Die Gartenlaube (1868)/Heft 17
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No. 17. | 1868. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Nie zuvor hatte eine Gemäldeausstellung eine solche Theilnahme gefunden wie die, welche Leopold Robert von seinen Werken und Studien im Laufe der Zeit veranstaltete. Man glaubte sich in jene schönen Tage versetzt, wo unter Leo dem Zehnten die Künste eine ungeahnte Blüthe entfalteten, wo Päpste, Cardinäle, Fürsten und die ersten Staatsmänner Italiens sich um den göttlichen Raffael schaarten und seine unsterblichen Schöpfungen bewunderten.
Auch heute drängte sich die vornehmste und eleganteste Gesellschaft in den Sälen des Capitols, von deren Wänden die Bilder jener gefangenen Räuber und ihrer Frauen, wie erstaunt über den unerwarteten Erfolg, auf diese feinen Damen und Herren der Aristokratie herniederschauten.
Hier sah man die Elite des römischen Adels, reiche Kunstmäcene, wie den bekannten Bankier und Fürsten Torlonia, Gemäldeliebhaber, wie den Cardinal Fesch, dort die angesehenen Fremden, besonders Franzosen und Engländer, die geistvolle Herzogin von Devonshire und ihren schottischen Landsmann Lord Kinnaird, Künstler und Schriftsteller von europäischem Ruf, die sich sonst nur für die erhabenen Denkmäler des classischen Alterthums zu interessiren pflegten und über die Leistungen moderner Künstler verächtlich mit der Achsel zuckten.
Vor dem schönen Bilde Teresina’s, das in dem Katalog als „junges Mädchen aus Sonnino“ bezeichnet war, stand ein hoher, älterer Mann mit ausdrucksvollen, feinen, aber abgespannten Zügen, aus denen jetzt ein jugendlicher Enthusiasmus sprühte, hervorgerufen durch den verwandten Geist, der ihm aus den Arbeiten des schnell berühmt gewordenen Künstlers entgegenleuchtete.
Es war der Dichter Chateaubriand, berühmt durch seine „Atala“, der augenblicklich hier in Rom verweilte, um von seinen politischen Kämpfen auszuruhen, nachdem er als Minister der undankbaren und verblendeten Bourbonen seine Entlassung erhalten hatte.
Sein Nachbar dagegen, dessen starkgeschnittenes Profil mit dem charakteristischen Spitzbart à la Henri quatre eher den Militär als den Künstler ahnen ließ, war der nicht minder berühmte Maler Horace Vernet, der Vorsteher der französischen Malerakademie in Rom. Beide unterhielten sich lebhaft über den tiefen Eindruck dieser Bilder, von dem sie sich jetzt Rechenschaft zu geben suchten.
„Es weht ein eigenthümlicher Geist in diesen Gemälden,“ sagte der Dichter, „ein unbeschreiblicher Reiz, der mich an jene Zeiten mahnt, wo ich selbst als ein junger Mann in den Urwäldern Amerikas schweifte, und angewidert von unserer modernen Civilisation, unter den wilden Stämmen die Urbilder zu meiner Atala fand. Bei dem Anblick dieses lieblichen Mädchenkopfes aus Sonnino wachen die alten Erinnerungen wieder in meinem Herzen auf.“
„Es war ein glücklicher Zufall, der den Maler in das frische Volksleben greifen ließ,“ erwiderte Vernet, nicht ohne leise Anwandlung des Künstlerneides.
„Sagen Sie lieber eine höhere Inspiration,“ rief Thorwaldsen, der hinter den beiden Bekannten stand und freundlich grüßend sich zu ihnen gesellte.
„Sie haben Recht, lieber Thorwaldsen,“ versetzte der Dichter. „Der göttliche Instinct hat dem Künstler den wahren Weg zu der Schönheit gezeigt, die einzig und allein die unverfälschte Natur darbietet. Ich möchte wohl den jungen Maler sehen und kennen lernen.“
„Dort steht er,“ entgegnete der Bildhauer, indem er auf eine an der entgegengesetzten Seite des Saales befindliche Gruppe zeigte, in deren Mitte Leopold Robert, fast beschämt über das ihm von allen Seiten gespendete Lob, verweilte. „Er spricht soeben mit dem Prinzen Napoleon, dem Sohn des Exkönigs, der vor Kurzem seine Cousine geheirathet hat.“
„Wie? Jener untersetzte, unansehnliche Mann mit dem düsteren Gesicht soll Leopold Robert, der Maler dieser herrlichen Bilder sein?“ fragte Chateaubriand enttäuscht.
„Allerdings hat ihm das Keiner zugetraut,“ bemerkte Vernet. „Mir selbst erschien er stets als ein menschenscheuer Sonderling, von dem ich nie etwas Großes erwartet habe.“
„Auch die Nachtigall hat ein unscheinbares Gefieder,“ scherzte Thorwaldsen, „und doch muß man sie bewundern.“
Während dieser Unterhaltung feierte Leopold Robert einen neuen Triumph, der noch mehr seinem Herzen als seinem Künstlerstolze wohl that. Seit jenem Abenteuer in der Nähe von Frascati war er der Freund des liebenswürdigen Prinzen geworden, den er aus den Händen der Briganten befreit hatte.
Die flüchtige Bekanntschaft gestaltete sich mit der Zeit immer inniger, da Beide, von gleicher Liebe für die Kunst beseelt, die vielfachsten Berührungspunkte fanden. Auch ihre ernsten Anschauungen harmonirten so sehr, daß die Schranken des Standesunterschiedes bald der gegenseitigen Sympathie weichen mußten und [258] schnell von ihnen vergessen wurden. Der Prinz begnügte sich nicht nur damit, den Maler in seinem Atelier öfters zu besuchen sondern führte ihn auch seiner Familie, seinen Verwandten zu, von denen Robert mit der zuvorkommendsten Freundlichkeit, fast mit Herzlichkeit, empfangen wurde.
Der Verkehr mit dem hochbegabten Geschlechte der Napoleoniden gestaltete sich immer vertraulicher und gewährte dem Maler einen ganz besonderen Reiz, der noch durch die Heirath seines Freundes mit seiner ebenso schönen wie geistvollen und liebenswürdigen Cousine eine neue Steigerung erfuhr.
Die Gattin des Prinzen, Prinzessin Charlotte, eine Tochter Joseph Bonaparte’s, der unter dem Namen eines Grafen von Survilliers in Amerika lebte, war in Brüssel von ihrer Mutter auf das Sorgfältigste erzogen worden und verband mit allem Zauber der äußeren Erscheinung eine seltene Bildung des Herzens und der Seele.
Ihre zarte Elfengestalt, die ätherische Figur, welche kaum den Boden zu beschweren schien, das schmale, feingeschnittene Gesicht mit den großen, seelenvollen Augen, die fast durchsichtige und doch nicht krankhafte Blässe des marmorartigen Teints, die wunderbare Beweglichkeit der zarten Züge, in denen sich jeder Wechsel des Gefühls, jeder Gedanke ihrer reinen Seele wie das Licht im Krystall zu spiegeln schien, verliehen ihrem ganzen Wesen den poetischen Hauch, den Ausdruck unnennbarer Sehnsucht und Begeisterung für alles Große und Schöne, fast befremdend in der Gesellschaft, der sie vermöge ihrer Geburt und ihres Ranges angehörte, gleich einer exotischen Blüthe ans fernen glücklichen Zonen.
Selbst ihre Kleidung, obgleich der damaligen Tagesmode angepaßt, verrieth ein gewisses ideales Streben, den künstlerischen Schönheitssinn. Das weiße, leichte Gewand von durchsichtigem Stoff, das Perlendiadem in dem aschblonden Haar, das nach englischer Sitte in zwei starken Locken auf den schneeigen Nacken niederwallte, der feine Spitzenmantel um die blendenden Schultern, durch eine kostbare antike Gemme festgehalten, harmonirten mit der ganzen duftigen Erscheinung, die, Würde mit Anmuth vereinend, einer griechischen Königstochter glich; wenn sie lächelte, an die holde Nausikaa, wenn sie ernst blickte, an die priesterliche Iphigenia erinnernd.
Jetzt sprach sie dem Künstler ihre Anerkennung mit Blicken und mit Worten aus, die ihm tief in die Seele drangen; ihr sinniges Lob erfreute ihn mehr, als alle die banalen Phrasen, welche er seit einigen Tagen von allen Seiten hören mußte.
„Ich fürchte nur,“ sagte die Prinzessin mit ihrem huldvollsten Lächeln, „daß der wohlverdiente Ruhm, der Ihnen zu Theil geworden, Sie den Freunden entfremden wird. Nennen Sie mich immerhin egoistisch, aber es schmerzt mich, wenn ich daran denke, daß Sie fortan der Welt mehr als uns gehören sollen. Wir haben nicht mehr, wie bisher, ein ausschließliches Recht auf Ihre Gesellschaft. Was aber soll aus unseren angefangenen Zeichnungen werden, wenn der Lehrer und Meister fehlt, unter dessen Leitung sie entstanden?“
„Alle meine bisherigen Erfolge,“ versetzte der Künstler mit leichtem Erröthen, „vermögen nicht die unvergeßlichen Abende aufzuwiegen, wo wir an jenen flüchtigen Skizzen arbeiteten, welche gemeinschaftlich von uns entworfen und ausgeführt, unser gemeinsames Eigenthum, der Mittelpunkt unseres Strebens waren. Lieber würde ich Alles hingeben, als auf meinen Antheil verzichten.“
„Und doch,“ bemerkte der Prinz, „ist der selbsterworbene Ruhm das Höchste. Wenn ich nicht Ihr Freund wäre, der sich an Ihrem Glücke freut, so würde ich Sie beneiden.“
„Sie bedürfen nicht des Ruhms,“ erwiderte Robert, „er ist das Erbtheil Ihres Geschlechts.“
„Der Stern unseres Hauses,“ versetzte der Prinz düster, „ist erloschen.“
„Wir müssen zu vergessen suchen und unser Schicksal mit Würde tragen,“ mahnte die Prinzessin. „Kunst und Freundschaft werden uns auch ferner trösten und die Trauer der Verbannten lindern. Nicht wahr, lieber Robert?“ fügte sie mit seelenvollem Blick hinzu.
„O wenn ich das vermöchte!“ stammelte verwirrt der Künstler, indem er ehrerbietig die ausgestreckte Hand der Prinzessin an seine Lippen führte.
Wie im Traume stand er noch und starrte der lieblichen Erscheinung nach, die längst freundlich grüßend an der Seite des Prinzen den Saal verlassen halte. Erst der herzliche Zuruf Thorwaldsen’s erweckte Robert aus seinen Gedanken.
„Glück auf, junger Freund!“ rief der berühmte Bildhauer, der ihm den reichen, excentrischen Lord Kinnaird als einen enthusiastischen Kunstliebhaber und Bewunderer seines Talents vorstellte.
„Ich freue mich,“ sagte dieser, „Ihre Bekanntschaft zu machen, da mich Ihre Bilder auf das Lebhafteste interessiren, besonders jener reizende Kopf des jungen Mädchens aus Sonnino, den ich zu besitzen wünsche, wenn er Ihnen feil ist.“
„Ich trenne mich nur ungern von dem Bilde,“ entgegnete der Maler, fast verstimmt über die unwillkommene Störung.
„Fordern Sie jeden Preis; außerdem möchte ich noch eine größere Bestellung bei Ihnen machen.“
„Ihre Herrlichkeit haben nur zu befehlen,“ versetzte Robert mit einer leichten Verneigung.
„Ich bin nämlich ein großer Freund und Bewunderer der berühmten Frau von Staël, deren Roman ,Corinna’ Sie gewiß kennen und wie ich verehren.“
„Corinna, ja Corinna!“ murmelte der Künstler zerstreut, während seine Gedanken weit abschweiften.
„Der Anblick Ihrer Bilder,“ fuhr der Lord fort, „die so wunderbar das Leben des italienischen Volkes erfassen, hat mich unwillkürlich an jene Scene erinnert, wo die begeisterte Improvisatrice an der Seite ihres Geliebten auf dem Vorgebirge von Misenum vor den entzückten Fischern ihre Lieder singt. Ich denke mir, daß Sie der einzige Maler sind, der diese poetischen Gestalten würdig wiederzugeben vermag.“
„Es ist eine große, aber auch schwere Aufgabe.“
„Wenn Ihnen das Süjet zusagt, so werden wir uns über die Bedingungen leicht einigen. Gestatten Sie, daß ich Sie morgen in Ihrem Atelier besuche, wo wir ungestört das Nähere verabreden können.“
„Ich werde morgen den Besuch Ihrer Herrlichkeit erwarten.“
„Und jetzt,“ sagte Thorwaldsen gut gelaunt, „will ich Sie dem berühmten Chateaubriand zuführen, der Ihre Bekanntschaft zu machen wünscht. Ihre Lordschaft werden uns entschuldigen, aber die Kunst geht nicht allein nach Brod, sondern auch nach Ruhm.“
So genoß jetzt Robert die höchste Anerkennung seines Talentes; aus einem unbekannten Maler war er plötzlich, gleichsam über Nacht, ein berühmter Künstler geworden. Sein Atelier, das er aus den Bädern des Diocletian nach einer der vornehmsten Straßen verlegt und mit dem nöthigen Comfort ausgestattet hatte, bildete den Sammelpunkt aller Kunstfreunde, Liebhaber und Käufer, die ihn, wie Lord Kinnaird und die Herzogin von Devonshire, mir ihren Bestellungen überhäuften.
Als er endlich ermüdet, und abgespannt von all’ den Huldigungen und Erfolgen in seine neue Wohnung zurückkehrte, harrte seiner eine freundliche Ueberraschung. Er fand seine Wohnung mit Blumen geschmückt und seine Staffelei mit frischen Lorbeerzweigen bekränzt. An der Thür erwarteten ihn seine alten Freunde aus den Bädern des Diocletian, die beiden Frauen Maria-Grazia und Teresina in ihrem kleidsamen Sonntagsstaat und Francesco in der Uniform eines päpstlichen Soldaten. Alle drei bemächtigten sich seiner Hände, die sie mit ihren Küssen zu bedecken suchten, so daß er sich kaum ihrer Liebe und Freudenbezeigungen zu erwehren vermochte.
„Aber was hat das Alles zu bedeuten?“ fragte er verwundert.
„Es lebe unser Wohlthäter!“ rief Francesco, „Evviva!“
„Evviva!“ wiederholten die Frauen mit glänzenden Augen.
„Wir feiern heute,“ nahm der ehemalige Brigant das Wort, „das Fest unseres neuen Schutzpatrons, des heiligen Roberto, dem wir die Freiheit und ein sorgenloses Leben zu verdanken haben. Auf Eure Vorstellungen hat der Prinz Napoleon bei Seiner Eminenz dem Herrn Cardinal Consalvi meine Begnadigung erwirkt und mir eine Anstellung bei den päpstlichen Carabinieren verschafft, nachdem ich gelobt hatte, ein ehrlicher Mann zu werden. Evviva il principe!“
„Evviva!“ klang es von Neuem.
„Und ich,“ berichtete Maria-Grazia, „bin ebenso wie Teresina durch Euch eine berühmte Frau geworden. Wo wir gehen und stehen, werden wir überall jetzt angestarrt wie Wunderthiere. O, [259] man kennt uns ans Euren Bildern und achtet uns jetzt ebenso sehr, wie wir früher verachtet waren. Ja, wir könnten jetzt wohlhabende Leute werden und goldene Pfeile in den Haaren tragen, wenn Teresina meinem Rathe folgen wollte.“
„Nein, nein!“ sagte das junge Mädchen erröthend. „Dazu werde, ich mich niemals hergeben und auch von Dir nicht überreden lassen.“
„Was ist da weiter? Alle Welt will jetzt nur Briganten und ihre Frauen besitzen. Die Herren Maler bieten uns Geld über Geld, wenn wir ihnen als Modelle sitzen wollen. Warum sollen wir ihnen nicht den Gefallen thun, wenn wir dafür gut bezahlt werden? Teresina aber sträubt sich dagegen, als ob diese Künstler Bären und Wölfe, nicht artige, manierliche Leute wären, wenn auch keiner unserer Eccellenza das Wasser reichen kann.“
„Ich schäme mich zu sehr,“ versetzte Teresina, „außerdem halte ich es für eine Sünde, sein Gesicht zu verkaufen und für Geld seine Züge preiszugeben.“
„So willst Du auch mir nicht ferner sitzen?“ fragte Robert, sie anblickend.
„Euch!“ erwiderte sie mit vor Bewegung zitternder Stimme. „O, das ist ganz etwas Anderes! Ihr seid wie die Heiligen, denen man vertrauen darf. Auch habt Ihr mich von der verhaßten Verbindung mit Mattia befreit, wofür ich Euch bis zu meiner Todesstunde danken werde. Ich bin nur Eure Magd, über die Ihr zu gebieten habt.“
„Und ich,“ fügte Maria-Grazia naiv hinzu, „bitte Euch, auf Eurem nächsten Bilde mich nicht zu vergessen. Es ist doch gar zu schön, wenn man so von aller Welt angeschaut und bewundert wird.“
„Ihr dürft Beide auf meinem nächsten Gemälde nicht fehlen,“ erwiderte Robert freundlich. „Wir können gleich morgen, wenn Ihr Zeit habt, beginnen.“
Von jener Schöpfungskraft beseelt, die jeder bedeutende Erfolg hervorzurufen pflegt, ging Robert schon in den nächsten Tagen an die Ausführung jener Bestellung, welche der reiche Lord bei ihm gemacht hatte, nachdem er sich mit ihm über den Preis und die näheren Bedingungen geeinigt hatte. Mit Feuereifer arbeitete er an der Skizze, indem er zunächst die Gruppe der Zuhörer entwarf, welche sich um die begeisterte Corinna, deren Gesang bewundernd, schaaren sollten.
