Die Gartenlaube (1869)/Heft 28
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No. 28. | 1869. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen.
Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Wilderich ging in der That am andern Tage, als ob er danach sehen wolle. Er war am Morgen ungewöhnlich früh aufgestanden, aber zuerst war er in die Mühle gegangen, mit dem Gevatter Wölfle zu reden. – Margarethe hatte gesehen, daß mehrere fremde Männer die Schlucht heraufgekommen und sich ebenfalls in die Mühle begeben hatten – der Müller hatte seine Räder gestellt, als ob er Wichtigeres heute zu thun habe, als seine alten Steine sich umschwingen zu lassen – Margarethe schüttelte den Kopf über dies Treiben, aber sie war gewohnt, daß man ihr ein Hehl daraus machte, und so plauderte sie ihren Aerger nur gegen den kleinen Leopold aus, der ihr von der Wiese am Bach gelbe Blumen des Löwenzahns zutrug, aus dem sie ihm eine Kette um den Hals machen mußte. Als Wilderich aus der Mühle zurückkam, nahm er erregt, wie es schien, und hastig ein Frühstück ein, dann warf er die Büchse um, pfiff seinem Hunde und schritt davon, die Schlucht hinauf.
Eine halbe Stunde später sah er die Steinbrücke von Haus Goschenwald vor sich. Der alte Schösser saß zwar nicht mehr auf der Brustwehr, aber er lag in seiner rothen Uniform und mit einer hohen weißen Zipfelmütze auf dem gelbgrauen runzligen Haupte in einem offenen Fenster des Thorbaus, über dem Einfahrtsthor; so blickte er Wilderich entgegen, ohne sich zu rühren, nickte auch nicht mit dem Kopfe, als dieser die Hand grüßend an seine Mütze legte – wenn er auch nicht mehr starr und steif wie ein Steinbild auf der Brücke saß, versteinert schien der alte Mann doch.
Wenn man durch das gewölbte Thor im Vorbau auf den Hof von Goschenwald kam, so hatte man rechts das Haupthaus und vor sich einen im rechten Winkel vorspringenden Flügel; von diesem nach dem Vorbau hin schloß links eine niedrige gezinnte Mauer den Hof, über welche man fort in das enge waldbewachsene Thal und den Weiher im tiefsten Grunde blickte, in die stille, grüne, menschenleere Waldwelt.
Mitten im Hofe stand eine Linde und unfern ein Ziehbrunnen mit seinem Eisenrade zwischen zwei Steinpfeilern; der Brunnen mußte sehr tief sein, da Goschenwald auf halber Berghöhe lag und das ganze Thal beherrschte. Dicht unter der Linde, die weithin ihre niederhängenden Zweige ausbreitete und den Boden umher mit ihren grauen beflügelten Blüthen bedeckt hatte, stand eine Bank, und auf dieser Bank saß ein junges Mädchen in einem dunkelgrünen Kleide, unter dem nach der Mode der Zeit ein graues Unterkleid hervorblickte; ihre Brust war mit einem weißen geblümten Tuche umhüllt, das auf dem Rücken zu einem Knoten zusammengeschlungen war; um ihr Haupt wallten frei die dichten braunen Locken. So saß sie da, das Kinn auf die Hand gestützt und in das Thal vor ihr hinabschauend – ein grober grauer Strickstrumpf, mit dem sie beschäftigt gewesen sein mußte, lag in ihrem Schooße.
Wilderich fixirte sie überrascht, als er näher kam – war das in der That – ja, sie war es, dies schöne rosig-bleiche Antlitz konnte keinen Doppelgänger haben – es war die Nonne von gestern!
Ein eigenthümliches Gefühl von Befriedigung war es, womit Wilderich die Wandlung bemerkte, die aus der Nonne ein junges Mädchen, anscheinend des wohlhabenden Bürgerstandes, gemacht; – es war auffallend, daß sie so geeilt, das fromme kirchliche Gewand abzuthun; für den jungen Forstmann freilich konnte es ganz dasselbe sein, ob er sie nun so oder so sah; und doch flößte der Anblick ihm eine warme, wohlthuende Empfindung in’s Herz.
Als er auf sie zutrat, fühlte er sich tief erröthen, und dem Blicke, den sie groß und ruhig auf ihm haften ließ, ein wenig unsicher begegnend, aber mit der Verbeugung eines weltgewandten Mannes, sagte er:
„Ich hoffe, Demoiselle, Sie finden mich nicht zudringlich; meine Waldstreiferei führte mich in die Nähe und die Hoffnung, zu erfahren, daß Ihre Fußreise Sie nicht zu sehr ermüdet und angegriffen habe, bis hierher …“
„Ich danke Ihnen,“ versetzte sie freundlich, aber sehr ernst, „wie Sie sehen, bin ich wohl; ich danke Ihnen für die große Gefälligkeit, welche Sie mir gestern bewiesen, und die ich nicht hätte annehmen sollen, da Sie einen so weiten Weg bis zu Ihrem Hause zurückzumachen hatten. Aber ich wußte nicht, wie weit …“
„Sie kannten den Weg nicht, freilich, und es wäre ja unverzeihlich von mir gewesen, hätte ich es Ihnen überlassen, sich den Weg selber zu suchen. Darum reden wir nicht von Dank …“
Wilderich schwieg. Sein Auge haftete auf dem Antlitze des jungen Mädchens, das einen so unbeschreiblichen Zauber auf ihn ausübte; unter dem Einfluß dieses Zaubers, der ihm eigenthümlich die Gedanken verwirrte, wußte er nicht, wie er den abreißenden Faden des Gesprächs wieder anknüpfe.
„Es freut mich,“ stotterte er endlich, „daß Sie hier wohl aufgehoben sind … der Herr Schösser hat sicherlich …“
[434] „Der Herr Schösser,“ fiel sie ein, „hat endlich den Brief der Aebtissin gelesen und mir die besten Zimmer dort oben“ – sie deutete auf den vorspringenden Flügel des Baus – „eingeräumt; er spricht zwar nur mit den Augen, der Herr Schösser, aber er scheint ein friedlicher, wohlmeinender Herr; auch ist er nicht so abgeneigt, auf eine Frage eine Antwort zu geben, wie es scheint. Man muß ihn nur dabei, die Haushälterin hat es mir verrathen, Eure Gestrengen nennen. Die Zimmer sind recht wohl erhalten, sie haben eine hübsche Aussicht, und ich bin durchaus nicht unzufrieden, sie mit meiner Zelle vertauscht zu haben …“
„Und diese Tracht, die so viel kleidsamer und, wenn ich es zu sagen mir herausnehmen darf, so viel passender für die Demoiselle ist, mit dem schwarzen Habit … in welchem ich mich gar nicht recht Sie anzureden getraute!“
Sie nickte lächelnd.
„Ich war nur Novize, oder auch das nicht einmal so recht im Kloster,“ sagte sie, „… ich trug das schwarze Habit wie eine Art Verhüllung, und ich habe es abgelegt, da es doch nur eine Entweihung desselben wäre, wenn ich es hier vor den Leuten beibehalten und so Parade mit einem frommen und sehr ernsten Berufe gemacht hätte, der meiner Seele ganz fremd ist, für den ich gar nicht würdig genug bin. Es ist sicherlich nicht Eitelkeit, wenn ich Ihnen heute so verwandelt und verweltlicht erscheine – nein, nur Ehrlichkeit!“
Sie sah ihn dabei mit Augen an, aus denen diese Ehrlichkeit hervorleuchtete.
Wilderich gerieth immer tiefer in den Zauberbann dieser Augen, er kam sich dabei, weil er nichts zu antworten, nichts Sinniges oder Kluges vorzubringen wußte und das Roth der Verlegenheit auf seinen Wangen brennen fühlte, entsetzlich hölzern und täppisch vor; er suchte nach einem Schluß der Unterredung und mochte sich doch auch von der Stelle, wo er stand, nicht losreißen.
„Die Kloster-Tracht,“ sagte er nach einer Weile, „würde Sie vielleicht doch besser geschützt haben, wenn der Sturm hier in unsern Waldbergen losbricht.“
„Der Sturm? Sie meinen?“
„Ich meine den Kampf, der sich hier in der Stille vorbereitet. Ich darf es Ihnen ja sagen. Sie wissen, daß die Franzosen oben im Lande zurückgeworfen sind; eine zweite Schlacht, vielleicht in der Gegend von Würzburg, wird hoffentlich ihre Macht völlig brechen und sie zwingen, sich durch die Wälder hier auf den Rhein zurückzuziehen. In diesen Wäldern aber werden sie alsdann vernichtet werden.“
„Mein Gott, Sie sprechen das so bestimmt aus – Sie glauben, der Erzherzog Karl wird sie hier auf dem Rückzuge angreifen …“
„Nicht das. Der Erzherzog Karl wird mit seiner Armee für die Waidmänner des Spessart der Treiber sein, der sie ihnen wie ein gehetztes Wild in den Schuß treibt! Wir sind bereit und gerüstet, sie zu empfangen. Es ist Alles vorbereitet. Wir haben im Stillen für Waffen gesorgt, die Männer im Gebrauch derselben geübt, die Anführer und Rotten aufgestellt, die Punkte, wo die Angriffe erfolgen sollen, bestimmt – warten Sie ein paar Tage, und Sie werden auch hier in Goschenwald hören können, wie’s drüben in den Thälern, wodurch die Straßen ziehen, knattern und knallen wird …“
„Mein Gott, was sagen Sie mir da!“ rief das junge Mädchen erschrocken, „und das soll hier unter meinen Augen vorgehn?“
„Hier – schwerlich! Seien Sie darüber beruhigt! Göschenwald liegt in gerader Linie fast eine Stunde von der Heerstraße entfernt. Sie werden höchstens die Jäger sehn, nichts von der – Jagd!“
„Das ist aber doch fürchterlich … und Sie, Sie selbst?“ versetzte sie, indem sie in das von dem Ausdrucke wilden Muthes und der Kampfeslust glühende Antlitz Wilderich’s blickte.
„Ich selbst – ich bin Waidmann – im Spessart angestellt; durch mein Revier zieht ein gutes Stück der Rückzugslinie des Feindes; möchten Sie da meine Büchse feiern sehn?“
Sie antwortete nicht. Ihre Züge waren bleich geworden.
„Schrecklich ist es aber doch,“ sagte sie dann, mit dem Ausdruck der Angst zu Wilderich aufblickend, „es hat mich so entsetzt, daß ich noch in dieser Stunde wieder aufbrechen und mich weiter flüchten möchte! – Aber wohin, wohin? Ich weiß keinen Winkel auf Erden, der mich aufnähme, wenn ich diesen hier verließe, keinen Winkel, keine Stätte! O mein Gott!“ setzte sie halb wie für sich und den Blick von Wilderich abwendend, um mit ihm in die Ferne hinaus zu schweifen, hinzu, „ich bin ja nun einmal verlassen von Allen, verlassen und verloren! So muß es denn über mich kommen, ich muß es überstehen, so gut es zu überstehen ist!“
„Es thut mir leid,“ versetzte Wilderich bewegt, „daß es Sie so erschreckt, so zittern macht. Hätt’ ich’s Ihnen lieber nicht verrathen, wie wir’s bis heute verborgen gehalten vor aller Welt, außer denen, die’s anging, die den nöthigen Haß im Herzen, die nöthige Kraft in den Muskeln und Sehnen haben, um zu helfen, mit einem heiligen Wetterschlage in das böse Volk, das unser Vaterland höhnt, beschimpft, ausraubt und zertritt, zu fahren! Doch ich dachte, Ihnen dürfte ich’s sagen; mir ist, als dürft’ ich eben Ihnen Alles sagen, Ihnen müßt’ ich Alles sagen … und dann, dann, dachte ich, seien Sie vorbereitet und ängstigten sich nicht, wenn Sie wüßten, daß Alles wohlgeordnet, Alles vorgesehen ist; daß nicht tollkühne Menschen sich um Sie her leichtsinnig in den Untergang stürzen, sondern daß ein überdachter Plan das entschieden eingreifende Handeln des Volkes regelt. Das Volk will zeigen, daß es auch die Waffe zu handhaben versteht und alte Schmach zu rächen weiß, und daß, so viel man auch gethan, seine Kraft, seinen Muth, sein Selbstbewußtsein in dem Modersumpf unsres Reichswesens zu ersticken, diese Kraft doch noch lebendig ist und zu siegen weiß, wenn man ihr nur Raum läßt, sich zu offenbaren. Um das an den Tag legen zu können, hat es sich aber vorgesehen, damit es nicht bei dieser Erhebung eine klägliche Rolle spiele und zum Spotte Derer werde, welche es verachten. Es hat seine Maßregeln dawider getroffen. Es wird kein Kinderspiel werden, sondern ein ernstes Stück Arbeit. Aber fürchten Sie Nichts … es wäre nicht wohlgethan, wenn Sie drum diesen Aufenthalt verlassen wollten, falls Sie so allein stehen in der Welt, wie Sie sagen –“
„Das thu’ ich,“ versetzte das junge Mädchen, zu Boden blickend, „allein, ganz allein!“
„Das ist ein hartes Loos,“ erwiderte Wilderich weich und mit gedämpfter Stimme. „Für ein junges Mädchen doppelt, obwohl es auch die Seele eines Mannes wunddrücken kann, wenn er sich sagen muß: Du bist allein in der Welt, die Deinen sind alle dahin, sind todt, du selbst bist wie ein loses Blatt in diese Thalschlucht, in diese Berge, in diese Welt hineingeweht, ohne daß du weißt, was dich eigentlich dahin bringt; ohne daß das Bewußtsein des Fremdseins in dieser Welt für dich aufhört; ohne daß sich Fäden spinnen zwischen ihr und deinem Gemüth, die dir endlich das Gefühl, eine Heimath zu haben, gäben; ohne daß die alte quälende Empfindung der Herzensleerheit ein Ende fände, und das ewige schmerzliche Träumen von einem Glück, das irgendwo jenseits der grünen Bergwaldkämme im Ost oder im West für dich existiren müsse, je aufhörte …“
„Und ist’s Ihnen so zu Muthe – Ihnen – hier?“ fragte lebhaft das junge Mädchen.
„So ist’s,“ sagte er. „Ich bin fremd hierhergekommen, seit wenigen Monden. Ich bin zu Hause in der Unterpfalz, aus der Gegend von Zweibrücken. Da ist nun Alles französisch drüben. Mein Vater war Forstmeister dort, ein alter Mann, gichtgelähmt, ich durfte ihn nicht verlassen – so hielt ich’s aus – ich sollte sein Nachfolger werden und versah den Dienst für ihn schon seit mehreren Jahren; ich hielt es aus trotz der neuen Wirthschaft dort; als aber mein Vater gestorben, da hielt mich nichts mehr zurück, ich gab meine Stellung und Aussicht auf, und der Kurfürst von Mainz, der jetzt in Aschaffenburg sitzt, gab mir ein vernachlässigtes Revier, sein entlegenstes – dieses hier!“
Das junge Mädchen sah ihn an, ohne zu antworten.
„Sie klagen mit Unrecht,“ sagte sie dann nach einer Weile, „über solch’ ein Lebensloos. – Es giebt härtere. Keine Heimath zu haben ist besser, als eine zu haben, die uns ausgestoßen hat; keinen Kreis verwandter und geliebter Menschen zu besitzen, besser, als in dem, der uns gehört, Hader, Feindschaft und tödtlichen Haß zu wissen!“
Wilderich nickte leise und sinnend auf die Sprechende vor ihm blickend. Ein unendliches Mitleiden mit ihrem Loose erfüllte ihn, da er sofort annahm, daß sie nur von ihrem eigenen reden könne.
[435] „Sie haben Recht, Demoiselle,“ entgegnete er dann. „Und … wenn … wenn …“
„Was wollten Sie sagen?“ fragte sie unbefangen, als er in’s Stottern gerieth.
„Nichts, als daß Unsereins ja auch den Trost hat, zuweilen zu etwas nütz sein zu können … vielleicht, wenn Sie irgend eines Schutzes, eines Dienstes bedürften, … aber das wäre vermessen von mir zu hoffen … doch wird es Ihnen erwünscht sein, Auskunft, Nachrichten über die Vorgänge, die wir zu erwarten haben, zu erhalten … ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß, wenn ich wiederkommen dürfte, wenn Sie mir vergönnten …“
Wilderich’s Erröthen und Stottern wurde peinlich, so daß sie einfiel:
„Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen aufrichtig, ich würde sehr undankbar für den Schutz sein, den Sie mir bereits einmal haben angedeihen lassen, wenn ich nicht gern Ihre Gefälligkeit wieder in Anspruch nähme, sobald ich ihrer bedürfte, und ich wüßte, daß es Ihnen nicht wieder eine so große Mühe machte, wie ich sie Ihnen gestern gemacht habe.“
Ohne eine Sylbe zu antworten, machte er ihr mit noch tieferem Erröthen eine Verbeugung und ging. Sie nickte freundlich, freundlicher, als sie ihn empfangen, mit dem Kopfe, und blickte ihm eigenthümlich bewegt nach, unruhig, unsicher, ob sie in diesem Gespräch nicht auffallend offen und aufrichtig und über ihre Lage mittheilsam gewesen, und was er darüber denken müsse. Es ist nun einmal so schwer, wenn man durch die Ereignisse aus allem Gleichgewicht gebracht und so in eine völlig andre Umgebung geworfen, weit aus den täglichen Lebensgeleisen geschleudert ist, die strenge Haltung, wie die Sitte sie will, zu bewahren, nicht von dem, was das Herz erfüllt, mehr über die Lippen fließen zu lassen, als man sollte! Ach und ihre Scrupel, daß Wilderich sie mißdeuten und mißverstehen könne, waren so ungegründet! Er sagte sich nichts über sie, er grübelte nicht, er urtheilte nicht, er fühlte nur stärker das, was ihn die ganze schlaflose Nacht hindurch leise durchwogt: dieses sehnende Empfinden, dies Betroffen- und Ergriffensein von der fremden Erscheinung; es war ihm, als ob das zu einem wahren Sturm werden könne, was schon jetzt ihm durch alle Adern pochte; er fühlte es und sagte es sich schon mit bewußter Klarheit, daß dieses geheimnißvolle schöne junge Mädchen mit seinem seltsamen Schicksal ihm mehr am Herzen liege, als alles Andere, was ihm nahe stand in dieser stillen grünen Bergwelt und außerhalb derselben.
