Die Gartenlaube (1869)/Heft 29
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No. 29. | 1869. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen.
Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
„Und hier,“ fuhr Wilderich, Striche machend, fort, „ist der Main, und hier – hier ist der Spessart –“ er begann einen länglichen Bogen an der Nordseite der Linie, die den Main darstellte, zu zeichnen, als Leopold, der sich gespannt an den Tisch gedrängt hatte, ihm die Kreide aus den Fingern nahm und ausrief:
„Laß mich den Spessart machen, laß mich, Bruder Wilderich!“
„Nur zu, mein Junge, mach’ Du den Spessart,“ erwiderte Wilderich, ihm lächelnd die Hand auf den lockigen Kopf legend, „aber mach’s hübsch und deutlich, sonst wird Muhme Margareth aus der Sache nicht klug. Gieb Acht, Muhme: sieh, hier unten vom Rhein, von Düsseldorf und Köln her, ist uns die Sambre- und Maas-Armee, befehligt vom Obergeneral Jourdan, und stark etwa achtundsiebenzigtausend Mann, in’s Reich eingebrochen, um über die Lahn und hier den Main und so weiter durch Franken und Oberpfalz auf Wien zu ziehen.
Hier, vom Oberrhein von Straßburg her, ist der französische Obergeneral Moreau mit der Rhein- und Mosel-Armee, achtzigtausend Mann stark, in Schwaben eingefallen, um in gerader Richtung ostwärts weiter auf Wien zu marschiren.
Drüben aber, jenseits der Alpen, da dringt die Alpen-Armee, unter Bonaparte, etwa vierzigtausend Mann stark, wider die Kaiserlichen vor und hat des Kaisers General, Wurmser, bereits zurück und in’s Tirol hineingeworfen, um durch die Alpenthäler von Süden her auf Wien zu rücken.
Du siehst also, Margareth, daß es diesmal darauf angelegt ist, das alte Reich ganz und gar unter die Füße zu bringen und die römisch-kaiserliche Majestät in Wien einzufangen wie einen armen Vogel auf dem Nest.“
Margarethe nickte.
„Ja, ja, das begreift sich schon!“ sagte sie.
„Aber der Mensch denkt und Gott lenkt!“ fuhr Wilderich fort, „und diesmal hilft ihm zu unserem Glück bei dem Lenken ein blutjunger Mensch, mit dem wir ein wenig besser vom Fleck kommen, als wenn der liebe Gott, wie in den vorigen Zeitläuften, sich mit den alten Graubärten von Feldmarschällen und Feldzeugmeistern zusammenthut … wo’s selten viel Gescheidtes gegeben hat. Der junge Mensch ist der Prinz Karl; der hat sich mit des Kaisers und des Reichs Armee zuerst dort unten in den Lahngegenden dem Heere Jourdan’s entgegengestellt und es bei Wetzlar gründlich zusammengeschlagen … Die Sambre- und Maas-Armee hat sich eilig auf den Rückzug begeben müssen.
Drauf ist der Erzherzog Karl nach Ober-Deutschland geeilt, um dem Moreau die Stirn zu bieten. Das hat da ein langes Raufen gegeben, der Erzherzog hat erleben müssen, daß ihn die Truppen aus Sachsen im Stich gelassen haben und heimgegangen sind; die Truppen des schwäbischen Kreises, der auf eigene Faust Frieden mit den Franzosen geschlossen, hat er gar entwaffnen lassen müssen … und so hat er sich zurückziehen müssen bis in’s Donauthal.
Hier aber hat er sich plötzlich gewendet; denn während er so im Schwarzwald und in Schwaben sich mit Moreau herumgeschlagen, ist da unten die Sambre- und Maas-Armee wieder vorgerückt, hat den Feldzeugmeister Wartensleben, der ihr gegenüber aufgestellt geblieben, zurückgeworfen, hat Frankfurt bombardirt, Würzburg genommen und die Österreicher bis nach Amberg geworfen. Das hast Du gehört, wir haben sie auf ihrem siegreichen Marsch ja auch hier gehabt, die Franzosen …“
„Ja, ja,“ unterbrach ihn Margarethe, „nur weiter, Herr Wilderich!“
„Der Erzherzog also hat sich von Moreau abgewendet, hat ein starkes Corps wie einen Schirm vor ihm aufgestellt, damit er nicht sehe, was dahinter geschehe, und ist rasch von der Donau in die Oberpfalz gerückt, hat sich mit Wartensleben vereinigt, die Franzosen bei Teining und Neumarkt überfallen, bei Amberg geschlagen – und die Sambre- und Maas- Armee ist auf dem Rückzuge; sie wird noch einmal Widerstand leisten, so glaubt man; dann aber wird sie in unsere Thäler hier, in den Spessart, den der Leopold da so schon hingezeichnet hat, als ob’s eine Katze wäre, die einen Buckel macht, geworfen werden … und dann eben wollen wir dem lieben Gott, der die Deutschen nicht verläßt, und unsrem jungen Kriegshelden aus Leibeskräften helfen … wir Mannen im Spessart hier! – Nun weißt Du Alles, Margareth!“
„Ihr wollt ihm helfen,“ rief Margarethe aus, „ihr wollt auch Soldaten spielen und …“
„Soldaten spielen, nein; wir wollen nur zeigen, daß die deutschen Bauern, dies Volk halbverhungerter und von ihren Herren zu Grunde regierter Leibeigener, sich noch nicht von den Fremden mit Füßen treten lassen … wir wollen ihnen beweisen, daß deutsche Fäuste immer noch eine Schmach zu rächen wissen …“
„Aber der liebe Heiland und die Mutter Gottes von Rengersbrunn stehen mir bei, das giebt ja nur noch mehr Blutvergießen und Elend …“
[450] „Ein wenig Blutvergießen schon … ohne das wird’s freilich nicht abgehn …“
Muhme Margarethe war zu entsetzt, um ihn ausreden zu lassen.
„Und wenn sie Euch dabei todtschießen, Herr Wilderich – Euch … ich bitt’ Euch, was soll dann werden … ich bitt’ Euch darum … was soll dann aus mir und was aus dem Jungen da werden?“
„Darüber eben wollt’ ich mit Dir reden, Margareth. Hör’ zu. Für den Fall, daß mir etwas Menschliches begegnet, hab’ ich ein Papier in die oberste Lade meiner Kommode gelegt. Darauf steht geschrieben, daß der Leopold mein Erbe ist und daß Du für ihn sorgen sollst, bis er zu einem Förster gethan werden kann, um ein fermer Waidmann zu werden, wie ich bin. Ich habe nicht viel zu vermachen, aber ich denk’, bis dahin wird’s schon reichen. Du mußt eben damit auskommen!“
„Heilige Mutter Gottes von Rengersbrunn!“ ächzte Margarethe, die Hände faltend … „und steht denn in dem Papier auch, was es auf sich hat mit dem Jungen, wessen Kind …“
Wilderich nahm den kleinen Leopold bei der Hand und führte ihn vor das Haus.
„Komm’, Brüderlein, da setze Dich auf die Treppe,“ sagte er, „gieb hübsch Obacht, mein Kind, ob Du den Sepp nicht kommen siehst … und dann sag’ mir’s gleich – willst Du?“
Der Kleine nickte und nahm gehorsam den ihm angewiesenen Platz ein. Wilderich kehrte in die Küchenhalle zurück, und sich in seinen Stuhl am Heerde niederlassend, sprach er zu der alten Muhme, deren weit aufgerissene Augen ihn nicht mehr verlassen hatten, weiter.
„Das Nöthigste davon,“ sagte er, „steht in dem Papier. Aber da es mit dem Lesen ein wenig bei Dir hapert, Margareth, will ich Dir, damit Du Alles weißt, erzählen, wie es zugegangen, daß ich der Pflegevater meines guten Jungen geworden … wenn er dann zu seinen Jahren gekommen, kannst Du’s ihm mittheilen … es ist dann an ihm, ob er Schritte thun will, nach dem Seinigen zu forschen! Ich hoffe, der Sepp läßt uns Zeit, daß ich Dir die ganze wunderliche Geschichte haarklein berichten kann.
Sieh’, ehe ich meine Stelle in diesem Revier antrat, war ich Forstbeamter in der Nähe von Zweibrücken, Adjunct meines Vaters … durch unser Revier zog sich die große Heerstraße von Mainz nach Paris. Es war im vorigen Herbst; in einer mondhellen, warmen Nacht hatte ich Wildschützen nachgespürt und kam sehr spät – es mochte fast Mitternacht sein – auf jene Heerstraße, um sie eine Strecke weit zu verfolgen und dann rechts ab zu biegen und auf einem kurzen Waldwege zu unserem Forsthause zu gelangen. Unfern der Stelle, wo dieser Waldweg sich abzweigte, sah ich von fern schon eine Kalesche halten … ein Mann schritt neben derselben auf und nieder … als ich näher kam, nahm ich wahr, daß vor diese Kalesche nur ein Pferd gespannt war, und dieses Pferd lag regungslos am Boden. Der Fremde, der, in einem Mantelkragen sich gegen die Nachtluft schützend, auf der Heerstraße auf und ab ging, blieb, als ich ihn erreicht hatte, stehen und redete mich in französischer Sprache an – er fragte, ob ich wisse, wie spät es sei und wie weit bis Pirmasens. Ich gab ihm Auskunft – er fuhr fort:
‚Ich bin in großer Verlegenheit, ich bin auf der Reise, wie Sie sehen, von Mainz und weiter her, will nach Paris – in Zweibrücken gab man mir für meine Postchaise zwei ganz elende abgetriebene Pferde – vor ein paar Stunden ist mir das eine gestürzt und nicht wieder aufzubringen gewesen, das andere hat der Postillon abgespannt und ist darauf heimgeritten, um, wie er sagte, frische Pferde von der Station zu holen; aber der niederträchtige Mensch kommt und kommt nicht zurück, er läßt mich hier allein die Nacht zubringen, es ist zum Verzweifeln …‘
‚Allerdings,‘ versetzte ich, ‚wenn Sie auf diesen Postillon warten, so ist sehr wahrscheinlich, daß Sie die Nacht hier zubringen müssen. Er wird sich in Zweibrücken auf’s Ohr gelegt haben und schwerlich vor Morgen erscheinen und dann sich damit entschuldigen, daß keine frischen Pferde vorhanden gewesen. Man kennt das, und …‘
‚Es ist empörend, man sollte das Gesindel hängen!‘ rief der Franzose aus; ‚hätte ich nur nicht den kleinen Burschen da bei mir,‘ – er deutete auf die Kalesche – ‚so würde ich nicht warten, sondern zu Fuße nach Pirmasens gehen, da Sie sagen, daß es kaum eine Meile entfernt ist!‘
‚Welchen Burschen?‘ fragte ich.
‚Das Kind dort im Wagen.‘
Ich bemerkte jetzt erst ein im Hintergrunde des Wagens geborgenes und in Decken und Tücher gehülltes Etwas, das, wenn es ein Kind war, sehr ruhig da zu schlafen schien.