Unter diesen Gestalten erblickte man zu den Füßen der genialen Sängerin das wohlgelungene Portrait Maria-Grazia’s mit einem schönen Kinde auf dem Schooß, wodurch sie sich nicht wenig geschmeichelt fand.
Noch fehlte ihm aber die Hauptfigur, die Heldin des Romans, Corinna, für die er das zartere Gesicht Teresina’s als Modell zu benutzen gedachte. Je weiter aber das Gemälde vorrückte, desto weniger befriedigte ihn dasselbe, indem er an sich selbst die höchsten künstlerischen Anforderungen stellte. Mit Unmuth bemerkte er, daß die kindliche Schönheit Teresina’s nicht seinem Ideale entsprach, da ihr gerade jener geistige Ausdruck, die höhere Inspiration fehlte, welche das Bild der genialen Dichterin von ihm forderte.
Erst jetzt erkannte er, daß der bloße äußerliche Reiz des jungen Mädchens nicht den Mangel der inneren Bildung zu ersetzen vermochte, daß ihr jener Seelenadel, der eigenthümliche Zauber fehlte, welchen allein Cultur und Erziehung ihren bevorzugten Lieblingen verleihen, daß sie jenes anziehende Fluidum der Intelligenz, eines tieferen Verständnisses vermissen ließ, das uns aus den Blicken und den Zügen, aus den Reden und der Haltung geistig bedeutender Frauen so wunderbar anspricht.
Teresina war nur das arme, einfältige Kind der Berge, schön wie eine wilde Blume, anmuthig wie das schüchterne Reh, voll unbewußter Grazie und Poesie, die unwissende Tochter eines reich begabten, aber verkommenen Volkes.
Vergebens suchte der Künstler in ihrem Gesichte die Spuren des göttlichen Funkens, in ihren Zügen das Urbild einer Corinna. Fortwährend ließ er sie neue Stellungen einnehmen, ihren Kopf bald nach dieser, bald nach jener Seite wenden, indem er der falschen Beleuchtung die Schuld gab.
Er war mit seiner bisherigen Leistung unzufrieden, weshalb er unaufhörlich daran änderte, besserte, radirte, bis er voll Ungeduld die Staffelei bei Seite schob und die Sitzung beendete.
Zum ersten Male verabschiedete er Teresina fast unfreundlich, so daß sie ihn traurig verließ und nur mit Mühe ihre Thränen unterdrücken konnte, da sie ihn durch ihre Ungeschicklichkeit gekränkt zu haben glaubte.
„Ich will es morgen besser machen,“ sagte sie mit rührender Demuth, während sie den abgelegten Schleier in ihren Haaren befestigte.
„Vielleicht wird es mir dann besser gelingen. Ich bin heut’ nicht aufgelegt,“ entschuldigte Robert seine frühere Barschheit, die ihm jetzt leid zu thun schien.
Seine freundlichen Worte verscheuchten wie ein Sonnenstrahl die Beklommenheit des jungen Mädchens, daß es bald wieder wie eine frische Rosenknospe unter Thränen erröthend lächelte.
Wenige Augenblicke später schloß auch Robert sein Atelier und schlug den ihm nur zu bekannten Weg nach dem Palaste des Prinzen Napoleon ein, um diesem für die durch dessen Verwendung erfolgte Begnadigung Francesco’s zu danken, wozu ihm bis jetzt die Zeit gefehlt hatte.
In der durch Geburt und Schicksal gleich ausgezeichneten Familie fand er, was er schmerzlich vermißt halte, die innigste Theilnahme, das feinste Verständniß für seine künstlerischen Leistungen. Der Prinz selbst war eine tiefere Natur und besaß ein mehr als gewöhnliches Talent, während seine Gattin kleine reizende Landschaften in Sepia malte, zu denen Robert die Figuren entwarf. Diese gemeinsame Beschäftigung bildete zwischen Beiden ein zartes Band, wodurch sie immer inniger miteinander verknüpft wurden. In ihrer Nähe legte Robert seine gewöhnliche Schüchternheit ab und entfaltete den ganzen Reichthum seines Geistes, wogegen die Prinzessin durch ihre Feinheit und Liebenswürdigkeit ihn, wie alle Welt, bezauberte.
Mit ihr allein durfte er von seiner Mutter und seinen Geschwistern sprechen, die er auf das Innigste liebte; sie hörte mit dem wohlthuendsten Interesse ihm zu, wenn er von seiner Jugend, von der Schweizer Heimath erzählte, wie er als Knabe in den Bergen umhergeirrt, als Jüngling für seine Kunst gekämpft und gelitten. Selbst seine jetzigen Erfolge hatte er zum Theil dem freundlichen Zuspruch zu verdanken, mit welchem sie seinen Muth aufrecht erhielt und ihn in seiner Richtung bestärkte. Für das Alles besaß die reizende Frau nicht nur den feinsten Sinn, sondern auch die nöthige Herzens- und Geistesbildung. Kein Wunder, daß er sie wie ein höheres Wesen verehrte, daß er sich zu ihr hingezogen fühlte, wie zu keinem andern Weibe auf Erden.
Noch nie aber hatte er dies Gefühl so lebhaft empfunden, wie an diesem Abend, wo ihm die Gelegenheit geboten wurde, sie nicht nur mit der armen, tief unter ihr stehenden Teresina, sondern mit den ihr ebenbürtigen Damen aus der besten Gesellschaft zu vergleichen, die sich heute zufällig in ihrem Salon zusammenfanden.
Nicht blos durch ihre hohe, schlanke Gestalt, sondern auch durch ihre geistige Größe ragte die Prinzessin über den andern Frauen empor, indem Alles, was sie that und sprach, den Stempel wahrer Vornehmheit, des angeborenen Seelenadels trug, gemildert durch die zarteste Weiblichkeit. Unwillkürlich bildete sie den Mittelpunkt dieses Kreises mehr oder minder bedeutender Menschen, unter denen ihr Gatte, wie all’ die Andern, ihr Uebergewicht anerkannte, ohne daß sie danach strebte.
Mit ihr wetteiferte eine nahe Verwandte des Hauses, Fräulein Juliette de Villeneuve, welche die Lebhaftigkeit der Südfranzösin mit der Eleganz und dem sprühenden Witz der Pariser Salons zu vereinen wußte. Sie allein vermochte durch ihren schalkhaften Uebermuth dem ernsten Gesicht des Prinzen Napoleon ein heiteres Lächeln abzugewinnen. An der Seite ihres Verlobten, strahlend vom Glück der jungen Liebe, bildete sie mit ihren mehr pikanten als schönen Zügen, mit ihrer sprudelnden Heiterkeit und guten Laune den entschiedensten Gegensatz zu der mehr majestätischen Schönheit und dein tieferen Wesen der Prinzessin.
Während Robert zwischen den beiden ungleichen Freundinnen saß, dachte er unwillkürlich an das Bild seiner Corinna, für das er vergebens nach einem entsprechenden Ideale suchte. Jetzt erst glaubte er dasselbe gefunden zu haben, aber wie durfte er hoffen, daß die hohe Frau sich jemals dazu hergeben würde, ihm zu diesem Zwecke zu sitzen? Der bloße Gedanke erschien ihm eine Vermessenheit, wie ein Frevel an dem Heiligsten.
Abgezogen durch seinen seltsamen Ideengang, beachtete er kaum die Neckereien seiner pikanten Nachbarin, die ihn mit seiner Zerstreutheit aufzog.
[260] „Sie müssen heirathen,“ sagte Fräulein von Villeneuve lachend, „damit Sie für die Gesellschaft wieder genießbar werden. Jetzt, wo Sie ein gemachter Mann sind, brauchen Sie nur die Hand auszustrecken und es kann Ihnen nicht an den besten Partien fehlen.“
„Wo denken Sie hin, mein Fräulein?“ versetzte Robert verlegen.
„Durch eine Heirath werden Sie zugleich Ihre Position befestigen und mehr Vertrauen einflößen. Ich gestehe Ihnen offen, daß ich mich nur schwer entschließen würde, einem unverheirateten Künstler in seinem Atelier zu sitzen. Schon um mein Portrait, das ich gern von Ihrer Meisterhand meinem Verlobten schenken möchte, zu malen, sollten Sie sich beeilen, meinen wohlgemeinten Rath zu befolgen,“ scherzte die heitere Juliette.
„Und doch,“ versetzte Robert ernst, „könnte ich mich selbst um einen so hohen Preis, den Sie mir in Aussicht stellen, nicht zu einem solchen Schritt entschließen.“
„Ah!“ rief die lebhafte Französin, „das wird ja immer interessanter. Fast vermuthe ich, daß Sie bereits Ihr Herz verloren haben, daß Sie lieben, romantisch, unglücklich lieben.“
Es folgte eine fast peinliche Pause, da Robert nicht jene Leichtigkeit des Geistes besaß, um dem Witz mit Witz zu begegnen. Wie die meisten tiefer angelegten Naturen, litt auch er an einer gewissen Schwerfälligkeit, so daß ihm das rechte Wort zur rechten Zeit gewöhnlich fehlte.
„Ich glaube,“ sagte jetzt die Prinzessin, ihm in seiner Verlegenheit zu Hülfe kommend, „die Gründe unseres Freundes besser zu kennen. Herr Robert ist, wenn ich nicht irre, der Ansicht, daß der Künstler überhaupt sich nicht binden, sondern ausschließlich nur seiner Kunst leben soll.“
„Eine wunderliche Ansicht!“ bemerkte Fräulein von Villeneuve. „Ich begreife nicht, warum der Künstler nicht ebenso gut, wie jeder andere Mensch, heirathen kann.“
„Weil die Kunst,“ versetzte die Prinzessin mit leuchtenden Blicken, „eine Religion, der Künstler ihr Priester ist, weil er im Dienste seiner Gottheit durch kein irdisches Verlangen, durch keine gemeine Sorge, durch kein alltägliches Bedürfniß sich beflecken darf. Er muß sein Herz, die Freuden des Lebens, jede vergängliche Lust zum Opfer bringen, um zum Lohn den Kranz der Unsterblichkeit zu erringen. Der Lorbeer Apollo’s ist unfruchtbar, aber unvergänglich und macht den Göttern gleich. Das mit ihm geschmückte Haupt ist geweiht für ewige Zeiten.“
„Corinna!“ jubelte es in den geheimsten Tiefen des Künstlerherzens, während seine Seele, trunken vor Begeisterung, an den Lippen der Prinzessin hing, die seinen innersten Gedanken die ihm fehlenden Worte lieh.
Die Dazwischenkunft einiger Herren unterbrach die interessante Unterhaltung, oder gab ihr vielmehr eine politische Färbung, da die meisten der anwesenden Napoleoniden und ihre Freunde mehr oder minder an der damals sich vorbereitenden revolutionären Bewegung Italiens den lebhaftesten Antheil nahmen.
Man sprach von der Lage des Landes, von den Aussichten und Hoffnungen der liberalen Partei, von dem letzten mißlungenen Aufstande im Jahre 1820, der durch die Intervention der österreichischen Bajonnete unterdrückt worden war, vor Allem aber über die Stellung Frankreichs, das Land ihrer Sehnsucht, wo die verbannten Napoleoniden noch immer zahlreiche geheime Freunde und ergebene Agenten zählten.
Während die älteren Familienglieder eine gebotene Vorsicht in ihren Reden und Aeußerungen beobachteten, überließ sich das jüngere Geschlecht, besonders der Schwager und Cousin des Prinzen, der durch seine politische Exaltation bekannte Fürst von Canino, den ausschweifendsten Plänen und Aussichten auf den nahen Sturz der Bourbonen und die Beseitigung der päpstlichen Herrschaft.
Seine Aufregung theilte sich sichtlich auch dem stillen und mehr in sich gekehrten Prinzen Napoleon mit, der plötzlich wie verwandelt erschien und mit feuriger Gluth von der nahen Befreiung Italiens, von der Erhebung Frankreichs schwärmte, bis die ihn fast ängstlich beobachtende Gattin durch ein leise zugeflüstertes Wort ihn zu beruhigen suchte, worauf er sogleich verstummte.
Sie selbst benutzte die eingetretene Pause, indem sie an das geöffnete Clavier trat und das berühmte „Stabat“ von Pergolese mit der höchsten künstlerischen[WS 1] Vollendung vortrug, womit es ihr gelang, wie durch ein Wunder den aufgeregten Sturm zu beschwören und eine fast andächtige Stimmung hervorzurufen. Keiner der Anwesenden fühlte sich tiefer ergriffen, als Robert. Neben dem kostbaren Brillant an ihrer Hand, die sie ihm freundlich zum Abschied reichte, glänzte seine Thräne, auf die sie gedankenvoll blickte, nachdem er längst gegangen war.
In gehobener Stimmung saß Robert am nächsten Morgen an seiner Staffelei, ohne erst die Ankunft Teresina’s zu erwarten. Nie war ihm die Arbeit besser von Statten gegangen, nie fühlte er sich heiterer und leichter aufgelegt, als ob seiner Seele über Nacht neue Schwingen gewachsen wären.
Die helle Sonne strahlte in das Atelier und vergoldete das Bild, aber noch heller sah es in seinem Herzen, noch goldener in seinem Innern aus. Wie ein Nachtwandler oft im Traum die schwierigsten Aufgaben spielend löst, vor denen er wachend zurückschrickt, so bewältigte heute der Künstler in seiner glücklichen Stimmung das Schwerste mit bewundernswürdiger Leichtigkeit.
Immer deutlicher und klarer trat auf der Leinwand die Gestalt seiner Corinna hervor, so daß er mit Zufriedenheit auf sein halb vollendetes Werk jetzt blicken durfte, welches dem ihm vorschwebenden Ideale geistiger Größe und dichterischer Inspiration mehr und mehr zu entsprechen schien.
Ganz vertieft in seine Arbeit bemerkte er nicht das Erscheinen Teresina’s, die zur bestimmten Stunde mit leisen Schritten in das Atelier eingetreten war und jetzt erschrocken, mit weit geöffneten Augen und angehaltenem Athem auf das vorgeschrittene Gemälde starrte.
Ein schmerzlicher Seufzer, der sich der gepreßten Brust des jungen Mädchens entrang, weckte Robert aus seinen Träumen.
Jetzt erkannte er sie; das bleiche schöne Gesicht von Thränen überströmt, glich sie dem zu Stein gewordenen Schmerz, einer Marmorstatue der tiefsten Trauer.
„Was fehlt Dir?“ fragte er verwundert über ihr verwandeltes Aussehen.
„O, das ist nicht mein Bild, das sind nicht meine Züge,“ schrie sie von Eifersucht ergriffen, indem sie mit südlicher Heftigkeit auf die Gestalt der halbvollendeten Corinna deutete.
„Du träumst,“ entgegnete der Maler verwirrt. „Wer außer Dir sollte mir gesessen haben?“
„Prinzessin Carlotta, die Ihr liebt,“ versetzte Teresina in wildem Schmerz.
„Unglückliche!“ rief der Maler, wie von einem Blitz getroffen.
Die Binde war von seinen Augen gewaltsam gerissen.
Ein tiefes peinvolles Schweigen folgte der unerwarteten Entdeckung, nur unterbrochen von dem leisen Schluchzen der armen Teresina. Robert sank zusammenbrechend in den nächsten Stuhl und bedeckte mit beiden Händen das blasse, schwermüthige Gesicht; er wollte nicht mehr das verräterische Bild sehen, das ihn an seine geheime Schuld mahnte. Als er endlich wieder aufzublicken wagte, war Teresina verschwunden.
Mit schwankenden Schritten erhob er sich jetzt und trat zögernd, aber entschlossen an seine Staffelei. Ein Strich mit dem Pinsel über das Gemälde und die schöne Gestalt Corinna’s, oder vielmehr der Prinzessin Charlotte war vernichtet; es war ihm, als ob er seine Liebe getödtet hätte.
Aber ihr Bild lebte fort in seinem Herzen – das Bild der Gattin seines besten Freundes!
Bilder von der deutschen Landstraße.
Wie die Stadt Leipzig, mit Allem, was darin und daran ist, seit dreißig Jahren eine vollständig veränderte Physiognomie angenommen hat, sind auch die siebenhundertjährigen Träger ihres Handels, die Messen, nicht im Stande gewesen, sich vor dem Einflüsse der fortschreitenden Zeit zu bewahren. Ich spreche hier indeß nicht von diesem Einfluß, soweit er sich auf die eigentlich mercantilischen Verhältnisse selbst geltend gemacht hat, meine Betrachtung gilt vielmehr einzig und allein den Jüngern der Kunst, den rastlosen Vagabunden der Muse, welche sich die Lebensaufgabe gestellt haben, des Menschen Herz durch die Klänge ihrer Instrumente [261] zu erfreuen und den Dank dafür in landesüblicher Scheidemünze hinzunehmen. Was wäre die Leipziger Messe ohne Harfenmädchen und Straßenmusik! Würde sie nicht einem ländlichen Hofe zu vergleichen sein, dem das fröhliche Schnattern der Gänse, das belebende Krähen der Hähne fehlt?
