zu fällen haben, nachdem die Stimme des Publicums bereits gesprochen hat. Nicht mit dem zagenden Schritte des Neulings, sondern als eine begehrte und beliebte Erscheinung tritt sie in die Reihe der selbstständigen Literaturexistenzen. Um die Blicke auf sich zu lenken, um offene Thüren und gute Freunde zu finden, bedarf sie der empfehlenden Fürsprache nicht. Schon während ihres Erscheinens an der Spitze dieses Blattes hat sie weit und breit in einem nicht gewöhnlichen, von Abschnitt zu Abschnitt sich steigernden Maße die Herzen gewonnen und nach ihrer Vollendung einen Eindruck zurückgelassen, den wir bei ruhigster und nüchternster Prüfung als einen durchaus tiefen und nachhaltigen bezeichnen müssen. Und das Interessante an dieser Wirkung ist, daß sich dieselbe nicht etwa einseitig auf die eine oder die andere Classe des Volks beschränkte, daß der Roman nicht blos die gebildeten oder die minder gebildeten Stände angesprochen hat, sondern daß unzweideutige Aeußerungen wärmster Theilnahme und innigsten Verständnisses in wirklich imposanter Masse aus den allerverschiedensten Schichten der Nation, den höchsten wie den bescheidensten Kreisen der Gesellschaft laut geworden sind.
Solche Erfolge, wie sie vor und neben Marlitt auch andere Schriftsteller in den Spalten der Gartenlaube errungen haben, gehören unstreitig zu den freundlichsten Erfahrungen des Redactionslebens, ein Gefühl voller und ganzer Befriedigung aber gewähren sie an und für sich der gewissenhaften Leitung einer Zeitschrift nicht, so lange ihnen nicht die Ueberzeugung zur Seite steht, daß es auch etwas wirklich Gutes und Geschmackvolles, etwas Gesundes und Förderliches gewesen, was in so besonderem Grade den Beifall des Publicums gefunden hat. Ob das „Geheimniß der alten Mamsell“ dieser Forderung entspricht? Wir behaupten es, ja, es gilt uns als ausgemacht, daß der anerkannte Reiz der ganzen Erzählung in der Gediegenheit ihres tieferen Werthes liegt. Wer sie gelesen hat, wird auch bald herausgefunden haben, daß sie trotz ihrer fesselnden und unterhaltenden Eigenschaften nicht einer gedankenlosen Unterhaltungssucht genügen, nicht durch ein Liebäugeln mit ästhetischen und sittlichen Schwächen, mit frivolen und oberflächlichen Neigungen des Zeitgeschmackes die Gunst einer modischen Alltagswelt gewinnen will. Ein charaktervolles Erzeugniß reifen Gesinnungsernstes, fesselt und wirkt sie vor Allem durch den edlen und hohen Ernst intensiver Gemüths- und Gesinnungswärme, von der sie durchströmt, durch den schönen und anmuthreichen Glanz sittlicher Reinheit, von dem sie umstrahlt und durchleuchtet ist. Indem der Leser mit hingebender Spannung und Ergriffenheit der Entwickelung eines dem Leben der Gegenwart entnommenen Familiendramas folgt, indem er der künstlerischen Schönheit der Darstellung und der ebenso lebendigen wie consequenten Durchführung der originalen Charaktere und Situationen sich freut, ist es doch im Grunde nur das sittliche Ringen, der große Ideenkampf unserer Zeit, welcher in dieser poetischen Verkörperung seine Aufmerksamkeit beschäftigt, der Kampf der Freiheit und Humanität gegen Knechtschaft und Unmenschlichkeit, der Streit der wahren Bildung wider lackirte und übertünchte Rohheit, der jubelnde Sieg des Lichtes über finstere und verhärtende Vorurtheile. Mag die scharfe Sonde kritischer Untersuchung immerhin an diesem Roman auch kleine Mangel entdecken: daß ein in so edlem Tone gehaltenes Werk mit solchem Inhalt und solcher Tendenz einen so großen und dankbaren Leserkreis zu gewinnen vermag, ist jedenfalls ein günstiges Zeugniß, nicht blos für das Darstellungstalent der bescheidenen Verfasserin, sondern auch für die Geschmacks- und Sinnesrichtung unseres heutigen Publicums. Man sieht, eine lebhafte Empfänglichkeit für wahrhaft Edles und Schönes ist reichlich vorhanden. Wo sie nicht geweckt und entfaltet ist, da hat auch sicher noch nicht der rechte Geist das rechte Wort gesprochen. – Ohne Zweifel dürfen wir auch dieser Separatausgabe rasch eine zweite Auflage prophezeien.