Eine Weile, nachdem Wilderich gegangen, erschien eine zweite Person auf dem Hof von Goschenwald. Diesmal war es der gestrenge Herr Schösser; der Herr Schösser in der abgetragenen rothen, auf den Nähten ein wenig weiß gewordenen Uniform, in welcher einst der ritterschaftliche Canton von Oberfranken seine grausam tapfere und erschreckliche Heeresmacht zu der römisch-kaiserlichen Armada hatte stoßen lassen[WS 1], wenn es galt, den Reichsboden wider Türken oder Franzosen zu vertheidigen. Roth war diese Uniform – ob die grüne Sergeweste mit Messingknöpfen und die gelben Beinkleider und die schwarzen Gamaschen, in denen der Herr Lieutenant außer Dienst stolzirte, vorschriftsmäßig dazu gehörten, finden wir in den Büchern der Geschichte nicht verzeichnet; vielleicht hing diese Farbenwahl mit dem persönlichen Geschmack Seiner Gestrengen zusammen; gewiß aber gehörte dazu der Degen, der an der steifgraden dünnen Gestalt des Mannes hing wie eine Raa an einem Mastbaum, so daß man den Lehrsatz von der Gleichheit der Scheitelwinkel daran beweisen konnte; und sicherer noch die schöne Convolvulusblume des Zopfes!
Der Schösser kam aus dem Thorbogen heraus, dann stelzte er in dem ganzen Hof herum mit einem gewichtigen Schritt, nicht rechts noch links blickend … es sah aus, als ob der alte Mann dienstmäßig eine Ronde, eine Patrouille, ein schattenhaftes Corps seiner Tapferen, das nur er sah, führte; und in der letzten Ecke, da mußte er sie wohl entlassen haben und der Dienst zu Ende sein; die linke Hand auf den Rücken gelegt, die rechte in die grünsergene Weste geschoben, nahm er das Mädchen unter der Linde als Richtpunkt, auf den er jetzt zustelzte.
„Wünsche guten Morgen, Demoiselle Benedicte!“ sagte er, die Hand an seinen dreieckigen Hut mit der rothen Plümage legend.
„Guten Morgen, Gestrengen!“ antwortete sie.
„Thun verhoffen,“ fuhren die Gestrengen fort, „daß die Demoiselle Benedicte eine wohlschlafende Nacht genossen!“
„Ich danke Ihnen, Gestrengen, ich habe nach meiner ermüdenden Wanderung sehr tief und sehr lange geschlafen.“
„Auch, daß Wohlderselben die Ziegenmilch noch hinreichend warm servirt worden. Habe sie selber gemolken und der Beschließerin Afra zu schleuniger Ueberbringung anrecommandirt …“
„Ei, Sie melken die Ziegen selbst, Herr Schösser?“
„Jawohl, Demoiselle, melke sie selbst – dem Dienstvolk kann man so etwas nicht überlassen – melke sie selbst … mache auch den Käse – sehr guten Käse – werde die Ehre haben, bei Tisch mit einem kleinen Pröblein aufzuwarten was ich jedoch vermelden wollte, Demoiselle Benedicte, da Wohldieselbe mir anitzo von der Frau Aebtissin brieflich anempfohlen ist, so möchte es angemessen erscheinen, daß ich Hochderselben mittels eines Antwortsschreibens zu erwidern mich beflisse, wie ich solchem Ansinnen nachzuleben mit besonderer Dienstergebenheit erbötig sei!“
Benedicte, wie er unsere Novize genannt, nickte mit dem Kopf, doch schien ihr in dem Ton des Mannes eine Andeutung zu liegen, die sie nicht gleich verstand, und so sah sie ihn fragend an. Sie bemerkte, daß ihre schweigende Zustimmung zu seiner Aeußerung seine Miene nicht erhellte, während er fortfuhr:
„Wobei nur zu bedenken anheimgebe, daß auch noch dem Herrn Reichshofrath, dem Bruder der Frau Aebtissin, für den ich Goschenwald zu administriren die Ehre habe, anderweits noch Meldung zu machen haben dürfte.“
„Sie wollen, daß Sie mich hier aufgenommen haben, an den eigentlichen Eigenthümer dieses Hauses nach Wien melden?“
Der gestrenge Herr runzelte schwermüthig die Brauen.
„Das möchte allerdings für geziemlich erachtet werden – obwohl sonst nur alle Vierteljahre einen submissen Bericht dahin instradire.“
Die Demoiselle Benedicte hatte jetzt den gestrengen Herrn und den leisen Ton von Wehmuth und Klage, der in seiner Rede lag, verstanden.
„Ich glaube,“ sagte sie lebhaft, „Eure Gestrengen muthen sich da eine Mühwaltung zu, welcher ich Sie gern überheben möchte. Ich selbst werde der Aebtissin danken, ihr berichten, mit welcher Güte und Zuvorkommenheit Sie mich in Haus Goschenwald aufgenommen haben, und zugleich bitten, daß die Frau Aebtissin dem Herrn Bruder in Wien Nachricht von den Umständen giebt, unter welchen sie mir in seinem Eigenthum ein Asyl angewiesen hat.“
„Dieses wäre charmant, Demoiselle Benedicte!“ sagte der Krieger außer Dienst, höchst erfreut, die ihn beunruhigende Arbeitslast von seinen Schultern genommen zu sehen. „So will ich es dabei bewenden lassen … um so mehr, als die Posten nach Wien bei diesen Kriegsläuften so unsicher sind!“
„Sie haben Recht, Gestrengen, die Posten sind unsicher!“
Der Schösser ging, nachdem er über diesen Punkt beruhigt, zu einem anderen Gegenstand über.
„Ist wohl,“ fragte er, „ein alter Bekannter – der Herr, der eben ging – der Revierförster – von der Demoiselle Benedicte?“
„Durchaus nicht … woraus schließen Sie das?“
„Dachte so, weil er Sie herbrachte. Nun, dann desto besser. Wollte Sie nur gewarnt haben vor dem! Gefährlicher Mensch das! Staatsgefährlicher Mensch!“
Die Demoiselle Benedicte sah verwundert in das alte runzlige Gesicht vor ihr.
„Staatsgefährlich? … und weshalb?“
„Weil er hetzt; weil er die Bauern aufhetzt; und weil man nicht weiß bei ihm, woher und wohin!“
„Woher er kommt, hat er mir soeben gesagt.“
„Was hat er gesagt?“
„Er stammt von drüben her, aus …“
„Ja, von drüben, von drüben, von da her, wo sie jetzt die Franzosen, die Republik haben, und“ – der Herr Schösser dämpfte hier die Stimme zum Flüstern – „ist auch solch Einer; ein Jakobiner, ein Republikaner, ein Clubbist und Emissär; soll hier wühlen! Die fränkischen Bauern sind alle Hallunken; das will nicht mehr Schoß und Beden und Steuern zahlen; das will nicht mehr roboten … das will nicht mehr in Zucht und Zagen der Kirche dienen und in Furcht und Zittern vor der gestrengen Obrigkeit stehen; das läßt sich Reden von der Freiheit halten und unterweisen, wie man’s Kraut auf die Pfanne schüttet … na, wir werden erleben, was d’raus wird …“
[436] „Sie thun ihm Unrecht,“ versetzte Demoiselle Benedicte warm, „er hat so offen mit mir geredet … allerdings, er hat mir gestanden, daß sich das Volk rüstet, dem Heere des Kaisers beizustehen, und daß er selbst …“
„Einer der Haupträdelsführer ist … freilich, freilich, wer weiß es nicht – aber dem Heere des Kaisers beizustehen? Glauben Sie ’s nicht, Demoiselle, glauben Sie ’s nicht … es ist Alles Lüge, Lüge, Komödie. Sie sind nicht besser als die Jakobiner auch, sind alle Sansculotten, und sie wollen nur die Waffen in den Händen haben, und hernacher, wenn sie gerüstet und in der Macht sind, dann werden wir’s erleben.“
„Ich weiß von diesen Sachen nichts,“ antwortete Benedicte betroffen; „ich habe nur gehört, daß ein Theil der Landbevölkerung sowohl wie der Bewohner der Städte den Franzosen als Befreiern und Verbreitern freierer und menschlicherer Staatseinrichtungen mit Freude entgegengesehen; daß aber jetzt ein furchtbarer Umschwung in dieser Gesinnung eingetreten; daß die Art, wie die Franzosen ihren Verheißungen durch ihr Auftreten Hohn gesprochen, wie sie geplündert, die Menschen mißhandelt und das Vieh gemartert, aus Frevelmuth der Leute Eigenthum zernichtet und die Altäre geschändet haben, eine tiefe Empörung hervorgerufen hat und daß, wenn die Franzosen geschlagen sind –“
„Geschlagen sind – die Franzosen geschlagen sind!“ fiel hier der Schösser ein, während die Runzeln seines gelben Gesichts in wunderlich zuckende Bewegung geriethen – „als ob die Franzosen geschlagen würden! Die werden nicht geschlagen, ich sag’s der Demoiselle, ich, der dabei war …“
„Bei den Franzosen?“
„Nein, dabei, wenn sie nicht geschlagen wurden; zehn Mal … ein Dutzend Mal …“
„Aber mein Gott, bei Amberg hat doch der Erzherzog …“
„Lügen, Lügen, Possen! Alles nur Vorwand des Rebellenpacks, das losschlagen will. Bin auch Soldat; war bei den Reichstruppen, bei den Ritterschaftlichen, bei den Erzstift-Mainzischen; auf Ehre, wir haben unsre Schuldigkeit gethan; aber geschlagen? geschlagen haben sie uns – immer sie uns! Das läßt sich nicht schlagen! Aber darin hat die Demoiselle Recht – die Empörung, die Rebellion, die Republik, die werden wir haben, sehr bald haben – und den Herrn da drüben, den Herrn Wilderich werden wir an der Spitze sehen … sie mag mir’s glauben!“
„Ich glaube,“ versetzte die Demoiselle Benedicte erregt, „es ist unrecht von Ihnen, so von einem Manne zu reden, dem Sie nichts Bestimmtes vorwerfen können, als daß er eben ein Fremder in dieser Gegend ist.“
„Ein Fremder – ein Wildfremder,“ rief der Schösser aus – „wildfremd mitsammt seinem Kinde!“
„Sammt seinem Kinde? War er verheirathet?“
„Verheirathet? Der? Nichts davon … es ist nichts davon bekannt … aber ein Kind hat er … hat’s bei sich … Jedermann kann’s sehen.“ …
Benedicte wandte ihr Gesicht ab von dem Zucken der Runzeln in des Gestrengen Antlitz und den Blicken voll häßlicher Bedeutung, die auf ihm lagen.
„Was geht’s uns an!“ sagte sie. „Ich glaube, Eurer Gestrengen Ziegen meckern!“
„Ja, ja,“ sagte der Ritterschaftliche, „ich will gehn und ihnen einen Arm voll Laub bringen.“
Während der Schösser davonstelzend dieser friedlichen Beschäftigung nachging und das junge Mädchen sich über ihre Arbeit bückte, und den Hof von Haus Goschenwald der Frieden und die Stille seiner Weltentrücktheit umfing, spielten sich jenseits der Berge, welche seinen Horizont schlossen, desto stürmischere Scenen, desto gewaltsamere Ereignisse ab.
Schon seit dem Morgengrauen war die Heerstraße, die sich durch diese Bergwelt zog, eigenthümlich belebt worden von allerlei kriegerischem Transport. Von Zeit zu Zeit war ein bewaffneter Reiter in der Richtung nach Westen dahergesprengt. Es waren einzelne Fuhrwerke gekommen, belastet mit verwundeten Menschen; andere schienen allerlei geplünderte Habe zu enthalten, große Koffer und Kisten, gefüllt mit weiß Gott welchen Gegenständen, die man eilte, auf der Rückzugslinie des Heeres in Sicherheit zu bringen. Von kleinen Abtheilungen umgeben marschirten Haufen entwaffneter Soldaten in weißen Röcken oder grauen Mänteln; eine starke Abtheilung von Reitern escortirte drei sich folgende Bauernwagen, auf deren jedem eine große eisenbeschlagene Kiste stand – war es die Kriegscasse, die man in Sicherheit brachte? Die solche Transporte escortirende Mannschaft verrieth wenig von dem lustigen Uebermuth französischer Truppen auf dem Marsche; sie sahen abgerissen, müde, verdrossen aus, sie fluchten und wetterten; die Bauern, welche die requirirten Wagen führten, erhielten flache Säbelhiebe, die Thiere auch wohl scharfe, mehrere von ihnen bluteten. Die Republik hatte ihre Heere im Jahre 1796 uniformirt in’s Feld gesandt, es waren nicht mehr die wilden bunten Schaaren, die in den vorhergehenden Jahren das linke Rheinufer überschwemmt; und doch sahen auch diese Truppen bunt genug aus – manch geplündertes Stück hatte zum Ersatz der zerrissenen Montur gedient, neben dem alten Troupier, der im Mantel und in den hohen Stiefeln eines ehrwürdigen Landpfarrers aus der Gegend von Schweinfurt marschirte, wandelte ein junger Sergeant unter dem dreieckigen Federhut eines würzburgischen Cavaliers oder hinkte ein Verwundeter, drapirt in den schwarzen Ordensmantel mit dem weißen Kreuz darauf, der in irgend einer Commende des deutschen Ritterordens erbeutet sein mußte.
Das Gerücht von dem Schauspiel, das die Heerstraße von Würzburg nach Frankfurt darbot, war die Waldthäler rechts und links hinaufgedrungen, auch bis zur Mühle in der Schlucht; die Frau und die Schwiegermutter des Gevatters Wölfle standen eben vor dem Forsthause und redeten auf Muhme Margareth ein … sie solle sie hinab begleiten, sie wollten sehen, was da vorginge … Muhme Margareth schwankte … wo sollte sie den kleinen Leopold lassen unterdeß … bei des Müllers Kindern, das hatte Wilderich verboten – aber der Herr Wilderich war ja nicht daheim … er war um diese Zeit nie daheim, sondern ging seinen Geschäften nach … Muhme Margareth konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie nahm den kleinen Burschen, der an ihre Röcke sich schmiegend neben ihr stand und verwundert über alles das, was die Müllerfrauen erzählten, sie mit seinen großen braunen Augen anblickte, bei der Hand, ihn hinüberzuführen – da riß das Kind sich los und lief mit dem Ausruf: „Bruder Wilderich!“ die Schlucht hinauf.
Wilderich war es in der That, der von Goschenwald zurückkehrend eben daherkam und, als er durch den kleinen Garten vor seinem Hause schritt, mit sehr ernstem Gesicht den Frauen einen Gruß zunickte und zu Margareth sagte:
„Komm mit hinein, Margareth, ich habe mit Dir zu reden!“
„Wahrhaftig,“ flüsterte Margareth zu den Frauen gewendet ihm nach, „der lebt nicht lange mehr, wenn er endlich einmal zu reden beginnt.“
Sie trat ihm nach über die Treppenstufen in die Küche, wo Wilderich seine Waidtasche vom Pflock nahm und sie mit allerlei Gegenständen zu füllen begann, die er aus seinem Zimmer herbeiholte.
„So,“ sagte er dann, „nun braucht nur noch der Sepp zu kommen … bereit wären wir … und bis er kommt, höre fein zu, Margareth, was ich Dir zu sagen habe.“
„Ich hör’ schon zu, Herr Wilderich,“ antwortete Margareth … „Ihr seid Keiner von denen, die so viel sprechen, daß man nicht darauf hört; und wenn Ihr nun endlich sagen wollt, was Ihr eigentlich vorhabt … ich denk’, zu früh ist’s nicht mehr!“
„Just die rechte Stunde, alte Muhme. Und nun sollst Du Alles wissen. Du weißt, wir haben Krieg mit den Franzosen, hier in Franken, in Schwaben und jenseits der Berge, wo der Bonaparte … hast Du von dem gehört?“
„Bonaparte?“ wiederholte Muhme Margareth und schüttelte dann den Kopf. „Nein, von dem hab ich nicht gehört; und was ist mit dem?“
Wilderich ging und holte ein Stück Kreide herbei. Damit machte er einen langen Strich auf dem Anrichtetisch.
„Schau,“ sagte er, „das hier ist der Rhein, der fließt an der Westseite des Reichs. Und hier oben gen Süden, wo ich diesen zweiten Strich mache, da sind die Alpen. Und hier links, diesseits der Alpen, da ist Wien … begreifst Du?“
„In Wien, da ist der Kaiser, das begreif’ ich schon!“ rief Margareth aus.
Auf der Straße von Halle nach Magdeburg kann man, während der größte Theil der spazierengehenden Hallenser bei dem eine gute halbe Stunde entfernten Dorfe Trotha umkehrt, fast jeden Nachmittag einen Spaziergänger seinen Weg bis zu dem wieder eine halbe Stunde entfernten einsamen Gasthofe „zum Schwan“ ausdehnen und erst da umkehren sehen. Dieser einsame, lebhaft dahinschreitende Wanderer, in welchem sich der Typus des Universitätslehrers nicht verkennen läßt, ist ein Mann, den das ganze gebildete Deutschland kennt: Heinrich Leo.