Die Kunst, die Seele des Menschen, den Gesetzen der Schönheit gemäß, durch Töne zu erfreuen, oder vielmehr die Erfindung der Musik als eine Nachahmung der Naturtöne und Thierstimmen, gab schon frühzeitig Veranlassung, die einfache Bitte um ein Almosen mit einer anständigen Hülle zu umkleiden und für die erlangte Gabe einen Gegendienst zu bieten. Hierin liegt wohl auch der Ursprung der fahrenden Musikanten. Dieselben wurden bald eine willkommene Erscheinung und fanden im stolzen Fürstenschlosse wie im schlichten Bürgerhause freundliche Aufnahme. Damals sprach noch das einfache, zur Laute oder Harfe gesungene Lied mächtiger zum Herzen, als dies jetzt das Trompetengeschmetter, Paukengewitter und wilde Chaos unserer modernen Opernmusik auf das musikalische Dilettantenthum zu thun vermögen. Als jedoch mit dem siebenzehnten Jahrhundert die Tonkunst in die bürgerlichen Kreise einzudringen begann, als ein Spinetlein in jeder anständigen Familie ein ebenso nöthiges Erforderniß geworden war, wie jetzt ein eleganter Flügel, da sanken die bisher als gerngesehene [262] Gäste aufgenommenen Musiker zu bezahlten Creaturen herab. Sie wurden zur Belebung der Fröhlichkeit nicht mehr eingeladen, sondern gemiethet. Die Stadtpfeifer bildeten eine Zunft, die fahrenden Künstler dagegen sahen sich genöthigt, als Genössen der Seiltänzer, Possenreißer und Bänkelsänger öffentlichen Festen und Jahrmärkten nachzuziehen.
Zu Anfang dieses Jahrhunderts findet man in Leipzig die ersten Spuren der Harfenmädchen, die aber damals ebenfalls zur Straßenmusik gehörten und von Haus zu Haus gingen. Später spielten und sangen sie größtentheils in Wirthschaften, wie auch jetzt noch. Noch vor vierzig Jahren trugen die Harfenistinnen ein bescheidenes Kattunkleid, wie es die eigene Hand geschaffen, und das dunkle Haar deckte ein einfaches Häubchen. Dabei lachte aber das freundliche Auge des Preßnitzer Schmidt-Resels oder Plodky-Vrenerls so schelmisch und herzerwärmend aus den hübschen gebräunten Gesichtchen heraus, daß es der jungen Männerwelt bei der letzten Strophe des Liedes „Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben“ in der Brust ganz warm wurde und Jeder das Geständniß der frischen Lippen auf sich bezog. Dies war jedoch ein großer Irrthum. Die Mädchen verhehlten nicht, daß fast Jede von ihnen daheim in Preßnitz einen Schatz hatte, dem sie Treue gelobt, und wenn sie auf ihren musikalischen Wanderungen etwas zusammengespart, sollte die Hochzeit sein. Und hatte man seine Spende auf das Notenblatt gelegt, dann war die Künstlerin zufrieden und dachte bald daran, die Harfe heimzutragen in das bescheidene Quartier, wo unter dem Schutze einer mitgebrachten Ehrenmutter wohl ein Dutzend Harfenistinnen gleich der Glucke mit ihren Küchlein zusammenwohnten.
Das Alles ist jetzt anders geworden. Die Harfenistinnen sind junge Damen, an deren ausgeschnittenem Seidenkleids nicht selten eine goldene Uhr prangt, deren Finger Diamantringe, deren Ohren, Arm und Hals goldene Bijouterien schmücken. Unter dem koketten Hütchen glänzt das herausfordernde Auge der sich fühlenden Künstlerin. Und auch eine Leibwache fehlt diesen Priesterinnen der heiteren Muse nicht. Gewöhnlich bildet dieselbe um das Orchester einen Kreis und besteht aus Herren der verschiedensten Jahrgänge, neben sich ein Glas Schlummerpunsch, im Munde die Cigarre, aus deren Dämpfen Spiel und Gesang der oft unsichtbaren Künstlerinnen wie aus einer olympischen Wolke ertönt. Ist aber der Radetzkimarsch mit seinen: „der Käser Franz Juseph und Käsrin Lisabeth“ oder die Frage des Preußen, ob man seine Farben kenne? aus Mund, Harfe, Geige und Guitarre heraus, dann ist auch die beringte Schwanenhand mit dem unverwüstlichen Notenblatte sicherlich so viele Male dagewesen, wie es in Deutschland noch Staaten zu annectiren giebt. Beim Nachhausegehen werden den alten Herren der bevorzugten Runde gewöhnlich die Instrumente anvertraut, während der jüngere Theil der Leibwache den Künstlerinnen den persönlichen Schutz octroyirt.
Die Musikcorps, welche früher während der Leipziger Messen die Straßenmusik besorgten, bestanden fast nur aus sächsischen Bergleuten, insgemein wohlgeschulten Männern, die daheim des Sonntags auf den Dörfern zum Tanze aufspielten und außer den wenigen Wochen, wo sie ihr Meßgeschäft machten, im finstern Schooße der Erde nach Metallen wühlten. Selten sieht man noch ein solches Bergmannscorps. Dagegen strömten, seit etwa einem Jahrzehnt, aus allen Gegenden der Windrose musikalische Rattenkönige nach Leipzig, deren ganzes Wissen sich oft nur auf die unbestreitbare Wahrheit gründete, daß für Blasinstrumente Luft und für Streichinstrumente ein Bogen erforderlich sei. Man kann sich denken, durch welche Kunstgenüsse diese musikalischen Wilden die Stadt in Aufruhr versetzten. Ihre Quartiere pflegten diese „in der Nachahmung von Naturtönen und Thierstimmen“ unübertrefflichen Künstler in einer nicht gerade von der haute volée Leipzigs bewohnten Straße unfern des bekanntlich mit allerhand Meß- und Schaubuden besetzten Roßplatzes aufzuschlagen, in welcher seit Menschengedenken für das weniger bemittelte Künstlerthum bescheidenen Ranges Massenquartiere eingerichtet waren. Ich habe vor Jahren Gelegenheit gehabt, einen Blick in ein solches Asyl der Meßkunstwelt zu thun. In dem geräumigen, aber niedrigen Zimmer der Kunsthütte stand ein Bett, welches ein Feuerfresser, der am kalten Fieber litt, ein blinder Leierkastenmann, der sich das Achselbein ausgefallen, und noch ein dritter Mann eingenommen hatten, dessen Nase in allen Farben spielte und sich nur mit einer ungeheueren, verdorbenen Samengurke vergleichen ließ. Auf einem Strohlager wälzten sich ein halbes Dutzend kleine, in Lumpen gehüllte menschliche Schmutzklumpen mit Kinderköpfchen, und neben ihnen, auf verschiedenen Holzbänken, saßen Männer, Frauen, Mädchen und halbwüchsige Buben, sich reinigend, Kleider und Strümpfe ausbessernd, lachend, singend, plaudernd, essend – Alles in fröhlicher Genossenschaft. Nicht weniger als zwölf Musikanten gehörten zur Gesellschaft, von welchen nicht einer eine Ahnung hatte, was eine Note sei. Auch der Raum unter dem Bette war besetzt. Dort hatte man – es war Morgens zehn Uhr – eine betrunkene Frau untergebracht, wahrscheinlich eine Bänkelsängerin, denn sie sprach in Versen von Mord und Todtschlag in einem unterirdischen Gewölbe.
Man wird mir gern eine weitere Schilderung dieses Massenquartiers erlassen. Ich verließ es, als die Musiker ihre „Probe“ begannen, ein Pfeifen, Heulen, Kreischen und Schnauben der Instrumente, als gälte es der Feier eines Hexensabbaths auf dem Blocksberge.
So kam es denn, daß man endlich während der Leipziger Messen sich vor Straßencapellen, Harfenistinnen, falschen und echten Tirolern, Natursängern und ähnlichen Jüngern der Tonkunst nicht mehr retten konnte und hinter jeder Hausthür ein Leierkasten lauerte, aus jedem Vorsaale eine Ziehharmonika jammerte. Da erhob sich plötzlich die Polizeigewalt und donnerte dem musikalischen wilden Heere ein lähmendes Halt! entgegen. Die Muse, welche so lange das weinende Haupt verhüllt, öffnete die verstopften Ohren und athmete freudig auf, mit Allem, was nicht taubstumm oder vom Meßdusel umfangen war. Traf auch das Donnerwort nur die Musikcorps, welche bisher die Straßen unsicher gemacht hatten, so wurden doch dadurch ganze Stämme der musikalischen Wilden ausgerottet, denn es galt nichts Geringeres, als eine öffentliche Probe vor musikalisch gebildeten Beamten abzulegen. Der stille Raum des kleinen Polizeihofes wurde zum Tempel der Erkenntniß erhoben. Dort entscheidet der ernste „Ruf von oben“, ob die Leistungen der Künstler ausreichen, eine von musikalischem Geiste und Meßfröhlichkeit so lebhaft durchdrungene Stadt wie Leipzig zu befriedigen, oder ob das ästhetische Gefühl der Richter die Examinanden zwingt, den Staub von den Stiefeln zu schütteln und ihre Instrumente in Zonen zu tragen, wo Jeder fiedeln und blasen kann, wie es ihm gefällig ist. Ernst und von der Wichtigkeit des Augenblicks durchdrungen sieht man die Künstler die geheiligte Stätte betreten, um zu erfahren, ob ihnen die Muse den blühenden Lorbeer um den Schädel winden, oder ein Polizeidiener den nächsten Weg nach dem Thore zeigen werde. Wie ferne Geisterstimmen vernimmt man in dem unnahbaren Raume den unreinen Ton der Posaune, das neckende Capriccio der Clarinette, das Grunzen der Baßgeige und die herzzerreißenden Schmeichellaute verstimmter Geigen. Wem aber der Stempel des Künstlers aufgedrückt wurde, der tritt mit stolzem Selbstgefühl hinaus in die belebten Straßen, welche der Schauplatz seines Ruhmes werden sollen, und empfindet im innersten Herzen die Bedeutung, in einer Stadt, wo ein Conservatorium der Musik, ein Alumneum der Thomasschule, ein Gewandhausconcert vorhanden ist, wo ein Hiller, Schicht, Mendelssohn und so viele andere Koryphäen im Reiche der Töne gelebt und gewirkt, die öffentliche Weihe der Kunst
empfangen zu haben.
Eines deutschen Mannes Bild.
Als der Schulmeister von Grenchen, der am 3. Februar 1868 als erster Minister Badens starb, an jenem düstern Decembermorgen des Jahres 1840, dem Rufe der Freunde folgend, in die Heimath zurückkehrte, bedurfte diese seiner in der That. Winter, der liberale Minister, war gestorben, Nebenius, ebenfalls freisinnig, aber in bureaukratischer Form, zurückgetreten, v. Blittersdorff stand an der Spitze der Geschäfte, und dieser Name sagt Alles. Er bedeutete für Baden die Herrschaft der Schule Metternich’s, die [263] rücksichtsloseste, gewaltthätigste Reaction. Schwere Aufgaben, harte Kämpfe standen der freisinnigen Partei bevor, und für diese war Mathy mit seiner Sachkunde und seiner seltenen Arbeitskraft, mit seiner gediegenen Beredsamkeit und vor Allem mit der ihm eigenen Unerschrockenheit, die keine Furcht kannte, in jeder Beziehung der rechte Mann.
Zunächst war Mathy, wie vor seiner Uebersiedelung nach der Schweiz, in der Presse thätig, als Redacteur des neugegründeten Oppositionsblattes, der „Badischen Zeitung“, die aber bald wieder einschlief, darauf als weiter eines Landtagsblattes und zugleich als Mitarbeiter der „Mannheimer Abendzeitung“. Diese letztere erschien bei seinem Freunde Bassermann, an dessen Verlagsgeschäft er seit 1843 Antheil hatte. Später gab Mathy die „Rundschau“ heraus, ein kleines, aber einflußreiches Blatt.
Mittlerweile war 1842 die Kammer aufgelöst worden, und es war selbstverständlich, daß sich bei den Neuwahlen die Blicke der freigesinnten Partei auf Mathy richteten. Fickler, im Seekreise von großem Einfluß, wirkte dort eifrig für ihn, und die Stadt Constanz schickte Mathy als ihren Vertreter nach Karlsruhe. Die Opposition erhielt durch diese Wahl eine sehr wesentliche Verstärkung. „Hier bringe ich Euch einen, wie Ihr ihn noch nicht gehabt habt,“ sagte Itzstein, als er ihn den Parteifreunden vorstellte. Mathy war nicht nur eine Stimme mehr, die Blittersdorfs’s absolutistischen Gelüsten, dann dessen bureaukratischen Nachfolgern gegenüber nie fehlte, wenn es die Sache der Freiheit zu verfechten galt, sondern die Linke gewann in ihm zugleich einen gründlichen Kenner des Staatshaushalts und der Volkswirthschaft, wie sie ihn bis dahin noch nicht besessen hatte. Als Redner trat Mathy anfangs nicht oft auf. Nur bei solchen wichtigen Fragen, in denen er vollständig zu Hause war, ergriff der schweigsame, verschlossene Mann das Wort, dann aber auch immer so, daß es tief traf und weithin wirkte. Man empfand dann unter den Freunden, wie unter den Gegnern, daß es wohlerwogene Gedanken waren, die er vorzutragen hatte. Seine Rede war in der Regel kühl wie Eisen, aber auch einschneidend wie Eisen, von mächtiger Beweiskraft, voll Witz und Ironie, nicht selten voll bittern Spotts; doch mangelte ihm die Gabe, zartere Saiten anzuschlagen, keineswegs. Mit schonungsloser Entschiedenheit geißelte er das empörende Unwesen der Censur, und mit eindringlichstem Ernst verfocht er die gerechten Ansprüche des deutschen Volkes Angesichts der kläglichen Verkümmerung, welcher in dieser Periode das Leben der Nation verfallen war. Mancherlei Talente saßen damals auf den Bänken der badischen Opposition, keines von ihnen aber, auch der brillante Hecker nicht, war dem alten System, wie dessen Anhänger offen und stillschweigend eingestanden, ein so gefährlicher Feind, wie Mathy mit seiner reichen Bildung, seiner vornehmen, sichern Ruhe und Besonnenheit, seiner unerbittlich strengen Logik. Es war kein leichtes Plänkeln von Schützen vor den Mauern ihrer Burg, wenn er sich erhob, sondern schwerstes Geschütz, mit scharfem Blick gerichtet und mit schmetternder Wucht am Ziele einschlagend.
Die badischen Liberalen waren damals der Reaction gegenüber noch durchaus Eins. Nur in nationalen Fragen zerfielen sie in solche, die einen engern, und solche, die einen weiteren Gesichtskreis hatten. Rotteck z. B. war ein Gegner Preußens und des Zollvereins, andere Mitglieder der Partei theilten diese Feindschaft nicht, und als selbstverständlich haben wir es anzusehen, daß Mathy von jener Engherzigkeit von Anfang an nichts wußte, daß er vielmehr in dem preußischen Staate den natürlichen Führer auf dem Wege der Deutschen zur Einigung erblickte.
Zu freiheitlichem Ansprüchen und Forderungen ging die Partei bis über die Mitte der vierziger Jahre einträchtig vor. Dann aber lösten sich allmählich die Radicalen von denen, die es zwar mit den durch die Verfassung gewährleisteten Rechten ernst meinten und den Absolutismus wie die Bureaukratie in allen Formen ihres Auftretens entschieden bekämpften, aber von der Nothwendigkeit einer festen Ordnung in staatlichen Dingen überzeugt waren. Die radicale Presse griff die Liberalen als „Bourgeois“ an, schied zwischen „Ganzen“ und „Halben“ und zeigte fortwährend deutlicher, daß ihr Ziel möglichst die Aufrichtung einer Republik war. Auf radicaler Seite standen von bekannteren Namen Struve, Brentano, Itzstein, zuletzt auch Hecker, auf liberaler Sander, Soiron, Bassermann und Mathy. Noch einmal versuchte man, und, wie es schien, mit Erfolg, den Riß zu heilen. Ende November 1846 fand in Durlach eine Zusammenkunft von hervorragenden Mitgliedern der Opposition statt, in der alle Schattirungen derselben vertreten waren, und das Ergebniß der Besprechung war ein Abkommen, welches wie eine Versöhnung zwischen den „Ganzen“ und den „Halben“ aussah.
Die Revolution von 1848 zeigte, daß das constitutionelle Wesen durch die Mißregierung der Jahre bis 1846 in Baden stark erschüttert war und daß der Gegensatz der Liberalen und Radicalen eine Verständigung zwischen denselben für die Dauer nicht zuließ. Schon bei den Kammerverhandlungen von 1847 und vorzüglich bei der Debatte über die sogenannte Fabrikfrage hatte man gesehen, daß der Bruch zwischen den „Entschiedenen“ und den Gemäßigten unheilbar war. Es handelte sich hier nicht um ein politisches Interesse, sondern lediglich darum, ob der Staat den betreffenden industriellen Unternehmungen durch seine Bürgschaft zu Hülfe kommen sollte. Die Erörterung dieser Frage bot ein anziehendes Bild des Streites, in welchen die bedeutendsten Talente der Kammer miteinander gerathen waren. Am heftigsten trat gegen die Forderung einer Staatsunterstützung für die Fabriken Hecker auf, am ruhigsten und fachgemäßesten kämpfte Mathy für dieselbe.