Eine neue Erzählung von Marlitt, welche mit dem Beginne des Frühlings in der Gartenlaube erscheinen sollte, wird nunmehr noch eine kurze Zeit auf sich warten lassen. Wiederholtes Unwohlsein zwingt die Verfasserin für jetzt noch zu einer Schonung ihrer Kräfte.
K. in L. Wir wollen Ihrem Urtheile nicht vorgreifen, aber von vielen Seiten wird uns das „Technikum“ in Mitweida bei Chemnitz als eine durchaus tüchtige Pflanzstätte für technische Wissenschaft dringend empfohlen. Die Fächer, welche die Anstalt besonders cultivirt, sind das Maschinenbaufach (und zwar praktisch und theoretisch, daher die Anstalt in Verbindung mit Maschinenwerkstätten steht), das Civilingenieurfach und das Handelsfach. Ferner schließt sich daran noch ein Cursus für „einjährige Freiwillige“.
Als ein wohl selten vorkommender Fall möge hier noch erwähnt sein, daß als Schüler ein bereits verheiratheter Maschinenfabrikant an der Anstalt sich befindet, der sich des Studiums halber mit seiner Familie dort aufhält; ebenso zählt diese Schule unter ihren den verschiedensten Lebensaltern angehörigen Zöglingen auch einen, der bereits das vierzigste Jahr überschritten hat. Solche Fälle, wie diese, müssen zu einer Anstalt nur Vertrauen erwecken.
Opferstock für Ostpreußen.
Es gingen ferner ein: Familie I. M. Baumann in Schemnitz (Ungarn) 10 fl.; aus Oelsnitz 2 Thlr.; Anna Marie 1 Thlr.; ein Leser der Gartenlaube in Naumburg 3 Thlr.; ein deutscher Commis in Prag 2 fl.; N. in Reichenbach 2 Thlr.; A. W. in Wien 2 Thlr.; einige Deutsche in Tannwald in Böhmen (durch E. Hausmann) 28 fl.; M. in Vollenhove 25 Sgr.; G. M. in Bensheim 2 Thlr.; zweite Sendung des Männergesangvereins „Teutonia“ in Paris 26 Thlr. 20 Sgr.; ein Abonnent aus Paderborn mit dem Motto: „Weil die Staatshülfe für Viele zu spät kommt“ 20 Thlr. – Theatervorstellung im Mädchen-Institute der Fr. M. Berghold in Osthofen 11 fl. rh. und 1 Thlr.; eine Wienerin 1 fl.; Irene H. in Irland 2 Thlr.; „ein Schelm giebt mehr als er hat“ 1 Thlr; A. Sp. und A. G. in Barmen 2 Thlr.; M. K. in Saalborn 1 Thlr.; Sammlung bei der Taufe Friedrich Rudolf Str. am 8. März 5 Thlr.; siebente Rate des runden Tisches in der Bahnhofrestauration in Crimmitzschau 6 Thlr.; aus Zeltweg in Oesterreich zur „Verwendung durch ein demokratisches Comité“ 28 fl.; E. R. P. E. in Weilbach 2 Thlr.; Flasche, Messer und Kork in Annaberg 4 Thlr. 18 Sgr.; aus Böhlen (Rudolstadt): vom Fabrikbesitzer Siemroth und dessen Personal 7 Thlr., Fabrikbesitzer Harrop und Personal 8 Thlr. aus dem Pfarrhause 1 Thlr. Gemeinde Böhlen 6 Thlr. 5 Sgr., zusammen 22 Thlr. 5 SGR.; D Z. in Todenwarte 2 Thlr.; aus Troppau durch die Buchhandlung Buchholz u. Diebel 36 fl. und 9 Thlr.; Preis eines Einlaß-Billets zum Maskenball des Deutschen Liederkranzes in New-York am 20. Februar, den Guido Schmidt nicht besuchte, 15 Dollars; Sammlung der Schulkinder in Mosen durch Lehrer Schurig 1 Thlr. 21/2 Sgr.; ein Ungenannter 1 Thlr.; Rechsteiner in Bozen 2 Thlr. 101/2 Sgr.; E. in Hannover 15 Sgr.; aus Trier 1 Thlr. 10 Sgr.; aus Heidelberg 1 Thlr.; Ertrag einer Lotterie, veranstaltet von den Schülerinnen der Classe I. b des Dr. Fischer’schen Mädcheninstituts in Leipzig 50 Thlr.; Sammlung unter den Deutschen in Belgrad, durch Baumeister E. Geisler 480 Piaster oder 8 Ducaten; G. und I. K. in Görkau 5 Thlr.; Emma Siegert in Riga 2 Thlr.; B. B. in Moskau 10 Rubel Silber; G. Vetter 5 Rubel; Unterofficiers-Frau Padow 1 Rubel; von einer deutschen Frau aus Rußlands Steppen 25 Rubel; Ertrag einer von vier Knaben veranstalteten Lotterie zum Besten ostpreußischer Lehrer 11 Thlr.; A. L. in Oberstein 10 Thlr. 26 Ngr. (40 Fr.); aus der rheinländischen Weinstube: für die ostpreußischen Lehrer von W. Laur 2 Thlr., für Singen eines Liedes 10 Sgr., Hugo W. 5 Thlr., Pdt. 2 Thlr., Dr. W. Hamm 2 Thlr., zusammen 11 Thlr. 10 Sgr.