‚Ich möchte Ihnen gern helfen,‘ sagte ich, ‚und vielleicht kann ich es. Meine Wohnung liegt nicht weiter als zwanzig Minuten von hier – dort drüben im Walde, das Haus des Forstmeisters Buchrodt. Ich will den Knaben dahin mitnehmen und ihn für die Nacht so unterbringen; Sie können dann vorauf nach der nächsten Station gehen und von dort Postpferde senden, um Ihre Kalesche zu holen, und den Postillon beauftragen, zuerst bei unserm Hause vorzufahren, Ihren Knaben abzuholen.‘
Der Fremde schien sich eine Weile zu besinnen.
‚Wie Sie wollen,‘ fuhr ich deshalb fort; ‚vielleicht ziehen Sie vor, mich erst nach meinem Hause zu begleiten und sich selbst zu überzeugen, daß das Kind wohl untergebracht wird. Ich würde Sie selbst einladen, die Nacht bei uns zuzubringen, wenn nicht die späte Störung meinen sehr alten kränklichen Vater …‘
‚O nein, nein,‘ fiel der Fremde ein, dem ich den wahren Grund, meines Vaters Abneigung gegen Alles, was Franzose war, lieber verschwieg, ‚nein, nein, ich vertraue Ihnen das Kind gern an, machen wir es so, es ist das Beste, und ich bin Ihnen sehr dankbar! – Aber,‘ fuhr er fort, ‚Sie machen sich eine große Last, mein Herr, mit Ihrem Edelmuth, Sie müssen das Kind tragen, es ist erst dritthalb Jahr alt.‘
‚Nun,‘ versetzte ich lachend, ‚man muß die Folgen seines Edelmuths gelassen hinnehmen, sonst wäre kein Verdienst dabei; geben Sie ihn nur her, ich habe manches Reh auf den Schultern nach Hause getragen, und das ist schwerer.‘
Der Franzose hatte den Kleinen aus dem Wagen gehoben und mir übergeben; er nahm vom Vordersitz auch noch ein Bündel, das er mir übergab.
‚Hier ist sein Nachtzeug,‘ sagte er dabei, ‚bitte, nehmen Sie es auch; der Kleine – er heißt Leopold – ist daran gewöhnt …‘
Ich schob das Bündel über den Lauf meiner Büchse und nahm den Knaben auf den Arm. Der Fremde aber nahm ein Pistol aus der Seitentasche seines Wagens, steckte es in die Brusttasche, reichte mir die Hand, sagte mir tausend Dank für meine Gefälligkeit und ging dann eilig in der Richtung nach der nächsten Station davon.
Ich machte mich mit meiner Last auf den Weg heimwärts … weckte, als ich zu Hause war, die Haushälterin, und ließ sie für das Kind, einen hübschen und sehr wohlgekleideten Knaben, Sorge tragen – ich war zu ermüdet, um nicht für mich selbst vor allen Dingen die Ruhe zu suchen. Am andern Morgen berichtete mir, als ich ziemlich spät mein Schlafzimmer verlassen, die Haushälterin, der Knabe liege noch in seinen Federn – noch sei die Kalesche nicht gekommen, ihn abzuholen. Das war seltsam – und räthselhaft wurde es, daß sie auch in der folgenden Stunde, daß sie im ganzen Laufe des Vormittags nicht erschien. Schon vor Mittag machte ich mich auf den Weg nach der Heerstraße – der Wagen war verschwunden … das gefallene Pferd lag mit abgezogenem Geschirr im Weggraben. Es blieb mir nichts übrig, als meinen Weg bis nach der nächsten Station fortzusetzen, um Erkundigungen einzuziehn; als ich am Nachmittage in Pirmasens ankam, hörte ich im Posthause, daß allerdings ein französischer Herr in der Nacht zu Fuße angekommen, daß er Pferde absenden lassen, seinen auf der Heerstraße stehenden Wagen zu holen, daß dieser zwischen zwei und drei Uhr angekommen, und daß der Fremde darin sofort weiter gefahren, in der Richtung nach der französischen Grenze zu … von einem Kinde war keine Rede gewesen!
Ich war natürlich in hohem Grade empört über den ruchlosen Menschen, der meine Güte so schmählich mißbraucht hatte, ich stellte alle möglichen Nachforschungen an, ich erkundigte mich in Zweibrücken so gut wie in Pirmasens nach dem Fremden, aber weder die Postmeister noch die Postillone wußten über ihn etwas zu sagen – er war ein noch ziemlich junger, sorgfältig gekleideter Mann mit vornehmen Manieren, ziemlich laut und herrisch in seinem Auftreten und nicht karg mit den Trinkgeldern gewesen – das war Alles, was ich erfuhr; seinen Namen hatte er in Zweibrücken angegeben, aber der Postmeister hatte ihn vergessen, er [451] wußte nur noch, daß es ein Doppelname gewesen, und er habe wie ‚Bataille‘ geklungen; in Pirmasens hatte man ihn gar nicht darnach gefragt.
„Da blieb denn,“ fuhr Wilderich zu erzählen fort, „für mich weiter nichts zu thun übrig, als mich in mein Loos zu finden und den mir bescheerten Kleinen als mein Pflegekind anzunehmen, für das ich von dem Augenblicke an, wo es das Schicksal in meine Arme gelegt, verantwortlich war; und das war mir nach wenig Tagen keine Aufgabe mehr, sondern nur noch eine Freude. Der kleine Bursche war gar zu hübsch, zu artig, zu zuthunlich, und wenn ich ihn auf den Arm nahm und dachte, wie verlassen er sei und nur mich auf der weiten Gotteswelt als Vater, Mutter und Geschwister habe, so überkam mich eine Rührung und so … nun, was brauch’ ich weiter davon zu reden? Du weißt, wie lieb ich ihn habe …“
„Gewiß, gewiß, wer sollte es nicht sehen,“ fiel Muhme Margareth ganz gerührt ein; „Ihr seid ein braver Mensch, Herr Wilderich – und der Leopold, wenn man auch seine Last mit dem Unrast hat … aber habt Ihr denn gar nichts weiter von dem verfluchten Franzosen, der Euch den Streich spielte, gehört?“
„O doch, schon nach acht Tagen. Es kam ein Brief von ihm an, von Paris aus geschrieben.“
„Ach, er schrieb Euch? Und was stand in dem Briefe?“
„Redensarten – recht höfliche übrigens; ‚ich bitte Sie um Verzeihung, mein Herr,‘ so lautete es ungefähr, ‚wenn mein Mitleid mit dem armen Kinde, das ich Ihnen zurückließ, mich verführte, so grenzenlos Ihre Güte zu mißbrauchen. Das Kind ist nicht meines, es ist mir übergeben worden, aber es ist unendlich viel besser aufgehoben unter Ihrem friedlichen und stillen Dache, in der Pflege einer ruhigen Häuslichkeit, als bei mir, einem jungen Manne, der eine solche Häuslichkeit nicht besitzt und ein bewegtes Leben bald in der Hauptstadt, bald auf Reisen führt. Seien Sie sicher, daß man Ihnen die Last abnehmen wird, sobald es die Umstände erlauben, mit jeder Entschädigung, welche Sie bestimmen werden – und bis dahin erlauben Sie mir, mein Herr, mich zu nennen Ihren u. s. w.
G. de B.‘“„G. de B., was heißt das?“
„Ja, was heißt es? Ich weiß es nicht,“ versetzte Wilderich.
„Solch’ ein frecher Franzose!“ sagte Muhme Margareth.
„Im Grunde hatte er Recht!“ bemerkte Wilderich gutmüthig, … „ich denke, das Kind ist besser bei uns aufgehoben, als es bei ihm gewesen wäre – und das ist die Hauptsache doch!“
Muhme Margareth widersprach nicht. Sie blickte nachdenklich in’s Feuer … eine lange Pause hindurch.
„Ach Gott … es ist wohl so!“ sagte sie dann, ihre Haube über den Kopf ziehend … und setzte mit einem Seufzer hinzu: „Wir sind Alle Sünder!“
„Weshalb?“ fragte Wilderich. „Wir thun, was wir können.“
„Aber wir versündigen uns oft in Gedanken …“
„Die schaden Niemand!“
„Aber die Worte …“
„Du meinst, weil Du zuweilen …“
Muhme Margareth nickte heftig mit dem Kopfe und zog die Haube noch weiter in die Stirn …
„Na,“ lachte Wilderich, „laß es gut sein, ich hab’ Dir’s weiter nicht übel genommen; und …“
Er wurde unterbrochen durch den kleinen Leopold, der mit dem Rufe: „der Sepp, der Sepp!“ in die Küche gelaufen kam.
Wilderich sprang auf und ging dem Angekündigten hastig entgegen. Draußen sah er, daß der Forstläufer sehr eilig die Schlucht heraufkam und im Vorübergehen an der Mühle dem Gevatter Wölfle, der eben mit seinem runden Gesichte ein Guckfensterchen in der weißgepuderten Bretterwand seines alten Bauwerks füllte, mit der Hand winkte.
„Die Leute ziehen sich zu Hauf, Förster Buchrodt,“ schrie der Sepp ihm dann entgegen, „bei Rohrbrunn ziehen sie zu Hauf … der Tanz kann anfangen; der Erzherzog hat sie bei Würzburg gestellt und schwarzgelb ist Trumpf geblieben; der Philipp Witt läßt Euch sagen, Ihr sollt hier nach dem Rechten sehn, denn er selbst kann nicht dabei sein hier …“
„Er kann nicht dabei sein? Und weshalb nicht?“ sagte Wilderich.
„Weil er anderswo sein muß. … Die Hauptmasse der Franzosen wälzt sich nordwärts, auf Hammelburg und Brückenau zu; die hat der Witt sich auf’s Korn genommen, in den Wäldern zwischen Hammelburg und Schlüchtern hat er dreitausend Bauern stehen und da will er selbst dabei sein.“ …
„Zum Teufel, und wir hier …“
„Wir hier haben auch keinen schlechten Stand … ein gut Theil strömt über Lengfurt und Heidenfeld in den Spessart herein, der Straße da unten nach … es wird immer lebendiger da … also kommt und vergeßt Euer Pulver nicht … Gevatter Wölfle,“ rief der Sepp dem herankommenden Müller entgegen, „geht und holt Eure Büchse. … Die Jagd kann losgehn – vorwärts, vorwärts, schwarzgelb ist Trumpf, und die Vivelanations soll heut bis auf den Letzten der Teufel holen!“
Der Sepp eilte fort, die Schlucht wieder hinab, und nach wenigen Minuten folgten ihm hastig Wilderich und der Müller, Beide im grünen Jagdkittel, mit ihren Büchsen, und die schweren Waidtaschen über der Achsel.
Margarethe betete ein Ave nach dem andern zur Spessartheiligen, der Mutter Gottes von Rengersbrunn, als sie auf der Schwelle des Forsthauses stehend ihrem Herrn nachblickte, wie er so eifrig davon und der Gefahr entgegeneilte. –
Es war am Mittag dieses Tages; der gestrenge Lieutenant hatte eben die Eßglocke für das Gesinde läuten lassen, aber die zwei Knechte, die unter seinem Befehle standen, waren nicht gekommen; nur Frau Afra, die Beschließerin, und ein Paar erschrockene Mägde drängten sich jetzt um ihn – die Mägde wollten gehört haben, daß man es in südöstlicher Richtung brennen sehe, über Heidenfeld hinaus – einer der Knechte, der am Vormittag oben auf der nächsten hohen Bergkuppe war, sollte es gesehen haben.