Als die Kunde von den Februarereignissen nach Baden gelangte, trat der Liberalismus noch einmal eng verbunden mit der radicalen Partei in die Schranken. Am 27. Februar fand in Mannheim eine zahlreich besuchte Bürgerversammlung statt, in welcher Mathy, Bassermann und Soiron sich noch mit Itzstein und Struve auf Einem Boden sahen. In den Forderungen, die man jetzt an die Regierung richten wollte, war man gleicher Meinung, nur über die stärkere oder mildere Weise des Auftretens war man verschiedener Ansicht. Zuletzt vereinigten sich Alle zu der von Struve entworfenen Adresse an die Volksvertretung, welche zunächst Volksbewaffnung, unbedingte Preßfreiheit, Schwurgerichte und sofortige Errichtung eines deutschen Parlamentes verlangte und welche nicht blos in Baden massenhafte Unterstützung fand, sondern der Anstoß zu ähnlichen Kundgebungen in ganz Deutschland wurde.
Aber bald darauf, am 1. März, öffnete die Kluft sich wieder, die zwischen den Gemäßigten und den Männern der äußersten Linken sich gebildet. Hecker und Brentano brachten im Namen von acht Abgeordneten im Landtage jene und andere Forderungen zur Sprache und verlangten unverzügliche Berathung und Bewilligung derselben.
Sie stellten dies Verlangen in ungestümer Weise und wurden dabei von den Galerien durch lärmende Zurufe unterstützt. Die Mehrheit der Versammlung war mit den tiefgreifenden Veränderungen und Neuschöpfungen, die man verlangte, zwar im Wesentlichen einverstanden, aber nicht geneigt, sie ohne Prüfung durch einen Ausschuß gut zu heißen. Mathy vorzüglich erklärte mit gewohnter Kaltblütigkeit und Schärfe, er werde eher auf seinem Posten sterben, als sich durch Einschüchterung von seiner Ueberzeugung abbringen lassen. Der vorgeschlagene Weg laufe auf Ueberrumpelung hinaus, und dazu lasse er sich nicht gebrauchen. Vergebens brauste Hecker in seiner hastigen, feurigen Weise dagegen, umsonst ließ Brentano die Verdächtigung fallen, Mathy wolle die Forderungen „todtschlagen“. Die Majorität der Kammer stimmte wie Mathy und ließ sich durch das Drängen und Drohen der Massen nicht schrecken.
Noch einmal nahm Mathy an einer gemeinsamen Besprechung der beiden Fractionen der freisinnigen Partei Theil. Es war die, welche auf Itzstein’s Zimmer den Plan zu der großen Volksversammlung berieth, die am 19. März zu Offenburg stattfand. Dieser Plan, der auf Bearbeitung der Masse, Gründung von Clubs und Wohlfahrtsausschüssen und überhaupt auf Bahnung des Weges zu einem Umsturz des bisherigen Regiments hinauslief, hatte Struve zum Urheber. Hecker ging bereitwillig darauf ein, Mathy erklärte sich entschieden dagegen, und es war das letzte Mal gewesen, daß er mit den Radicalen in nähere Berührung gekommen war. Er sah sie unpraktische Wege einschlagen, und er war ein praktischer Geist vom Wirbel bis zur Zehe; er sah sie auf das Ausland ihre Hoffnung setzen, und er war ein guter, deutscher Patriot.
In ganz Deutschland hatten die Sturmpetitionen des März ihren Zweck erreicht. Die alte Politik der Höfe gab in der elften Stunde nach, das Volk „blieb vor den Thronen stehen“, der Strom der Aufregung trat in das friedliche Bett der Reform. Es war jedenfalls nicht mehr zeitgemäß, wenn man in dem kleinen Baden jetzt noch an Errichtung einer Republik dachte. Die erste Aufgabe des wahren Patrioten war nunmehr, mit den neuen Errungenschaften eine neue Ordnung der Dinge fest [264] zu begründen, die vorhandenen staatlichen Formen mit dem Wesen der jungen Freiheit zu erfüllen. Von einer Revolution war nichts zu erwarten, als Unheil. Im besten Falle riß sich der südwestliche Winkel Deutschlands dann vom großen Vaterlande los und verband sich als republikanischer Rheinbund mit Frankreich. Aber viel wahrscheinlicher war, daß ein Losbruch in Baden die alten Gewalten zu einem Kampfe aufrief, der mit der Rebellion begann und mit dem Belagerungszustand endigte.
Die Radicalen sahen dies nicht. Ihre Bemühungen zur Aufregung des Volkes waren besonders in Mannheim, wo Struve, und im Seekreise, wo Joseph Fickler wirkte, von Erfolg. Hier, am Bodensee und auf dem Schwarzwald, wohnt ein kräftiger Menschenschlag, derb, freiheitsliebend, ausdauernd in Liebe und Haß bis zum zähen Eigensinn; das Gefühl des Mißbehagens über das alte Regierungssystem hatte hier breite und tiefe Wurzeln geschlagen. Dazu kamen materielle Mißstände. Dazu trat endlich die Nachbarschaft der Schweiz, wo es keinen Beamtendruck und keine Ueberlastung mit Steuern gab. Freisinnige Beamte konnten dagegen nicht viel ausrichten, denn das Volk hatte sich hier gewöhnt, allen Beamten zu mißtrauen, und so hörte es nur auf die Stimme der Radicalen. Einer der geschicktesten und rührigsten unter diesen war Fickler. Hatte er früher mit Eifer gegen Blittersdorff, dann für den Deutschkatholicismus gearbeitet, so war jetzt die Republik sein Ziel. Schon zu Anfang des März hatte er Versammlungen auf Versammlungen gehalten, um sie zu empfehlen, und daneben wirkte er in den „Seeblättern“, einem kleinen, aber durch seine volksthümliche Sprache in den Kreisen der Landleute und Kleinbürger sehr einflußreichen Blatte, mit großem Eifer nach derselben Richtung.
Nach der Niederlage, welche die republikanische Partei im Vorparlamente erlitten, nachdem dieses nicht, wie sie gehofft, zum Convent geworden war, beschloß man, wenigstens in Baden die Republik einzuführen. Hecker und Struve erklärten am 2. April, nachdem sie aus dein Vorparlament ausgetreten, einer Deputation, daß die Zeit zum Handeln gekommen sei. Der Ausbruch der Revolution war auf die letzten Tage des April festgesetzt; dieselbe konnte für eine kurze Zeit gelingen, sie konnte der Regierung wenigstens ernste Verlegenheit bereiten und großes Unheil hervorrufen. Da trat ein Ereigniß ein, welches dem Plane die Spitze abbrach.
Fickler war im Begriff, vom Unterlande, wo er mit den Gesinnungsgenossen die letzten Verabredungen getroffen, nach dem Süden zurückzukehren, als Mathy ihn am Morgen des 8. April auf dem Karlsruher Bahnhof verhaftete. Der Beamte, der dabei behülflich sein sollte, mußte, ängstlich wie er war, zur Mitwirkung förmlich gezwungen werden. Fickler, der schon im Waggon Platz genommen, weigerte sich anfangs, wieder auszusteigen, aber er kannte Mathy, und so ergab er sich nach einigem Zögern in sein Schicksal.
Diese entschlossene That Mathy’s hat damals eine sehr verschiedene Beurtheilung erfahren. Fickler und Mathy nannten sich Du, dieser dankte jenem manchen Freundschaftsdienst, der über der Entfremdung, die 1847 zwischen ihnen eingetreten war, nicht vergessen sein durfte. Nicht blos der Philister, auch mancher Weitersehende erblickte in Mathy’s Einschreiten gegen den alten Freund eine unerhörte Impietät, eine beispiellose Undankbarkeit, und nicht wenig andere alte Freunde wandten sich auf die Kunde von diesem Ereigniß für immer von ihm ab. Sie vergaßen, daß in politischen Dingen das Herz kein Recht hat, darein zu reden, wenn der Kopf etwas als nothwendig erkannt hat. Mathy und Fickler standen sich jetzt als politische Feinde gegenüber, und Mathy handelte, als er seinen Gegner unschädlich machte und damit den ganzen Plan der Radicalen störte, im Gefühl der Pflicht gegen seine Partei und gegen den Staat.
Auch darüber, ob dieses Gefühl ein richtiges gewesen, konnte man damals verschiedener Ansicht sein und sind noch jetzt die Meinungen getheilt. Gewiß ist, daß nicht gewöhnlicher Muth dazu gehörte, ihm Folge zu geben.
Die Verhaftung Fickler’s erregte bei den badischen Radicalen allenthalben Erbitterung und Schrecken, vielleicht nirgends aber mehr Zorn und Ingrimm als in Mathy’s Vaterstadt Mannheim. Er aber kannte keine Furcht, und so erschien er noch am Nachmittag des 8. April mitten unter dieser fanatisch aufgeregten Bevölkerung. Er war kaum eingetroffen in seiner Wohnung, als sich mehrere Wortführer der revolutionären Partei bei ihm einstellten und ungestüm Rechenschaft von ihm verlangten. Zu gleicher Zeit sammelten sich Volkshaufen vor seinen Fenstern, die allerlei drohendes Geschrei ausstießen. Nur dadurch, daß sich auch von dem ihm wohlwollenden Theile der Bürgerwehr einige Abtheilungen einfanden, wurden Gewaltthätigkeiten verhütet. Man kam schließlich dahin überein, daß Mathy sich nach dem Rathhause verfügen und dort den Gemeindebehörden Mittheilungen über die Gründe seines Verfahrens machen solle. Von Freunden begleitet, von der Wuth der Masse umtobt, begab Mathy sich nach dem Rathhause. Dort brachte er eine kurzgefaßte Erklärung zu Papier, in der hieß es :
„Gestern Vormittag in dem Ständehause und gestern Abend bei Herrn Präsidenten Mittermaier überzeugte ich mich, daß urkundliche Beweise vorliegen, welche darthun, daß Herr Fickler im Auslande Verbindungen mit Ausländern und Deutschen gepflogen hat, die einen bewaffneten Einfall in Baden bezweckten. Diese Handlung ist Landesverrath; jeder Bürger, der davon zuverlässige Kenntniß erhält, hat die Pflicht, solchem Verbrechen entgegenzutreten, und diese Pflicht habe ich erfüllt, indem ich Herrn Fickler verhaftete.“
Der Gemeinderath und der Bürgerausschuß ließen diese Erklärung sofort drucken und fügten einen Aufruf hinzu, welcher zu ruhiger, gesetzlicher Haltung ermahnte. Unterdeß hatte sich auf dem Platz vor dem Rathhause eine dichtgedrängte Volksmenge gesammelt, aber auch die Bürgerwehr war fast vollständig erschienen. Indeß zeigte letztere in mehreren Compagnien seine zweifelhafte Gesinnung, und die Masse des Volks gab, auch nachdem Mathy’s Erklärung und der Aufruf der städtischen Behörden mitgetheilt war, sehr deutlich ihre Neigung zu erkennen, an dem „Verräther“, der Fickler verhaftet, ein Beispiel zu statuiren.
„Mathy ’raus!“ schrie es von unten herauf, und sofort erschien der Gerufene auf dein Balcon, um zu der nun stillwerdenden Menge gelassen, aber entschlossen, wie es seine Art war, einige Worte zu sprechen, die mit der Versicherung: „Hätte ich das, was ich heute Morgen gethan, noch einmal vor mir, so würde ich es abermals thun, selbst wenn es mein Leben kosten sollte; denn ich bin überzeugt, dem Vaterlande einen Dienst erwiesen zu haben.“ Als Mathy auf den Balcon hinaustrat, wagte er es unzweifelhaft auf die Gefahr hin, lebend nicht zurückzukommen. Als er gesprochen, brach die Bürgerwehr in ein lautschallendes begeistertes Hoch auf ihn aus, von der Menge aber, die unten gelärmt, wagte keiner auf den eisernen Mann oben den Stein zu werfen, der sich für diesen schon in tausend Händen befand.
In der That, hätte sich das Ministerium Bekk-Rebenius durch Mathy ergänzt, viel Unglück wäre verhütet worden. Wie er die Revolution von 1848 in Baden mit einem bloßen Putsch enden ließ, so wäre vor seiner mannhaften Unerschrockenheit und andererseits vor seiner Ueberzeugung von der Nothwendigkeit der Freiheit für das Leben der Staaten und Völker die Revolution von 1849 überhaupt nicht ausgebrochen. Daß man seinen Werth in damaliger kritischer Zeit zu Karlsruhe nicht erkannte, war einer der verhängnißvollsten Fehler der großherzoglichen Regierung und eine der Hauptursachen ihres kläglichen Zusammenbruchs.
Man brachte es lediglich dazu, ihn zum Staatsrath zu machen, während er an die Spitze der Geschäfte gehörte. Von einem würtembergischen Kreise in den Reichstag gewählt. der in der Frankfurter Paulskirche tagte, dann Unterstaatssecretär im Reichsministerium, widmete er sich den ihm hier obliegenden Arbeiten mit Eifer, aber bald ohne viel Hoffnung auf Erfolg. Nachdem er als Vertreter eines schlesischen Wahlbezirks auch dem Erfurter Parlament beigewohnt, kehrte er, von der in Baden jetzt mächtigen Reaction ohne Weiteres seiner Stelle enthoben, in das Comptoir der Buchhandlung zurück, die er mit Bassermann in Mannheim gegründet hatte und welche dadurch von Interesse ist, daß in ihr der Werth von Auerbach’s Dorfgeschichten zuerst gewürdigt wurde.
1853 zog er nach Köln, wo ihm eine Stelle in dem Schafhausenschen Bankverein angeboten wurde. Im folgenden Jahre trat er, von Hansemann für die Berliner Discontogesellschaft gewonnen, als Director in die Leitung dieses Unternehmens, welches damals sich zu einem Organismus von Bankgeschäften in ganz Deutschland erweitern sollte. Später nahm er, dem Hansemann’s übergroße Rührigkeit nicht behagte, den ihm angetragenen Posten des Directors der Bank an, die er in Gotha gegründet hatte. [265] 1859 rief ihn die deutsche Creditanstalt in Leipzig in ihr Directorium. In allen diesen Stellungen bewährte sich seine tüchtige Art. Er war ein Kenner der Geschäfte wie Wenige, ein rastloser Arbeiter, ein Disponent vorn weitesten Gesichtskreis. Die Anstalten gediehen unter ihm zusehends, seine Untergebenen blickten zu ihm mit Achtung und Liebe aus. Dasselbe wiederholte sich, als ihn 1862 das Ministerium Roggenbach zur Mitarbeit an der Umgestaltung der Verhältnisse in Baden nach liberalen Grundsätzen einlud. Erst als Director der Hofdomänenkammer, dann als Vorstand des Handelsministeriums that er außerordentlich viel für die Hebung des Landes, welches seiner Umsicht und Thätigkeit namentlich ein Eisenbahn- und Telegraphennetz verdankt, wie es kein anderer deutscher Staat besitzt. Die Sorge für die angefangenen neuen Maschen dieses Netzes vorzüglich war es auch, was ihn, den entschieden national gesinnten Politiker, 1866 abhielt, sofort dem Beispiel Roggenbach’s zu folgen, als dieser vor dem Siege der österreichischen Partei in Baden sein Ministerportefeuille in die Hände des Großherzogs zurückgab. Erst einige Wochen später legte auch Mathy sein Amt nieder.
Der Tag von Königgrätz brachte in Karlsruhe die Rückkehr zu den früheren Grundsätzen und Bestrebungen. Mathy wurde vom Großherzog mit der Bildung eines neuen Cabinets beauftragt. Sofort rief er das badische Contingent von der am Main gegen die Preußen im Felde stehenden Reichsarmee zurück und ordnete an, daß von dem General Manteuffel ein Waffenstillstand begehrt wurde. Dann ging er mit gewohnter Umsicht und Energie an die Neuordnung der durch den Krieg schwer beeinträchtigten badischen Finanzen. Verhältnismäßig günstige Anleihen wurden geschlossen, und rasch führte Baden die von Preußen geforderte Kriegsentschädigung nach Berlin ab. Eine Steuererhöhung, die von den Ständen fast ohne Widerspruch bewilligt wurde, half die erhöhten Ausgaben decken. Eine ganze Anzahl von neuen Einrichtungen wurde vorbereitet, zum Theil durchgeführt, um Baden für den Eintritt in den norddeutschen Bund zu ordnen.
Mit eisernem Fleiß arbeitete Mathy, der jetzt nicht weniger als drei Ministerien zugleich vorstand, nach allen diesen Richtungen hin. Sorgen und Mühen aller Art in seinem Arbeitscabinet, anstrengende Debatten im Plenum und in den Commissionen der Kammer vermochten nicht ihm die Thätigkeit für ein ersehntes Ziel zu verleiden. Aber seine Gesundheit litt darunter. Ein Herzleiden entwickelte sich, welches seinen Tod in nicht langer Zeit zur Folge gehabt haben würde, wenn ihm nicht eine Erkältung, die er sich um Weihnachten zugezogen und die in eine Brustentzündung überging, zuvorgekommen wäre. Schon hoffte man, er werde sich von dem Uebel erholen, als es ihn von Neuem auf das Lager warf, welches in der Nacht vom 3. auf den 4. Februar sein Sterbebett wurde. Er verschied, das brechende Auge auf seine Gattin geheftet, die ihn vom Jahre 1833 an durch das Leben begleitet. Seine Kinder waren ihm vorausgegangen, zwei in zartem Alter, einer als Student fern von den Eltern in Palermo.