Nicht zu übersehen!
Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Es sei uns verstattet, nur einige der uns wieder vorliegenden werthvollen Beiträge zu nennen, mit deren Abdruck im kommenden Vierteljahre begonnen werden soll:
Reichsgräfin Gisela. Novelle von E. Marlitt (Wir hoffen, mit der Veröffentlichung derselben noch im nächsten Quartale den Anfang machen zu können.) – Das Mädchen von Liebenstein. Erzählung von Fr. Bodenstedt. – Im Hause der Bonaparte. Novelle von Max Ring.
Aus dem Hotzenlande. Von Ludwig Steub. Mit Illustration von Theodor Pixis. – Die Junischlacht in Paris. Von Johannes Scherr. – Aus der Zeit der weichgeschaffenen Seelen. Mit Abbildung von Ludwig Pietsch. – Von drei großen Zauberern. Eine räthselhafte Geschichte von Rudolf Löwenstein. – Könige von Gottes Gnaden. Rothwein-Skizze von Paul Wendt. Mit Illustration. – Oesterreichische Berühmtheiten der Jetztzeit. Von Sigismund Kolisch. – An Bettinas Theetisch. – Eine Schlittenfahrt über den Splügen. Mit Illustration. – Charakterbilder vom Hofe des Onkels. – Handeln die Thiere aus Instinct oder Ueberlegung? Von Brehm. – Aus Immermann’s Kreis. Mit Illustration von Ludwig Pietsch. Bilder aus dem Berliner Rechtsleben. Nr. 2. - Winterleben in den Tiroler Bergen. Mit Abbildung. – Erinnerungen einer Dresdner Künstlerin. – Der letzte Ausbruch des Vesuvs. – Der Präsident auf der Anklagebank. Von einem Augenzeugen. – In der Försterstube. Mit Abbildung von Guido Hammer. – Der Sieur d’Artagnan. Von George Hiltl. – Das Thierleben in Paris. Von L. Kalisch. – Plaudereien aus meinem Leben. Von Karl von Holtei. – Fort mit den Ofenklappen! Von Hermes. – Aus dem Lande des Cognac. Von Paul Wendt. – Zu Deutschlands Sagenthron. Eine Thüringer Bergfahrt. Von Fr. Hofmann. etc. etc.
- ↑ Die Vorlesungen, welche Carl Vogt seit dem vorigen Jahre in Frankfurt a. M., Offenbach und Saarbrücken, in Mainz, Bremen,
Mannheim, Darmstadt, Nürnberg und Fürth und im Laufe des gegenwärtigen Winters in Köln, Aachen, Crefeld, Elberfeld und Essen, in Dresden,
Leipzig, Hamburg, Braunschweig und Berlin gehalten, haben überall ein so außerordentliches Aufsehen erregt, daß wir sicher auf das Interesse aller
unserer Leser zählen dürfen, wenn wir im obenstehenden, vom Verfasser eigens für die Gartenlaube ausgearbeiteten Artikel den denkwürdigsten Theil
der Schlußvorlesung, in welcher der Inhalt des ganzen Cyklus gipfelt, in mehrfach erweiterter Form mittheilen. Bei diesem Anlaß bemerken wir noch
auf die und von vielen Seiten gewordenen Anfragen, daß Carl Vogt stets mit Anträgen zu neuen Vorlesungen überhäuft ist, so daß nur diejenigen
Städte, die sich im Laufe des kommenden Septembers schriftlich direct an ihn nach Genf wenden, darauf rechnen können, eine Reihe seiner Vorlesungen
zu hören.
Die Redaction.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Scepe