Leo ist in Rudolstadt geboren, wo sein Vater Hofprediger war, und stammt aus einer seit langer Zeit in Thüringen einheimischen Familie. Der undeutsche Name macht keine ausländische Abstammung nöthig, sondern erinnert vielmehr an die Periode der Humanisten, wo es sehr allgemeiner Gebrauch war, die Namen zu latinisiren. Der frühzeitige Tod des Vaters warf schon auf die Jugend Leo’s einen trüben Schatten, und nur nach mancherlei Bedrängnissen konnte er in Jena die Universität beziehen. Jena war damals der eigentlichste Mittelpunkt der allgemeinen deutschen Burschenschaft und Leo schloß sich derselben mit allem Feuer und Ungestüm seines Wesens an. Nach den damaligen Erfahrungen des deutschen Lebens und gemäß ihrem rein patriotischen Ursprung konnte die damalige Burschenschaft mit ihrem Wünschen und Sehnen nur auf ein deutsches Kaiserthum mit den alten Lehenfürstenthümern gerichtet sein, ohne bestimmte Begriffe über eine freie Verfassung für das Volk, und da sie dazu dem verhaßten leichtsinnigen, schnöden Franzenthume germanische Frömmigkeit gegenüberstellte, so konnte sie es wenigstens nicht verhüten, daß in einer Anzahl ihrer Mitglieder sich später auf der politischen Seite ein absolutistischer Sinn, auf der religiösen ein crasser Pietismus entfaltete, der mitunter auf den Katholicismus lossteuerte und endlich auch in diesen Hafen einlief. Auch in Leo kam bald eine solche Wandlung nach der politischen Seite hin zu Stande, mit großer Schnelligkeit, wie das seiner brausenden Natur angemessen war. Als er zur Fortsetzung seiner Studien nach Göttingen gekommen war, wirkte die dortige mehr mit aristokratischen Elementen beladene Atmosphäre alsbald in der Weise auf ihn ein, daß plötzlich der „Unsinn der Jenensischen demagogischen Theorien“ deutlich vor seinen Augen stand und er sich über die „Heilung von der demagogischen Narrheit“ glücklich pries. Dies geschah im Jahre 1819, und schon im folgenden Jahre bekundete er seine Verehrung für bestehende politische Autorität mit Einschluß etwaiger Adelsherrschaft in einer Abhandlung über die Verfassung der lombardischen Städte.
Wenn Leo schon in dieser Zeit als Verfechter des Katholicismus auftrat, so geschah das ohne Zweifel mehr vom Standpunkte des Politikers aus, als daß ein religiöser Antrieb dabei thätig gewesen wäre; er hatte als „Demagog“ und als Historiker genugsam in das Mittelalter geblickt, um zu wissen, daß jene Form des weltlichen Regiments, unter deren Fahne er jetzt kämpfte, keinen bessern Verbündeten finden kann als die katholische Hierarchie, wenn sie es versteht, sich diese zu befreunden und ihre Freundschaft zu erhalten.
In Erlangen, wohin sich Leo zunächst begab, um als Privatdocent der Geschichte aufzutreten, „hatte er sofort die Ehre und das Glück, von dem seichten, demagogischen Gesindel beargwohnt und als ein verhallerter Aristokrat ausgetragen zu werden“. Die Verhältnisse an der dortigen Universität befriedigten ihn so wenig, daß er dieselbe schon 1822 mit Berlin vertauschte. Bevor er sich hier habilitiren konnte, mußte er jedoch von dem trotz alledem noch immer an ihm haftenden Geruche der Demagogie durch einen besondern Gnadenact gereinigt werden. Der Minister Kamptz vollzog jenen Act, natürlich wohl mit besonderer Rücksichtnahme auf die erfolgte und bethätigte Umkehr. In Berlin kam Leo mit Hegel in nahe Berührung, ohne eigentlich Anhänger seiner Lehre zu werden, wie er denn überhaupt keine Neigung hatte sich mit Philosophie tiefer einzulassen. Natürlich wurde er aber zugleich mit vielen Hegelianern bekannt, und es wurden hier die Verbindungen angeknüpft, welche nachher den leidenschaftlichen Streit mit den „Hegelingen“ zur Folge hatten. In seinen hier herausgegebenen „Vorlesungen über die Geschichte des jüdischen Staates“ steht er noch ganz auf „unkirchlichem“ Standpunkte, und beweist sich als tüchtigen pragmatisirenden Historiker. Da das jüdische Volk im Allgemeinen und einzelne von der Kirche geheiligte Persönlichkeiten im Besondern bei einer solchen Darstellung nicht zum Besten weggekommen waren, so hat ihm diese Arbeit später, nach seiner Erleuchtung, große Zerknirschung verursacht.
Berlin in seiner ganzen Art und seinem Leben sagte Leo so wenig zu, daß er plötzlich, in dem Drange, sich aus ihm durchaus widerstrebenden Verhältnissen zu befreien, der schönen Residenz den Rücken kehrte und sich zunächst nach Leipzig begab, bald aber eine Professur in Halle antrat. Es war dies 1829. Wenn er bei seinem Auftreten in Halle noch ganz der freudige, burschikose Lebemann schien und ohne Anstoß mit Ruge, Pott, Niemeyer u. s. w. verkehrte, so wurde dies gründlich anders, als 1831 plötzlich seine noch höhere Erleuchtung eingetreten war.
Nach seiner eigenen geheimnißvollen Aussage wurde er „wunderbar aus seiner Verblendung geführt“. Näheres über den Hergang des Wunders wissen wir nicht mitzutheilen; das dazu auserwählte Rüstzeug scheint v. Gerlach gewesen zu sein, der damals das Hallische Conventikelwesen in hohen Schwung gebracht [438] hatte und mit kluger Hand leitete. Leo selbst sagt, daß die Julirevolution mit dem „grimmen Ernst“, den sie gemacht, in gewissem Grade ein Wendepunkt in seinem Leben sei. Allein es ist zu schwer zu erkennen, was von dieser Revolution ihn zur innern Einkehr getrieben haben sollte. Standen doch die Pietisten jener Zeit der Julirevolution nicht einmal so feindselig gegenüber, und die belgische Septemberrevolution hatte sich bei vielen sogar einer gewissen Gunst zu erfreuen, vielleicht wegen der Mitwirkung der Jesuiten. Die Julirevolution mag in irgend einer Weise den Boden für Gerlach’s Saat gelockert haben, aber für die unmittelbare Veranlassung der Erleuchtung Leo’s mögen wir sie nicht ansehen.
Dieser fand, einmal in den pietistischen Kreis eingetreten, natürlich fromme Brüder genug, die sich des verloren gewesenen und wiedergefundenen Schäfleins mit sonderlicher Liebe annahmen. Der frühere weltkinderliche Umgang wurde dagegen abgebrochen, und es liegt ganz in Leo’s Natur, daß er nun mit Schroffheit und Ungestüm den ehemaligen Genossen gegenüber als Verfechter seiner neugewonnenen Anschauungen auftrat.
Von den vierziger Jahren an konnte Leo ruhiger und unter mehr begünstigenden Verhältnissen seine politischen und religiösen Ansichten sich fortbilden lassen, und namentlich waren der katholisirenden Richtung jetzt förderlichere Bedingungen gegeben. Wenn er, wie wir gesehen, schon viel vom Katholicismus hielt, als er noch in der Verblendung wandelte, so ist nicht zu verwundern, daß er nach seiner Erleuchtung immer mehr für denselben erwärmt wurde. Und das konnte er nun so unverhohlen an den Tag legen, daß nicht wenige Protestanten meinten, er sei heimlich längst katholisch geworden, und daß die katholischen Propagandisten bis in die neueste Zeit große Hoffnungen auf ihn gesetzt haben.
Wir mögen an diesem Punkte bequem ein wenig inne halten, um mit Ruhe einen Blick auf Leo’s ganze Persönlichkeit zu werfen. Leo ist ein Mann von mittlerer Größe und so wohlgewachsen, daß er ohne Nachtheil für seine Erscheinung Decennien lang den historisch gewordenen blauen Frack mit gelben Knöpfen tragen konnte. Sein wohlgebildetes Gesicht wird vortheilhaft durch die schwärzlichen Haare gehoben, mit denen die dunkelbraunen Augen vollkommen harmoniren. Diese Augen geben dem ganzen Antlitz einen entschieden geistreichen Ausdruck, aber es glüht auch in ihnen der Zorn über die gesammte andersdenkende Menschheit, der nicht minder durch die leicht zusammengepreßten Lippen angedeutet wird. Der sich auf die eigene Subjectivität steifende Zorn, die Bereitschaft jede von der seinigen abweichende politische oder religiöse Meinung hitzig zu bekämpfen, erscheint uns in der That so sehr als das eigenthümlichste Wesen Leo’s, daß wir glauben möchten, er könnte gar nicht existiren als der er ist, wenn ihm alle Gelegenheit benommen wäre, mit glühendem Eifer gegen allerhand ihm gegenübertretende Elemente loszurennen. Der Subjectivismus ist so stark in ihm vorherrschend, daß er in allen seinen Kämpfen eigentlich weniger im Sinne und Geiste der Partei, die ihn zu den Ihrigen zählen konnte, gestritten hat, als nur in seinem eigenen; sich einer Partei recht eigentlich einzuordnen, wobei doch immer ein theilweises Unterordnen des eigenen Willens unter das Gesammtwollen einer Allgemeinheit vorausgesetzt werden muß, das ist ihm gar nicht möglich und er hat es auch nie gewollt. Dieses gänzliche Gestelltsein auf seinen eigenen Sinn würde auch nie zulassen, daß Leo ein wahrer Katholik sein könnte; sein ganzes Katholisiren beruht wesentlich auf seinem Zorn über den protestantischen Rationalismus, der ihn dem Gegensatze zutreibt; wenn der Katholicismus ihn wirklich mit seinen Schranken umgäbe, so würde sein hier und dort angestoßener Subjectivismus ihn sicher zu demselben Zorne gegen die ihm entgegentretenden Partien des Römerthums anreizen. Seine Zornmüthigkeit hat denn auch oftmals jene zum Theil berühmt gewordenen Ausdrücke hervorgerufen, die wohl nicht eigentlich so böse gemeint sind, wie sie sich ausnehmen: die Worte vom „skrophulösen Gesindel“, vom „frischen fröhlichen Krieg“ und andere. Verglich er doch auch in seinem Zorne die hohen Potentaten Europa’s mit faulen Karpfen, die der muntere Hecht Louis nach weisem Rathschluß der Vorsehung etwas in Bewegung setzen müßte. Seinem Wesen sind derbe Ausdrücke überhaupt zusagend, und er liebt solche auch in gewöhnlicher Rede anzuwenden.
Aus seinem eigenmüthigen Ungestüm folgt nun ganz natürlich, daß er vielfach in Inconsequenzen gerathen ist, indem er entweder ihm äußerlich entgegengebrachten Anreizungen nachstürmte, oder je von den verschiedenen Standpunkten seiner innern Entwickelung aus über alles Vorkommende, für sich selbst immer endgültig, aburtheilte. Denn er selbst ist sich seiner Inconsequenz bewußt geworden, seit er sich von der „demagogischen Narrheit“ losgemacht hat. Diese Unbeständigkeit findet selbst äußerlich ihren Ausdrunck in seiner vielmals geänderten Orthographie, die ihm stets auf dem richtigen Grunde beruhte.
Diese eigenthümliche Art Leo’s klar zu zeigen ist vielleicht nichts geeigneter, als jener gegen Ende der dreißiger Jahre mit der höchsten Leidenschaftlichkeit geführte Kampf gegen die „Hegelingen“. Hier, wo es ihm die Verfechtung der politischen und der religiösen Interessen zugleich zu gelten schien, ließ er, von seinem stürmischen Eifer hingerissen, seinem innern Drange, seinem ganzen Subjectivismus, ohne allen Rückhalt freien Lauf. Hier hat sich seine Zornmüthigkeit in ihrer ganzen Fülle offenbart. Seine Streitschrift „die Hegelingen“ ist so unerschöpflich an wilden Schimpfreden, die weit über das von den Homerischen Helden gebrauchte Maß hinausgehen, daß, wenn man nach längerer Zeit wieder und noch einmal hineinblickt, man jedesmal auf’s Neue über die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit dieses Redeschmuckes in Erstaunen geräth. Und das war eine Schrift des gereiften Mannes, nicht eines noch in unfertiger Gährung brausenden Jünglings. Wir müssen uns hierbei eine Vergleichung Leo’s mit Luther erlauben. Luther behauptete bekanntlich verschiedenen Gegnern gegenüber sehr häufig ganz Entgegengesetztes: was er zum Beispiel im Streite mit den Papisten aufs Heftigste bekämpfte, das vertheidigte er eben so leidenschaftlich, wenn er es mit „Sectirern“ und „Rotten“ zu thun hatte. Aehnliches gesteht Leo von sich selbst willig zu: daß er mancherlei sogenannte Aeußerlichkeiten der katholischen Kirche gegenüber den Protestanten (er meint natürlich nur die „strohtrockenen“ Rationalisten) vertheidige, dagegen „eifernden Katholiken“ deren Werth streitig mache. – Aber solcher Wechsel im Bejahen und Verneinen tritt bei Leo häufig auch, je nach dem augenblicklichen Bedürfniß, viel jäher ein. So hebt er z. B. irgendwo in den „Hegelingen“ hervor, daß er zu Gunsten des Katholicismus und der Jesuiten geschrieben habe, und an einer andern Stelle daselbst spricht er von einem „jesuitischen Schandsatz“, den er natürlich einem Gegner in die Schuhe schiebt. Einmal erklärt er wieder die Abstammung von jüdischem Geschlechte, die ein Gegner bei ihm gewittert zu haben meint, für etwas sehr Erhabenes und bedauert, sich ihrer nicht rühmen zu können, und anderswo weiß er drei Widersacher, die er erst mit christlichen Namen genannt hat, nicht schärfer zu treffen, als indem er sagt, sie könnten vielleicht auch „Jekef, Schmuel und Levi“ heißen.
Daß in jener Streitschrift sehr viel denuncirt wird (dabei aber das Denunciren immerfort den Gegnern vorgeworfen), daß sogar der Censurbehörde ein Wink mit ganzem Arme gegeben wird – oder eigentlich der betreffende Censor wegen Nichterkennens der hinter Hegelingischen Phrasen verborgen lauernden Gefahr für Staat und Religion denuncirt wird –, das wollen wir gern weniger Leo’s Individualität zur Last legen, als dem Einflusse der staatlichen Atmosphäre, in welcher er damals athmete, die Schuld daran beimessen – noch standen ja Menschen wie Tschoppe in Geltung! Aber das erscheint der Eigenart Leo’s ganz angemessen, daß er am Schlusse einer solchen Streitschrift sich in ein brünstiges Gebet ergießt; sein hitziger Subjectivismus läßt ihn nicht zweifeln, daß der Herrgott bei dem Gezänk mit den Hegelingen eben so tief interessirt ist wie er selbst.
Von seinen wissenschaftlichen Leistungen können wir hier nur wenig erwähnen. Hat er auch seit 1831 nur im Geiste politischer und religiöser Reaction geschrieben, so kann doch von keiner Seite her geleugnet werden, daß er in seiner Entwickelung der Verfassung der lombardischen Städte, in seiner jüdischen Geschichte – von der er sich freilich losgesagt –, dann in der Geschichte des Mittelalters, in der Geschichte der italienischen Staaten, wie in seiner Universalgeschichte Anerkennenswerthes geleistet hat. Im Interesse seiner historischen Forschungen unternahm er auch sprachliche Studien über das Altsächsische, Angelsächsische, Keltische u. a., und war hier eigentlich bahnbrechend. Freilich war das für ihn ein besonders günstiges Feld, wo er, ohne leicht auf Widerspruch zu stoßen, seinen eigenen Ansichten und Eingebungen unbeirrt nachgehen konnte.
Als Universitätslehrer hat Leo zahlreiche Zuhörer gehabt, die, durch seinen lebendigen Vortrag angezogen, sich um ihn sammelten. Aber eine historische Schule hat sich um ihn nicht gebildet. Für einen solchen Erfolg war seine Eigenthümlichkeit [439] eben wieder nicht geartet, so wenig als sie zuließ, daß er selbst ein wahrer Parteimensch wurde.
Leo’s persönlicher Charakter ist in hohem Grade achtungswerth. Der Erwerb von Geld und Ehren übt keinen Reiz auf ihn, und wenn ihm solche Ehren, wie sie für Viele das Ziel alles Strebens sind, doch vielfach zu Theil geworden sind, so sind sie ihm eben gefolgt wie der Schatten. In seinem Verhalten gegen Andere offenbart er eine hohe persönliche Gutmüthigkeit, die man in dem hitzigen, derben Kämpen bei allerlei Fehde gar nicht vermuthen sollte, und sein näherer persönlicher Verkehr hat eine bequeme, oft liebenswürdige Art. Zu erwähnen ist hier auch, daß er in der Beurtheilung wissenschaftlicher Leistungen Anderer durchaus absieht von seinen eigenen politischen und religiösen Anschauungen. In seiner langjährigen Stellung als Director der wissenschaftlichen Prüfungs-Commission in Halle hat er nie Rücksicht darauf genommen, ob ein junger Mathematiker an die Auferstehung des Fleisches glaubte, oder ein Philologe von der Nothwendigkeit des Herrenhauses überzeugt war: immer hat er unparteiisch nur die fraglichen wissenschaftlichen Leistungen in’s Auge gefaßt.