Es war das Leben eines bedeutenden Menschen, welches wir hier geschildert haben, das Leben einer glänzenden Ausnahme von der Regel seiner Partei, wenn wir ihn überhaupt den Gothanern beizählen dürfen. Er hat nie mit hohen Augenbrauen herabgesehen auf das niedere Volk, sich nie vom Ehrgeiz allein leiten lassen, nie Vorsicht für das bessere Theil der Tapferkeit betrachtet, wie so viele seiner Parteigenossen. Er war wie nicht wenige derselben ein hochbefähigter, kenntnißreicher, auch in den Gebieten der Kunst und Dichtung heimischer Geist, ein treuer Freund, ein guter Patriot, aber er war vor Allem und in Allem auch ein Mann!
Bilder aus dem Berliner Rechtsleben.
Die große Zahl der Fremden, welche die Sehenswürdigkeiten Berlins aufsuchen, versäumt es durchgehends, sich den Genuß eines Schauspieles zu verschaffen, dem man wohl ein Vormittagsstündchen opfern könnte. Niemandem fällt es ein, die Civilabtheilung des Strafgerichtes zu besuchen, auf welcher ein Leben und Treiben herrscht, das nicht minder charakteristisch und mannigfaltig ist, als der Jahrmarkt einer kleinen Stadt.
Der Leser wird es mir gestatten, bevor ich ihn in das bunte Gewühl selbst einführe, in einigen Zahlenangaben ein Bild von der großartigen Geschäftsthätigkeit dieser Civilabtheilung zu geben. Im vorigen Jahre kamen, in runden Zahlen ausgedrückt, zur Verhandlung: neunzigtausend Bagatellprocesse, zwanzigtausend summarische Processe, dreißigtausend Wechselklagen, siebenhundertundfünfzig Ehescheidungen, vierhundert Concurse und eintausenddreihundert Subhastationen; dreitausendsiebenhundert Firmen wurden eingetragen. Dazu kommen auf die Vormundschaftsabtheilung die Kleinigkeit von vierzigtausend Vormundschaften. Dreihundertzwanzigtausend Executionen wurden vollstreckt, und achthundertfünfzigtausend Gesuche gingen ein. Das Ganze macht etwa dreihunderttausend Termine nöthig, so daß auf jeden richterlichen Beamten durchschnittlich eintausend Termine kamen, und die Zahl der Journalnummern belief sich auf zwei Millionen und einmalhunderttausend. Das sind in der That Verhältnisse, wie man sie ein zweites Mal nicht findet!
Der für Juristen und Nichtjuristen interessanteste Theil sind unstreitig die sogenannten Bagatellcommissionen, die allein eine kleine Welt für sich bilden, in welcher der Beobachter so recht aus dem frischen Volksleben schöpfen kann; hier öffnet sich denen, die an psychologischen Studien Geschmack finden, ein Theater, dessen Genuß durch keine hohen Eintrittspreise verkümmert wird und das dennoch des Belehrenden und Unterhaltenden eine Fülle bringt.
Schlag zehn Uhr ertönt der Aufruf der Parteien, den die Gerichtsdiener mit wichtiger Amtsmiene und der ihnen eigenen Stentorstimme bewerkstelligen; letztere ist aber auch unerläßlich, denn die Parteien, welche soeben in die Terminzimmer strömen, haben schon auf den Corridoren recht wacker gezankt. Wenn man übrigens, um noch eine kleine Einschaltung zu machen, die Richter „Priester der Gerechtigkeit“ zu nennen beliebt, so kann man den Gerichtsdienern ganz wohl den Titel „Küster der Gerechtigkeit“ zubilligen, da sie oft genug eine an des Komische streifende Amtswürde herausbeißen. Ich weiß einen Fall, wo der Gerichtsdiener den in Wechselsachen fast ausnahmelosen Bescheid: „Der Verklagte ist nicht erschienen“, etwa zwanzig bis dreißig Mal mit so gleichförmigem und hohlem Pathos wiederholte, daß es nicht mehr auszuhalten war und der Richter sich einen weniger salbungsvollen Mann ausbitten mußte. –
Doch die Verhandlungen beginnen. Daß es dabei so feierlich zuginge, wie es sonst wohl vor Gericht Brauch ist, könnte ich nicht behaupten; es ist den Berlinern einmal nicht gegeben, mit ihren Gedanken hinter dem Berge zu halten, und noch viel weniger haben sie es gelernt, dieselben bescheiden auszudrücken. Die verschiedensten, oft heillos verschrobenen Rechtsansichten werden mit einer Geläufigkeit und mit einem Vorrathe maliciöser Redensarten vertheidigt, die dem Uneingeweihten Staunen erregen müssen und den Richter oft genug nöthigen, einen der „Krakehler“ „an die Luft setzen“ zu lassen. Und welche Dinge kommen da zum Vorschein!
So war ich höchlich verwundert, beim Aufruf die vornehm klingenden Namen „Baron R. wider v. D.“ zu hören. Es erschienen auch sofort ein Paar ziemlich schäbig aussehender Gesellen und gaben sich als die Gewünschten zu erkennen. Ich bat mir den Termin aus, las die Klageschrift und förderte einen ganz erbaulichen Rechtsfall zu Tage:
„Verklagter v. D.! Weshalb wollen Sie dem Kläger die verlangten fünf Thaler nicht zahlen?“
„Ich hatte zwar den Kläger gegen freie Kost und monatlich fünf Thaler Lohn als Hausknecht angenommen, mußte ihn aber schon nach drei Tagen wegen unziemenden Betragens entlassen.“
„Begründen Sie das näher!“
„Meine Frau nahm den Kläger mit auf den Wochenmarkt, damit er ihr den Korb trage. Dies schien ihm jedoch in keiner Weise recht zu sein; er ließ durch seine zornigen Bewegungen mehrfach Kartoffeln aus dem Korbe fallen, und als ihm meine Frau deshalb einen Verweis ertheilte und ihn aufforderte, dieselben wieder zu suchen, bediente er sich frecher Redensarten.“
[266] „Welcher?“
„Euere Metze Kartoffeln macht Euch doch nicht fett; ob nun drei Stück daran fehlen, oder nicht!’“
„Das war zwar nicht hübsch, aber immer noch kein Grund zu sofortiger Entlassung, die gesetzlich nur dann erfolgen darf, wenn ernste und wiederholte Ermahnungen fruchtlos blieben.“
„Ueberdies hatte ich ihm ein für alle Mal befohlen, meine Frau mit gnädige Frau’ anzureden; dies hat er stets unterlassen, aller Ermahnungen meiner Frau ungeachtet.“
„Haben Sie noch etwas zur Sache anzuführen?“
„Nein!“
Ich ertheilte jetzt dem Kläger das Wort; derselbe begann:
„In die Lage, in welcher Sie mich sehen, Herr Stadtgerichtsrath“ – mit diesem Titel beehrte er mich beständig –, „hat mich nur die größte Noth gebracht, welcher ich durch die Annahme jener mich tief entwürdigenden Stellung zu entgehen glaubte. Aber weit gefehlt! Schon am ersten Tage erhielt ich kein Mittagbrod, weil v. D. selber keins hatte; er behauptete jedoch, mit seiner Familie sehr gut gefrühstückt zu haben, und so ging es weiter. Und dabei sollte ich noch ‚gnädige Frau’ sagen, der ich als Baron von höherem und noch dazu von weit älterem Adel bin, als der Verklagte …“
Hierbei geriethen beide Edelleute in einen erbitterten Rangstreit, dem ich mit der Erklärung ein Ende machte, daß der Verklagte dem Antrage des Klägers gemäß verurtheilt sei.
Was aus Herrn v. D. geworden ist, weiß ich nicht. Baron R. hat einer reichen Dame aus bürgerlichem Stande die Hand gereicht und sie zu seiner Sphäre emporgehoben: er ist jetzt als feiner Rheinweinkenner in dem berühmten I.’schen Locale hoch geehrt.
Ein anderer Streitfall zwischen Herrschaft und Bedienung nahm vor einigen Jahren mein größtes Interesse in Anspruch.
Ein armes Dienstmädchen verklagte ihre Herrin, die Frau Geheimräthin L., welche es sich nicht nehmen ließ, im Klagebeantwortungstermine persönlich zu erscheinen. Die Klägerin, der ich als Rechtsbeistand beigeordnet war, hatte soeben die Charité verlassen, wohin sie eine böse Augenkrankheit gebracht hatte, und machte einen sehr vortheilhaften Eindruck. Sie war erst achtzehn Jahre alt und verwaist. Der Vater, ein armer Landschullehrer, hatte ihr nichts als eine ziemlich gute Erziehung geben können, und nach seinem Tode war sie nach Berlin gekommen, wo sie ein böser Zufall in das Haus der Frau Geheimräthin gebracht hatte. Aufgefordert, ihre Klaggründe nochmals zu erörtern, erzählte sie:
„Vor etwa einem halben Jahre las ich in den Zeitungsanzeigen, daß Frau Geheimräthin ein Stubenmädchen brauche; ich bewarb mich um die Stelle und erhielt sie unter der Zusicherung, daß ich einen sehr guten Dienst haben würde. Der Lohn war auf vierteljährlich neun Thaler festgesetzt. Allein schon der nächste Morgen brachte mir bittere Täuschung. Meine Verköstigung erwies sich als so spärlich, daß an Sattwerden nicht zu denken war. Die Zeit, welche nach allen wirthschaftlichen Verrichtungen übrig blieb, wurde ich mit dem Nähen weißer Wäsche beschäftigt, was ich gut verstehe, und zwar an jedem Tage, selbst den Sonntag nicht ausgenommen, bis nach zwölf Uhr Nachts. Ausgehen durfte ich gar nicht. Da sich meine Augen durch das anstrengende Arbeiten zu entzünden anfingen, machte ich meiner Herrin davon Mittheilung und bat sie, mich von dieser Beschäftigung zu befreien. Als Antwort erhielt ich eine Ohrfeige und die Zusicherung, daß ich, falls ich mir noch einmal dergleichen erlaubte, zum Hause hinausgeworfen würde. So nähte ich denn weiter, bis ich es nicht mehr aushalten konnte und in das Krankenhaus mußte. Meine Herrin hatte, wie ich später erfahren habe, das von mir mit Nähen verdiente Geld eingesteckt; denn die Wäsche war nicht, wie sie mir sagte, für sie und die Ihrigen, sondern für ein hiesiges Geschäft genäht worden.“
Jetzt erbat ich mir’ als Rechtsbeistand der Klägerin das Wort und verlangte nicht nur die Auszahlung des vollen Lohnes für ein Vierteljahr, sondern auch noch Rückerstattung des von ihr verdienten Näherlohns an sie, sowie Zahlung der ziemlich bedeutenden Curkosten, welche die Verwandten meiner Clientin für sie berichtigt hatten.
„Das ist eine impertinente Forderung,“ brauste die Verklagte auf, „ich kann meine Domestiken beschäftigen, wie ich will, wenn ich nur …“
Weiter ließ sie der Richter nicht kommen. „Verklagte,“ begann er auf das Ernsteste, „Sie haben sich soeben einer Beleidigung eines Beamten im Dienste schuldig gemacht; ich rathe Ihnen sehr, dem Herrn Referendar schleunigst Abbitte zu leisten, um möglicher Weise eine Gefängnißstrafe von sich abzuwenden. Geben Sie zu, der Klägerin unzureichende Nahrung gewährt zu haben? Geben Sie ferner zu, dieselbe mit Nähen für fremde Rechnung beschäftigt zu haben, und zwar in dem Maße, daß sie dadurch ein Augenleiden bekam? Haben Sie endlich das so verdiente Geld erhoben und für sich behalten?“
„Nein!“ rief sie schnippisch.
„Dann muß die Klägerin die Beweismittel für ihre Behauptungen angeben.“
Dies geschah. Nun folgte Beweistermin auf Beweistermin; es wurden mehrere Mädchen vernommen, die früher gleichfalls in Diensten bei der Verklagten standen; ein ärztliches Gutachten wurde eingefordert, der Weißwaarenhändler mußte erscheinen, und alle Aussagen fielen zu Ungunsten der Geheimräthin aus. Da aber derartige Termine nicht billig sind, so beliefen sich die Gerichtskosten fast eben so hoch, wie die Summe, zu deren Zahlung sie verurtheilt wurde.
Es ist merkwürdig, daß die komischen Scenen auf den Bagatellcommissionen fast immer vom schönen Geschlechte ausgehen. Eines Vormittags wurden die Lachmuskeln der Anwesenden nicht wenig in Thätigkeit gesetzt. Eine ehrsame Bürgersfrau hat ihrem hübschen Töchterchen ein Paar neue Schuhe bestellt, die nicht nach Wunsch ausgefallen sind, und verweigert deshalb die Bezahlung. Der Schuster klagte, und nun erschienen die Verklagte im Beistande ihres Ehemannes, Fräulein Tochter mit den ungerathenen Stiefelchen und der höchst erboste Schuster. Natürlich suchte ich einen Vergleich zu Stande zu bringen, wozu auch der männliche Beistand rieth. Kaum begann er aber zu sprechen, so wurde ihm von seiner theuren Ehehälfte sehr energisch der Mund verboten, worauf er schwieg. Dies wiederholte sich zur großen Freude des Publicums so oft, bis ich der Frau ein angemesseneres Betragen anrathen mußte. Es blieb nun nichts weiter übrig, als Beweis aufzunehmen; die Schuhe wurden unter Oberaufsicht des gleichfalls geladenen Sachverständigen anprobirt. Hoch erröthend ließ das schöne Kind dieses Verfahren an sich vorübergehen, dessen verhängnisvolles Ergebniß Seitens des Sachverständigen dahin zusammengefaßt wurde: die Schuhe sind zu eng! Hatten nun vorher die Parteien gezankt, so zankten jetzt die beiden Fachgenossen mit Hintansetzung aller collegialischen Rücksichten, zu nicht geringem Ergötzen sämmtlicher Anwesenden. Schuster wird abgewiesen, zahlt Kosten und erhält sein Machwerk zurück. Von Rechts wegen! Der Sachverständige bekommt einen Thaler Gebühren, wovon Madame mit großer Befriedigung Notiz nimmt, und die Sache ist abgemacht.
Ein ganzes Lexikon unschöner Redensarten kann man aber sammeln, wenn die Damen unserer Halle, hier zu Lande „Hökerweiber“ genannt, um Gerechtigkeit schreien. Ein Fall ist mir noch frisch im Gedächtniß. Es handelte sich um den Tod einer Katze. Madame N., denn dieser Titel ist einmal nicht zu missen, und Madame M. waren Jahre lang treue Freundinnen; sie saßen auf dem Dönhofsplatze neben einander, tranken aus einer Kanne ihren Kaffee und waren in puncto der Durchhecheleien stets einer Meinung gewesen. Das Unglück wollte, daß Madame N. mit Würsten handelte, nach denen das Mietzchen der getreuen Nachbarin mehr Appetit zeigte, als es sich mit den gesetzlichen Vorschriften über Mein und Dein vereinbaren läßt. Kurz und gut, Mietzchen bekam eines Tages einen Genickschlag, der ihren Lebensfaden durchschnitt. Mit Hülfe eines Winkeladvocaten klagte Madame M. Sie beschreibt im Termine die herrlichen Tugenden, welche die Entschlafene zierten, als sie das Licht noch sah. Die Verklagte dagegen, des schönen Sprüchwortes: De mortuis nil nisi bene (über die Todten soll man nur Gutes reden), ganz uneingedenk, behauptete höhnisch, es sei eine Katze gewesen, wie jede andere, nur etwas alt, daher ohne eigentlichen Geldwerth, und von fünf Thalern Entschädigung könne vollends keine Rede sein.
Beide Damen geriethen nach und nach in eine unbeschreibliche Wuth. Sie überhäuften sich, ihre gegenseitigen Vorfahren und Nachkommen derartig mit Schmähungen, daß an ein Verhandeln gar nicht mehr zu denken war. Sie mußten gewaltsam nicht nur aus dem Zimmer, sondern auch noch aus dem Gerichtsgebäude gebracht werden; auf Grund eines thierärztlichen Gutachtens erhielt Klägerin später [267] zwar zehn Silbergroschen als Entschädigung, beide Theile belästigten aber einander so lange mit Klagen und Anzeigen, bis sie wegen Querulirens in eine ganz gehörige Geldbuße genommen wurden, ein Mittel, das sie endlich beruhigte.
Leider gehören solche erheiternde Vorgänge zur Minderheit; der fröhliche Eindruck wird oft nur zu bald durch eine Menschensorte verwischt, welche fast das halbe Stadtgericht für sich allein in Anspruch nimmt. Ich meine die sogenannten Commissionäre, ein Wort, das man im Berliner Sinne meist so übersetzen muß: Leute, die zu einem festen Berufe unbrauchbar sind und nun ihren Lebensunterhalt durch Alles, am liebsten durch „Eintreiben“ gewinnen. Der Leser wolle mir gestatten, eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen näher zu beschreiben.