„Und wo ist der Caspar, der Schlingel?“ rief der Schösser aus, „weßhalb kommen die Bursche nicht –“
„Sie sind davongelaufen, ihre Büchsen zu holen, die sie im Walde versteckt hatten … die verwegenen Mannen,“ rief Frau Afra.
„Der Tod stand darauf!“ fiel eine der Mägde ein – „die Franzosen hatten den Tod darauf gesetzt, wenn Einer ein Feuergewehr habe … und doch hatte der Caspar wie der Jobst eine Büchse, Gott weiß woher … damit sind sie fortgelaufen, es gehe los, sagten sie, der Förster Buchrodt führe sie an …“
„Und man hört schon die Kanonenschläge … der Botenfritz, der von Lindenfurth kam, hat sie selber gehört,“ rief eine andre aus …
„Und ich sag’ Euch, der Botenfritz ist ein Lügner!“ schrie im zornigsten Discant der gestrenge Schösser von der Höhe seines strack aufgerichteten Kopfes auf die erschrockene Gruppe hinab – „wenn da irgendwo eine Hütte brennt, so brennt eine Hütte – was soll’s? Und Kanonenschläge? Dummheit! Es müßt’ denn sein, die Franzosen schössen Victoria von der Marienburg herab, daß man’s bis hier hören könnte! Sonst nicht! Ich sag’ Euch, die stehen heut’ näher bei Wien als bei uns! Werden sich haben zurückwerfen lassen, daß man’s in Goschenwald hören könnte, wie sie sich mit den Kaiserlichen herumschießen. … Dummheit noch einmal … könnt Gift darauf nehmen, Ihr Weibsbilder, geht zum Essen! Aber wer kommt denn da? Ich glaub’ der Herr Förster ist’s – macht sich seit einiger Zeit nicht just rar, der Herr Förster Buchrodt!“
In der That war es Wilderich, der rasch, erregt und mit geröthetem Gesicht durch das Thorhaus schritt.
„Ich möchte die fremde junge Dame sprechen!“ rief er schon von Weitem.
„Dacht’s mir!“ antwortete der Schösser trocken. „Kann ich’s nicht bestellen?“
„Nein, es ist nicht für Euch, sondern für sie, was ich ihr mitzutheilen habe.“
„Doch nicht, daß es in der Ferne brennt und daß man Kanonenschläge hört?“ sagte der Schösser ironisch … „das wissen meine Mägde allbereits!“
„Es hängt ein wenig damit zusammen,“ erwiderte Wilderich; „ich bitte, zeigt mir den Weg, ich habe Eile.“ …
„Die Demoiselle kommt just,“ rief Frau Afra aus, auf das Portal des Hauses deutend, aus dem die Demoiselle Benedicte in diesem Augenblick hervortrat.
[452] Wilderich wandte sich rasch ihr zu; er reichte ihr ohne Weiteres wie einer alten Bekannten die Hand und sie abseits führend, so daß seine Worte von den Uebrigen nicht verstanden werden konnten, sagte er: „Demoiselle, ich komme mit einer Nachricht, die nicht gar erfreulicher Art für die Bewohner von Haus Goschenwald ist. Meine Leute da unten haben eine Art von Kriegsrath gehalten, ich komme eben daher; es ist beschlossen worden, eine Strecke weit unterhalb der Mündung meiner Thalschlucht auf der Heerstraße einen Verhau anzulegen und da einen Hauptangriff zu machen; die Folge ist, daß sich das Franzosenvolk davor in Masse aufstauen wird, daß sie Seitenwege, den Verhau zu umgehen, suchen werden, daß sie also die Schlucht empordringen werden und dann sich in dies Thal ergießen. Ich fürchte deshalb sehr, daß sie Goschenwald nicht unberührt lassen werden. Ich werde es von einem Theil meiner Leute besetzen lassen … aber Sie, mein Gott, welcher Schrecken, welche Gefahren für Sie … ich möchte Alles drum geben, Sie dem entziehen zu können, – wollen Sie ein andres Asyl aufsuchen – ich bin bereit, alles Andre bei Seite zu setzen, um Sie zu einem solchen zu führen.“ …
„Ich habe Ihnen gesagt,“ versetzte das junge Mädchen erschrocken über diese Mittheilung, „daß ich kein andres Asyl auf Erden habe, als dieses … und hätte ich eines, so … Sie begreifen …“
Benedicte wandte den Blick leicht erröthend zu Boden und vollendete nicht.
„Ich begreife, ich begreife,“ fiel Wilderich tief aufathmend ein – „gewiß, Sie würden nicht glauben, daß Sie sich von mir dürften dahin führen lassen … o mein Gott, ich begreife Alles, auch wie aufdringlich Ihnen meine Sorge um Sie vorkommen muß, wie unschicklich, wie unzart vielleicht – aber in Stunden der furchtbarsten Erregung, wie sie dieser Tag uns bringt, vergißt man die Rücksichten und das fieberbaft schlagende Herz sprengt die Fesseln der kühlen, von der Sitte gebotenen Zurückhaltung, die es in ruhigerer Zeit vielleicht lange ertragen hätte. Ihre Ruhe, Ihre Sicherheit ist mir nun einmal, seit ich Sie gesehen, der Angelpunkt meiner Gedanken gewesen; alles Andere ist für mich dahinter zurückgetreten; der Gedanke an Sie, an das, was Sie mir gesagt, an Ihr Loos, von dem Sie mit dem Tone einer Klage, die mein Herz bluten machte, gesprochen – der Gedanke daran verläßt mich nicht, er hat mich umgewandelt, er hat mich zu einem anderen, all’ seinem früheren Wesen und Leben, allen seinen früheren Interessen entfremdeten Menschen gemacht! – Ihr Schicksal und … meines – nur über das Eine noch kann ich sinnen und denken und grübeln … Ihr Schicksal und meines, sie stehen vor mir so verschwistert, so ähnlich, so aufeinander hingewiesen, so vom Himmel zusammengeführt, um sich zu verketten … o mein Gott, was sage, was gestehe ich Ihnen da Alles! welche Thorheit, so mein innerstes Herz Ihnen zu enthüllen und Sie zu erzürnen, zu empören, mir vielleicht auf ewig zu entfremden – um des Himmels Willen, Benedicte, vergeben Sie es mir – ich kann in dieser Stunde, wo die Erregung, die Leidenschaft, der Gedanke an den blutigen Kampf, der beginnen soll, in mir stürmen wie ein Meer mit seinen Wogen, ich kann nicht anders reden – ich will ja auch keine Antwort, keine, keine – nein, nicht jetzt – lassen Sie mir nur, ich flehe Sie darum an, die Gelegenheit, Ihnen zu zeigen, was ich bereit bin für Sie zu thun – und wäre es für Sie zu sterben!“
Benedicte stand vor ihm wie ein wachsbleiches Bild bei diesen leidenschaftlich hervorgesprudelten Worten … sie öffnete ein paar Mal die Lippen, wie um ihn zu unterbrechen, aber wie hätten ihre leisen Worte dem stürmischen Redestrom des aufgeregten Mannes Einhalt thun können – sie vermochten nichts dawider, sie mußte ihn enden lassen und dann schien es, als ob sie selber den Muth verloren, noch eine Silbe zu sprechen. Sie hob nur beide Arme, wie um angstvoll etwas furchtbar Erschreckendes, das vor ihr plötzlich aus dem Boden aufgestiegen wäre, abzuwehren.…
Er ergriff diese beiden Hände, die sich vor ihm erhoben, und drückte sie stürmisch an seine Brust.
„So ist’s recht,“ rief er heftig aus, „sagen Sie mir nichts, kein Wort, keine Silbe – ein Wort, das mich glücklicher machte, als je ein Mensch gewesen, können Sie mir nicht sagen, noch ist es unmöglich – und eines, das mich unselig machte, das mich in den Tod treiben würde – ich will, ich mag es nicht hören, es wäre zu entsetzlich, zu furchtbar, wenn ich es anhören müßte … jetzt … heute!“
„Und doch, doch – Sie müssen es anhören!“ rief Benedicte wie all’ ihren Muth zusammenraffend mit halb von ihrer Bewegung erstickter Stimme – „unglücklicher Mensch – der so an sich, an seinem Leben, seinem Glück, seiner Ehre frevelt … wie ist es möglich … wie können Sie in der ersten Stunde sich fortwerfen an die Fremde, die Flüchtige, die Verbannte – an eine Verlorene –“
„Was ist es mir, ob Sie fremd, flüchtig, verbannt und verloren sind! Sie sind mir tausend Mal theurer, liebenswerther, kostbarer, höher darum –“
„Halten Sie ein, Sie wissen nicht, was Sie sagen – wenn ich nun fremd, flüchtig und verbannt wäre um der eigenen Schuld willen, weil ich verdiente ausgestoßen zu werden von den Meinen, weil ich eine Verbrecherin bin …“
„Sie … Sie … Sie eine Verbrecherin?! Und das sollte ich glauben?“ Wilderich zwang sich aufzulachen.
Sie faltete wie in tiefstem Schmerz ihre Hände zusammen, und ein Strom von Thränen schoß ihre Wangen nieder.
„Mein Gott, mein Gott, was ist Ihnen … was kann die arge Welt Ihnen zugefügt haben, welche Bosheit, welche teuflischen Schlingen können Sie umgarnt haben, daß Sie sich so anklagen, daß Ihr Schicksal Ihnen diese Thränen erpreßt, diese Perlen, von denen ich jede einzeln wie einen Himmelsthau trinken möchte – o mein Gott, die Welt ist böse, ist teuflisch … o sprechen Sie, jetzt, jetzt will ich, daß Sie sprechen, daß Sie dies Räthsel erklären – was verführt Sie, sich anzuklagen, sich eine Schuldige, eine Verbrecherin zu nennen?“
„Soll ich Ihnen noch mehr gestehen? Ist es nicht genug, Ihnen zu zeigen, wohin Sie sich verirrt haben? Nein, gehen Sie, gehen Sie, um nie wieder ein solches Elend über mich zu bringen, wie es Ihre Worte von eben thaten.“
„Ein Elend … ich, ich bringe ein Elend über Sie? Welch’ ein Wort das ist … ein Elend!“
„Nun ja, ist es das nicht, gezwungen zu sein, so reden zu müssen, solche Geständnisse machen zu müssen, wie Sie sie mir abzwingen?“
„Und,“ fiel Wilderich erschüttert ein, „ist es für mich kein Elend, so nur räthselhafte unverständliche Selbstanklagen zur Antwort zur erhalten, wo mein ganzes Herz mit all’ seiner Fülle sich Ihnen offen legt … während ich doch weiß, während ich doch jeden Augenblick diese Hand emporstrecken will zum Schwure, daß Sie nichts Unwürdiges, nichts Schlechtes, daß Sie nichts, nichts gethan haben können, um das Schicksal zu verdienen, welches Sie verfolgt …“
Vor wenigen Tagen bin ich von einer größeren Gartenbau-Ausstellung heimgekehrt, einem jener Siegesfeste, auf denen man sich der Beute freut, die man der Natur abgerungen hat, dem reichen, mildthätigen Mutterherzen, das aber die besten seiner Gaben als Preis des Kampfes mit tausendfachen Schwierigkeiten setzt, die sie selbst in der Weisheit ihrer Liebe geordnet hat. Noch sehe ich im Geiste Alles, was die Pflanzenwelt aller Zonen Liebliches, Groteskes, Imposantes aufzuweisen hat, Alles fand ich dort in schöner, befriedigender Harmonie zu einem großartigen Naturbilde vereinigt.