Kehren wir nun zu unserem geschichtlichen Gange zurück. Nachdem das Jahr 1847 die Erwartungen einer „historischen Entwickelung“ in Preußen so glänzend „gekrönt“ hatte, – um uns dieses ja auch neuerdings in Frankreich noch beliebten Ausdruckes zu bedienen – kam das Jahr 1848. Dagegen war jener „grimme Ernst“ von Anno Dreißig denn doch nur Spaß gewesen. Die reactionären Elemente rückten jetzt nothgedrungen näher aneinander, und auch Leo wurde enger, als ihm in manchen Beziehungen zusagte, an die Koryphäen der Reaction an der Hallischen Universität herangedrängt und mußte, mehr als er mochte, eigentlicher Parteimann werden. Darüber konnte ihn wohl der Erfolg der Reaction trösten. Er selbst stieg – wir wissen, ohne darnach zu streben – an Ehre und Ansehen: sein Name glänzte neben Gerlach und Stahl, er wurde lebenslängliches Mitglied des Herrenhauses, aber zugleich auch passiver Mitarbeiter des „Kladderadatsch“, und seine geflügelten Worte wurden weit über Deutschlands Grenzen hinausgetragen. In solchen einschlagenden Worten trat hauptsächlich seine politische Wirksamkeit in die Oeffentlichkeit, denn als Redner hat er nicht einmal im Herrenhause seine Bedeutung zu erkennen gegeben, obwohl er manche Redner unter seinen Mitlords wohl hätte überstrahlen mögen.
Ein kleines Mißgeschick betraf ihn, als er zu Anfang der sechziger Jahre in seinem katholisirenden Streben an einer von dem katholischen Grafen Cajus v. Stolberg nach Erfurt berufenen Versammlung theilgenommen hatte. Die Sache erregte Anstoß, und er wurde der Direction der wissenschaftlichen Prüfungs-Commission bei der Universität enthoben. Doch übrigens ging im Vaterlande das Meiste nach Wunsch, wenigstens konnte für manches Nichtgenehme das damals in Aussicht gestellte „innere Düppel“ reichlich entschädigen.
Da brachte das Jahr Sechsundsechzig den lange gewünschten „frischen fröhlichen Krieg“, doch leider in einer ganz anderen Richtung, als er gemeint gewesen war. Mit grimmem Ernst spielte sich rasch ein kräftiges Stück Historie ab, und gegen dieses historisch einmal Gewordene war die Theorie des Historikers ohnmächtig. Die gewaltigen, nicht so gehofften Ereignisse mußten das ganze Gebäude der Erwartungen, die Leo im Laufe der Jahrzehnte übereinander gethürmt hatte, bis auf den tiefsten Grund erschüttern, wenn nicht umstürzen. Wohl ihm, daß er nach seiner Eigenart, für sich selbst consequent bleibend, im Stande war, eine gewaltige Schwenkung, wenn nicht eine Umkehr zu machen. Es gelang ihm, sich mit der Bismarck’schen äußeren Politik auf einen verträglichen Fuß zu setzen, ja, sich mit ihr zu befreunden. Wie er als den Grundstein des Aufbaues der deutschen Nation seither den heiligen Bonifacius betrachtete, so erkannte er jetzt in Bismarck gewissermaßen den Schlußstein, der, indem sich die noch getrennten Theile des Baues, freundlich oder feindlich, gegen ihn zusammenneigen mußten, das Ganze für jetzt zusammenhält und so eine dauernde Vereinigung für die Zukunft ermöglicht. – Aber auch in der inneren Politik – welche Enttäuschung in dem Mann des „inneren Düppel“! Er stellte sich seinen Amtsgenossen gegenüber als den Vertreter des Liberalismus dar, und nun, was mit ihm an der Spitze als eine gewaltige Phalanx der Reaction erschienen war, das blieb ohne ihn und gegen ihn eine für den Liberalismus nicht mehr furchtbare, nur noch ihn behindernde und belästigende Truppe.
Härter als jene Schwenkung in der äußeren Politik mag diese Wendung in der inneren das so tüchtig gefugte Gerüst des Systems, das Leo sich mit solcher Hingabe aufgebaut, erschüttert haben, und sicher ist dieselbe nicht ohne manch’ tief einschneidendes Weh vorgegangen. Selbst das Aeußere des Mannes kann dafür zeugen. Obgleich seine Erscheinung trotz des vorgerückten Alters noch keineswegs greisenhafte Schwäche zeigt, so drückt sich doch jetzt in seinem Gesicht nicht mehr die volle frühere energische Kraft aus, sondern eine gewisse Erschlaffung hat sich darin ausgeprägt, ähnlich jener, die bei einer plötzlichen schweren Enttäuschung auf dem Antlitz des Menschen sichtbar wird. So ist denn das ungestüme und unbändige Ringen des Subjectivismus auch hier in ein Stück Tragik ausgelaufen!
Natürlich hängt sich auch an diese stark ausgeprägte Persönlichkeit die Sage an. Es werden von ihm allerhand Geschichten erzählt, die wenigstens zeigen, in welcher harmlosen Weise die Leute, welche mit Leo’s Bestrebungen nicht einverstanden waren, ihre Unzufriedenheit damit zum Ausdruck brachten. Wir wollen ein paar davon zum Schluß mittheilen.
Als einmal der König Friedrich Wilhelm der Vierte auf einer Reise Halle passiren wollte, hatte auch Leo sich ihm vorzustellen. Im Begriff seine Wohnung zu verlassen, bemerkte er zu großem Verdruß, daß die schwarz-weiße Cocarde an seinem Hute nur noch lose durch einen einzigen Faden gehalten wurde. Es war unmöglich, so zu gehen, und weibliche Hülfe mit Nadel und Faden anzurufen, das erlaubte die Zeit nicht: es war Gefahr im Verzüge. Rasch entschlossen, zündete Leo den Wachsstock an, nahm Siegellack und befestigte die Cocarde mit diesem Bindemittel, worauf er von dannen zum Bahnhof eilte. Als er sich Seiner Majestät vorstellte, gab er seinen loyalen Gesinnungen in passenden Worten Ausdruck. Der König antwortete, er sei von der Echtheit der Loyalität des Sprechers überzeugt, könne sich aber mit diesen Gesinnungen die rothe Cocarde an seinem Hut nicht zusammenreimen. Betroffen blickte Leo nach seinem Hut und sah mit Schrecken, daß die schwarz-weiße Cocarde abgefallen war und der an ihrer Stelle sitzen gebliebene runde Siegellackfleck allerdings eine von der seinigen ganz verschiedene politische Gesinnung anzuzeigen schien.
Als einmal der König Friedrich Wilhelm der Vierte Halle passirte – wie es scheint, haben viele dieser Geschichten den nämlichen Anfang, so wie die Volksmärchen gern beginnen: „Es war einmal ein König“ – stellte sich ihm auch Leo vor.
„Es freut mich, Sie zu sehen,“ sagte der König, „wiewohl ich Sie heute zum zweiten Male sehe.“
Leo äußerte etwas in Verlegenheit: „Er wisse nicht, wie er den zweiten Theil dieser huldvollen Worte zu deuten habe.“
„Jawohl,“ sagte der König, „ich habe Sie heute schon gesehen – im ‚Kladderadatsch‘.“
Miramare.
Nachts im Schlosse Miramare
Hört man oft ein leises Klagen,
Und die Wellen geben Antwort,
Ueber’s Weltmeer hergetragen.
Wann empfang’ ich meinen Gatten?“
Und die Wellen murmeln Antwort:
„Einst vielleicht, im Reich der Schatten.“
„Der des Heldenlorbeers würdig,
Und die Wellen rauschen Antwort:
„Frag’ Juarez und Genossen.“
„Wohnt kein Glück in Fürstenschlössern,
Nicht auf goldnen Königsthronen?“
„Das Geschick spielt auch mit Kronen.“
„Ach, was haben wir verschuldet,
Daß man unser Glück vernichtet?“
Und die Wellen murmeln Antwort:
„Der uns auf den Thron gehoben,
Warum läßt er jetzt uns fallen?“
Und die Wellen rauschen Antwort:
„Das ist Schicksal der Vasallen.“
Ihn, der schuld an der Bedrängniß?“
Und die Wellen geben Antwort:
„Sein auch wartet das Verhängniß.“
„Warum mußte man auf’s Neue
Und die Wellen geben Antwort:
„Um es wieder zu vernichten.“
„Dort im schönen freien Westen
Ist kein Boden für Cäsare.“ –
Nachts am Schlosse Miramare.
Aus der Karlsbader Curliste.
Tausend und tausend Bücher sind schon über die Frauen geschrieben worden, und doch ist das Thema nicht erschöpft; eben so geht es mit Karlsbad. So viel Tinte darüber geflossen, man entdeckt doch stets neue Vorzüge, ebenso wie bei den Weibern, beide Gegenstände sind eben – veränderlich, und daher die Ansichten darüber verschieden. Wie lange ist es her, daß der Curgast seine Heilungsmethode nach dem Sprüchwort. „Viel hilft viel“ verfolgte, daß man nur dann Erfolg und Wirkung von der Heilquelle hoffte, wenn man eine ungeheure Anzahl des heißen Sprudelwassers in sich hineingegossen und stundenlang in demselben gebadet hatte. Das Alles hat die neuere Heilkunde auf ein vernünftiges Maß reducirt, und selbst ein Gläschen Wein, früher auf der Liste der Genußmittel in einer Reihe mit Cyankali stehend, findet sich jetzt fast bei jedem Mittagscouvert der Curgäste. Wie verschieden überhaupt Heilquellen angewendet werden, ist unglaublich. Ich erinnere mich eines kroatischen Bades, „Krapitta“ genannt, in welchem, allerdings vor einer langen Reihe von Jahren, von den vielen Bauern, die dort Genesung suchten, folgende Procedur angewendet wurde. Im gemeinschaftlichen Vollbade saßen Männlein und Weiblein, wie im Paradiese, mit entblößten Rücken und nackter Umgebung des letzteren, paarweise zusammen. Der Rücken nun war mit einer Reihe der sonderbarlichst aussehenden Instrumente bespickt, nämlich der Bader setzte den Leuten auf den Schröpfschnitt statt der üblichen Schröpfköpfe die luftleeren äußersten Enden von Ochsenhörnern auf, wodurch augenblicklich eine große blutgefüllte Beule in den Raum des spitzigen Apparates emporgezogen wurde. Mit diesen Hornspitzen besäet – ich zählte auf einem Buckel über dreißig – saßen die Ehepaare im Wasser nebeneinander, je zwischen sich, auf einem Brettchen schwimmend, eine riesige Weinflasche, welcher abwechselnd einmal der Herr Gemahl, dann die brave Gattin in langen Zügen zusprach, wobei das weibliche Geschlecht ach eben nicht durch übergroße Mäßigung auszeichnete. Vor dem Badehause stand eine lange Wagenreihe, angefüllt mit riesigen Bettvorräthen. Sobald die letzte Flasche leer und die Blutströme vom Rücken oberflächlich abgewischt waren, lief die ganze Karawane, im Badecostüm primitivster Art, welches manchmal den Festkleidern der Südseeinsulaner nicht viel nachgab, zu ihren Wagen, vergrub sich paar- oder familienweise in die darauf liegenden Betten und jagte mit vollen Zügeln dem heimathlichen Heerde zu. Das war, vor ungefähr zwanzig Jahren, eine Badereise und Vergnügnugstour der Bauern in der Umgebung von Krapitta. ob es seit der Zeit anders geworden ist, weiß ich nicht.
In Petersburg war ich oft Zeuge, wie die armen Besucher der russischen Dampfbäder aus den glühenden Zellen in’s Freie liefen, den dampfenden nackten Körper im Schnee herumwälzten und dann in langen Sprüngen in die heißen Räume zurückeilten. Ländlich, sittlich!
Ich kehre auf dem langen Umweg über Krapitta und St. Petersburg wieder nach Karlsbad zurück.
Kein Curort in Europa erfreut sich in Bezug auf die erzielten Heilresultate eines so wohlgegründeten Rufes als Karlsbad. Die Wunder dieser Segensquellen zeigen sich in jeder Saison den Anwesenden und erneuern sich stets sichtlich vor den Augen derselben; man sieht Personen, oft aus fernen Erdtheilen, ankommen, wahre Todescandidaten, bleich und hinfällig, mit dunkelgelbem, vertrocknetem Antlitz, lebenssatt und hoffnungslos zu den Brunnen schleichen; kaum sind jedoch drei kurze Wochen verflossen, so begegnen wir diesen ehemaligen Leidensgestalten, die ach, uns nicht mehr kenntlich, ja frohe, frische, wohlbehäbige Weltbürger verwandelt haben und nun leicht und sicher hinschreiten in der würzigen Waldesluft, auf Bergeshöhen und im sonnigen Thal. Wie wäre es sonst auch möglich, daß Karlsbad die Concurrenz mit jenen Luxusbädern am Rhein und anderen Orten siegreich bestehen könnte, wo jedes Vergnügen, jede Annehmlichkeit dem Fremden nie geahnte Genüsse bieten, wo das ausgesuchteste Raffinement, die feinste Speculation auf die Börsen derselben jede Lockspeise aufstellt, um die Vögel mit dem goldenen Gefieder in’s Garn zu locken. Die Sirenen aus dem modernen Babylon an der Seine und die Spielbankpächter, sie lassen ihren Lockruf ertönen nach allen Richtungen der Windrose, keine Zerstreuung, kein Vergnügen, kein – Laster existirt, das sich nicht dem fernher Gewanderten, mit oder ohne Maske, zur Verfügung stellte. Dampfschiffe und Eisenbahnen vermitteln den raschen Verkehr und führen die „Vergnüglinge“ im Fluge ihrem Ziele zu. Von all’ dem bietet Karlsbad nichts, nicht einmal Schienenwege erleichtern die verhältnißmäßig sehr unbequeme Reise in das allerdings reizend hübsche, tiefe Thal im Herzen der böhmischen Berge, in dem das nette, reinliche Städtchen liegt. Nur auf die Natur angewiesen, hat der Kranke keine andere Aussicht, als die auf baldige, sichere Genesung und auf die bescheidensten Unterhaltungen.
Dagegen bietet die Natur dem Wanderer die reichste Entschädigung, und außerdem ist in letzter Zeit von Seiten der städtischen Behörde für Karlsbad viel gethan worden. Liefern doch das Spital für arme Kranke, so wie die Stiftung der Frau Elisabeth Roosen für verschämte, mittellose Fremde den Beweis, daß auch die minder glücklich situirte Mehrheit der Gesellschaft hier nicht vergebens an das Mitleid der Wohlhabenden appellirt.
Natürlich sieht es in der Hochsaison hier aus, „als ob die Menschheit auf der Wanderung wäre“. Morgens am Brunnen wogt und wallt es durcheinander, schwatzt es in allen Idiomen der Welt in babylonischem Gewirr. Das Lesen der Angekommenen in der Curliste ist manchmal eine Quelle harmlosester Heiterkeit. Welche Titel hat hier die Eitelkeit und die Naivetät verzeichnet! Da z. B. finde ich einen „Königlich preußischen ‚einjährigen‘ Freiwilligen“, der schon in diesem zarten Alter gezwungen ist, hier die strenge Cur zu gebrauchen; da ist ein letzter Repräsentant des, gleich den Postillons, auf dem Aussterbeetat stehenden Geschlechtes, das einst .so üppig geblüht: ein „Censor“ - aus Rußland natürlich. Eine „Kaiserlich-Königliche Briefträgerin“ wohnt Flur an Flur neben einer „Windmühlensgattin“, hier zeichnet sich mit kurzem Titel ein „Liquidator des Kaiserlich-Königlichen Civilgerichts-Depositenamtes in Wien“, während eine „wirkliche“ Geheimrathsgattin durch diese Versicherung den schnöden Verdacht zurückweiset, als sei sie nicht wirklich die Frau ihres Mannnes. In der nächsten Nähe der gliederreichen fürstlichen Familie von Schaumburg-Lippe finden wir einen „Altsitzer“, eine „Kleinhändlersgattin“ und einen „Branntweinsverschenker“, welch’ letzterem um den Absatz seiner Waare nicht bange zu sein braucht. Ein „Organist und Töchterlehrer“, ein „Präpositus“, so wie eine „Juwelière“ schließen den Reigen derjenigen, deren Bezeichnung in Bezug auf ihre Lebensstellung mir besonders auffiel, obgleich sich diese Blumenlese noch bogenlang ausdehnen ließe.
Den Beweis, welch’ eine enorme Ausdehnung die Versendung des Karlsbader Wassers seit zehn Jahren gewonnen, liefert der Umstand, daß die Zahl der Versendungen mit jedem Jahr um fünfzig- bis sechszigtausend Krüge steigt und im die fernsten Zonen geht.
Der neunundfünfzig Grad Réamür heiße Sprudel, welcher die übrigen warmen Brunnen bis zu achtunddreißig Grad Réamur herab mit dem heilkräftigem Wasser versorgt, ist so recht der Born der Wohlhabenheit für die ganze Stadt, und ich kann mir recht gut das Entsetzen der Bewohner denken, wenn der Fetisch von Karlsbad in übler Laune seine Bande sprengt, den heißen Strahl stockhoch und zischend in die Luft sendet und, dort versiechend, an einer andern Stelle, mitten im kalten Bett der Tepel sich neue gewaltige Bahnen bricht. Im Jahre 1834 fand der letzte dieser großen Sprudelausbrüche statt, und viele Tausende und Tausende von Ellen Leinwand mußten in die neue Oeffnung getrieben werden, bis diese, incrustirt den tief im der Erde siedenden Strom zwangen, wieder seinen alten Weg zu gehen.