Ein armer Handwerker ist in Noth, mit zehn Thalern wäre ihm geholfen. Der Commissionär hört davon und erscheint sofort. Nachdem er sich überzeugt, daß die vorhandenen Hausgeräthe mehr als genügende Sicherheit gewähren, schafft er das Geld herbei. Das arme Opfer muß nun „Wechsel mit Unterlage“ geben, d. h. er unterschreibt einen Wechsel, zu dessen Sicherheit er außerdem noch seine bewegliche Habe verpfändet. Kann er nun am Verfalltage nicht zahlen, so heißt es: „Das schadet ja gar nichts; Sie sind ja ein sicherer Mann.“ Der Wechsel wird ein, zwei, drei Mal bereitwilligst prolongirt, bis seine Summe den Werth der verpfändeten Sachen erreicht hat. Jetzt aber wird bitterer Ernst aus der Sache, nun hilft kein Weinen, kein Flehen mehr. Dem armen Manne wird Hab und Gut genommen, zehn Thaler haben ihn völlig ruinirt, und das Alles von Rechts wegen! Das Gesetz gewährt durch Aufrechterhaltung der Schuldhaft die Mittel, einen armen Menschen zu hetzen wie ein Stück Wild, es giebt niederen Charakteren Gelegenheit, ihren Opfern nicht nur Hab und Gut, sondern auch die Freiheit zu nehmen. Jeder kann jetzt seinen Nachbar, den er haßt, unter Umständen fünf Jahre lang in Schuldknechtschaft halten, wenn es ihm gelingt, eine ausgeklagte oder wenigstens klagbare Forderung gegen ihn zu erwerben. Welcher Spielraum dadurch den niedrigsten Leidenschaften eröffnet wird, braucht nicht erst betont zu werden.
Nächst diesem Geschäftszweige cultiviren unsere Biedermänner, die Commissionäre, den Pferdehandel und die Vermittelung von Heirathen mit großer Vorliebe. Es ist für Berlin höchst charakteristisch und wenig schmeichelhaft, daß die Heirathen immer mehr und mehr als reine Geschäftssache behandelt werden. Ich habe eine ganze Anzahl von Fällen erlebt, in denen Commissionäre ihre Gebühren für Heirathsvermittelungen einklagten. Eine Klage war in Ausdrücken abgefaßt, die ich doch der Nachwelt erhalten möchte:
„Verklagter kam eines Tages zu mir und theilte mir mit, daß er eine Frau brauche mit wenigstens tausend Thaler Vermögen. Ich sagte ihm, daß ich derartige Personen mehrere vorräthig habe, worauf mich Verklagter mit der Vermittelung des Geschäftes beauftragte mit dem Versprechen, mir, wenn es zu Stande käme, eine Belohnung von fünfzig Thalern zu zahlen. Ich habe nun“ etc. (NB. ganz wörtlich.)
Verklagter, nunmehr glücklicher Ehemann, war aber keinesweges zu zahlen bereit, behauptete vielmehr, die Verabredung sei dahin gegangen, daß die zu beschaffende Frau körperlich gesund und ohne Fehler sein solle. Aerztliches Attest beweise nun, daß seine Frau der Zähne fast ganz entbehre, er sei also zur Zahlung nicht verpflichtet. Von solchem Uebereinkommen wollte der Commissionair schlechterdings nichts wissen, allein das war auch gleichgültig. Das ganze Geschäft wurde mit Recht als unsittlich angesehen und der Kläger abgewiesen.
Zum Schlusse noch einige allgemeine Betrachtungen. Bagatelle (vom französischen bagatelle, Kleinigkeit) ist bei uns im processualischen Sinne ein Streitobject bis zu fünfzig Thalern. Es liegt in der Sache selber, daß die Parteien meistens den arbeitenden Classen angehören, für welche fünfzig Thaler wahrlich keine Bagatelle sind. Wie oft hängt der letzte Blutstropfen eines Arbeiters an solcher Summe, die ihm vielleicht ein reicher Mann böswillig vorenthält! Der reiche Bankier dagegen, der einundfünfzig Thaler, die für ihn wirklich eine Bagatelle sind, einklagt, genießt gewisser Rechtsmittel, welche jenem versagt sind. Bagatellsachen werden nämlich von einem Richter abgeurtheilt, gegen dessen Erkenntniß nur der Recurs zulässig ist, ein Rechtsmittel, das seiner innern Natur nach sehr selten hilft. Die Sache des Bankiers dagegen wird von drei Richtern sehr gründlich bearbeitet, ihm stehen zwei Appellationen zu Gebote, die ungleich vortheilhafter sind, als der Recurs.
Das ganze Institut des Bagatellprocesses hat Preußen der französischen Gesetzgebung, der es überhaupt in neuerer Zeit vielfach gefolgt ist, entnommen. Daß es dem deutschen Volksgeiste entspricht, glaube ich nicht. Es ist ein Grundzug des deutschen Volkscharakters, dem Großen und Kleinen gleiche Sorgfalt zuzuwenden; weshalb geschieht das nicht auch hier?
Und wie steht die Sache weiter? Zehn Bagatellcommissionen, jede mit drei Richtern besetzt, erledigen jährlich neunzigtausend Processe, so daß ihrer dreitausend auf jeden Richter kommen. Nehmen wir an, daß jeder Streit nur einen Termin erfordere, und rechnen wir das Jahr selbst zu dreihundert Arbeitstagen, so ergiebt es sich, daß der Richter in den zwei täglichen Terminstunden zehn Termine abzuhalten hat. Weitere Betrachtungen sind überflüssig, wenn wir der noch zu Rechte bestehenden gesetzlichen Vorschrift erwähnen, daß der Richter, um recht gründlich verfahren zu können, täglich blos eine Sache bearbeiten soll. Ein anderes Gesetz, daß ein Bagatellproceß in der Regel nur sechs Wochen schweben soll, mußte bei dieser Unzahl von Terminen natürlich den Boden seiner Anwendung verlieren; ob zum Vortheil des Publicums, wird man beurtheilen können, wenn man erwägt, daß es hier eine ganze Kaste ehrenwerther Leute aus allen Ständen giebt, die kleine Summen grundsätzlich nicht eher zahlen, als bis ihnen der Executor von ferne droht.
„Aha, einem Capitalhirsche gilt’s!“ werden die meisten meiner jägerlichen Leser beim Anblick obiger Ueberschrift denken. Aber fehlgeschossen! Kein Zwanzig-Ender ist darunter gemeint, sondern eins der letzten Glieder einer fast gänzlich ausgestorbenen – Race hätte ich beinah’ gesagt – Classe von Jagdbediensteten der alten sächsischen Jägerei. Sie führten ihren eigenthümlichen Namen ursprünglich von der bestimmten Anzahl, aus der das kleine, besondere Contingent gebildet war; dann aber auch von ihrer täglichen Auslösung bei Jagden, die einen „Zwanziger“ (zwanzig Kreuzer) betrug. Mit sonst keinerlei weiterem Sold bedacht, wohl aber mit gewissen ihnen ausschließlich zustehenden Servituten auf Dresdener Haide, in deren unmittelbarer Nähe sie in den daran grenzenden Walddörfern als Häusler oder Besitzer sonstiger kleiner Anwesen sammt und sonders wohnten, belehnt, bestanden ihre Dienstleistungen nur darin, bei eingestellten sogenannten Hofjagden „das Zeug zu stellen“.[1] Dadurch hatten sie in der noch guten alten Jägerzeit unter Kurfürst Friedrich August, nachmaligem Könige von Sachsen, eine ganz besondere Rolle gespielt.
Aus dieser Vergangenheit ragten denn nun eine Anzahl dieser erfahrenen Jagdkämpen noch herüber in unser mageres, nüchtern verschnittenes Waidwesen, bis einer nach dem andern von ihnen durch den Tod vom Etat verschwand, natürlich ohne durch Nachfolger ersetzt zu werden. So waren denn nach und nach nur noch wenige von dem kleinen Regimente übrig geblieben,[2] als ich einen von diesen Braven, den eben, von dem ich heute erzählen will, näher kennen lernte.
[268] Es war an einem jener so bezaubernd schönen, friedlich stillen Herbsttage, die in mir von jeher die Wandersehnsucht eines Zugvogels rege machten, als ich, dem unwiderstehlichen Drange folgend, wieder einmal den ganzen lieben langen Tag in Flur und Wald umhergestreift war. Ermüdet saß ich dann am Abend noch lange mit dem Hirten der auf duftenden Triften weidenden Schafe am knisternden Feuerchen, hier plaudernd den Mond erwartend, der mir meinen weiten und einsamen Rückpfad erleuchten sollte. Eben stieg das nächtige Gestirn glühend hinter dem tiefschwarzen Waldsaum empor, da trat ein Mann – der alte Haidefried, wie mir der Hirte den Kommenden kurzweg bezeichnete – aus dem Walde hervor und auf uns zu, um sich an der lodernden Flamme die frischgestopfte Pfeife zu entzünden. Erst schien er, der halb bäuerlich, halb jägerlich Gekleidete, mich, den damals raffaelgescheitelten blassen Burschen im schwarzen Sammetrocke, nicht eben mit sehr günstigen Augen zu betrachten; denn er machte durchaus kein liebsames Gesicht dazu, als ich mich ihm auf seinem Heimwege, der eine ziemliche Strecke lang auch der meine war, anschloß. Trotz alledem gewann ich hierbei schnell und offenbar in hohem Maße seine Gunst; jedenfalls weil ich in ungeheuchelter Begeisterung meine damals unbegrenzte Liebe zur Jägerei, der mein Begleiter ja selbst mit Leib und Seele angehörte, kundgegeben, denn ehe ich an seinem Häuschen von ihm schied, lud mich der gute Mann freundlichst und dringend ein, ein ander Mal bei ihm vorzusprechen, was ich natürlich auch recht bald und später oft genug ausführte. In Folge dessen habe ich denn auch vollen Einblick in sein ganzes Leben gewonnen und mir ein so lebendiges Bild von dem Biedern, wie ich es noch heute in treuer Erinnerung habe, einprägen können.
Ungefähr eine Woche nach meinem erstmaligen Begegnen mit dem alten Haidefried mochte es sein, als ich an einem nun schon recht empfindlich kalten Octobertage dem Grünrock einen Besuch abstattete. Schon von Weitem ließ mich der blaue Rauch aus dem Schornstein seines Häuschens errathen, daß ich den als rastlos bekannten Waldläufer heute daheim antreffen würde. Angekommen vor seinem ganz am Ende des Dorfes, dicht vor dem hochstämmigen Föhrenwalde gelegenen Besitzthume, einem ehemals kurfürstlichen Jagdhäuschen, das mit seinem gemüthlichen Mansardendache und weinumrankter Vorderseite höchst traulich aus seiner Umgebung hervorlugte, hatte ich nur ein kleines Vorgärtchen, dessen Spalier Malven und Sonnenrosen hoch überragten, zu durchschreiten, um mit Hülfe eines mächtigen Thürklopfers Einlaß zu begehren.
Hundegebell aus allen Tonarten folgte zunächst meinem lauten Pochen; dann ward mir alsbald von ihm selbst, dem freundlichen Manne, geöffnet und mit Treuherzigkeit die Hand zum Willkommen geboten. Aus dem kleinen Vorflur, welchen zopfig geschnitzte Hirschköpfe, mit gar prächtigen Geweihen darauf, schmückten, an deren Augensprossen dunkelroth angestrichene lederne Feuereimer nebst Spritze hingen, trat ich in das schmucke Wohnzimmer ein. Eine Gluthwärme strömte mir beim Oeffnen der Thür entgegen, sonst aber waren es verschiedene Racen von Hunden, die mir zuerst in die Augen und – in die Beine sprangen. Ein unzweideutiges „Kuscht euch!“ ihres Gebieters brachte jedoch die Bestien bald zur Ruhe; nur „Däckel“, der Unverbesserliche, beruhigte sich nicht sogleich über den Eindringling und ließ lange noch mürrisch knurrende Töne vom Ofen her, wohin er sich zurückgezogen, hören. Vor allen Dingen mußte ich nun auf einem großen lederüberzogenen, aalglatten Sopha Platz nehmen und mir es möglichst bequem machen. Er aber, der gemüthliche Haidefried, rückte sich einen alterthümlichen Holzschemel, dessen Lehne mit rothen Kurschwertern bemalt war, zurecht, nahm vom Tragebrettchen an der Wand die Kaffeemühle herunter, die er dann beim Sitzen zwischen die lederbehosten Kniee klemmte und nun schrapelnden Tones die braunen Bohnen zermalmte, um seinem jungen Gast einen solennen Kaffee zu bereiten.
Mittlerweile sah ich mich in dem lauschigen Zimmer um. Das Umfangreichste darin war unstreitig ein alter, grünglänzender, mit Stangen umrüsteter Kachelofen, dessen Verzierungen jägerliche und kurfürstliche Embleme zeigten. Zuoberst auf ihm prangte ein irdenes Gefäß – jedenfalls der Mehlwürmertopf –, während die umlaufende Bank frischgescheuerte Vogelbauer trug, unter derselben aber, neben Aufschlagstiefeln und anderem Geschühe, Hunde und Katzen sich’s wohl sein ließen. Tragebrettchen unter der schwarz geräucherten Holzdecke beherbergten allerhand Flaschen, Büchsen und Töpfchen, sowie hängende Büsche von Thymian, Baldrian und Beifuß; jedenfalls seine Hausapotheke. Sonst bedeckten die Wände noch Hirsch- und Rehgeweihe, Gewehre, Netze und allerhand andere Jagdgeräthschaften, und in einer Ecke tickte gemessen der alte messingverzierte Wandseiger, auf dem eine ausgestopfte Ohreule mit glitzernden Glasaugen ihren Platz gefunden hatte, während zur andern Seite, über einer Thürnische, ein frischer Tannenzweig prangte, welcher der lebendigen Vogelwelt, der im heimischen Stübchen freier Umflug gestattet war, zur Lust- und Schlafstätte diente. Im tiefwandigen Fenster aber grünte und blühte es von Muscatenstöckchen und Aron, und darüber pfiff ein gelernter Gimpel melodisch seine einstudirten Liedchen. An dieser Stelle schien des Hausherrn Lieblingsplätzchen zu sein, denn hier stand dessen behäbiger Lehnsessel vor einem zopfverschnörkelten Fenstertische, auf und unter welchem mächtige Folianten lagen. Diese aber reizten meine Neugier so sehr, daß ich, während der gute Alte das Feuer schürte und unverdrossen Kaffee filtrirte, mich nicht enthalten konnte, an das aufgeschlagene Buch heranzutreten, um seinen Geist zu erforschen. Da stand denn oben an mit großer Schrift: „Gebet eines Jägers“, was Zeugniß ablegte vom frommen Sinne meines Freundes.
Als mein rühriger Wirth fertig war, rückte er den Mitteltisch an’s Sopha, stellte Kannen, Tassen, sowie ein Näpfchen ein winzig kleinen Stückchen Zucker gefüllt, darauf, legte die diversen Semmelzeilen, die ich für ihn mit aus der Stadt gebracht hatte, vor, und nun tranken wir, dazu tunkend, nach Herzenslust das dampfende Gebräu. Dazu erzählte und erklärte er mir Tausenderlei, bis wir endlich auch den letzten Tropfen ausgeschlürft hatten. Hinterher ward mir aber auch noch eine Ueberraschung. Nachdem er abgeräumt und dann erst noch eine große Schüssel mit dünner Milch und Brod gefüllt, ging er hinaus. Bald darauf trat er wieder ein, und zwar mit einem prächtigen Hühnerhunde, den er jedoch, wie er mir sagte, nur in Dressur und Pflege hatte. Aber zu meinem freudigen Erstaunen folgte diesem auch ein zierliches Reh, zwischen dessen Läuften sich wiederum keck ein Paar prächtiger Katzen hindurchdrängten und miauend mit in die Stube schlüpften. So war der beschränkte Raum darin plötzlich von Thieren der verschiedensten Arten gefüllt, was dem lieben alten Manne eine wahre Herzensfreude zu sein schien. Nun nahm er die vorbereitete Schüssel, setzte sie an die Dielen und pfiff dazu. Da drängten sich denn alsbald Reh, Schweißhund, Dächsel und die Katzen heran, gemeinsam aus dem ihnen vorgesetzten Napf zu fressen; doch auch eine bis dahin von mir noch nicht bemerkte Elster kam schackernd aus einem Winkel hervor und langte herzhaft und ohne jegliche Scheu mit den Andern zu; Zaunschlüpferchen flogen ebenfalls aus dem Tannenzweige herbei, setzten sich auf Tisch und Stuhl und lugten von hier aus neugierig dem gemeinsamen Mahle zu, ebenso ein munteres Rothkehlchen, das sogar sehr bald auf dem Rande des Futtertroges Posto faßte. Nur Nimrod, der stattliche Vorstehhund, enthielt sich jedes Zulangens, da ihm diese Enthaltsamkeit, um seiner Dressur willen, ausdrücklich auferlegt ward, die er auch, so sehnsuchtsvoll seine Blicke nach dem Schmause standen, glänzend bewährte.