Ein anderes Bild – von mehr industrieller Färbung – rollt sich vor uns aus, wenn wir eine Special-Ausstellung besuchen, bestimmt, den Fortschritt in der Cultur-Entwickelung einzelner Pflanzenarten darzulegen, eine Obst-Ausstellung in Deutschland, eine Fuchsien- oder Pelargonienschau in London oder ein Rosenfest in Frankreich. Wahrhaft bezaubernd ist der Anblick eines solchen
[453] [454] „Rosenhofes“, zu welchem alle die verschiedenen Racen, wie sie sich durch die Cultur und in Folge einer natürlichen Wandelbarkeit aus einigen wenigen Grundelementen entwickelten, ihre hervorragendsten Vertreter abgeordnet haben.
Und doch – wie überwältigend auch der Zauber einer solchen Ausstellung auf uns wirken mag, steht er höher, als die Befriedigung, mit der die arme Nähterin hinter dem erblindenden Fenster des Mansardestübchens ihre Monatsrose pflegt? Ja, für den Armen hat die Blumenpflege sogar eine civilisatorische Bedeutung. Denken wir uns in einen Ausstellungsraum versetzt, in welchem mit bescheidener Anmuth geschmückte Pflanzenformen zusammengebracht sind, wie sie im Fenster der Wittwe gepflegt werden, die ihr Brod mit Thränen netzt, des Arbeiters, in dem die Noth des Lebens noch nicht alle zarten Saiten zerrissen hat, der Einsamen, die doch Etwas lieben will, – denken wir uns diese Freunde der Armen in einem geschmückten Raum zusammengestellt, – das feinlaubige, das blasenblätterige Basilikum, die Meerzwiebel, die Chinarose, die Myrte, den Gelbveigelstock, die Resede, die Gartennelke und, wenn’s hoch kommt, die Rosen- und Citronengeranien und etwa einzelne bereits populär gewordene Fuchsien, so ist es weder die Hoheit und Herrlichkeit der Pflanzenwelt, noch ein glänzender Erfolg gärtnerischer Industrie, die uns zu herzlicher Antheilnahme nöthigen, sondern die einer solchen Ausstellung zu Grunde liegende Absicht, dem Schönen auch im Herzen des Armen eine Stätte zu bereiten und hier einen Gottesgedanken aufblühen zu lassen.
Und das hat man mit dem glücklichsten Erfolge in London versucht; dort ging dieser Gedanke von einem Geistlichen des armen Stadttheils aus, der sich um die Klein-Coram-Straße gruppirt und dessen Aristokratie von Obsthändlern gebildet wird. Als es sich darum handelte, den Armen den Segen eines geordneten Haushaltes, die Behaglichkeit eines sauberen, freundlich geschmückten Wohnzimmers empfinden zu lassen, da konnte man unmöglich den veredelnden Einfluß der Blumenpflege als einen der Wege zum Ziele verkennen. Und sie wurde von jenem Geistlichen und seinen Freunden nach Kräften gefördert, und schon nach einigen Jahren trug das treue Bemühen reiche Frucht. Es war wunderbar, wie bald sinnige Blumenliebe und damit der Sinn für Schönes und Geordnetes unter dieser armen Bevölkerung sich einbürgerte!
Endlich durfte man es sogar wagen, eine Ausstellung zu veranstalten. Zuerst wurden einhundertundvier Pflanzen angemeldet und davon vierundneunzig wirklich eingeliefert. Einen gar wundersamen Anblick, bemerkt der damalige Berichterstatter, bot diese erste Ausstellung. Die Tische waren mit grünem Papier überkleidet, jede Pflanze mit dem Namen ihres Ausstellers bezeichnet, Krause- und Balsam-Minze, Lavendel, Thymian, Myrte, Muscat-Hyacinthen, einzelne Thee- und Bengalrosen und wohl auch Fuchsien und Pelargonien und Aehnliches. Als Blumentöpfe dienten gesprungene Theetöpfe, Krüge mit abgebrochener Schneppe, Kaffeekannen ohne Henkel, Waschbecken und anderes, zum Theil unaussprechliches Geschirr, doch wurden die ärmlichen Scherben, soweit es anging, mit grünem Zeuge verhängt.
Man muß es der englischen Aristokratie nachrühmen, daß sie in ihrer Weise Liebeswerke auf das Bereitwilligste und reichlich unterstützt, und so hatte sich denn diese Ausstellung von „Zimmerpflanzen“ vieler Besucher aus den Kreisen des high-life zu erfreuen, und blieb nach Bestreitung der ausgesetzten kleinen Preise und anderer Ausgaben noch ein hübsches Sümmchen übrig, mit dem das angefangene Werk ausgebaut werden konnte. Im nächsten Jahr betheiligten sich schon vierhundertfünfzig Aussteller aus den ärmsten Quartieren Londons mit achthundert Pflanzen, darunter viele, deren kerngesundes Aussehen die Hand der Liebe verrieth, die sie gepflegt hatte, und manche Schau- und Musterpflanze, trotz des Staubes der Wohnräume, der die zarten Spaltöffnungen der Blätter verstopft, trotz sonstiger Unbilden, welche in den engen Stuben der Armen das Leben der Pflanzen bedrohten.
Die letzte Ausstellung brachte schon sehr ansehnliche Summen ein. Die Aussteller aus den ärmsten Revieren der Weltstadt, denen freier Zutritt zu den stolzen Räumen des Russell Square gewährt worden, bewegten sich unbefangen und durchaus anständig zwischen der aristokratischen Gesellschaft. Sechs Uhr Abends stand der Eintritt gegen Erlegung eines Penny Jedermann frei. Die Vertheilung der Preise fand in Gegenwart von mindestens zweitausend Personen aller Stände statt. Aber kein Blumenbeet wurde zertreten, keine Blüthe geknickt, kein Reis von einem Strauch gebrochen. Das einzige Zeichen der Anwesenheit einer so großen Volksmenge war das leise Knirschen der mit Kies bestreuten Wege.
Ist der Gedanke nicht schon und edel, die Lieblinge der Armen in einen festlich geschmückten Raum zu versammeln und ihre Besitzer des veredelnden Einflusses theilhaftig werden zu lassen, welcher von der Zucht und Pflege der Blumen und von dem Verständniß ihres Lebens und ihrer Schönheit ausgeht? Es wird gewiß in den Herzen aller unserer Leser nur ein Wunsch sein, solche Ausstellungen auch in Deutschland in’s Leben zu rufen. Vielleicht hilft diese Hinweisung dazu, – namentlich wenn die Glücklichen unsrer großen Ausstellungen den Armen dazu die Hand reichen.
Wenden wir uns nun zu dem Doppelbilde, welches uns zu einer solchen großen, und sogar internationalen Gartenbauausstellung einladet, die vom 2. bis 12. September dieses Jahres in Hamburg abgehalten werden soll.
Im Jahre 1862 wurde durch eine Gartenzeitung der Gedanke angeregt, es möchten die Botaniker Deutschlands, sowie Fachmänner des Gartenbaues und Freunde der Pflanzencultur periodisch zu einem Congresse zusammentreten, um gemeinsam wissenschaftliche und praktische Fragen dieses Gebietes zu berathen, um dadurch einerseits unter dem Einflüsse der Wissenschaft die Vervollkommnung der liebenswürdigsten aller Künste zu fördern und andererseits die Erfahrungen der Praxis für die Wissenschaft zu verwerthen. Mit jedem dieser Congresse sollte eine internationale Ausstellung von Erzeugnissen des Gartenbaues verbunden sein. Jeder Congreß sollte den Ort und die Zeit der nächsten Versammlung zu bestimmen haben. Mit dieser Idee erklärten sich mehrere wissenschaftliche Capacitäten und Vormänner rationeller Pflanzencultur einverstanden, und schon im Frühjahre 1863 wurde der erste Congreß, die erste Ausstellung in Mainz abgehalten. Hier entwickelte sich eines der glänzendsten Culturbilder, die Deutschland gesehen hat, ein künstlerisches, imposantes Ensemble aus all den unzähligen Fürsten und Edlen des Gewächsreiches und denjenigen pittoresken Pflanzengestalten, mit denen die Natur den Urwald auszuschmücken liebt.
Die zweite internationale Ausstellung entwickelte sich in Erfurt, der uralten Centralstätte des Gartenbaues, im September 1865 in wahrhaft großartigen Zügen und in den verschiedensten Richtungen und Zweigen der Kunst und der gärtnerischen Industrie, alle die Tausende widerstrebender Elemente aus allen Erdtheilen zu einem ausgedehnten, lieblichen Landschaftsbilde verwebend.
Aber weder in Erfurt noch in Mainz hat der Congreß selbst eine Frucht von Bedeutung gezeitigt, wenn man nicht die Erneuerung oder die Anknüpfung persönlicher Beziehungen zwischen Praktikern und Männern der botanischen Wissenschaft, zu denen diese Versammlungen reiche Gelegenheit boten, als wichtig und folgenreich betrachten will.
Der dritte Congreß und mit ihm die dritte internationale Ausstellung wird, wie bereits gemeldet, in den Tagen vorn zweiten bis zwölften September dieses Jahres in Hamburg stattfinden. Der Berichterstatter war von Anfang in der Lage, der Entwickelung dieses neuen Gliedes der Ausstellungskette folgen zu können. Hunderte von harmonisch in einander greifenden, zu einer mächtigen Gesammtwirkung vereinigten Kräften der Intelligenz und der Kunst bereiten ein Werk vor, das als ein Glanzpunkt im Culturleben des deutschen Volkes bezeichnet werden wird.