Eine Revue der Trinkenden gehört zu den interessantesten Beobachtungen. Sehen wir uns diesen kleinen, schmächtigen Mann mit klugen deutschen Zügen etwas näher an; er hat das Aussehen [441] eines pensionirten preußischen Geheimrathes, ist auch in Wirklichkeit der geheime Rath für alle pecuniäre Nöthen, in denen Staaten und Fürsten liegen, es ist: Anselm Baron von Rothschild.
Wie ein Schatten folgt ihm Herr C. Leitner, sein Geheimsecretär und Reisemarschall, ein feingebildeter junger Mann, im musikalischen Dingen Autorität, selbst Virtuos ersten Ranges. – Hier eine junge, viel umschwärmte Dame, nach allen Seiten hin heiter lächelnd; wer sähe es der lebensfrohen Frau an, daß ihr, vor kaum Jahresfrist, der Mann von ihrem eigenen Bruder im Duell erschossen wurde? – Hier kauert schmerzhaft auf einer Bank gekrümmt, das große dunkle Auge halb in Pein geschlossen, ein armer polnischer Jude in einen schäbigen Talar gehüllt. Zwei Krücken neben ihm künden sein Leiden beredter an, als alle Worte.
„Kommt um neun Uhr zu mir,“ flüstert ihm ein Herr zu, mit behäbig gemüthlichem rundem Gesicht, in dem ein paar kluge, listige Aeuglein blinzeln. Es ist der Ritter von Königswarter, der bekannte Börsenkönig, von dessen schlagfertigem Humor die Wiener Börse gar viel zu erzählen weiß. „Der Lump glaubt, er sei ein reicher Mann, weil er eine Million verdient hat.“ Dies geflügelte Wort soll er über einen Parvenu ausgesprochen haben, der es auch richtig in Jahresfrist fertig gebracht, diese Million wieder „klein zu kriegen“, und eines schönen Morgens auf der Geld- und auf der Lebensbörse vermißt wurde.
Folgende nette Geschichte wurde mir von Königswarter von einer der hier in zahlreichen Exemplaren vertretenen Species der Geldleute erzählt. Er traf nach vielen, vielen Jahren hier in Karlsbad mit einem ehemaligen Schulcameraden und Geschäftsgenossen zusammen, der inzwischen als Banquier in einer Provinzstadt sein Glück gesucht und gefunden hatte. In sehr ostensibler Weise bewillkommt der Landsmann den reichen Wiener Großhändler und spricht seine Freude aus, ihn in so glänzenden Verhältnissen wieder zu sehen. „Gottlob,“ sagt er, „lieber K., wir können uns Beide sehen lassen, wir haben es Beide zu Etwas gebracht in der Welt. Wie viel Vermögen hast Du?“
„Wie viel besitzest Du, lieber R.?“ antwortete dieser ausweichend.
Stolz und imponirend versicherte dieser, er Habe ein Vermögen von viermalhunderttausend Gulden. „Und Du?“
„Viermalhunderttausend Gulden,“ sagt K. nachdenkend, „das ist ein schönes Vermögen! Weißt Du was, wenn Du, was Gott verhüten wolle, Dein Vermögen verlieren solltest, so schreibe an mich, lieber Landsmann, ich werde Dir’s ersetzen!“ –
Eine groteske Figur kreuzt unsern Weg. Unter einer auffallenden hellen Mütze, die mit schottischem Stoff verbrämt ist, welcher Stoff von dem gleichen kurzen Röcklein übrig geblieben scheint, das der Besitzer trägt, wird ein scharf gezeichneter, von tausend Linien durchfurchter Kopf sichtbar, welcher mit einem fuchsrothen, in zwei Spitzen auslaufenden langen Bart endet. Den oben erwähnten gelben, mit breiten schottischen Streifen besetzten Rock zieren große kugelförmige silberne Knöpfe, die Beine stecken in preußischen Soldatenhosen, über welche die Stiefel gezogen sind. Bei rauher Witterung hat er einen Ueberzieher aus Seehundsfell – nach seiner Behauptung die Haut eines „ungeborenen Tigers“ – dessen rauhe Seite nach außen gekehrt, um Regen noch durch einen darüber gehängten Gummimantel geschützt ist. Alle Welt hat sich den Kopf zerbrochen, wer der abenteuerlich, stets einsam wandelnde Mensch sein möge, bis mich ein Zufall hinter das Geheimniß gebracht. Der Mann ist Besitzer eines wohldressirten Pferdchens, eines „Doppelponum“, wie er sagt, welches „jedes geschnaubte und ungeschnaubte Taschentuch beliebig apportirt.“ Hier ist er Curgast, und giebt – stolz lieb’ ich meinen Spanier – keine Vorstellungen mit seinem kunstreichen Thiere, wohl aber spannt er es manchmal vor ein kleines Wägelchen, welches mit Kreide über und über mit frommen und weisen Sprüchen beschrieben ist, die sich freilich nicht durch den Reiz der Neuheit auszeichnen, z. B. „Anfang, bedenke das Ende“, „Des Herrn Auge macht die Pferde fett“ etc. Das Merkwürdigste an dieser mysteriösen Persönlichkeit ist, daß seine Hausleute behaupten, „er esse nie“, wenigstens habe ihn nie irgend eine menschliche Seele in Karlsbad der profanen Beschäftigung des Essens sich hingeben sehen. Ich habe den Mann im Verdacht der Semmelcur.
Ein liebliches Wesen, mit langen schwarzen Locken und brennenden ditto Augen, in tiefe Trauer gekleidet, zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Niemand würde glauben, daß dies reizende Persönchen unter polizeilicher Aufsicht steht. Es ist der vor mehreren Jahren viel genannte Adjutant und weibliche Freund eines bekannten polnischen Insurgenten. Jetzt geht sie an der Seite eines alten Herrn, der nichts weniger als heldenhaft aussieht, wenn ihm auch die Eroberung des schönen „Adjutanten“ gelungen zu sein scheint.
Dieser nobel aussehende Herr, welcher ein Leiden mit Lord Byron theilt, ist Baron Bethmann aus Frankfurt am Main, der seinen Ruf wenigstens zur Hälfte dem Besitze von Dannecker’s schönem Meisterstück „Ariadne“, und nur zur kleinern Hälfte seinem Reichthum dankt. Sein wunderschönes Töchterchen ist eine Meisterin auf dem Piano.
Ein feuriges Gespann vor einer höchst eleganten Equipage, von einer Dame gelenkt mit sicherer Hand, zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Der Besitzerin dieses prächtigen Gefährtes ist es nicht an der Wiege prophezeit worden, daß ihr Wappen einst eine Herzogskrone zieren und daß sie Verwandte auf europäischen Thronen begrüßen würde.
Heinrich Laube, obgleich selten im Trubel sichtbar, gehört zu den bekanntesten und beliebtesten Habitué’s von Karlsbad. So lange Laube nicht hier ist, sagte mir ein hiesiger Bürger, hat die Saison noch nicht begonnen! Man ist stolz darauf, daß Laube seit vierunddreißig Jahren jeden Sommer die Heilquellen besucht, man nennt seinen Namen mit Ostentation und hoher Achtung. Mit Laube ist, diese Saison zum ersten Mal, Robert Heller eingezogen, der als schüchterner Curanfänger an den Quellen nippt. Er scheint sich mit mehr Resignation in sein Geschick zu finden, als in die hiesige frühe Speisestunde, die er hartnäckig aus der hier landesüblichen Zeit von ein Uhr um zwei Stunden hinausschiebt. Auch der talentreiche Lustspieldichter G. von Moser muß hier Buße thun für die reichen Mahle auf seinem prächtigen Rittersitz in Schlesien und auf den Schlössern der gastfreundlichen Nachbarn. Dieser stattliche Cavalier mit der schönen Frau und ebenso schönen Tochter am Arm ist der General-Intendant von Hülsen, der Chef sämmtlicher Hofbühnen Preußens, ein vielbekannter und genannter Mann. Wir wollen hiermit, indiscreter Weise, das Geheimniß verrathen, daß die geistreiche Frau von Hülsen demnächst, leider unter fremdem Autornamen, die Lesewelt mit einem Bändchen vortrefflicher Novellen beschenken wird.
Hier ein Ehepaar, einfach, schlicht und bieder aussehend, dem Anschein nach ein braver Major, der sich, nach redlichen Mühen im Dienste des Staates, zur wohlverdienten Ruhe gesetzt hat.
Wie trügerisch der Schein hier waltet! es ist der „verflossene“ Kurfürst von Hessen-Cassel mit Frau Gemahlin. Der bildhübsche, nur etwas zu geschniegelt gezierte junge Mann an beider Seite ist Se. Hoheit der Prinz von Hanau, des gewesenen Kurfürsten Sohn und Erbe.
Dieser Herr, gelb gefärbt, als ob er die tropische Sonne über seinem Scheitel brennen gefühlt hätte, der in cholerischer Laune die Brunnenmädchen in allen Sprachen der Erde auszankt, ist der berühmte Escamoteur Hermann, dem das seltene Kunststück gelungen, dem Publicum zweier Welttheile das Geld aus den Taschen und sich zum reichen Mann zu zaubern.
Immer ohne Hut und Haare, begegnet uns Freund Hugo Wigand, der meilenfressende, stets auf weiten Ausflügen begriffene bekannte Leipziger Verlagsbuchhändler. Sitzen oder stille stehen sah ihn noch kein Sterblicher!
In stattlicher Equipage fährt hier ein in besten Jahren stehender Mann von gewinnendem Aeußern: es ist der Geheime Commercienrath von Schäffer-Voit aus Berlin, der Gründer des „Bazars“, der ihn zum Millionär gemacht. Nur das dringendste Gebot der Aerzte hat ihn hierher getrieben nach Karlsbad, wo ihn vor drei Jahren der herbste Schmerz ereilte, der ein Menschenherz zermalmend treffen kann. Hier traf die Nachricht ein, daß sein Sohn, der Stolz und die Freude der Eltern, ein blühend schöner junger Mann und wackerer Soldat, in Folge seiner Tüchtigkeit auf dem Schlachtfeld zum Officier ernannt worden sei. Mitten in dem Jubel der beglückten Eltern schmetterte eine telegraphische Depesche alle Hoffnungssaaten nieder, indem sie die Kunde brachte, daß der junge, hochbegabte Mann ein Opfer der Cholera geworden sei. Nie habe ich menschlichen Jammer, trostlose Verzweiflung sich in erschütternderer Weise aussprechen sehen, als hier bei den armen Eltern des Heimgegangenen. Die muntere, lebensfrohe Frau wurde vor meinen Augen eine Greisin, und bis zur Stunde haben die armen reichen Leute diesen qualvollen Schlag [442] nicht verwinden können. Mögen sie Trost finde in dem Erblühen der heiteren Kinderschaar, welche ihnen des Himmels Rathschluß noch gelassen.
Eine fast alljährlich hier Anwesende vermisse ich diese Saison mit schwerem Herzen. Charlotte Birch-Pfeiffer, die sich schon im vorigen Sommer in ihrer „unfreiwilligen Equipage“ zum Brunnen führen lasten mußte, sie kommt nicht wieder, sie ruht aus in heimathlicher Erde. Selbst beim schwersten Leiden verlor die muntere Frau nie ihre gute Laune, mit beneidenswerthem Humor sprach sie über ihren Zustand, dessen Gefahr ihr kein Geheimniß war. Allem wußte die prächtige „Mutter Birch“, wie wir sie sämmtlich nannten, eine heitere Seite abzugewinnen, nie hörte man sie nach „Blaustrumpfweise“ von ihren Werken reden. Doch, wie ging ihr das Herz auf, wenn man vom „Wurm“ - diesen Spitznamen hatte ich ihrer talentreichen Tochter, der jetzigen Frau von Hillern, aufgebracht – zu sprechen anfing, stundenlang konnte sie bei diesem ihr theuren Thema bleiben. Und wie zudringlich konnte die sonst so bescheidene Birch werden, wenn es die Unterstützung ihrer Armen galt! Braves Herz, sei dir die Erde leicht! - Auch Küstner, der frühere Hoftheater-Intendant von Berlin, ist seit, einigen Jahren nicht mehr stabiler Curgast von Karlsbad, sondern seit lange ein stiller Mann geworden. Ein komischeres Original als den alten Herrn, ein wunderlicheres Gemisch von Großmuth und Geiz konnte man sich nicht denken. In Berlin pflegte er – öfters kleine Diners zu geben, bei welchen es nichts weniger als splendid herging, und wobei Grüneberger Champagner, Schattenseite, dritte Qualität, für die Gäste eine sehr unwillkommene Hauptrolle spielte. Bei einer solchen Tafel erbat sich Anton Ascher, der witzigste meiner Collegen, ihm das Eröffnen der ersten Flasche anzuvertrauen, weil er einige Worte zu sprechen wünsche. Nun ist Ascher im Improvisiren heiterer Tischreden, ein Unicum, daher eine solche Offerte von ihm stets hoch willkommen.
„Meine Herren,“ beginnt Ascher, den Bindfaden am Kork, dessen Draht, bereits durchgeschnitten, festhaltend, „meine Herren, erlauben Sie mir, daß ich das Wohl unseres freundlichen Wirthes ausbringe, in diesem edlen Getränk“ – hier knallt der Pfropf, Ascher führt das Glas an den Mund, aber setzt es sofort ab, heftig ausrufend: „Ich nehme mein Wort zurück!“ Nach einer Pause sagt er, wie einer, großen Gefahr entgangen, zu Küstner: „Welch’ ein Glück, daß keine Kinder im Hause sind, die zufällig. von dem Wein hätten trinken können! Das größte Unglück konnte entstehen.“
Man kann sich das Gelächter der Gäste denken, an denen nun der gefürchtete Champagnermoment vorüber ging, während der Hausherr mitlachend dem Diener den Auftrag gab, einige Flaschen echten Cliquots aus dem Keller zu holen.
Mein freundlicher Leser sieht, daß alle Menschenclassen hier in Karlsbad vertreten sind, wenn ich ihm auch nur die bekannteren Persönlichkeiten vorgestellt habe. Alle Länder der Erde, alle Stände stellen ihr Contingent hierher, nur der Abenteurer, der Spieler, der Glücksritter findet hier keinen ihm zusagenden Boden, der bleibt fort. Wer sollte aber denken, daß ein „Raubmörder“ vor zwei Jahren, den Versuch gemacht, hier Gastrollen zu geben? Zwei junge Bursche waren hier eingekehrt und hatten sich als „Studirende“ in die Fremdenliste eintragen lassen. Der Eine setzte seinen Stab bald wieder weiter, der Andere blieb. Da brachte eine Amerikanerin auf die Polizei die wunderliche Anzeige, daß sie auf einer der beliebtesten und belebtesten Promenaden, auf dem sogenannten Vieruhrweg, von einem jungen Mann um Almosen angesprochen worden sei, und daß der fremde, gut gekleidete Bettler, als sie von seinem Begehr keine, Notiz nahm, ihr mit einem Pistol nachgeschossen hätte. Die Sache erschien so unwahrscheinlich, so ungeheuerlich, daß man dieselbe für eine Ausgeburt amerikanischer Excentricität hielt und ihr wenig Beachtung schenkte. Den folgenden Abend kam die Familie eines angesehenen Badegastes von einem Ausflug heim, da bemerkte die Tochter, als sie ihr Zimmer betrat, bei bereits einbrechender Dunkelheit eine versteckte Mannsperson unter dem Sopha liegend. Das junge Mädchen hatte die Geistesgegenwart, scheinbar ganz unbefangen, ein Liedchen zu trällern und die Stube zu verlassen. Halb todt vor Entsetzen berichtete sie den Eltern, was sie gesehen. Man dringt in’s Zimmer und befiehlt dem Eindringling hervorzukommen. Da ertönt ein Knall, der junge Räuber hatte sich selbst gerichtet und durch die Brust geschossen. Den folgenden Tag starb er, nachdem er das Bekenntniß abgelegt, daß er allerdings auch nach der Dame im Walde geschossen habe. Der Bursche war der Sohn braver Eltern aus Wien, ein Handwerkerlehrling, welchen Genuß- Und Abenteuersucht auf den Weg des Verbrechens trieb. Man fand bei ihm einen baaren Vermögensbestand von zehn Kreuzern und die unbezahlte Gasthausrechnung.
Die vier Wochen sind um. Trotzdem sich unser Gesundheitszustand auf’s Erfreulichste gebessert, danken wir doch dem Himmel, daß wir das Pensum hinter uns haben. Wir fahren neu gestärkt und gekräftigt der Heimath zu. In Eger treffen wir einen witzigen, polnischen Juden, an dessen schlagfertigen Antworten wir uns in Karlsbad schon oft erfreut! Er reist in Geschäften nach Hamburg, seine Frau begleitet ihn an die Eisenbahn. „Lebe wohl, Isaak,“ ruft sie und reicht ihm noch einmal die Hand, „lebe wohl, reise mit Gott!“ - „Unsinn,“ antwortet Isaak, „Unsinn, Estherche! Wenn der liebe Gott mit nach Hamburg reist, so wird er nicht fahren dritte Classe!