Es war ein überaus fesselnder Anblick, diese Gruppe, und ich habe deshalb versucht, sie im Bilde wiederzugeben. In dieser Eintracht der sich sonst so feindlich entgegenstehenden Naturen sah man übrigens so recht den unbedingten Einfluß der ruhig gestrengen und dabei doch wahrhaft liebevollen Behandlung dieser Thiere seitens unseres Haidefrieds. Wie war dieser aber auch so ganz mit seinen geliebten Pfleglingen vertraut! Vom anmuthigen Reh an bis auf die niedlichen, ruhelosen Schneekönige herab unterhielt er sich mit Allen, als ob sie ihn voll verständen; und das war in der That auch der Fall, denn wenn den Gliedern dieser gemischten Gesellschaft auch die Sprache zum Antworten versagt blieb, so war doch das Gebahren eines jeden von ihnen ein lautredendes Zeugniß vom Verständniß zwischen ihnen und ihrem Herrn. Nach diesem reizenden Zwischenspiel waren noch unter Plaudern Stunde um Stunde verronnen, so daß es schon völlig dunkelte, als ich mich von meinem freundlichen Wirthe verabschiedete, doch nicht ohne zuvor das Versprechen gegeben zu haben, recht bald wiederkommen zu wollen.
Noch manchen trauten, glücklichen Tag habe ich in dieser Weise mit dem herzigen Manne verlebt, theils in seiner Häuslichkeit,
[269]theils im Herumstreifen mit ihm durch Wald, Feld und Busch, und zwar zumeist beim Einheimsen von Kräutern und allerhand Gethier, die er dann zu Medicamenten verbraute, um – es war dies eine ganz besondere Leidenschaft von ihm – alle Welt damit curiren zu wollen. Aber auch bei Jagden, zumal in Moritzburg[3], die er, waren es eingestellte, natürlich niemals verabsäumte. So entsinne ich mich bei Veranlassung einer solchen noch mit Wonne eines Nachtstellens. Es traf sich nämlich eines Tages, als ich gerade bei meinem guten Haidefried zum Besuch war, daß ein Befehl für ihn einlief, noch am selben Abend in Moritzburg zum Stellen einzutreffen. Sofort, denn es war ein kurzer Novembertag und bereits Tischzeit vorüber, machten wir uns selbander auf die Beine. Rüstig und ohne Aufenthalt schritten wir auf kürzestem Wege, quer durch die Dresdner Haide, unserem Bestimmungsorte zu. An diesem Tage nun sah ich ihn auch, den Dienstthuenden, zum ersten Male in voller Uniform der Zeugdiener, die wirklich eine gar prächtige, recht gut eines Försters würdige war. Grüner, breitschößiger Tuchfrack, dergleichen eng anliegende Beinkleider, hohe Stiefeln und silberbetreßter dreieckiger Hut, dazu an blankschlossiger Kuppel der Hirschfänger mit Elfenbeingriff und Bügel, der ihm als gelerntem Jäger zustand – alles dies gab dem alten Manne ein wahrhaft stattliches Ansehen. In einem am Wege gelegenen Dorfe überholte uns von Dresden aus die Jagdkalesche des damaligen Oberlandjägermeisters, eines alten, leutseligen, gütigen und dabei drolligen Herrn. Beim Erblicken seines Untergebenen, eben unseres Haidefrieds, ließ der freundliche Chef sofort halten und nahm ihn ohne Umstände – und mich, den ihm gänzlich Unbekannten, dazu – auf seinen Wagen, in welchem er eben auch nach Moritzburg fuhr, um dort des anderen Tages seinen königlichen Jagdherrn zu empfangen. [270] Ehrfurchtsvoll saß nun der geputzte Zwanziger neben seinem höchsten Vorgesetzten, und fort ging’s über die Dorfschaften dem berühmten Jagdschlosse zu.
Auf diesem Wege grüßten in zutraulichster Weise die Landleute ihren heute stolz zu Wagen sitzenden alten Bekannten, den Haidefried, während der schlichte Oberlandjägermeister schon oft unerkannt und darum unbeachtet dieselbe Straße gefahren war. Um so erstaunter blickte dieser deshalb heute seinen ausstaffirten Zeugdiener an und sagte in seiner höchst gemüthlichen, derben und lustigen Art: „Ich glaube gar Kerl, man denkt Du in Deiner schönen Uniform bist der Oberlandjägermeister und ich sei Dein Bedienter, weil das Bauernvolk heute solche Complimente macht. Du hast ja aber auch,“ fuhr er fort „eine Menge Silber auf Deinem Hute, als wärst Du unser allergnädigster König selber.“ Und wohlwollend betrachtete er seinen getreuen, höchst verlegenen Untergebenen vom Kopf bis zum Fuß auf’s Neue.
Rasch ging’s nun dem Friedewald zu, der den Moritzburger Thiergarten umschließt. Am Schlosse wurden wir abgesetzt und gingen direct nach dem nahegelegenen Jagdzeughause, wo die bereits versammelten Stellleute und sonst dazu gehöriges Personal die Tücher, Lappen, Stangen, Forkeln, Schlägel, überhaupt alles dazu nöthige Geräth schon auf Wagen luden, um dann sofort mit ihren Ladungen nach dem sogenannten „Alten Thiergarten“, welcher Theil des Wildparkes eben eingestellt werden sollte, zu fahren. Unter solchen Zurüstungen war es bereits völlig finster geworden, die Wachtfeuer brannten deshalb schon längs der Stelllinie und die dahin geschafften Tücher wurden nun eiligst emporgerichtet, ehe noch die zur Fütterung gegangenen Sauen den Rückwechsel antreten und somit für das bevorstehende morgige Jagen verloren gewesen sein würden. Hierbei war unser unermüdlicher Haidefried so recht in seiner Sphäre. Mit Ueberblick und raschester Gewandtheit gingen die Arbeiten unter seiner thätigsten Mitwirkung von statten. Dabei war er, der Veteran, lustig und guter Dinge, wie einer der Jüngsten unter der Schaar. Durch Scherzen und Singen wußte er einen so belebenden Geist unter die wackern Arbeiter zu bringen, der sie über das Schwerste spielend hinwegkommen ließ, denn es war kein Spaß, bei beißender Kälte und brausendem Sturme, der sich mit dem Abende erhoben hatte und nun die Wipfel über uns ganz gewaltig schüttelte oder manchmal jäh in die bauschige Leinwand fuhr, das Zeug fest zu stellen. Auch mir ward hierbei eine Rolle zugetheilt: ich mußte mit dem Kienkorbe zur Arbeit leuchten, dazu Forkeln darreichen oder sie mit dem Schlägel festrammen, um die Windleinen daran zu befestigen. Alles dies that ich mit Liebe und nicht ohne Geschick, wodurch ich mir den Beifall meines würdigen Freundes erwarb, trotzdem daß meine Augen noch oft genug bei ganz anderen Dingen weilten, als bei der mir zugetheilten Arbeit.
Lag doch aber auch für mich ein ganz besonderer Reiz darin, dieser nächtigen Scene beiwohnen zu können, die in der That eine seltene prächtige Wirkung bot. Hoch loheten die an der ganzen Stelllinie, welche über Bruch und im Holze sich hinzog, unterhaltenen Feuer empor, hier tiefschwarzes, dahinjagendes Gewölk, dort die geschlossenen ächzenden Kronen alter Föhren und Fichten über sich, während die Fackeln der hülfeleistenden Arbeiter wie nächtige Irrlichter hin und her schwankten und mit ihrem rothen, flackernden Schein gespenstig die hellen Tücher beleuchteten, vor denen die lebendigen Gruppen rastlos arbeitender Gestalten hin und her huschten. Dazu die grell beschienenen Pferde und Zugochsen, die, vor die Zeugwagen gespannt, schnaubend dem Trosse folgten, während der eisige heulende Novembersturm das Rufen und Lärmen der Geschäftigen übertobte. Alles dies zusammengenommen gab dem lebensvollen Nachtbilde eine so wunderbar eigene Stimmung, daß ich davon hochentzückt ward, worüber mein Haidefried die herzlichste Freude empfand.
Endlich stand das Zeug. Bestimmte Leute erhielten nun gemessenen Befehl, dabei die Nacht über, in festgesetzten Zeiträumen sich ablösend, zu wachen. Deshalb wurden auf’s Neue mächtige Scheite, ja ganze Stämme, namentlich birkene, in das Hauptwachtfeuer geworfen, daß die sprühenden Funken prasselnd der gewaltigen, vom Sturm dahin gewirbelten Rauchsäule folgten. Noch ein gemeinsamer Trunk in der Runde, dann trennte man sich, ein Jeder, der nicht zur Nachtwache gehörte, seiner nahen oder fernen Stätte zueilend. Auch Freund Zwanziger und ich machten uns auf den Weg und schritten bald vereinsamt durch den finstern Wald einer nicht allzufernen Thorwärterwohnung zu, wo wir zu übernachten gedachten. Noch immer stürmte es hohl durch den nachtschwarzen Forst. Manchen schweren Ast hörten wir knackend und prasselnd durch das Gezweig stürzen, der dann unsern lichtlosen Pfad kreuzte, doch unversehrt erreichten wir das gesuchte bescheidene Asyl. Tiefe Stille trat noch in selbiger Nacht ein und die schweren Wolken hatten sich dafür in weiße Flocken aufgelöst, – eine frische „Neue“ deckte am andern Morgen den Boden; ein Umstand, der das jägerliche Herz hoch erfreute, da dies ja ganz besonders für die zu erwartende „Nachsuche“[4] nach abgehaltener Jagd von nicht genug zu schätzendem Vortheil war.
Manche Saue ward an diesem Tage geschossen, wobei heute ausnahmsweise auch Freund Zwanziger, der geprüfte Jäger, als Büchsenspanner bei einem der hohen Jagdgäste, einem englischen Pair, amtirte. Mir war dies insofern höchst angenehm, als ich dadurch Gelegenheit fand, mit meinem freilich höchst subalternen Gönner, als wie zu seiner Beihülfe geltend, in den Schirm hinter den hochgebornen Schützen treten und so dem Gange der Jagd in unmittelbarer Nähe folgen zu können. Dieselbe begann nun und wurde den ganzen Tag über mit bestem Erfolge fortgesetzt; denn gegen Abend lag eine ganz bedeutende Anzahl der capitalsten Sauen, durch das sichere Blei der Schützen erlegt, auf der Strecke.[5] Nur der biedere Lord, hinter welchem zu stehen ich die Ehre genoß, hatte den ganzen Tag über zwar viel, sehr viel geschossen – ein seltener Anlauf zeichnete seinen jedesmaligen Stand aus –, aber leider war durch seine Hand noch kein einziges Opfer gefallen. Da kam endlich das letzte Jagen heran. Gedrängt von den schreienden Treibeleuten ging ein starkes Rudel Sauen direct auf unsern Stand los und machte dann plötzlich auf Schußweite im lichten Stangenholze Halt. „Päng, päng!“ knallte die Doppelbüchse des Engländers sofort unter das stehende Rudel – doch wieder – ohne Erfolg. Ein zweites ihm sofort dargereichtes Gewehr entsendete den nun unaufhaltsam durchbrechenden Sauen noch seine Geschosse nach, wobei ein dritter, fast à tempo fallender Schuß aus der eigentlich für seinen Herrn schon wieder bereit gehaltenen Büchse Haidefried’s einen der stärksten Keiler niederstreckte. Der alte ergraute Waidmann hatte es nicht mehr mit ansehen können, daß sein unglücklicher Brite – der übrigens ein vortrefflicher Flugschütze gewesen sein soll – um mit Haidefried zu sprechen, „so gar nichts todt brachte“.
Jetzt wurde Halali geblasen. Die Treiber kamen heran und machten vor der Schützenlinie „Gang“. Das erlegte Wild, zweiunddreißig starke Sauen, einige Frischlinge und ein paar Damthiere waren inzwischen bereits auf die Schloßrampe zur Strecke gefahren worden, wo sie dann der Monarch und sein hohes Gefolge bei Fackelschein – der Abend war bereits eingebrochen – in Augenschein nahmen, um dann zur Tafel zu gehen. So fand diese Jagd ihren Abschluß.
Noch manches Jahr nachher habe ich mit meinem alten freundlichen Grünrock in herzlichstem, öfterem Verkehr gestanden, bis mich eine längere Abwesenheit von der Heimath von ihm trennte – für immer, weil ich ihn bei meiner Rückkehr nicht mehr unter den Lebenden fand. Einem einst gehabten Traum folgend, nach welchem er in einer Andreasnacht einmal einen weißen Raben schießen sollte, dessen Herz dann, bei sich getragen, ihn nicht nur vor allem Leid und Ungemach schützen, sondern ihm auch die Macht verleihen würde, jedwede Krankheit heilen zu können, war der alte Mann, wie schon manches Jahr zuvor und wie auch Jedermann wußte, hinausgewandert in den sturmdurchheulten, winterlichen Wald, hoffend, dort endlich doch noch sein geträumtes Vogelherz zu erobern. Er war nicht wieder heimgekehrt. Des anderen Tages hatten ihn Holzmacher weit hinten in der Haide, auf pfadloser Schneeeinöde todt aufgefunden. Sein sonst so warmes Herz war erstarrt, im Suchen nach einem eingebildeten, glückverheißenden Herzen, das jenem alles Weh für alle Zeit verbannen sollte. Und war so nicht dennoch sein Traum in Erfüllung gegangen? – Der Winter – ein weißer Rabe – hatte [271] er ihn, den Vereinsamten, nicht endlich doch ein Herz – das eisige, an das er ihn gedrückt – finden lassen und damit des greisen Mannes Sehnen auf einmal und für immer gestillt? War ihm also nicht geworden, wonach er so lange gesucht?
Möge ihm, dessen Aberglaube doch nur eine Art Cultus seines innigsten, wahren Glaubens an einen allliebenden Vater war, die Theilnahme treu bewahrt bleiben, die sein Tod damals in den Herzen Aller weckte, die ihn kannten!
Seit Langem hat in England und Nordamerika keine Dichtung ein so großes Aufsehen erregt, wie die Fischer-Idylle „Enoch Arden“ des „lorbeergekrönten“ Poeten der Engländer. Ihr Erfolg ist etwa mit demjenigen zu vergleichen, welchen der Roman „Onkel Tom’s Hütte“ seiner Zeit hatte, und wenn man unlängst in den Zeitungen las: während der Pariser Ausstellung seien monatlich nicht weniger als fünftausend Exemplare der billigen, festländischen Gesammtausgabe Tennyson’s von Engländern daselbst gekauft worden, so giebt das nur einen schwachen Begriff von dem Absatz seiner Werke überhaupt, denn in Nordamerika allein, da hier keinerlei Beschränkungen dem Nachdruck entgegenstehen, ist dieser Absatz ein noch weit größerer gewesen.
Tennyson selbst gilt übrigens für keinen reichen Mann, weil er ungern fordert und feilscht. Dennoch kann es nicht fehlen, daß sich nachgerade, wie weiland beim König Midas, Alles, was er anrührt, in Gold verwandelt, denn jede periodische Zeitschrift möchte etwas von seinem Ruhme profitiren und bietet gern große Summen, um von dem häufig während langer Jahre durchaus verstummt Gewesenen nur irgend ein Gedicht zu erhalten. So liest man von zweitausend Pfund Sterling, also etwa dreizehntausend Thaler, welche die Zeitschrift Good Words (gute Worte) jüngst für zwölf „kleinere“ Gedichte Tennyson’s zahlte, und nicht minder von freiwilligen Honoraren, die Mssrs. Ticknor und Fields in Boston, die Herausgeber der bekannten Zeitschrift „Atlantic Monthly“, ihm für Benutzung seiner Gedichte übersandten.
Enoch Arden ist, wie man weiß, eine einfache Erzählung: Anna Lee wird schon als Kind von zwei Jugendfreunden, Philipp Ray und Enoch Arden, geliebt. Sie wählt den letztern zum Mann. In der Ehe stellt sich mancher Kummer ein, so daß Enoch den Antrag eines Schiffscapitäns, mit nach China zu segeln, annimmt, und sein Weib und zwei Kinder allein läßt. Als er nach jahrelanger Abwesenheit schiffbrüchig und elend wieder in die Heimath zurückkehrt, findet er seine Frau als die Gattin Philipp’s wieder. Nach langem Zaudern hat sie endlich dessen Werben nachgegeben, da man Enoch für todt halten muß. In einem Wirthshause erfährt dieser, was während seines Abseins vorgefallen. Er überzeugt sich mit den eigenen Augen von dem Glücke Anna’s – in hohem Edelmuthe beschließt er, es nicht zu stören, sondern zieht sich auf einen einsamen Felsen zurück, wo er von Fischfang kärglich sein Leben fristet. Erst auf dem Todesbette sendet er dem geliebten Weibe eine Locke seines Kindes wieder, die sie ihm beim Scheiden gab, und läßt sie die Wahrheit wissen.
Fälle, wie der in unserm Gedichte erzählte, haben sich, wie man versichert, auch an unserer Nordseeküste zu wiederholten Malen ereignet, und sie kommen unter der Schifferbevölkerung überhaupt nicht gar so selten vor. Richterliche Entscheidungen solcher Art sind jedenfalls auch vorzufinden. Es scheint sogar an unserer Nordküste nicht an Fällen zu mangeln, wo der zweite Gatte durch richterlichen Ausspruch, und sogar gegen den Wunsch des zurückgekehrten ersten Gatten seiner Rechte wieder entsetzt worden ist. Wenn ich nicht irre, könnten oldenburgische oder hannöversche Juristen interessante Dinge darüber berichten.