Schon das Programm läßt einigermaßen die Bedeutung dessen ermessen, was hier für die Förderung des Gartenbaues in allen seinen Zweigen an Kraft und Mitteln aufgewendet wird; es stellt für die Freunde der höchsten Aristokratie des Gewächsreiches, wie für den einfachen Markt- und Krautgärtner, den Obstbauer, die Handwerker, die Künstler, wie sie im Dienste des Gartenbaues stehen, weit über vierhundert verschiedene Aufgaben und setzt hierzu als Preise an Baarsummen und Medaillen viele Tausende von Thalern aus. Fürstenhäuser, Behörden, Städte, Vereine und Private wetteifern durch anderweitige Preise, welche zum Theil in werthvollen Kunstgegenständen bestehen, die Lebhaftigkeit der Concurrenz zu erhöhen, und in allen Staaten Europa’s, wie in außereuropäischen Ländern, vereinigen sich Freunde und Beförderer des edlen Gartenbaues zu dem Zwecke, das Hamburger Comité durch Förderung der Interessen der Ausstellung in kleineren [455] Kreisen nach Kräften zu unterstützen. Alle Verkehrsanstalten, Dampfschiff-Linien und Eisenbahnen, beeifern sich, dem Unternehmen durch Frachtermässigung und andere Vergünstigungen Vorschub zu leisten. Zahlreiche Regierungen haben ihre Theilnahme an dem großartigen Werke durch Abordnung von Commissaren ausgesprochen. Aus allen Theilen der Erde, wo der Spaten des Bodens Herr geworden, treffen Anmeldungen von Pflanzen aller Art und von Erzeugnissen des Gewächsreiches ein, zum Theil von umfassenden und instructiven Sammlungen aller Art, ganze kleine Nadelholzwälder, aus den edelsten Vertretern dieser Familie gebildet, zehntausend Rosen in abgeschnittenen Blumen allein aus dem rosenberühmten Brie-Comte-Robert, ganze Rosenhaine, vollständige Obstplantagen, große Collectionen von Pfirsichen und anderen Luxus-Früchten aus den Paradiesen des Obstbaumes, unzählige Maschinen und Geräthe, monumentale Gartenzierden, wie Tempel, Statuen, Springbrunnen u. A. m.
Schon geht der Ausstellungspark mit seinen Bauten der Vollendung entgegen und bietet so viel landschaftlich Schönes und auf allen seinen Punkten so äußerst überraschende Perspectiven, daß wir dem Comité zur Wahl dieses Terrains Glück wünschen müssen, abgesehen von der reichen Abwechselung, die in der Anlage selbst, in ihren Hügeln, ihren Laubgruppen, in dem in der Tiefe des Einschnittes sich hinziehenden Flusse mit seinen Inseln etc. gegeben ist. Welche deutsche Ausstellung hat sich schon so mächtig wirkender Umgebungen zu erfreuen gehabt, wie die Hamburger? Betrachten wir das vor uns liegende Bild, das wir im Geiste an das in Nummer 26 gegebene rücken. Die uns hier in das Auge fallenden Bauten sind auf dem der Stadt zugekehrten Plateau des Ausstellungsparkes errichtet und erhalten ihren Abschluß einerseits in dem sogenannten Elbpavillon, einer bereits vorhanden gewesenen und mit großen Sälen ausgestatteten Restauration, welche aber in einer ihrer neuen Bestimmung entsprechenden Weise umgebaut wurde, andererseits durch eine auf der Elbhöhe gelegene Schweizerei. Der große vor der letzteren liegende freie Platz mit dem Musikpavillon in der Mitte möchte wegen der Aussicht auf Elbe und Hafen, wie auf das Ganze des Ausstellungsparkes dem fremden Besucher, dem es um ein Gesammtbild zu thun ist, der lohnendste Standort sein.
Zwischen diesen beiden baulichen Vorposten dehnt sich der in grandiosem Style gehaltene Hauptbau aus, das Pflanzenhaus. Dasselbe besteht in einem Mittelbau von siebenzig Fuß Höhe und zwei Seitenflügeln, von welchen der südlich gelegene für Warmhaus-, der nördliche für Kalthauspflanzen bestimmt ist. Jeder der beiden Seitenflügel hat ein Mittelschiff von dreißig und zwei Seitenschiffe von je zehn Fuß Breite; die Länge jedes Flügels beträgt einhundertundvierzig Fuß. Der Mittelbau soll hauptsächlich zur Aufnahme der Comités und der Jury während der Preisvertheilung dienen. Um aber auch einer größeren Zahl sonstiger Festtheilnehmer den Zutritt zu dieser Feierlichkeit zu ermöglichen, sind im Innern des Mittelbaues geräumige Galerien projectirt. In einer großen dem Eingänge gegenüber befindlichen Nische, auf einer auf Doppeltreppen erreichbaren Estrade, ist eine Kolossalstatue der Flora aufgestellt. Der gesammte innere Raum, zumal die Estrade, wird mit Schaupflanzen, Vasen, Statuen und Aehnlichem reich ausgestattet werden.
Der das große Pflanzenhaus und den Elbpavillon verbindende Zwischenbau dient zu Bureaux und Berathungszimmern, während vor jenem Hauptbau eine bedeckte Pergola zu dem von dem genialen Architekten Haller in Hamburg ausgeführten kolossalen Obstschauhause leitet.
So bilden die Baulichkeiten mit ihren Verbindungsgliedern, von der Schweizerei bis zum Elbpavillon, einen gewaltigen Complex von mehr als eintausend Fuß Länge.
Vor dem Hauptgebäude wird eine dreißig bis vierzig Fuß breite und, mit ihr durch eine Freitreppe verbunden, vierzehn Fuß tiefer eine zweite sechszig Fuß breite und zweihundertsechszig Fuß lange Terrasse zur Aufnahme von Pflanzen und anderen Ausstellungsgegenständen dienen, insbesondere ist die zweite derselben bestimmt, die neueste Phase des modernen Gartengeschmackes in symmetrischen Teppichbeeten zur Anschauung zu bringen; sie erhält noch eine besondere Anziehungskraft durch eine große Fontaine.
Von hier aus führt eine breite Treppe nach dem lieblich grünenden Thale hinab. Die hohen Ufer, zwischen denen der Fluß sich hinzieht, sind in sanft contourirte Böschungen umgewandelt, welche zwischen der Schweizerei auf der einen und der Halle für Geräthe und Producte auf der anderen Seite durch eine zierliche Drahtseilbrücke von dreihundert Fuß Länge verbunden sind. Von dieser Brücke aus (vergleiche das Bild in Nummer 26), welche fünfunddreißig Fuß über dem Wasserspiegel liegt, hat man eine nicht minder reizende Aussicht über das gesammte malerische Landschaftsbild und die einzelnen Scenerien des Parkes, wie von der Schweizerei oder von dem schroffen Abhange vor dem Elbpavillon.
So ist denn in dem gastlichen Hamburg eine Reihe von festlichen Tagen vorbereitet, welche das Gottlob in unseren Tagen trotz kleinlicher Eifersucht und engherziger Sonderbündelei wachgewordene Bewußtsein nationaler Zusammengehörigkeit stärken und gleichzeitig neue Knoten für internationale Beziehungen zu schürzen Gelegenheit bieten werden. Die verschiedenartigsten Interessen werden sich kreuzen und zu einer bunten Mosaik deutschen Cultur- und Volkslebens verschmelzen. Eben so gut werden Vertreter der Volkswirthschaft, Fachmänner des Luxus und des industriellen Pflanzenbaues, Capacitäten der botanischen Wissenschaft und Freunde des landwirthschaftlichen Gartengeschmackes, wie Touristen, Gastrosophen und bloße „Reisende in Vergnügen“ bei diesem dritten Congreß und der mit ihm verbundenen internationalen Ausstellung ihren theuersten Neigungen Rechnung getragen finden. Und über das Alles erhält die Anziehungskraft dieses Festes gärtnerischer Industrie, welche dies Mal den Mittelpunkt der gewaltigen Anstrengungen bildet, von denen ich berichtet, eine neue Verstärkung in einer großen landwirthschaftlichen Ausstellung, welche gleichzeitig in dem nahen Altona abgehalten wird. Man darf somit erwarten, daß in den ersten Tagen des Septembers in allen Schichten des deutschen Volkes, in welchem ja die Kunst des Gartenbaues das Schooßkind der Reichen und die milchende Kuh Tausender von betriebsamen und intelligenten Männern geworden ist, der Ruf ertönen wird: Auf, nach Hamburg!
Aus der Postpraxis.
Ich hatte mein erstes juristisches Examen glücklich bestanden, die üblichen steifen Visiten bei meinen Vorgesetzten gemacht und begab mich nun zum ersten Male zu dem Untersuchungsrichter, bei dem ich meine praktische Laufbahn beginnen sollte.
„Ich freue mich,“ begann der Gerichtsrath nach der üblichen Vorstellung, „daß Sie heute schon kommen, denn ich bin gerade im Begriffe den Anfang mit einem Verhör zu machen, das sehr interessant zu werden verspricht. Sind Sie hier in N… geboren, oder mit den hiesigen Verhältnissen einigermaßen bekannt?“
„So ziemlich,“ antwortete ich, „da ich das hiesige Gymnasium besucht habe, wenn mir auch freilich Vieles während meiner Studienzeit wieder fremd geworden ist.“
„Kennen Sie vielleicht einen Kaufmann Trauen? Er kann nicht viel älter als Sie sein; der Name ist hier selten.“
„Dem Anscheine nach, wenn es derjenige ist, welcher vor circa vier Jahren bei Brandt und Comp. im Geschäfte war.“
„Es ist derselbe,“ sagte mein College, „er ist auf Anregung der Postdirection angeklagt, fünfhundert Thaler unterschlagen zu haben. So viel ich privatim erfahren habe, wurde er von Brandt, bei dem er noch als erster Commis beschäftigt ist, mit einem Geldbriefe zur Post geschickt, aus dem er, wie er beschuldigt wird, die erwähnte Summe entwendet haben soll und zwar wahrscheinlich durch Oeffnen des Couverts: Da der alte Brandt selbst keine Denunciation in dieser Angelegenheit machte, so hat die Postdirection eine solche eingereicht, um sich vom Verdachte zu reinigen, als hätte etwa einer ihrer Beamten sich der Unterschlagung schuldig gemacht.“
„Ist das denn so unbedingt unmöglich?“ fragte ich. „Als ich zufällig mit dem alten Brandt in den letzten großen Ferien in einer Gesellschaft zusammentraf, kam das Gespräch auch auf den mit unserer Wirthin, glaube ich, entfernt verwandten Trauen, und ich hörte damals den alten Herrn des Lobes über seinen [456] ersten Commis voll. Mich sollte es doch wundern wenn Brandt, der sonst nicht mit seinem Lobe freigebig ist, der dafür bekannt ist daß er seine Leute sehr vorsichtig wählt, sich so arg getäuscht haben sollte.“
„Das ist es eben, weshalb auch ich noch nicht überzeugt bin, daß Trauen die Gelder unterschlagen hat; er besitzt wie auch mir mitgetheilt worden, in der Geschäftswelt ein für sein Alter nicht gewöhnliches Vertrauen. Andrerseits läßt sich aber auch keine Spur finden, daß ein Anderer jenes Vergehen begangen. Doch Sie werden ja selbst sehen und hören, wir sprechen nach der Vernehmung des Angeschuldigten noch weiter darüber. “
Während ich nun schnell mit den nöthigen Formalien des Protokolls bekannt gemacht wurden brachte der Gefangenwärter den Inhaftaten herein.
Trauen war bleich, sein sonst stets heiteres und lebhaftes Gesicht zeigte vollständige Abspannung, nur ein Zug von Bitterkeit lagerte sich um seinen Mund. Mich schien er nicht mehr zu kennen, unsere Bekanntschaft war auch, wie bereits erwähnt nur eine oberflächliche gewesen. Mir war es angenehm. ich konnte desto ungestörter beobachten.
„Sind Sie hier geboren.“ fragte mein College.
„Ja.“
„Leben Ihre Eltern noch.“
„Nur meine Mutter“, war die Antwort, die Trauen mit Mühe hervorbrachte. Ich wußte weshalb, er unterhielt sie, er war ihre Stütze.