Deutschlands große Industriewerkstätten
Das Bedrucken - baumwollener Gewebe war eine alte Kunst der Indier und Aegypter, die sich von dort aus nach China, Arabien, Persien und Phönicien, nach den Ländern am kaspischen Meere, wo sie Herodot bereits vorfand, nach Griechenland und Rom verbreitete. Ueberall in diesen Culturstaaten der alten Welt lernte man bald derartige Gewebe nachahmen. In China bediente man sich der hölzernen Formen, die man mit der Farbenmischung bestrich und auf das Gewebe, abklatschte. In Aegypten war es die Rohrfeder, die, von der geschickten Hund, des Farbenmalers geführt, das Zeug illustrirte, oder der Pinsel, der in merkwürdigen, unregelmäßigen Windungen den, Stoff mit einer Substanz bemalte, welche die imprägnirten Stellen, desselben vor Annahme der Farbe bei dem nachfolgenden Ausfärben schützte, wie Plinius ausführlich berichtet.
Aehnlich wie bei den Aegyptern verfuhr man in Persien, wo nach alter Tradition noch heute die Werkstätte des Färbens und Druckens „Christuswerkstätte“ genannt wird, weil nach der Sage Christus ein Färber war, der es verstanden, aus ein und demselben Farbenbad verschiedene Färbungen zu gleicher, Zeit auf das Gewebe zu übertragen. – Von sidonischen Tüchern in prachtvollen Farben singt schon der alte Homer. In Europa zeigen sich die ersten Spuren dieser Kunst in Gallien, Deutschland und England. Durch die Kreuzzüge gelangte die Kenntniß derselben nach Italien, wo in Florenz der Zeugdruck eingeführt wurde. Im Jahr 1523 errichtete Hoffmann die erste deutsche Kattundruckerei in Augsburg. Dieselbe galt als eine „freie Kunst“, bis sie 1693 den Fesseln des Zunftzwanges unterlag. Eine größere Bedeutung gewann, die Kattundruckerei 1758 durch J. von Schüle in Augsburg, der es verstand, seine Kunst wesentlich zu verbessern und allmählich zu heben, obgleich er anfänglich, nur mit geringen Mitteln ausgerüstet, mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Bald gewannen jedoch die Augsburgischen Kattune von Schüle einen anerkannten Ruf. Die anfänglich in Deutschland beliebten Muster waren meist Darstellungen aus der biblischen Geschichte, Unter Anderm galt „Josua und Kaleb“, eine Weintraube aus Canaan auf ihren Schultern tragend, für ein sehr gesuchtes Dessin. Dieser Geschmack mußte jedoch den von der trefflichen Musterzeichnerin Friedrichs ausgeführten kleineren reizenden Arabesken und Ornamenten weichen. Schüle wußte auch die Farben besser zu befestigen und ihnen Leben einzuhauchen, so daß er bis zum Ende des letzten Jahrhunderts den Markt fast ausschließlich beherrschte.
Aber durch die Erfindung des mechanischen Webstuhls und besonders durch die Walzendruckmaschine des Schotten Bell [443] trat eine ganz neue Aera ein. Die englischen Kattundrucker, die zuvor gegen die deutsche Manufactur nicht aufkommen konnten und nur durch das Einfuhrverbot indischer Stoffe vor dem gänzlichen Ruin gerettet wurden, bemächtigten sich der neuen Hülfsmittel und arbeiteten sich mit bewunderungswürdiger Kraft und Schnelligkeit empor. Der Großvater des berühmten Staatsmanns Sir Richard Peel war einer der Ersten, der die Maschinenindustrie so gut zu benutzen verstand, daß er in kurzer Zeit Millionär wurde. Sein Beispiel fand allseitige Nachahmung, und bald stand England an der Spitze des Kattunhandels, indem es mit seiner Waare die ganze Welt versorgte. Während in Deutschland das Schüle’sche Etablissement in Augsburg vor dieser großartigen Concurrenz zusammenbrach, konnte sich auch in Frankreich die große Fabrik von C. P. Oberkampf, seit 1760 in Jouy begründet, nur unter dem Schutze der Continentalsperre und durch Unterstützung des Staates behaupten. England hatte auf diesem Felde alle Völker besiegt und vollständig verdrängt.
Sehr langsam begann die continentale Kattundruckerei den Kampf wieder aufzunehmen und mehr als dreißig Jahre vergingen, bis endlich ein Berliner Fabrikant vor seinen König hintreten und ohne Prahlerei sagen durfte: „Ich bin der Liebermann, was verdrängt hat die Engländer von de Continente.“
Das war der indes verstorbene alte „Commercienrath Liebermann“, dessen Geschäft noch heute unter der Leitung seiner ebenbürtigen Nachkommen (Benjamin, Louis und Georg Liebermann) blüht und einen bewunderungswürdigen Aufschwung genommen hat.
Schon vor ihm gab es fleißige und tüchtige Fabrikanten in Berlin, die es nicht an anerkennungswerthen Anstrengungen fehlen ließen, um die durch die Engländer vernichteten vierzig Kattundruckereien zu ersetzen. Im Jahr 1812 begründete E. F. Dannenberger an den Ufern der Spree ein neues Etablissement, das sich trotz der unglücklichen Conjuncturen behauptete und bereits 1838 als eine der bedeutendsten Fabriken des Continents, geachtet wurde. Später übernahmen die Herren Nauen und Löwe das Geschäft und führten es mit vielem Glück weiter fort. Seit 1860 kam es in die Hände Liebermann’s, dem es seine jetzige großartige Ausdehnung und Bedeutung verdankt.
Dort an der Stelle, wo sich einst die Krieger Albrecht’s des Bären tummelten und Raubritter, wie die Quitzows, das Eigenthum und Leben der verhaßten Stadtbewohner bedrohten, hat das gewerbfleißige Bürgerthum den schönsten Sieg auf friedlichem Gebiet erfochten und sich ein unvergängliches Denkmal seiner Tüchtigkeit errichtet.
Eine Reihe lang hingestreckter Gebäude und Quergebäude, hin und wieder durch Dampfkesselanlagen mit hohen Schornsteinen und durch schlanke Bäume unterbrochen, geben dieser Fabrikation den entsprechenden Ausdruck und ein großartiges Bild ihrer Leistungen. Treten wir in eines jener Gebäude ein, vor welchem ein hochbepackter Lastwagen hält. Mehrere Arbeiter sind damit beschäftigt, die rohen Stoffe und Gewebe, welche eine natürliche Rostfarbe und ein unansehnliches Aeußere zeigen, ohne viel Umstände herabzuwerfen. Hier beginnt die erste Umwandlung, die diese schmutzige, nichts weniger als angenehme Farbe in das blendendste Weiß überführt, auf besten reinem Grunde bald die herrlichsten Muster erblühen sollen. In großen Waschfässern muß mit Hülfe der kolossalen Waschmaschine der Staub, die des Webers mühsame Arbeit unterstützende „Schlichte“ und alles Ueberflüssige weichen. Wie aus einem wohlthuenden Bade geht das Gewebe vom Schmutz befreit in untadeliger Reinheit hervor, um, über Walzen und Rollen hingeleitet, wieder zu trocknen.
Wie in den Bädern des Orients wird das Zeug außerdem noch einem besondern Proceß unterworfen. Zu beiden Seiten der sogenannten „Klopfrahmen“ sitzen Mädchen und Frauen; im Tact schwingen sie den Stab zum auflockernden Schlag, während sie dabei lustige Lieder singen, die allerdings häufig von dem hohlen Widerhall der lärmenden Stäbe übertönt werden. Durch die Schwingungen richten sich die losen Fasern und der Flaum auf der Oberfläche des Gewebes auf, was der eigentliche Zweck dieser Thätigkeit ist. Aber was bedeuten dort die rothglühenden Cylinder und die feinen zuckenden Flammen des Gases, über die der so leicht verbrennliche Stoff hinweggezogen wird? Ist es nicht ein leichtsinnig übermüthiges Spiel, das feuerfangende Zeug mit den züngelnden Gluthen zu paaren? Aber wir dürfen ohne Furcht sein, da hier die höchste Vorsicht, die genaueste Berechnung der Zeit die Macht des gefährlichen Elements beschränkt. Des Feuers gewaltige Kraft findet nicht Zeit, sich auf die willkommene Beute zu stürzen, die im Flug vorübereilt, die nöthige Entfernung mit bewunderungswürdiger Genauigkeit beobachtet,, so daß nur die leicht und fein zertheilten hervorragenden Fasern versengt werden. Wenn aber, was zuweilen vorkommt, das Gewebe in seinem Laufe nur eine Secunde stockt, so verwandelt es sich sogleich in Dampf, Rauch und Asche.
Was die Flamme noch von Fäserchen übrig gelassen, das ergreift die „Noppmaschine“, hart über dem Stoff mit ihren spitzig feinen Zähnen hinstreifend, entfernt der „Scheermaschine“ schnell hinjagender Cylinder, umgürtet mit seinen scharfkantigen Messern, oder die „Bürstenwalze“ mit ihrer rauhen Bekleidung. So gereinigt, geklopft und geglättet verläßt das Gewebe seine bisherige Behausung und steigt in jenen Raum empor, dessen Bestimmung schon von Weitem der auffallend „chlorige“, die Lungen reizende und beklemmende Geruch verräth.
In großen Kufen verborgen, wirkt hier die Kraft des bleichenden Gases bald im Verein mit Wässer, bald mit Kalk verbunden. Um sich, von der Wirkung dieses Gases einen Begriff zu machen, genügt die Thatsache, daß ganz Deutschland mit allen seinen Feldern und Wiesen nicht ausreichen würde, um nur dem Producte einer einzigen großen Baumwollenfabrik zum Rasenbleichplatz zu dienen. Aber eine so gewaltige Kraft kann nicht nur segensreich, sondern muß auch zerstörend wirken, Um die angreifende Eigenschaft des Chlors zu schwächen und den schädlichen Einfluß zu beseitigen, wird das Gewebe zu langen endlosen Bändern vereinigt, durch eine Reihe von Bottichen und Maschinenbehältern geleitet, worin säurebindende Alkalien und frisches Wasser in fortwährend erneutem Strome diesen Feind der organischen Faser austreiben, während pressende Walzen die ausringenden Menschenhände hundertfach ersetzen. Wie frischgefallener Schnee, wie das Gefieder des Schwans leuchten die weißen Gewebe, welche jetzt erst würdig erscheinen, mit farbigen Blumen und bunten Arabesken geschmückt zu werden. Bald erwartet sie der Farben holder Zauber, des Regenbogens Pracht, des Frühlings Blüthenkränze. Aber nicht leicht wird die Vollendung erreicht; es ist eine schwere Aufgabe, die Harmonie der Farben zu finden, die flüchtigen Kinder des Lichts an den irdischen Stoff zu fesseln, den weißen Grund bald zu bewahren, bald verschwinden zu lassen. Zu diesem Zwecke sehen wir wiederum die Gewebstücke, zu langen endlosen Bändern von Neuem vereinigt, bald in diese Kufe eingetaucht, bald derselben entsteigen, um in eine andere niederzugehen, endlich in reichlich sprudelndem Wasser eine neue Reinigung empfangen, um sodann aufwärts durch die offene Decke des Saales in einen Trockenapparat zu gelangen. Sorgfältig von jeder Feuchtigkeit befreit, wird das Zeug von geschickten Frauenhänden vorsichtig ausgebreitet und dann unter die schweren Cylinder einer Maschine gebracht, durch die es die nöthige Glätte und Faltenlosigkeit empfängt.
Jene Kufen enthalten solche Stoffe, welche die Eigenschaft besitzen, den später aufzutragenden Farbestoffen theils Festigkeit, theils Nuancen zu verleihen. Aber noch andere wichtige Processe werden hier eingeleitet oder vorgenommen. Bald druckt man die gewünschten Muster mit Beizstoffen auf, um später durch Ausfärben in dem Farbenbade den Farbenstoff nur an diesen Stellen zu fesseln, während er an den ungebeizten Flächen nicht haften darf. Bald überzieht man alle Punkte, die in der ursprünglichen Weiße erhalten bleiben sollen, mit einer vor der Aufnahme des Farbestoffes schützenden Decke, so daß nach Entfernung jenes Schutzes der weiße Grund hervorleuchtet. Nicht selten druckt man auch die Muster in verschieden concentrirten, verschieden zusammengesetzten Beizen, die dann mit einem und demselben Farbenstoff sich zu verschieden nuancirten Farben verbinden.
Diese verborgenen Geheimnisse der Farben zu ergründen, ist die schwere, oft kaum zu lösende Aufgabe des Coloristen. Er ist die eigentliche Seele der Fabrik, während das Geld und der kaufmännische Scharfblick die andere Bedingung der Existenz, gleichsam den Körper für diese Seele bildet. Dort in dem Laboratorium, in der chemischen Farbenküche denkt und sinnt der erfinderische Geist. In zierlich geformten Retorten, Kolben und Ballons prüft er die Eigenschaften der verwendbaren Materialien, indem er den gegenseitigen Einfluß der verschiedenen Stoffe auf einander zu erforschen und durch eine Combination praktisch zu [444] verwerthen sucht. Hier herrscht der belebende Gedanke, von dem allein das Gedeihen der ganzen Anstalt abhängt. Ein Fehlgriff kann unabsehbaren Schaden, eine glückliche Idee noch größeren Nutzen stiften.
In der Person des eben so thätigen als verdienstvollen Doctor Heffter besitzt das genannte Etablissement den geeigneten Mann, der jene durchgreifenden Processe ersonnen, jene großartigen Verbesserungen ausgeführt, durch deren praktische Anwendung die Liebermann’sche Fabrik ihren jetzigen hohen Rang und ihre Bedeutung für den Weltmarkt gewonnen hat. Aus diesen Räumen sind jene neuen Combinationen und Nuancen hervorgegangen, die durch immer neue Abwechslung überraschen, durch Glanz und Schönheit die Sinne reizen und erfreuen, durch ihre Zweckmäßigkeit und Billigkeit die Bewunderung der Sachverständigen erregen. Mit diesen Vorzügen aber noch die Gefälligkeit der Form, die Reize eines geschmackvollen Musters zu vereinigen, ist eine nicht minder schwierige Aufgabe für den denkenden Geist, die von anderen talentvollen Männern gelöst wird.
In jenem imposanten Gebäude, das seine edle Facade der Straße zukehrt, finden, wir die großen Werkstätten für die hier beschäftigten Musterzeichner. In lichten weiten Sälen sitzen die Zeichner und Graveurs, um die leicht skizzirten Entwürfe und Ideen auszuführen, indem sie ihnen eine feste, für die praktische Anwendung geeignete Form geben. Ganz besondere Beachtung verdient dabei jene wunderbare Maschine, die man mit dem Namen „Pantograph“ oder „Pentagraph“ benannt hat; sie beruht auf einer Hebelanordnung, durch deren Wirksamkeit ein einziger Mann im Stande ist, beim Nachführen eines Griffels in den gravirten Linien eines in größeren Dimensionen auf Blech ausgeführten Musters sechs bis vierundzwanzig andere, mit Demantspitzen versehene Griffel in dieselbe Bewegung zu versetzen und zwar durch eine entsprechende Einstellung derartig, daß diese Diamanten das gegebene Dessin in beliebiger Verkleinerung in einen Firnißüberzug der zu gravirenden Kupferwalze so oft nebeneinander einritzen, als es der Rapport des Musters auf der Breite des Stoffes verlangt.
Wird nachher diese Walze einem Säurebade ausgesetzt, so erscheint an den vom Firniß entblößten Stellen durch Aetzung das gewünschte Dessin vervielfältigt. Auch mit Hülfe der vielfach sich abrollenden sogenannten „Molette“ werden die Muster auf die für den Druck bestimmten Walzen übertragen. Alle diese Arbeiten des Zeichnens und Stechens verlangen die höchste Schärfe und Genauigkeit; Gedanken und Aufmerksamkeit müssen durchaus ungestört auf einen Punkt gerichtet sein. Daher die lautlose Stille, welche in dem Arbeitssaale herrscht, nur unterbrochen von dem eintönigen Geräusch der Pantographen und dem Rollen der Krafttransmission. Es handelt sich hier um bedeutende Summen, da der Vorrath an Kupferwalzen und Gravirungen enorme Werthe repräsentirt. Allem die Herstellung eines Dessins, in welchem zwölf verschiedene Nuancen einer Farbe, oder zwölf verschiedene Farben erscheinen sollen, fordert auch zwölf besondere Walzen, deren jede nur zur Herstellung einer Farbe dient, die aber, um den gewünschten Effect zu erzielen, ganz genau mit einander harmoniren und sich ergänzen müssen.
In dem großartigen Complex von Gebäuden, welcher die eigentliche Druckerei enthält, befinden sich außer verschiedenen „Perotinen“ vierzehn Walzendruckmaschinen in fortwährender Thätigkeit. Der Anblick ihrer Arbeit gewährt ein ebenso interessantes als unterhaltendes Schauspiel. Hier bedeckt sich das Gewebe unter der Bewegung des malenden Cylinders mit türkischen Mustern in fünf oder sechs harmonischen Farben; dort zertheilt eine andere Walze den weißen Stoff in die einfachen, gleichmäßigen Felder eines Damenbretts, bei dem die Fehlfarben durch zierliche Schlangenlinien imitirt werden. Eine andere Maschine streut mit unsichtbarer Hand auf die lichte Fläche zahllose kleine Blumen, kleine Blätter, und dort scheint ein neckender Kobold Graupen und Grütze in toller Weise unter einander zu mischen.