Für eine der fleißigsten Leserinnen Tennyson’s gilt die Königin Victoria, und es dauerte nicht lange, so war ihr zu Ohren gekommen, daß von den Feinden und Neidern Tennyson’s dessen neuestes Gedicht als unmoralisch und als eine Verherrlichung der wilden Ehe angeklagt werde. Sie wandte sich an einen hochgestellten Geistlichen und hörte von demselben, daß allerdings Doppelehen dieser Art etwas nicht Seltenes seien, daß die davon ohne ihre Schuld Betroffenen auch vielleicht am jüngsten Tage Vergebung zu hoffen hätten, – denn die Allgüte des Herrn des Himmels und der Erde kenne ja keine Grenzen – daß es aber eine bedenkliche moralische Verwirrung verrathe, wenn man Denjenigen in einer Art Glorie zeige, welcher dem Fortbestande einer solchen sündhaften Ehe Vorschub leiste. Dies thue Enoch. Statt sich bei seinem Weibe zu melden, um wieder in seine Rechte und Pflichten einzutreten, lege er sich hin und sterbe.
Die Königin fühlte sich nicht wenig beunruhigt. Sie wußte zwar, daß Tennyson’s Stellung zu dem höheren Klerus eine nicht eben günstige sei. Sein offenes Sendschreiben an einen abgesetzten Pfarrer Namens Maurice war ihm nicht vergessen worden. Aber seit dem Tode ihres Gemahls hatte die Königin sich gewöhnt, den Stimmen in ihrer Umgebung mehr, als ihrem eignen schlichten Urtheil, Bedeutung und Gewicht beizulegen, und so trug sie sich eine gute Weile mit unklaren Eindrücken über dies Gedicht, zu welchem sie keinen richtigen Standpunkt zu finden vermochte. Endlich glaubte sie auch nach anderer Seite hin noch sondiren zu müssen und gerieth an eine womöglich noch strenger urtheilende Persönlichkeit, allerdings, wie sich später herausstellte, gerade diejenige Dame, auf welche man Tennyson’s Jugendgedicht Lady Vere de Vere bezieht, welches bekanntlich die poetische Abfertigung einer hochadeligen Kokette ist, die ihre Netze vor Zeiten nach dem Jüngling ausgeworfen hatte.
Nach dieser zwiefachen Verurtheilung Enoch Arden’s, dessen Erfolge inzwischen in tausend Echos an ihr Ohr klangen, glaubte die Königin am Besten zu thun, wenn sie den Dichter selbst über den Gegenstand seine Meinung äußern ließ. Am selben Nachmittag dehnte sie also ihre gewöhnliche Spazierfahrt längs der Küste über ihr herkömmliches Ziel aus und ließ in westlicher Richtung immer weiter fahren. Osborne, die Residenz der Königin auf der Insel Wight, ist von Tennyson’s Wohnung, der ebenfalls auf der Insel lebt, eine hübsche Strecke entlegen, aber die ganze Insel bietet ja keine gar großen Entfernungen und die Wege sind vortrefflich chaussirt. Bald sah man also das von Fichtengruppen umstandene Haus des Dichters aus den frühlingsgrünen Büschen und Hecken herüberschimmern.
Die Königin hatte Niemand als zwei ihrer Töchter in ihrem Wagen mitgenommen. Als sie Tennyson’s Gestalt im Garten gewahrte – sein langes Haar und sein voller Bart ließen ihn nicht verkennen – überwies sie den kleinen Prinzessinnen, wie sie es bei Abstechern dieser Art wohl zu thun pflegt, Skizzenbuch und Botanisirtrommel und begab sich allein nach dem niedrigen Gartenthore, wohin Tennyson ihr schon entgegengeeilt war.
Sie wollte nicht eintreten, begann vielmehr sofort, indem sie ihn neben sich gehen ließ, den Gegenstand ihrer Beunruhigung ihm auseinander zu setzen, nicht ohne mit dem feinen Verständniß, das man der Königin Victoria nachrühmt, die mannigfachen Schönheiten des Gedichts einer ausführlichen Würdigung zu unterziehen. Und so ging es immer längs des hohen Weststrandes fort, tief unten die blaue See, auf welcher, wie die verwehten Blüthen eines Schlehdorns, weiße Segel sich winzig klein umhertrieben, während die nahen Hecken von dem Zwitschern des Rothkehlchens und des kleinen Zaunkönigs lustig erklangen und unzählige Möven die schroff abfallenden Klippen schreiend umkreisten.
Endlich gebot eine Bürde Reisig, welche quer vor den Wandelnden den Weg versperrte, ihrem Weitergehen ein Halt! Ein blondes blauäugiges Mädchen von zehn bis zwölf Jahren stand daneben, nicht wenig erschreckt, daß sie mit ihren Tragestricken zum Zusammenschnüren der Bürde nicht rascher fertig werde, denn die Königin war der kleinen Insulanerin natürlich keine Fremde, und den Richtweg über den Kirchhof, vor dessen Gatter die Bürde lag, völlig versperrt zu haben, das war doch um so unschicklicher, als die Hauptstraße wegen des tiefen Schmutzes gerade heute völlig unbenutzbar war.
Tennyson half der Kleinen denn die Bürde schnüren, die Königin gab ihr eine kleine Münze und ließ sich ihren Namen nennen – er hieß Anna – und dann ging es quer über den Kirchhof weiter.
„Ein liebes Gesicht!“ sagte die Königin, indem sie der mit dem Reisig von dannen Schwankenden nachblickte, und dann, [272] wie auf ihr Thema zurücklenkend setzte sie sinnend hinzu: „So etwa denke ich mir, Ihre Anna Lee, ich meine zur Zeit ihrer Spiele mit Enoch und Philipp, da wo sie, um den Zwist Beider zu schlichten, ihnen verspricht: sie wolle ja gern Beider kleines Weib sein.“
„Auch könnte ein Maler das Mädchen füglich als Modell dazu benutzen, Majestät,“ gab Tennyson zur Antwort.
Er war stehen geblieben, um die Königin an einer Regenlache vorüber zu lassen, und die hohe Frau, bei dem kleinen Wellengekräusel auf der Lache sich eines schönen Gleichnisses in Tennyson’s Königsidyllen erinnernd, citirte die betreffende Stelle Wort für Wort.
„Aber heißt das nicht Enoch?“ fragte die Königin, im Vorübergehen die Inschrift eines der grün bemoosten Leichensteine, welche rechts und links vom Wege lagen und standen, mit ihrem Blicke streifend und dann ihre Frage selber bejahend: „Freilich heißt es Enoch! Es ist doch eigen, wie uns plötzlich etwas bedeutend scheint, was wir vorher mit völliger Gleichgültigkeit betrachteten; so dieser Name z. B., den ich, wie oft! auf meinen Streifereien zwischen anderen Namen aus dem alten Testament von den Grabsteinen ablas, ohne mir je etwas dabei zu denken.“
Und dann weiter suchend, setzte sie hinzu: „Schade, daß Ihr Philipp hier nicht auch noch einen Namensvetter hat; die Sage würde sich desto eher zu Gunsten dieses Kirchhofes geschäftig erweisen und die Scene Ihres Gedichts, wer weiß, in den Schatten dieser Nußbäume verlegen! Aber was haben Sie mir auf alle meine Bedenken zu antworten, Mr. Tennyson?“
„Sehr wenig, Majestät.“
„Und zwar?“
„Daß es mir leid sein würde, Majestät, wenn jenes kleine Mädchen dort mit dem Makel unehelicher Abkunft behaftet wäre.“
„Welches kleine Mädchen?“
„Das eben dort hinter der Hollunderecke verschwindende, Majestät; ich meine die kleine blonde Reisigträgerin.“
„Und was hat jenes Mädchen mit Ihrem Gedichte zu thun?“
„So viel wie irgend möglich, denn wenn es nach dem Wunsche des Bischofs von N. gegangen wäre, so gälte die kleine Anna dort oben für ein in ungültiger Ehe erzeugtes Kind.“
Die Königin war stehen geblieben.
„Sie wollen doch nicht sagen, Mr. Tennyson,“ versetzte sie, „daß hier auf unserer kleinen Insel eine Geschichte wie Ihr Enoch Arden wirklich passirt sei?“
Und da Tennyson einen Augenblick schwieg, fuhr sie fort: „O, ich weiß, Sie geben ungern auf dergleichen Fragen Bescheid. Aber wirklich: Enoch Arden hätte hier gelebt? Läge wohl gar unter jenem Stein dort begraben?“
„Majestät,“ sagte Tennyson, „es giebt in den engsten und dürftigsten Verhältnissen gar manchen Zug des Heroismus, um welchen die Geschichtschreiber den stillen Beobachter des Volks beneiden könnten. Wohl dem, der für solche Züge ein einfältig kritikloses Verständniß hat; wohl dem, der sie im Liede wiedererzählen darf, ohne allzu viel an ihrer schlichten Ursprünglichkeit zu verderben; wohl dem vor Allen, dem das Lied sie nachrühmen kann! Sein Andenken streut himmlischen Samen aus.“
Die Königin war über den Rasen zu dem Grabsteine hinübergegangen und legte die Hand auf die bemooste Kante desselben. Sie stand eine lange Zeit schweigend da, den Blick auf die Stelle gerichtet, wo der Verschollene seinen Frieden gefunden hatte. Endlich sagte sie, indem sie sich wieder aufrichtete und zum Heimgang anschickte: „Gott lohne ihn! Er hat doch recht gehandelt.“
Der Schimmel des Königs. Der in Nr. 50 Ihres geschätzten Blattes, Jahrgang 1867, mitgetheilte Artikel: „Aus einem Fürstenschlosse“, giebt dem Unterzeichneten Veranlassung, zu beliebigem Gebrauch Ihnen von einer edelmüthigen That eines Fürsten zu erzählen, der neben den Schwächen, die er mit seinem Stamme theilte und die seinen Sohn schließlich aus dem Lande trieben, auch manche Züge der größten Menschenfreundlichkeit zeigte, welche es wohl verdienen, in weiteren Kreisen bekannt zu werden.
In dem kleinen hannover’schen Städtchen S. lebte zu Anfang der vierziger Jahre ein junger Arzt B., welcher durch übergroße Anstrengung bei Ausübung seines Berufes sich einen schweren Typhus zugezogen hatte. Da er vollständig ohne eigenes Vermögen und nur auf den Ertrag seiner Praxis angewiesen war, so stellte sich in seiner aus Frau und drei kleinen Kindern bestehenden Familie bald Noth und Mangel ein. Als nach glücklich überstandener Krankheit der Zustand des Kranken aber starke Bouillon, Wein etc. erheischte, konnte die arme Frau solche nur beschaffen, indem sie ein Stück aus dem Haushalte nach dem andern verpfändete.
Da will es der Zufall, daß ein früherer Universitätsfreund des Arztes, S., dessen Weg ihn hier durchführt, seinen Freund besucht. Obwohl die Frau den Zustand ihres Haushalts nach Kräften zu verbergen sucht, so durchschaut S. doch bald die Sachlage, und B. ist offen genug, ihm mitzutheilen, daß er keine Hülfe für sich sehe, da er auch nach vollständiger Genesung seine Praxis auf den umliegenden Ortschaften nur wieder aufnehmen könne, wenn er ein Pferd besitze, ein solches aber nicht anschaffen könne. S. theilt, nach Hannover zurückgekehrt, seinem Vater, der Kammerdiener des Königs Ernst August ist, die Lage seines Freundes mit und bittet ihn, den königlichen Herrn auf letzteren aufmerksam zu machen. Das geschieht. Ernst August läßt darauf durch den jungen S. in aller Stille die Pfandscheine, welche die Frau B. ihm einhändigen muß, einlösen und seinen Oberstallmeister zu sich kommen.
„Welches ist das sanfteste Pferd in meinem Marstalle?“ redet er ihn an.
„Das ist der Schimmel, den Ew. Majestät immer reiten,“ lautet die Antwort.
„Soll gesattelt werden, will’s fortschicken!“
„Aber, Majestät,“ wendet der Stallmeister ein, „das können Ew. Maj. gar nicht entbehren, da Sie dasselbe schon seit längeren Jahren reiten und nur an dieses Pferd gewöhnt sind.“
„Ganz einerlei,“ erwidert der König, „haben wollen, keinen Widerspruch leiden.“
Zwei Tage darauf wird Morgens frühzeitig an der Thür des Arztes in S. geklopft. Die Frau sieht hinaus, erblickt aber Niemand. Dagegen ist an den Thorweg ein Schimmel festgebunden. In den Satteltaschen findet sich weiter nichts, als die quittirten Pfandscheine und zwei Scheine des Kornhändlers N. und des Weinhändlers O. zu S. Der erste lautete: „Gegen Vorzeigung dieses Papiers liefere ich dem Inhaber einen Wispel Hafer,“ und der Weinhändler verspricht dem Ueberbringer vierundzwanzig Flaschen Chateau Lafitte. Beide haben jedoch nie erfahren, wer die genannten Gegenstände bei ihnen kaufte und bezahlte, und erst nach dem Tode des Königs Ernst August hat die Frau ihrem Manne den Namen seines königlichen Wohlthäters nennen dürfen.
Goldelse in England und Rußland. Zugleich mit der dritten Auflage von E. Marlitt „Goldelse“, einer sogenannten Volksausgabe, ist eine englische Uebertragung des Buches erschienen – aus der Feder von W. C. Wrankmore – und wird, wie wir vernehmen, eine Uebersetzung in die russische Sprache vorbereitet – Beweis genug, daß man auch außerhalb Deutschlands die Bedeutung der trefflichen Erzählung zu würdigen weiß.
B. B. in Dorpat. Verfügen Sie anders über Ihre Erfindung. Poste-restante-Pakete sind unzulässig. Für uns selbst unbrauchbar.
Schfd. in Egbg. Wenn Ihre Aufstellungen ebenso richtig sind, wie Ihre Vermuthungen, so ist es mit Ihrer Sache schlecht bestellt. Karl Schurz ist nicht Verfasser des Artikels über den Präsidenten, doch ist der Name unseres in Washington lebenden Correspondenten nicht weniger ehrenvoll bekannt, als der des Befreiers Kinkel’s. Wir bewundern übrigens Ihre weitgreifenden Studien in der Schimpfographie.
Es sandten ferner ein: Die Redaction des Goslarer Allgem. Anzeiger 48 Thlr. 19 Sgr.; einige Seminaristen in Breslau 3 Thlr. 13 Sgr.; Sänger und Musiker in Rothenburg (durch A. Hörbar) 16 Thlr.; Schroth in Uniona (Minnesota) 9 Thlr.; Sammlung des Wetterauer Boten 2 Thlr. 27 Ngr.; von Calw, Rest einer größern Sammlung 3 Thlr. 18½ Sgr.; aus Hammelburg 1 Thlr.; Sammlung in Guntersblum 13 Thlr. 8 Sgr.; Club Alphea in Hamburg 2 Thlr.; aus Lage 5 Thlr. 15 Sgr.; Sammlung des Pfarrers Lackner in Belgrad 2 Ducaten; H; W. in Gotha 15 Thlr.; Riecker in Pforzheim 1 Thlr. 28 Sgr.; S. K. in Augsburg 5 Thlr.; Turnverein in Suhl 2 Thlr. 11 Sgr. 2 Pf.; „Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt“ 2 Thlr. 15 Sgr.; eine Barmerin 1 Thlr.; S. in Wolfenbüttel 1 Thlr.; Redaction des Ammerländers in Westerstade 1 Thlr. 15 Sgr.; Gymnasiallehrer Rob. Hähnel in Nicolajeff 3 Thlr.; Sammlung durch Stadtschultheiß Schatz in Tuttlingen 10 Thlr. 17 Sgr.; Expedition des Ortenauer Tageblattes, zugleich Lahrer Wochenblattes 16 Thlr. 10 Sgr.; B. H. G. 5 Thlr.; Sammlung der Hessischen Morgenzeitung, zweite Sammlung 28 Thlr.; H. in Wien 1 Thlr.; Lützener Bürgervereins-Mitglied 9 Sgr.; eine Wittwe in Speyer, deren Sohn in weiter Ferne 10 fl.; Gesellschaft Aula in Homburg v. d. H. 1 fl.; heitere Gesellschaft im Adler in U. 1 fl.; aus Temeswar 5 fl. öster.
- ↑ „Zeug“ ist die allgemeine Benennung alles Jagdzeuges, als: Netze, Tücher, Lappen etc. Dasselbe „stellen“ aber heißt: nach besorgtem Aufladen und Transport des Jagdzeuges einen bestimmten Jagdbezirk, worin Wild steht, damit einhegen.
- ↑ Ein paar dieser alten Garde leben noch.
- ↑ Moritzburg ist ein mit weitem Wildpark umgebenes königliches Jagdschloß bei Dresden.
- ↑ Auf der sogenannten Nachsuche wird das auf Jagden angeschossene, noch lebende oder auch schon verendete Wild aufgesucht.
- ↑ Strecke heißt: das geschossene Wild vor dem Jagdschirm oder sonst wo in eine Reihe legen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: künstlerschen