„Wie lange sind Sie schon in ihrer jetzigen Stellung?“
„Seit sechs Jahren.“
„Sie sind hier angeschuldigt, fünfhundert Thaler, die Sie nebst anderen Cassenanweisungen, zusammen dreitausend Thaler, in einem Geldbriefe an den Rittergutsbesitzer v. Dynker-Sorawski abliefern sollten, zum Nachtheile Ihres Principals unterschlagen zu haben. Was könne Sie mit von dieser Sache mittheile?“
„Es war am 31. Juli Abends, als die laufenden Gelder an den v. Dynker, der auf seinem Gute eine Brennerei hat für die von ihm an uns während jenes Monats gemachten Spirituslieferungen abgesendet werden sollten. Ich hatte am 30 Juli, also dem Tage zuvor, meinem Freunde Ruediger versprochen, zu seinem auf den zuerst gedachten Tag fallenden Geburtstage Abends zu ihm zu kommen; es wäre eine Anzahl junger Leute nebst Schwestern ebenfalls eingeladen, wie er sagte, damit nach dem Abendessen noch getanzt werden könnte. Ich versprach auch auf sein weiteres Drängen, Alles daran zu setzen, nicht später als um acht Uhr Abends bei ihm einzutreffen. Zu spät fiel mir ein, daß wir am letzten Tage des Monats noch unseren Monatsabschluß in dem Brandt’schen Geschäfte zu machen hätten, welcher unsere freie Zeit häufig erst um neun Uhr, auch wohl noch später, beginnen ließ. Was ich fürchtete, traf ein. Die Uhr hatte an dem gedachten Tage bereits sieben geschlagen und es war bei der Arbeit, die wir noch vor uns hatten, vorauszusehen, daß an eine Beendigung derselben vor achteinhalb Uhr nicht zu denken sei. Eine Bitte an meine Principal, mir früher Urlaub zu geben, würde an jenem Tage vollständig nutzlos gewesen sein. Da sagte dieser: ‚Dieser Brief an Herrn v. Dynker muß noch nach der Post gebracht werden, ehe dieselbe schließt, einer von den Herren wird wohl so freundlich sein und ihn besorgen.‘ Weil ich aus langjähriger Erfahrung wußte, daß jener Brief an jenem Abende abgeschickt werden würde, hatte ich darauf meinen Plan gebaut, vor Schluß des Geschäftes aus dem Comptoir fortkomme zu können, und nur auf die von meinem Chef gesprochenen Worte gewartet, um aufzuspringen und mich zur Besorgung des Briefes anzubieten."
„Welche Stunde war es, als Brandt Ihnen den Brief gab?“
„Siebeneinviertel Uhr.“
„Wie wissen Sie die Zeit so genau?“
„Mein Chef fragte mich um sieben Uhr, was es an der Zeit sei. Ich erwiderte: Gleich acht Uhr. Bei der Eile, mit der Herr Brandt nun die Cassenanweisungen einsiegelte, ließ er sich nicht Zeit, nachzusehen, ob meine Angabe richtig sei.“
„Wunderte sich Ihr Principal nicht, daß Sie die Besorgung übernehmen wollten?“
„Ich glaube, denn er sagte, das könnten ja die jüngeren Leute besorgen. Da ich aber vorgab, noch privatim auf der Post zu thun zu haben, händigte er mir den Geldbrief ein und mahnte mich, so schnell wie möglich zurückzukommen.“
„Warum gaben Sie aber eine falsche Zeit an?“
„Ich wollte vor Bestellung des Briefes, da der Weg zur Post mich an meiner Wohnung vorbeiführte, die Wohnung meines Freundes aber am entgegengesetzten Ende der Stadt lag, erst zu mir hinaufgehen, um mich umzuziehen, und mir so den doppelten Weg sparen.“
Mein College schüttelte unwillkürlich den Kopf, auf seinem Gesichte war der Gedanke zu lesen: „Entweder bist du der unschuldigste Mensch von der Welt, oder der größte Schwindler, den ich je unter meinen Fingern gehabt habe.“ Er sah mich an, als wollte er sehen, was ich dazu dächte. Ich zuckte höchst diplomatisch mit den Schultern.
„Erzählen Sie weiter,“ wandte er sich wieder an Trauen.
„Unten in unserem Hause,“ fuhr dieser fort „traf ich meine jüngeren Geschwister; um nicht Gefahr zu laufen, daß der Brief beschädigt werde, nahm ich ihn nach oben auf meine Stube und zog mich um.“
„Wie lange Zeit gebrauchten Sie dazu?“
„Etwa eine halbe Stunde, dann eilte ich so schnell, wie ich konnte, zur Post und kam gerade zum betreffenden Bureau, in welchem Geldbriefe angenommen werden als der Diener die Thüre schließen wollte, so daß ich der Letzte war, der abgefertigt wurde. Von dort ging ich meinem Versprechen gemäß zu meinem Freunde.“
„Weiter können Sie mir nichts mittheilen?“
„Nein!“
„Sie geben also nicht zu. daß Sie irgend einen Versuch gemacht haben, den Ihnen anvertrauten Brief zu öffnen?“
„Nein!“
„Sie wissen nichts habe auch keine Vermuthung, auf welche Weise das fehlende Geld aus jenem Briefe verschwunden ist.“
„Ich habe auch nicht die geringste Muthmaßung darüber.“
Der Gefangene wurde abgeführt.
„Nun, was halten Sie von der Geschichte?“ fragte mich mein College, als wir das Gerichtsgebäude verließen. „Sie treten mit ungetrübtem Blicke an die Sache herauf und wenn Sie auch, wie alle jungen Juristen, vielleicht etwas zu optimistisch urtheilen werden, so treffen Sie doch wahrscheinlich eher das Richtige, als ich, der ich seit Jahren nur Schattenseiten der Menschen zu sehen Gelegenheit gehabt habe.“
Ich protestirte gegen diese ganz unverdiente Schmeichelei und meinte: „Dadurch, Herr Rath, daß Sie sich an mein Urtheil wenden, zeigen Sie, wie ich glaube, daß Sie selbst noch gar nicht von der Schuld des Trauen überzeugt sind.“
„Möglich!“ murmelte er.
„Ich muß übrigens gestehen,“ fuhr ich fort, „daß mein Urtheil nicht so ganz objectiv ist, wie Sie vielleicht voraussetzen. Denn so wenig ich den Angeklagten auch persönlich näher kenne, habe ich, da ich einen Schulbekannten auf dem Brandt’sche Comptoir habe, der enge mit Trauen befreundet ist, so viel über diesen gehört, und zwar nur Günstiges gehört, daß ich etwas für ihn eingenommen bin.“
„Wissen Sie vielleicht etwas über sein außergeschäftliches Leben?“ fragte mein College.
„Daß er zum großen Theile seine Mutter und jüngeren
Geschwister unterhält, dürften Sie wohl schon anderwärts gehört
haben. In gesellschaftlicher Beziehung ist er allgemein beliebt,
weil er flott tanzt, interessant unterhält und neben seinem guten
Herzen eine große Portion Leichtsinn besitzt. Ich schließe dieses
aus vielen Streichen, die von ihm erzählt werden.“
„Das ist es eben,“ antwortete der Gerichtsrath, „Habgier oder sonst einen niedrigen Beweggrund zu seiner That traue ich ihm nicht zu. aber Leichtsinn, der verdammte Leichtsinn, er hat schon manchen Menschen fallen lassen.“
Mein College versank in Nachdenken; wir gingen schweigend die noch übrige kurze Strecke neben einander, welche uns unser Weg zusammen führte.
„Nun, auf Wiedersehen morgen, vielleicht geben uns die Zeugen mehr Licht.“ Er grüßte. Das war der erste Tag meiner Gerichtspraxis.
Am nächsten Tage begann die Vernehmung der Zeugen, und zwar zuerst des Secretairs der Post welcher den Brief vom jetzigen Inhaftaten an dem gedachten Abende des 31. Juli [457] Empfang genommen und expedirt hatte. Nach einigen Fragen. die bereits zum Theil Trauen vorgelegt waren, in Betreff der Zeit, der Identität des Inhaftaten mit dem Überbringer des an v. Dynker abgesandten Briefes etc. fragte der Untersuchungsrichter, ob der Brief verlebt gewesen.
„Der Brief,“ antwortete der Postsecretair, war ordnungsmäßig zugesiegelt, soviel ich damals gesehen haben auch unverletzt und enthielt laut Angabe auf dem Couvert dreitausend Thaler in Cassenanweisungen, Als ich die Schwere wog, war dieselbe vier Loth. Ich bemerkte dem Herrn Trauen, der sehr erregt hereinkam, daß dieses Mal das letzte wäre. daß ich so spät Geldbriefe annähme, daß das Haus Brandt das einzige Geschäft ist, dessen Commis stets erst mit Thoresschluß ankommen. Der Brief ist, wie der Poststempel zeigt, noch an demselben Tage mit dem Nachtzuge abgegangen.“
„Hat Trauen schon früher Geldbriefe gebracht?“
„Vor mehreren Jahren wohl, seit er aber, wie ich gehört habe, erster Commis geworden nicht mehr, wenigstens entsinne ich mich aus den letzten Jahren keines Falles.“
„Ich fragte Sie vorhin, Herr Postsecretair,“ sagte mein College, „ob der Brief verletzt gewesen. Haben Sie sich denselben vielleicht noch näher angesehen, besonders, ob vielleicht in den Siegeln zweifacher Lack zu sehen war?“
„Ich entsinne mich nicht, danach gesehen zu haben.“
„Erkennen Sie dieses Couvert wieder?“ fragte der Gerichtsrath, indem er das von Dynker eingeschickte Couvert überreichte.