Hell und freundlich schimmert jener Kleiderstoff, mit Chromgrün, gefärbt, in zierlichem Muster uns entgegen, und unwillkürlich denken wir uns dazu die schlanke Gestalt, einer reizenden Blondine mit goldenem Haar, blauen Augen und lachenden Rosenlippen, während die strohgelbe Farbe mit den zarten Arabesken gewiß trefflich zu den dunklen Locken – und den feurigen Blicken einer interessanten Brünette passen wird. Gleich einem blutigen Strome quellen aus der Maschine in scheinbar ewiger Wiederkehr endlose rothe Schnupftücher hervor, ausreichend für die Nasen eines ganzen Welttheils. Sie verdanken ihre Farbe dem kräftig schäumenden „Krappbade“, aus dem aber auch alle jene zart nuancirten rosa leuchtenden Zeuge gleich der schaumgeborenen Venus emporsteigen. Unter dem Einfluß der physischen Kräfte, unter dem Rauschen des Wassers, dem Brausen des Dampfes, dem Gähren der chemischen Gewalten entstehen jene Kinder der Mode und des Luxus, womit sich die fernsten Länder und die verschiedensten Stände schmücken. Diese blauen Gewebe sind für den Japanesen, jenes feuerrothe Zeug für den Mexicaner bestimmt; das geschmackvolle Muster wird die zarte Figur einer vornehmen Salondame zieren, und dort das einfache Dessin ein armes Kind aus dem Volke entzücken, während vielleicht eine schwarze Sclavin jene schreienden Farben bewundert und sie mit keinem andern noch so werthvollen Erzeugnisse der launenhaften Mode vertauschen möchte. Hier findet man die Toilette eines Erdballs vereint, jeden Geschmack berücksichtigt, die wunderlichsten Ansprüche in Bezug auf Form und Farbe befriedigt.
Zu diesem Behufe müssen alle Elemente, Natur und Kunst Wasser und Feuer, Physik und Chemie, Capital und Geist sich vereinen, die verschiedensten Operationen sich zweckvoll verbinden. Während das gebleichte und gebeizte Zeug an der einen Seite der Druckmaschine eintritt, verläßt es dieselbe gemustert an der andern, um über Rollen und Cylinder fort zwischen den warmen Dampfplatten getrocknet zu werden. In dem gegenüberliegenden Gebäude wartet schon wieder ein neuer Complex der ingeniösesten Maschinen, um dem bedruckten Stoffe die letzte Vollendung zu geben. Durch Waschen, leichtes Bleichen, Stärken und Bläuen, um die Weiße des Grundes hervorzuheben, durch Trocknen und Glätten wird dem Gewebe noch der äußere Glanz verliehen, um die Käufer anzulocken. Schließlich bestimmt eine selbstthätige Meßmaschine das Maß und die Lage des Stoffes, dem eine eigene Presse das Siegel der Beständigkeit aufdrückt.
Eine fortlaufende Reihe von ineinander greifenden Processen gehört dazu, um das ordinärste und billigste Stück Kattun zu liefern. Wer denkt bei dem Anblick dieser leichten Waare an die, kolossale Anstrengung, die ihre Hervorbringung erfordert! Dafür arbeitet unablässig bei Tag und Nacht die riesige Dampfmaschine mit der Kraft von dreihundertundvierzig Pferden. In vierzehn großen eisernen Kesseln erzeugt, wirkt außerdem der Dampf von siebenzehn kleineren und größeren Maschinen, um die zahllosen Wellen, Räder und Walzen zu bewegen, die sich ohne Aufhören drehen und die verschiedensten Dienste verrichten, zu denen Tausende von Händen nicht ausreichen würden. Hunderte von Arbeitern sind überdies noch mit Färben, Drucken, Zeichnen, Graviren und mit anderen nothwendigen Verrichtungen beschäftigt. In kolossalen Fässern, Kufen und Gefäßen siedet und kocht die Beize, von aufmerksamen Augen beobachtet. Alles muß ineinander greifen und sich gegenseitig unterstützen. Das Ganze aber fordert einen Aufwand von Scharfsinn, Fleiß, Unermüdlichkeit und Sachkenntniß, wovon der oberflächliche Beobachter kaum eine Ahnung haben kann. Nur so ist es möglich, daß in diesen Fabrikhallen täglich tausend Stück Kattun fertig bedruckt geliefert werden.
Dort aber in seinem Comptoir sitzt – der Eigenthümer des Etablissements, von dem der Anstoß dieses großartigen Getriebes ausgeht, und rechnet, grübelt, sinnt und sucht, um neue Absatzwege für seine Waaren zu finden, um den Kampf mit der drohenden Concurrenz bestehen zu können. Sein scharfes Auge überschaut die ganze Erde und dringt in die fernsten Länder, um ihre Bedürfnisse, ihre Forderungen, ihre Ansprüche und ihren Geschmack zu erkunden. Er folgt dem Lauf der Schiffe, er lauscht den Nachrichten, die der telegraphische Draht ihm aus allen Himmelsgegenden bringt. Krieg und Friede, die Baumwollenernte, die Schwankungen des Weltmarkts bestimmen sein Geschick und das der tausend Arbeiter, die in seinen Diensten stehen. Er wägt und erwägt, ob er des Geldes Macht zum kühnen Schachzug entfesseln, ober bis zur gelegeneren Stunde zurückhalten soll. Mit sorgenschwerem Haupte erwartet er die unausbleibliche Krisis, ohne darum den Muth zu verlieren, für alle Fälle gerüstet, gewissenhaft für das Wohl, der zahlreichen Arbeiter besorgt, die auf ihn voll Vertrauen blicken. Stets zur Hülfe bereit, für alle guten Zwecke thätig, für alle humanistischen Bestrebungen opferfreudig, ist der Chef des Hauses Liebermann einer der ehrenwerthesten Repräsentanten der deutschen Industrie, der er zur Zierde gereicht.
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Reichsgräfin Gisela.
Aus den Zügen des Fürsten war allmählich der harmlose Ausdruck verschwunden. Die kleinen, grauen Augen sahen forschend und mißtrauisch nach dem Mann hinüber, der dort an der Buche lehnend so ruhig, aber auch so entschlossen die Arme über der Brust kreuzte und den flammenden Blick fest auf das durchlauchtigste Antlitz gerichtet hielt – er schien, ihm unheimlich zu werden. … Wie alle schwachen Charaktere, denen der Zufall eine hohe Lebensstellung eingeräumt, war er sehr geneigt, das entschiedene, sichere Auftreten fester Männlichkeit als Mangel an Deferenz zu beargwöhnen, und in dem Punkt vertrug er nichts. Zudem hatte das, was der Mann erzählte, eine verzweifelte Aehnlichkeit mit einer alten, dunklen, halbverschollenen Geschichte, die er um des Ministers willen nicht gern vor all’ diesen sehr wißbegierigen Ohren aufgerührt sehen mochte – ohne eigentliche Motivirung aber konnte er die lebhaft verlangte Pointe der Geschichte nicht unterdrücken; er winkte deshalb ziemlich eilfertig und mit einer nicht gar gnädigen Handbewegung dem Portugiesen, die Erzählung zu beenden.
Oliveira trat vom Baume weg; seine breite Brust dehnte sich unter einem tiefen Athemholen; ein erneuter Windstoß kam daher und, hob die schwarzen Hockenringel auf seiner finsteren Stirn.
„Hier beginnt die Selbstanklage des Mannes, den ich erzählen lasse – er hat schwer gefehlt, aber auch gelitten,“ fuhr er mit erhöhter Stimme fort. „,In jener Nacht, wo der Tod so jäh und unerwartet an Dom Enriquez herantrat, standen der Visconde – ein schöner, stolzer, tapferer Mann – und ich allein an seinem Bett’ – so lautet die weitere Mittheilung des deutschen Arztes. ,Der Sterbende benutzte die ihm vergönnte kurze Frist, um sein Testament umzustoßen – er dictirte uns ein neues. Wir schrieben Beide nach, um ganz sicher zu gehen – sein heiseres, oft von Röcheln unterbrochenes Flüstern war schwer verständlich. … Er ernannte den Chef seines Hauses zu seinem Universalerben, die Frau Marquise aber hatte das Nachsehen; sie erhielt nicht einen Fußbreit Landes, nicht ein Goldstück seines Besitzthums. … Der Sterbende unterschrieb das Schriftstück des Visconde, als das vollständigste und klarste, und wir Beide fungirten als Zeugen. … Er legte befriedigt das Haupt auf das Kissen zurück, um zu sterben – da wurde die Thür des Vorzimmers aufgerissen, dann kamen schleppende Seidengewänder näher; wir kannten diese Schritte nur allzu gut! Der Visconde eilte hinaus, um die Thür zu vertheidigen, und ich – verbarg schleunigst das gültige Testament in meiner Brusttasche. … Draußen sank die schöne Aspasia vor dem Wächter der Thür nieder und schlang ihre weißen Arme um seine Kniee. Das gelbe Haar, das ihr der Sturm auseinandergerissen, schleifte lang nach auf dem Boden; an der Seite des Gesichts aber floß es schmal und roth nieder und ringelte sich über den weißen Hals hin, wie eine kleine Schlange – ein Stein aus niederstürzendem Mauerwerk hatte ihre Stirn gestreift – sie blutete. … Der Visconde vergaß seine Pflicht und Ehre über der rührenden Hülflosigkeit der Bittenden – die Thür flog auf, und die Marquise stürzte an dem Sterbebett nieder. … Dom Enriquez verwünschte sie mit seinem letzten Athemzuge, er ging hinüber mit der Gewißheit, sein Unrecht ausgelöscht zu haben; aber die schöne Aspasia mit dem vor Angst zu Wachs erblichenen Gesicht war doch sein und unser Meister. … Die buntschillernde Schlange umstrickte in weichen, schmeichelnden Windungen den stolzen, ritterlichen Mann, den Hauptzeugen – er erlag dem Dämon – er trat plötzlich in eine Fensternische, wandte dem Zimmer mit Allem, was darin, beharrlich den Rücken und sah unverwandt und angelegentlich hinaus in das nächtliche Sturmgebrause – dann züngelte die Schlange an mich heran und zischte mir leise zu, daß ihr einziges Kind, der Abgott meines Herzens, mein sei, wenn ich geschehen lasse, daß sie das auf dem Tische liegende Schriftstück lese – ich wandte das Gesicht weg; sie ergriff das Exemplar des Testamentes, das ich nachgeschrieben. Mit halblauter Stimme, bebend vor Ingrimm, überlas sie die ersten Paragraphen, die sie in eklatantester Weise verstießen – sie wandte das Blatt nicht um – somit entging ihr das Fehlen der Unterschrift. Grell auflachend ballte sie plötzlich das Papier in den Händen zu einem gestaltlosen Klumpen und schleuderte ihn in die Kaminflamme. … Erst, nachdem die Frau Marquise kraft des ersten Testamentes ihre Erbschaft angetreten, hatte sie die Gnade, mir achselzuckend und satanisch lächelnd die Mittheilung zu machen, daß sie bereits Wenige Secunden vor ihrer tollen Fahrt nach dem Sterbelager des Dom Enriquez ihre Tochter mit einem Ebenbürtigen verlobt habe – ich konnte sie nicht mehr verrathen, ohne den Kopf selbst in die Schlinge zu stecken!’“ .
Ein Gemurmel flog durch den Kreis. Der Portugiese schritt auf den Fürsten zu.
„Das eigentliche gültige Testament des Dom Enriquez aber wanderte mit dem ruhelosen Mann, der auf die Eröffnung der Frau Marquise nicht ein Wort der Erwiderung gefunden hatte, in die Welt hinaus,“ sagte er mit feierlicher Stimme. Er griff in die Brusttasche und zog ein Papier hervor. „Er hat es kurz vor seinem Tode in meine Hände niedergelegt – wollen sich Euer Durchlaucht überzeugen, daß es tadellos in seiner Abfassung ist?“
Mit einer tiefen Verbeugung reichte er dem Fürsten das Papier hin.
Aller Augen hingen in athemloser Spannung an dem fürstlichen Antlitz. Niemand sah, wie der Minister bei dieser überraschenden Wendung mit leichenhaften Wangen anfänglich zurücktaumelte, dann aber sich halb von seinem Sitz erhob und mit vollkommener Hintansetzung des Schicklichen über die Schulter seines fürstlichen Herrn hinweg in das Blatt stierte, das Serenissimus langsam, mit befangenem Zögern entfaltete.
„Ha, ha, ha, mein Herr von Oliveira,“ rief Seine Excellenz heiser auflachend, „Sie gehen in der Mystificirung Ihrer aufmerksamen Zuhörer wirklich so weit, selbst eine schriftliche Beglaubigung Ihrer allerliebsten kleinen Erzählung zu bringen?“
Auch dieser impertinente Ausruf wurde nicht weiter beachtet – der auserwählte Kreis der Hoffähigen hatte ja das seltene, interessante Schauspiel, Serenissimus völlig fassungslos zu sehen. Er hielt das geöffnete Papier einen Augenblick in den leicht bebenden Händen, als traue er seinen Augen nicht. Sein bleiches Antlitz wurde dunkelroth vor Bestürzung – er überflog die erste Seite, dann wandte er das Blatt um und suchte die Unterschrift.
Wenn indeß die lauschende Menge erwartete, nun auch die Namen des Dokumentes von den Lippen zu hören, die sich, wie nach Athem ringend, öffneten, dann irrte sie sich – Serenissimus war nicht umsonst langjähriger Schüler seines diplomatisch gewiegten Ministers gewesen – die Lippen schlossen sich wieder; er legte secundenlang die Rechte über die Augen, dann richtete er sich auf, als erwache er aus einem Traume, legte das Papier mit fieberhafter Hast zusammen und schob es in die Tasche.
„Sehr hübsch – sehr interessant, Herr von Oliveira!“ sagte er in eigenthümlich belegten Tönen. „Ich werde noch einmal darauf zurückkommen – gelegentlich! … Aber wahrhaftig,“’ rief er aufspringend, „Sie haben Recht, liebe Schliersen, es fängt an zu regnen! … Eilen wir, unter das sichere Dach zu kommen! Hören Sie, meine Damen, wie es in den Wipfeln saust und braust? … Schnell, schnell! … Fackeln voran!“
Es sah aus, als werde in eiliger Hast ein Zigeunerlager abgebrochen. Alles rannte durcheinander; die Damen suchten nach Shawls und Mantillen, die Herren nach ihren Hüten. … Außer Seiner Durchlaucht und der Gräfin Schliersen spürte zwar noch Niemand auch nur einen der ominösen fallenden Regentropfen; dennoch traf man alle Vorkehrungen, die gefährdeten Toiletten in Sicherheit zu bringen.
Während des allgemeinen Tumultes versuchte Gisela, wieder in die Nähe des Fürsten zu kommen, der scheinbar harmlos plaudernd mit der Gräfin Schliersen noch einen Augenblick inmitten der Wiese verweilte. Seine kleinen, grauen Augen hatten nach dem Durchlesen des Dokumentes das Gesicht der jungen Gräfin gestreift – sie verhehlte sich nicht, daß der Blick mißtrauisch forschend und vorwurfsvoll gewesen sei – hatte sie doch durch ihr leidenschaftliches Hervortreten und ihre Fragen verrathen, daß sie um das Geheimniß wisse. … Ihr Gesicht brannte in einer dunklen Fieberhitze – sie war in einer unbeschreiblichen [447] Aufregung. … Hätte die schöne Stiefmutter nicht selbst unter dem beklemmenden Bann eines zwar unbestimmten, aber nichtsdestoweniger bänglichen Vorgefühles kommender schlimmer Ereignisse gelegen, sie wäre der Welt gegenüber um einen Beleg für die nervöse Reizbarkeit ihrer Tochter reicher gewesen; so aber raffte sie in ängstlicher Hast ihre Gazewogen zusammen, und auch ihre Augen suchten unablässig nur den Fürsten, als könne sich auf seinem Gesicht lesen lassen, was das verhängnisvolle, auf seiner Brust verborgene Papier enthalte.
„Gisela, Du wirst die Freundlichkeit haben, an meinem Arm nach dem Schlosse zurückzukehren,“ sagte plötzlich die unterdrückte, heisere, aber dennoch scharf und kurz befehlende Stimme des Ministers dicht neben dem jungen Mädchen. „Du siehst mir aus, als stündest Du eben wieder einmal im Begriff, einen Deiner tollen Streiche auszuführen! … Nicht einen Laut, wenn ich bitten darf! … Wir sollen das Opfer einer schlauangelegten Intrigue werden; aber noch ist nichts verloren – ich bin noch da!“
Ein Blick der tiefsten Verachtung, eines grenzenlosen Abscheues aus den braunen Augen traf den Mann mit der frechen Stirne, der eben als schamloser Lügner vor seiner Stieftochter entlarvt worden war und es trotzdem wagte, ihr gegenüber von schlauen Intriguen Anderer zu sprechen. … Das Verbrechen war dem Fürsten verrathen; er kam durch eine wunderbare Fügung in Besitz des ihm rechtmäßig zustehenden Erbes, und nun sollte sie es schweigend geschehen lassen, daß die sonnenklare Wahrheit mittels heimtückischer Ränke und einer unglaublichen Frechheit unterdrückt wurde? Ja, sie sollte sogar in Gemeinschaft mit ihm, der sie selbst so unverantwortlich hintergangen, das schauerliche Geheimniß ihr Lebenlang behüten und durch, wer weiß wie viele, lange Jahre hindurch das Fürstenhaus um die Einkünfte der Güter betrügen? … Auch nicht einmal mehr kam ihr das Gefühl des Erbarmens, der Pietät für die herzlose, ränkevolle Frau, der kein Mittel zu schlecht gewesen war, sich zu bereichern – sie sah nur mit Schaudern und Entsetzen in den tiefen Abgrund, der sie bis in alle Ewigkeit von ihrer Großmutter schied. … Die eigentlichen Motive, um deren willen ihr Stiefvater sie zur Mitwisserin des Geheimnisses gemacht hatte, durchschaute zwar ihr reiner, völlig ungeübter Blick noch immer nicht, aber klar wurde ihr doch, daß dieser Mann mit der bodenlos verdorbenen Seele sicher nicht um der edlen Absicht willen, den Namen Völdern fleckenlos zu erhalten, alle Hebel seines raffinirten Geistes in Bewegung setzte.