„Gewiß, es ist das Couvert des Geldbriefes, den Trauen damals überbrachten, die Siegel sind dieselben wie damals und zeigen auch jetzt, da der Rand des Briefes aufgeschnitten ist, keine Verletzung. Ich muß gestehen, ich bin gar nicht überzeugt, daß das Geld, welches fehlt, aus dem Briefe herausgenommen ist, sondern glaube vielmehr daß Herr Brandt sich geirrt hat.“
„Können Sie vielleicht jetzt, wenn Sie den Siegellack genauer betrachten, wahrnehmen daß eine Uebersiegelung stattgefunden hat?“
„Ich vermag eine solche nicht zu entdecken.“
Der Kaufmann Brandt wurde aufgerufen. Es war ein alter Herr, einfach gekleidet, dem man in seinem Aeußeren nicht den Millionär ansah. Sein Gesicht war edel, seine Stirn massiv geformt, Festigkeit ja ein Anflug von Härte war in seinen Zügen in überraschender Weise mit Gutmütigkeit und Nachsicht vereinigt. Man sah es ihm an, daß es ihm jetzt schwer wurde, gegen den, welchem er von allen seinen Leuten das meiste Vertrauen und väterliche Liebe geschenkt hatte, sein Zeugnis abzugeben. Er erzählte um unwesentlichen Modificationen den Hergang auf dem Comptoir so, wie Trauen ihn berichtet hatten und fuhr dann fort. „Vier Tage später, nachdem Trauen den an Herrn v. Dynker adressirten Geldbrief zur Beförderung auf die Post erhalten hatte, bekam ich von dem Letzteren die Nachricht, daß an der in jenem Briefe angegebenen Summe fünfhundert Thaler gefehlt hätten. Ich rief natürlich zuerst Trauen auf meine Stube, gab ihm Dynker’s Brief zu lesen und fragte ihn, was er davon hielte. Kaum hatte er den Brief gelesen, da warf er ihn auf den Tisch und sagte. ‚Ich mochte lieber wissen, Herr Brandt, was Sie davon halten. Wo das Geld geblieben ist, weiß ich nicht, nur das weiß ich, daß ich den Geldbrief so, wie er mir übergeben worden ist, auch abgeliefert habe.‘ Ich erwiderte ihm, daß ich bereits noch einmal die Casse revidirt hätte, gab ihm die Anzahl der Cassenanweisungen an, welche ich hineingelegt hatte, und bat ihn seinen Leichtsinn einzugestehen. ‚Sie sind jung, lieber Trauen,‘ sagte ich, ‚Sie haben der Versuchung nicht widerstehen können, ich bitte, sagen Sie mir, daß Sie das Geld genommen haben, und ich schenke es Ihnen, da ich lieber den für mich kleinen Verlust erleiden will, als Sie für Ihr ganzes Leben unglücklich sehen. Ueberzeugen Sie sich selbst. Der Brief ist wie Dynker schreibt, mit demselben Gewicht von der Post in Rigow an ihn abgegeben, mit dem er von Ihnen aufgegeben ist; auf der Post kann also nichts aus dem Briefe herausgenommen sein. Vorher aber hat kein Anderer den Brief in Händen gehabt als Sie, Sie haben absichtlich, als ich Sie fragte, was es an der Zeit sei, mir dieselbe eine Stunde zu früh angegeben und trotzdem erst um acht Uhr den Brief auf die Post gebracht. Ich weiß es, der Postsecretair beschwerte sich vorgestern über unsere späten Ablieferungen. Sie müssen sich doch selbst sagen, daß die Verdachtsmomente, welche gegen Sie vorliegen, zahlreich und gewichtig sind.‘ Alle meine Bitten blieben erfolglos, seine Antwort war. ‚Seit sechs Jahren arbeite ich schon bei Ihnen, ohne daß mir etwas zur Last gelegt ist, und wenn Sie mich nach dieser Zeit noch nicht kennen gelernt haben, wenn Sie mir auch dann noch zutrauen können, daß ich etwas begehen könnte, wie das ist, dessen ich jetzt beschuldigt werde, dann muß ich, so sehr ich es auch bedaure, meine Stellung zu Ihnen aufgeben. Ich weiß wohl, daß alle Indicien gegen mich sprechen, ich weiß, daß kein Richter bei solchen Verdachtsgründen mich frei sprechen wird und kann, aber ich kann nicht gestehen was ich nicht gethan habe.‘ Damit drehte er sich um und ging fort. Gesprochen haben wir uns seitdem nicht mehr, obgleich Trauen noch die nächsten Tage bis zu seiner Festnahme und zwar ebenso fleißig wie früher, in meinem Comptoir arbeitete. Alle Versuche von meiner Seite, ihn noch einmal allein zu sprechen, wußte er zu vereiteln.“
„Haben Sie vielleicht in Erfahrung gebracht, daß Trauen Schulden hatte?“ fragte mein College.
„Vielleicht solche, wie sie am Ende jeder junge Mann beim Cigarrenhändler und dergleichen Leuten hat, sonst glaube ich nicht, da er mit seinem Gelde umzugehen und zu sparen wußte.“
„Sie haben auch früher nie etwas bemerkt, das den gegen Trauen vorliegenden Verdacht unterstützen könnte?“
„Niemals,“ antwortete Brandt, „ich habe ihn stets in der Erfüllung seiner Pflichten treu und gewissenhaft gefunden, und wenn ich ihm einmal eine kleine Strafpredigt hielt, so geschah es nur deshalb, weil er schon mehrere Male versucht hat, bevor die nach meiner Meinung nöthige Arbeit vollendet war, sich derselben zu entziehen, was weiß ich, zu welchem Zwecke.“
„Dieses ist vor dem letzten Streiche am 31. Juli also auch schon geschehen?“
„Ja! Ich bin strenge, man sagt zu strenge darin daß Alles, was an einem Tage einläuft, auch an demselben abgefertigt und nichts verschoben wird. Daher kommt es wohl, daß meine jungen Leute manchmal des Abends länger bei mir arbeiten müssen, als die anderer Firmen. Ich habe es von jeher nicht anders gekannt, daß jene aber nicht damit zufrieden sind, läßt sich leicht denken, und nicht nur Trauen, sondern auch die übrigen Comptoiristen haben schon häufig alle möglichen Kriegslisten versucht, um früher aus meinem Geschäft zu verschwinden. Wenn es ihnen gelingt, so lasse ich es hingehen, vorausgesetzt, daß sie am anderen Morgen bevor ich komme, mit der rückständigen Arbeit fertig sind: fasse ich sie aber, dann bekommen sie etwas zu hören, daß sie für einige Zeit alle Lust zu solchen Sprüngen verlieren.“
„Und Sie halten Trauen's Benehmen am Abend des 31. Juli ebenfalls nur für eine solche Kriegslist um in die Gesellschaft bei seinem Freunde zu kommen?“
„Ich hielt es dafür,“ sagte Brandt „bis mir mein Geschäftsfreund Dynker das Fehlen der fünfhundert Thaler anzeigte.“
„Nun die letzte, aber wichtigste Frage, Herr Brandt, die ich Ihnen deshalb obgleich Sie sie eigentlich schon vorhin beantwortet haben, noch einmal vorlege. Wissen Sie mit aller Bestimmtheit daß Sie dreitausend Thaler in den Brief eingepackt haben? Es hängt ja von Ihrer Antwort darauf das Wohl und Wehe eines Menschen ab, und darum bitte ich Sie, überlegen Sie noch einmal ob Sie nicht die Möglichkeit eines Irrthums von Ihrer Seite zugeben können.“
„Ich kann es nicht,“ antwortete der alte Kaufmann etwas zögernd, aber mit fester Stimme, „ich kann es deshalb nicht, weil wohl selten an einem Tage der Inhalt meiner Hauptcasse bestimmter sein konnte, als am 31. Juli. Ich hatte vor drei Uhr Nachmittags dieselbe vollständig geleert, um die Summe festzustellen. Eine Stunde darauf erhielt ich von einem Berliner Hause eine Anweisung auf die hiesige Bank über fünftausend Thaler, die ich von meinem jüngsten Commis holen ließ und beim Empfange in dessen Gegenwart genau nachzählte. Es waren neun Fünfhundert- Thalerscheine, ein neuer und drei alte Einhundert-Thalerscheine und zwei Fünfzig-Thalerscheine, von denen der eine zusammengeklebt war. Ich habe selbst für diese Aeußerlichkeiten ein gutes Gedächtniß. Da ich voraussehe, daß Herrn v. Dynker kleinere Summen lieber sein würden als lauter Fünfhundert- Thalerscheine, so legte ich Abends vier davon in mein Geldspind zurück und packte alles übrige Geld in den betreffenden Brief.“
„Und Sie wissen ganz genau daß Sie fünf und nicht vier Fünfhundert-Thalerscheine hineingelegt haben?“
„Ganz genau.“ –
[458] Die letzte Person, welche heute noch zu vernehmen war, war der erste Graveur der Stadt. Aufgefordert, seine Kenntniß von der Trauen’schen Angelegenheit, sowie sein Gutachten über die bei dem gedachten Geldbrief gebrauchten Siegel mitzutheilen, erzählte er Folgendes.
„Am 5. August kam der Kaufmann Brandt zu mir, übergab mir das mir soeben vorgelegte Couvert, welches an Herrn v. Dynker-Sorawski adressiert war, und sein Petschaft und bat mich, dieses mit den auf dem Couvert befindlichen Siegeln zu vergleichen. Bei der ersten Probe, die ich mit unbewaffnetem Auge machte, schienen mir beide genau zu stimmen, und ich hätte nicht weiter untersucht, wenn Herr Brandt mich nicht dringend ersucht hätte, noch einmal strenge zu vergleichen, ob sich kein Unterschied zwischen den Abdrücken und dem Petschaft finden ließe, es sei ihm sehr viel daran gelegen, es zu wissen. Ich nahm also eine zweite Untersuchung mit der Loupe vor und wollte auch jetzt schon ein weiteres Forschen aufgeben, als mir eine kleine Schramme, die durch das Reiben eines Sandkorns auf dem Petschaft, womit die Siegel auf dem Briefe abgedrückt waren, entstanden sein mochte und auf den Siegeln wiederzuerkennen war, und eine etwas dickere Zeichnung des ‚t‘ in dem Namen Brandt auffielen. Ich machte nun verschiedene Abdrücke mit dem Brandt'schen Petschaft, stellte sie unter die Loupe und ließ Herrn Brandt selbst sehen. Er machte dieselbe Wahrnehmung, wie ich sie eben mitgeteilt habe: auf allen Siegeln, welche mit seinem Petschaft abgedrückt waren, war jene Schramme nicht zu sehen und der Buchstabe schlanker gezeichnet, als auf den Siegeln des Couverts. Daraus folgt nun, daß, wenn diese letzteren alle diese erwähnten Merkmale tragen, auf den mit dem Petschaft des Herrn Brandt gemachten Abdrücken aber dieselben durchaus nicht zu erkennen sind, derjenige, welcher den Brief geöffnet und das Geld herausgenommen hat, nicht das Petschaft des Herrn Brandt, sondern ein nachgemachtes benutzt haben muß.“
„Erkennen Sie vielleicht,“ fragte mein College, „die Arbeit eines hiesigen Graveurs in den nachgemachten Siegeln?“
„Das wird sich aus den kleinen Differenzen, ohne daß das nachgemachte Petschaft vorgelegt wird, nicht feststellen lassen, nur dieses kann ich behaupten, daß die Arbeit darin so fein und geschmackvoll ist, daß wenige der hiesigen Graveure sie liefern würden.“
„Ließ sich eine Mischung von Siegellack in den Abdrücken auf dem Couvert erkennen?“
„Ziemlich deutlich, selbst mit bloßem Auge; ein Grund mehr für die Annahme, daß der Geldbrief in seiner jetzigen Gestalt nicht von Herrn Brandt versiegelt ist.“
Damit war die Zeugenvernehmung an jenem Tage geschlossen, es blieben für den nächsten Tag noch zwei Personen zu vernehmen, deren Aussagen von Wichtigkeit sein konnten, nämlich der Gutsbesitzer v. Dynker und der Postsecretär Krause von Rigow, welcher den betreffenden Geldbrief auf der dortigen Poststation abgeliefert hatte. Ueberall, wo auch nur ein schwacher Schimmer zu sehen war, welcher das Dunkel zu Gunsten des Angeschuldigten erhellen konnte, hatte der Gerichtsrath geforscht, aber immer wieder war er in undurchdringliche Finsterniß hineingeraten. Allen guten Antecedentien des Angeschuldigten, allen offenen Erklärungen, denen man an und für sich hätte Glauben beimessen müssen, stand einzig und allein die Thatsache entgegen, daß nur Trauen den Geldbrief bis zur Ablieferung auf die Post in Händen und Zeit gehabt hatte, ihn öffnen zu können, und diese einzige Thatsache schlug mit dürrer Logik Alles nieder, was ihr zu widerstehen wagte.