Nicht eine Sylbe antwortete sie auf sein Geflüster, das mit den letzten Worten einen vertraulichen Anstrich angenommen hatte; aber sie wandte das Gesicht von ihm mit jenem Grausen, welches uns angesichts eines giftigen Reptils erfaßt. Ihre verachtungsvolle Zurückweisung schützte sie indeß nicht vor der aufgedrungenen Begleitung. Der Minister ergriff ohne Weiteres ihren Arm, legte ihn in den seinigen und hielt ihn dort mit der Linken so gewaltsam fest, daß sie sich nicht befreien konnte, ohne peinliches Aufsehen zu erregen. Und jetzt eilte Frau von Herbeck herbei; sie drängte sich so energisch und bewachend an die andere Seite des jungen Mädchens, als habe sie Gensd’armenpflichten. Die kleine, fette Frau hätte die Gemüthsbewegung über Gisela’s „unschickliches, vollständig unmotivirtes Hervortreten“ während der Erzählung des Portugiesen noch nicht überwunden; sie behauptete, noch an allen Gliedern zu zittern, und versicherte Seiner Excellenz wiederholt mit wehmüthiger Betonung, nichts sehnlicher zu wünschen, als daheim im lieben, stillen Greinsfeld zu sein, wo doch „der nun einmal unvermeidliche ewige Scandal“ wenigstens hinter den vier Mauern bleibe.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Seine Excellenz schritt mit Gisela dicht hinter dem Fürsten, der den Portugiesen an seine Seite gerufen hatte. … Wer das Gesicht Seiner Durchlaucht kannte, der wußte, daß er, trotz der außerordentlichen Beherrschung seiner Züge, trotz des alltäglichen, fast inhaltslosen Geplauders, welches er an Oliveira richtete, in heftiger Aufregung war. Er schritt, ganz entgegengesetzt seiner sonst streng gemessenen Art und Weise, sehr eilfertig und hastig nach dem weißen Schlosse – unheimlich lautlos und gedrückt folgte ihm der Zug der Gäste – die Erzählung des merkwürdigen Fremden war wie ein erstarrendes Element auf die überschäumende Lust gefallen.
Es war übrigens die höchste Zeit gewesen, den Festplatz zu verlassen. Rasch aufeinander folgende Windstöße brausten über den See und warfen die im Fackellicht purpurn sprühenden Wellen so hoch an das seichte Ufer, daß die zarten, atlasbeschuhten Füßchen der Damen ängstlich zurückwichen. Soweit der rothe Schein der Illumination über den Himmel hinflog, zeigte er eine schwarze, gährende Masse, die hie und da in jenen fahlweißen Spitzen und Kuppen, gipfelte, welche den Hagel in ihrem Schooß tragen. Man drängte sich eng aneinander, die wildaufflatternden Umhüllungen mühsam festhaltend – eine Fackel nach der anderen erlosch in den jäh an- und abschwellenden Athemzügen des Gewittersturmes; aber dort strahlte ja bereits das weiße Schloß in seinem Lichtermeer wie ein aus Feuer geschnittener Würfel herüber – es galt noch ein kurzes, tapferes Ringen, und das schutz- und lustverheißende Dach war erreicht.
In der Thüre des Vestibules drehte sich der Minister noch einmal um und sah hinaus in die Nacht.
„Wir bekommen Nichts von dem Wetter!“ rief er in die Halle zurück. „Es fällt kein Tropfen mehr – der Sturm treibt Alles nach A. zu. … Wir hätten getrost im Walde bleiben können! Ich stehe dafür, in zehn Minuten ist Alles vorüber! … Den Wagen der Gräfin Sturm!“ herrschte er einem der Lakaien zu.
„Wollen Euer Durchlaucht die Gnade haben, für heute meine Tochter zu entlassen?“ wandte er sich an den Fürsten, der eben im Begriff stand, die Treppe hinaufzusteigen. „Sie tanzt nicht, und mir würde es sehr lieb sein, sie nunmehr, nach den vielfachen freudigen Aufregungen und Eindrücken des heutigen Abends, in der beruhigenden Stille ihres Daheim zu wissen.“
„Sie werden doch die Gräfin nicht in das Wetter hinausschicken?“ rief der Fürst überrascht und seltsam verlegen zugleich. Er blieb auf der untersten Treppenstufe stehen, sah aber Gisela nicht an, die ihm nahe stand.
„Ich kann Euer Durchlaucht versichern, daß wir, ehe der Wagen vorfährt, den schönsten Sternenhimmel haben werden,“ versetzte der Minister lächelnd.
„Die Furcht vor dem Wetter hält mich nicht zurück,“ sagte Gisela ruhig und noch näher an den Fürsten herantretend. „Ich würde sofort und sehr gern das weiße Schloß verlassen; aber ich bin gezwungen, Euer Durchlaucht um die Gnade zu bitten, mir heute noch, und sei es auch nur für wenige Minuten, eine Audienz zu gewähren.“
„Was fällt dem Kind ein?“ rief der Minister heiser auflachend. „Euer Durchlaucht, dieses hochwichtige Anliegen meines Töchterchens betrifft sicher die inneren Angelegenheiten ihrer Puppenstube oder nein, sie hat ja in den letzten Tagen ihren Gesichtskreis um ein Bedeutendes erweitert – irre ich nicht, so handelt es sich um Deine Armen; wie, mein Kind? – Dazu hast Du aber den Augenblick sehr unpassend gewählt, und wenn ich nicht als sehr geduldiger Papa Deine große Unerfahrenheit, in Betracht zöge, würde ich sehr zürnen! … Hat die Gräfin keine bequemere Kopfbedeckung, als diesen runden Hut, Frau von Herbeck?“
„Hier, nimm meinen Baschlik, Herzchen,“ sagte die schöne Excellenz, rasch hinzutretend. Sie riß die glänzend weiße Umhüllung von Kopf und Schultern und versuchte, dieselbe der Stieftochter umzuwerfen.
„Ich muß meine Bitte wiederholen,“ wandte sich Gisela nochmals, jetzt aber mit auffallend vibrirender, flehender Stimme an den Fürst, während sie mittels einer leichten Bewegung den Baschlik zurückwies. „Um einer Geringfügigkeit willen würde ich Euer Durchlaucht ganz gewiß nicht behelligen.“
Der Fürst überblickte flüchtig die Gesichter, die aufhorchend umherstanden.
„Nun gut,“ sagte er rasch; „bleiben Sie, Gräfin – ich werde Sie jedenfalls heute noch sprechen, wenn auch nicht sofort - ich muß mich für einige Augenblicke zurückziehen –“
„Euer Durchlaucht –“ warf der Minister mit halberstickter Stimme ein – er war unverkennbar bis zur Wuth gereizt.
Der Fürst schnitt ihm die Rede ab. „Lassen Sie, mein lieber Fleury; ich meine, wir dürfen die kleine, liebenswürdige Bittstellerin nicht zum Widerspruch reizen. … Und nun, viel Vergnügen!“ wandte er sich huldvoll an seine anderen Gäste. „Amüsiren Sie sich nach Herzenslust, bis es mir vergönnt sein wird, in Ihrem Kreise wieder zu erscheinen. … Hören Sie? meine Capelle intonirt bereits.“
[448] Er winkte mit scheinbarer Unbefangenheit dem Minister, ihm zu folgen, während er mit dem Portugiesen die Treppe hinaufstieg.
Aus den weitgeöffneten Flügelthüren der Säle fluthete es tageshell; eine rauschende Polonaise erstickte den ersten, fernrollenden Donner, und die Gestalten, die eben noch schweigsam und ängstlich verhüllt durch die Nacht geflohen waren, schritten und schwebten wieder plaudernd mit ungeschmälerter Eleganz und in fleckenlos bewahrtem glänzendem Costüm über das spiegelglatte Parquet.
Mittlerweile schritt Gisela nach dem Saal, der an die Schloßkirche stieß – das war gewissermaßen neutrales Gebiet, ein Raum, den Niemand beanspruchte. Ein Diener brachte auf ihr Geheiß mit sehr erstauntem Gesicht eine große Kugellampe, die sich in dem weiten, schauerlich stillen Saal zu einem Fünkchen verkleinerte.
Die Baronin Fleury und Frau von Herbeck begleiteten die junge Gräfin. Beide boten Alles auf, zu erfahren, aus welchem Grunde sie den Fürsten sprechen wolle. Sie war indeß wieder einmal „über die Gebühr dickköpfig“, wie die Gouvernante mit ingrimmig zusammengebissenen Zähnen innerlich bemerkte, und als sich endlich auch die schöne Excellenz überzeugte, daß „Nichts herauszubringen“ sei, und daß sich die störrige Stieftochter weder durch inständige Bitten, noch durch Drohungen bewegen ließ, dem Wunsch des Ministers zufolge nach Greinsfeld zurückzukehren, da verließ sie achselzuckend den Saal.
Frau von Herbeck kauerte sich, trotz der draußen herrschenden Hitze fröstelnd und tief aufseufzend, in einen der hochbeinigen Lehnstühle zusammen – Nachts war dieser geliebte, heilige Saal denn doch zu spukhaft. … Die junge Gräfin aber schritt ruhelos über das altersbraune, ächzende Getäfel des Fußbodens. …
Draußen, hinter den unverhüllten Bogenfenstern gähnte die schwarze, tiefe Finsterniß, von Zeit zu Zeit durchschnitten von einem grellen Blitz des in der That abziehenden Gewitters. Dann zitterte der gelbe Feuerschein über die nachtbedeckten Wände des Saales – die Gouvernante schloß stets entsetzt die Augen – es wollte lebendig werden unter diesen mächtig verkörperten Gestalten der Bibel; sie schwebten zürnend auf die Heuchlerin zu, die frech nach der ihr Haupt umzuckenden Glorie griff, um Handel mit ihr zu treiben, die ihre eigene unkeusche, lasterhafte Seele hinter der sogenannten Gemeinschaft mit ihnen verbarg, und die, um herrschen zu können, wozu sie ihr eigener kleiner, beschränkter Geist nicht berechtigte, das heilige Wort der Schrift zu einer Geißel machte, und mit ihr der unbequemen Wahrheit, dem tiefforschenden und im freien Aufflug denkenden Menschengeist plump in das Gesicht zu schlagen versuchte. …
Auch eine liebliche alttestamentliche Gestalt, das unschuldige Opfer heidnischer Begriffe, die schöne Tochter Jephtha’s, hob der feurige Finger des Blitzes aus dem Dunkel – sie schwebte dort im weißen Gewande, wie eine ängstlich aufflatternde Taube, und schaute mit ihren todestraurigen Augen auf die unruhig Wandernde hernieder, die, fiebernde Angst in den Zügen, unablässig den Saal durchmaß.
Gisela schritt auch wohl hinaus in den halbdunklen Gang, und blieb wartend und lauschend an dessen Mündung stehen. Hier führte eine Treppe in das obere Stockwerk, nach den Appartements der Stiefeltern – der Fürst war droben, er mußte auf seinem Rückweg nach dem Ballsaale hier wieder zurückkommen.
Serenissimus war in der That mit seinen zwei Begleitern hinaufgestiegen, um fern von Lauschern und dem störenden Geräusch des Ballsaales zu sein. Er trat in den Salon mit den violetten Plüschvorhängen und schloß die nach der langen Zimmerreihe führende Thür ab. Am Plafond des anstoßenden Seezimmers brannte eine kleine Flamme in der schwebenden, milchweißen Lotosblume – sie goß einen bleichen Mondenschein über den grünen Meereszauber, die weißen Glieder der Wassergötter und das dämonisch schöne Bild der Gräfin Völdern.
Wie nach einer athemlosen Flucht blieb der Fürst mitten im Zimmer stehen und zog das Document hastig aus der Tasche. Jetzt durfte er sich zeigen, wie er war – er war in der heftigsten, fast niegesehenen Aufregung. Er schlug das Blatt um und las mit gedämpfter Stimme: „Heinrich, Prinz zu A. – Hans von Zweiflingen, Major a. D. – Wolf von Eschebach –“
Blätter und Blüthen.
Michael Pöschel, der Weinkönig von Missouri. Unter den deutschen Auswanderern, welche es in den Vereinigten Staaten von Nordamerika zu einer glänzenden Stellung gebracht und durch Intelligenz und Betriebsamkeit vielen Landsleuten ein leuchtendes Beispiel zur Nacheiferung geworden sind, verdient Michael Pöschel in erster Linie genannt zu werden. Ihm verdanken die Bewohner von Missouri die Einführung einer rationellen Weincultur, und wenn die Alten den Gott, der die Rebe pflanzte, als einen der größten Wohlthäter der Menschheit feierten und in dem Traubensaft eine Gottesgabe erblickten, fähig und bestimmt, den Erdgeborenen die gemeine Noth des Daseins vergessen zu machen, so haben wir modernen Menschen wohl auch ein Recht, dem Pionier deutschen Weinbaus im fernen Westen ein Wort der Anerkennung zu gönnen.
Mit geringen Mitteln ausgerüstet war Michael Pöschel vor einigen zwanzig Jahren auf ein Stück Land verschlagen, dessen durstiger Boden nicht im Stande war ihn als Farmer zu ernähren. Von Sorgen um seine Zukunft gequält, kam er auf den Gedanken, Weinanpflanzungen zu versuchen, da die Lage und die Bodenbeschaffenheit seines Besitzthums ihm dazu einigen Erfolg versprachen. Mit vielen schweren Opfern mußten die ersten Pflänzlinge bezogen werden, und harte Arbeit, Mühe und Schweiß, erforderte es, um es nach drei Jahren endlich zu einer einigermaßen lohnenden Ernte zu bringen. Sie brachte für achthundert Dollars Wein und ermuthigte zu einer von Jahr zu Jahr sich mehrenden Ausdehnung der Pflanzungen und der Kelterei. Gegenwärtig zieht Pöschel alljährlich 70–80,000 Gallonen Wein aus seinen Culturen und zwar einen Wein von vorzüglicher Qualität und feiner Würze, für welchen er sogar in Europa einen Markt gefunden hat. Seinem Beispiel, seiner uneigennützigen Unterstützung mit Rath und That verdankt eine große Anzahl deutscher Einwanderer, die sich vorzugsweise in dem Städtchen Hermann (das in den letzten Jahren gegen 300,000 Gallonen Wein producirte) als Weinbauer niedergelassen haben, Glück und Wohlstand, und wer den jetzt sechszigjährigen Mann noch in altgewohnter Weise mit seinen Arbeitern um die Wette rüstig den Weinberg bestellen sieht, wird sich sagen, daß Pöschel zu den wenigen Auserwählten zählt, die mit ihrem Pfunde zu wuchern wissen nicht nur zum eigenen, sondern zu vieler Tausende Heil und Segen.
Der eingeseifte Handwerksbursche. (Unsere Illustration S. 445.) Da steht sie, die überraschte Eitelkeit in der geflickten Hose, und wird aus Verlegenheit witzig. Denn um’s Herz ist’s ihm durchaus nicht so ungenirt, wie’s die flinke Schneiderzunge den erschrockenen Landnymphen vorheuchelt. Wie würde er Brust und Nase gehoben haben, hätte er den Schönen auf dem Waldpfad als feiner und glattgesichtiger, gewaschener und gebürsteter Mensch in den Weg treten können! Denn auf Eroberungen in annectirlichen Gebieten war offenbar sein Sinn in dem Augenblick gestellt, wo er auf dem Kirchthurm da drunten die unzweideutige Festfahne sah. Ob Vogelschießen oder Kirchweih, Sänger- oder Turnerfest, einerlei, es ist etwas los, und da fällt etwas ab – nach dem alten Weltgetriebe – für den Hunger oder die Liebe. – Und daß es weiter keinen Zweck hat, das macht uns den Anblick des Bildchens zu einem in seiner Harmlosigkeit so wohlthuenden. Mög’ es mit diesem Gefühl recht Viele erfreuen!
Kleiner Briefkasten.
K. L. in M. Von den bis jetzt in die Oeffentlichkeit gekommenen Abbildungen des Berliner Aquariums können wir Ihnen nur die in der Weber’schen Illustrirten Zeitung erschienenen empfehlen. Sie zeichnen sich ebensowohl durch geschickte Aufnahme wie durch vortreffliche xylographische Ausführung vor allen übrigen aus. Wie wir hören, haben wir zunächst noch ein größeres Bild: „das Innere der Bassins mit ihren Bewohnern“ zu erwarten.
B. in Wesel. Nicht angenommen und das Manuskript vernichtet.
Ein Verehrer der czechischen Bomben. Die czechische Uebersetzung der „Alten Mamsell“ von Marlitt ist allerdings eine berechtigte.
Inhalt: Verlassen und Verloren. Historische Erzählung aus dem Spessart. Von Levin Schückling. (Fortsetzung.) – Der Löwe von Halle. Mit Portrait. – Miramare. Gedicht von Franz Boppe. – Aus der Karlsbader Curliste. Von Franz Wallner. – Deutschlands große Industriewerkstätten. 8. „Was verdrängt hat die Engländer von de Continente.“ – Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Blätter und Blüthen: Michael Pöschel, der Weinkönig von Missouri. – Der eingeseifte Handwerksbursche. Mit Abbildung. – Bock’s Briefkasten. – Kleiner Briefkasten.
- ↑ Vorlage: W. Ingemey
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: … zu der römisch-kaiserlichen Armada stoßen lassen, …