Als ich am nächsten Morgen wieder das Gerichtsgebäude betrat, fand ich dort den Gutsbesitzer v. Dynker bereits wartend, gleich darauf trat auch mein College ein.
„Wissen Sie, ob der Postsecretär Krause auch schon hier ist?“ fragte der Gerichtsrath Herrn v. Dynker; „ich würde ihn dann zuerst vernehmen.“
„Ich glaube, derselbe wird heute nicht kommen können,“ antwortete der Gefragte. „Wie ich heute in Rigow auf der Post erfuhr, liegt er seit zwei Tagen zu Hause krank, was ihm fehlt, weiß ich nicht.“
„Schade, daß der Abschluß der Untersuchung dadurch verschoben wird,“ sagte der Gerichtsrath; "dann sind Sie so freundlich, Herr v. Dynker, und teilen mir mit, was Sie in der Trauen’schen Angelegenheit wissen.“
„Ich stehe schon seit mehreren Jahren,“ begann dieser, „mit dem Hause Brandt und Comp. in Geschäftsverbindung, indem ich den auf meiner Brennerei gebrannten Spiritus an dasselbe liefere. Die Beträge dafür gehen dann, wenn nicht besondere Abredungen getroffen werden, am Ende des Monats ein, in welchem die Lieferung geschehen ist. Am 3. August Morgens erhielt ich für eine solche einen Geldschein über einen Geldbrief mit dreitausend Thalern, Absender Brandt, von der Post zu Rigow. Ich muß dabei bemerken, daß der Postbote nach meinem Gute nur einen Tag um den andern kommt, daß also wahrscheinlich der Brief bereits am 1. August dort lag, da er laut dem Geldschein am 31. Juli von hier abgeschickt war, aber erst nach Abgang des Postboten an jenem Tage in Rigow angekommen ist. Ich schickte daher sofort meinen Sohn und meinen Knecht mit dem ausgefülltem Geldschein dorthin, um den Geldbrief in Empfang zu nehmen.“
„Erkennen Sie dieses Couvert als das des von Brandt abgeschickten Geldbriefes wieder?“
„Ja; wie Sie sehen, Herr Gerichtsrath, habe ich nach meiner Gewohnheit die eine Seite des Couverts, die damals vollständig unverletzt war, aufgeschnitten. Ich überzählte sogleich die Summe und fand, daß fünfhundert Thaler fehlten, überzählte nochmals und zum dritten Male, und wieder fehlte dieselbe Summe. Ich hieß deshalb meinen Sohn gleich wieder auf das noch nicht ausgespannte Fuhrwerk steigen, benachrichtigte Brandt von dem, wie ich annahm, stattgefundenen Versehen und ersuchte ihn, umgehend zu antworten. Am 5. August erhielt ich durch den Postboten einen expressen Brief von Brandt, worin er mir schrieb, daß ein Versehen nicht stattgefunden habe, daß vielmehr die vorhin genannte Summe aus dem Briefe herausgenommen sein müsse, und er ersuche mich, wenn ich noch im Besitz der übersendeten Cassenanweisungen wäre, dieselben schleunigst nebst Couvert einzuschicken. Da dieses der Fall war, packte ich die Cassenanweisungen in das alte Couvert, fuhr nach Rigow und ließ in meinem Beisein noch einmal den Brief nebst Inhalt durch den zweiten Postsecretär wiegen; er war, wie der Vermerk der hiesigen Post besagt, vier Loth schwer. Mit einer neuen Umhüllung versehen, schickte ich dann Alles an Brandt ab.“
„Warum ließen Sie den Brief in Rigow wiegen?“
"Um alle Möglichkeit abzuschneiden, den Einwand machen zu können, daß die fünfhundert Thaler, während ich das Geld zählte, fortgekommen wären.“
"Sie waren ja allein im Zimmer?“
„Ja wohl, doch bin ich Geschäftsmann, und Vorsicht ist in allem dergleichen Angelegenheiten mein oberster Grundsatz.“
„Traf es sich zufällig, daß der zweite Postsecretär, nicht Krause, die Schwere des Briefes prüfte?“
„Zufällig und nicht zufällig, wie man es nehmen will. Gründe der Vorsicht, nicht gerade Verdacht führten mich zu dem Entschlusse, durch das nochmalige Wiegen zunächst festzustellen, ob nicht durch eine falsche Angabe des Gewichts bei der Auslieferung des Geldbriefes jenes Vergehen verdeckt worden sei. Da kam es mir natürlich sehr gelegen, daß ich in der Erpedition den zweiten Secretär vorfand, der, da er mir genauer bekannt ist, sich gern dieser Mühe unterzog und den Vorfall nicht weiter zu erzählen versprach.“
„Es war dieser ihr Schritt also nicht auf Grund von verdächtigen Momenten gegen Krause geschehen, vielleicht nicht einmal aus persönlichen Zweifeln gegen dessen Redlichkeit, wie sie häufig das Gefühl erregt, wenn sie der Verstand auch bekämpft?“
„Durchaus nicht.“
"Damit wären wir also vorläufig fertig,“ meinte mein College, als Herr v. Dynker entlassen war, „Krause muß vernommen werden, sobald er gesund geworden ist. Ich sehe aber nicht ein, was derselbe noch Neues mitteilen könnte. Ich will doch Trauen noch einmal vorführen lassen, vielleicht gesteht er jetzt, wenn ihm alle Zeugenaussagen vorgehalten werden.“ Es geschah. Mit aller juristischen Schärfe bewies ihm der Gerichtsrath, daß die Unterschlagung nur geschehen sein konnte, als er den Brief in Händen gehabt, mit dem rührenden Wohlwollen eines Vaters bat er ihn, offen seinen Fehler einzugestehen. Trauen hatte allein diesen Vorstellungen gegenüber nur die eine Bitte, ihn nicht weiter zu quälen, er wäre unschuldig. Ohne einen Erfolg erreicht zu haben, mußte mein College ihn wieder zur Haft zurückführen lassen –
Drei Tage später, glaube ich, war es – wir saßen bei dem langweiligen Verhör eines jugendlichen Diebes – als der Staatsanwalt zu uns mit den Worten eintrat: [459] „Ich glaube Herr College, wir haben dieses Mal einen tüchtigen Denkzettel empfangen. So eben erhielt ich nämlich einen Brief von dem Ortsvorstande in Rigow, worin mir geschrieben wird, daß der Post-Expedient Krause mit einer ziemlich bedeutenden Summe der dortigen Postcasse durchgegangen ist. Bei der Nachsuchung in seiner Wohnung hat man auch ein Petschaft mit dem Namen Brandt gefunden, welches vorläufig noch dort aufbewahrt wird. Verhält sich wirklich Alles so, woran eigentlich gar nicht zu zweifeln ist, dann ist Trauen doch unschuldig.“
Und Traun war unschuldig. Wahrscheinlich hatte Krause, da er sehr häufig Geldbriefe an Dynker von Brandt expedirt hatte, sich das Petschaft nach den Siegeln stechen lassen oder auch selbst gemacht, und dann die Zeit vom 1. bis 3 August, in welcher der Geldbrief mit dreitausend Thalern an Dynker in Rigow lag, dazu benutzt den Brief zu öffnen. Durch den darüber geschmolzenen Siegellack hatte dann der Briefe vielleicht zufällig dieselbe Schwere erhalten, die er am Aufgabeorte hatte, und es war dadurch jeder Verdacht einer Unterschlagung durch die Post abgelenkt worden.
Was aus Krause geworden, habe ich nie erfahren können. Trauen wieder bei der Gesellschaft in seine unverdienter Weise verlorene Stellung einzuführen, übernahm der alte Brandt. Etwas anderes nahm Trauen nicht an, er wies alle seine glänzenden Anerbietungen, um ihn zur Rückkehr in seine alte Stellung zu bewegen, zurück, und steht jetzt hochgeachtet und angesehen in der Geschäftswelt meiner Vaterstadt als selbstständiger Kaufmann da.
Die Seehunde des deutschen Meers.
Der wochen-, ja monatelang auf das kleine ostfriesische Eiland Spiekeroog gebannte Curgast pflegt wohl oft und gern dem Treiben der Robben zuzuschauen, die sich dort häufig in den Fluthen der Nordsee herumtummeln. Besonders gut kann man hier zur Ebbezeit diese großen Flossensäugethiere beobachten, während deren sie, meist in Gruppen von sechs bis acht Stück auf der dem Badestrande gegenüber befindlichen Sandbank sich einen Ruheplatz suchen. Die Entfernung zwischen Strand und Sandbank beträgt nur etwa fünf- bis sechshundert Schritt, und so kann man von ersterem aus die dort ruhenden Thiere recht deutlich erkennen.
Sehr amüsant ist es zuzusehen, wenn die großen Burschen an einer steil abfallende Stelle der Platte (wie die durch Steine bewehrte Oberfläche einer Sandbank heißt) landen. Dunkel fast schwarz, entsteigt das Thier der grünen Fluth nachdem es sich vorher einigemale vorsichtig umgesehen; unbeholfen und schwerfällig den dicken Körper vorwärts schiebend, erklimmt es die steile Sandbank und legt sich dann oben behaglich nieder. Nun reckt und streckt es sich im Sonnenschein, häufig die Flossen seines „ersten Versuchs“ von Hinterfüßen auseinander spreizend und den Kopf bald in die Höhe bald niederwärts biegend; oder es rutscht wohl auch auf dem weichen feuchten Sande herum. Ist nur erst Einer gelandet so folgen seinem Beispiele bald andere, größere und kleinere, je nach dem Alter, bis eine ganze Herde beisammen ist, meist sechs bis acht, zuweilen aber auch bis zwanzig Stück. Das Wasser aus dem triefend nassen Körper läuft allmählich ab, die Sonnenstrahlen trocknen das Fell, und so verwandelt sich die anfangs dunkle Farbe des Thieres bald in ein helleres Grau, bis es endlich, und besonders ist dies bei recht alten Robben der Fall, weiß, ja im Sonnenschein fast silberglänzend erscheint.
Als ich zum ersten Mal eine solche Heerde dort erblickte, war ich anfangs im Zweifel, ob es nicht Kühe von der Insel seien, die auch vorzugsweise schwarz und weiß aussehen, bis mich der nähere Augenschein eines Besseren belehrte. Versucht man durch Geräusch oder drohende Bewegungen die Thiere hinwegzuscheuchen, so gelingt dies nicht so leicht – gar zu gern ruhen sie im warmen Sonnenschein auf dem weichen Sande der mühsam erklommenen Platte – sobald jedoch ein Boot heranrudert oder ein Schuß fällt, fliehen sie, anfangs, so lange sie auf ebenem Boden sich fortbewegen, ziemlich langsam vorwärtsrutschend, wie ein Mensch auf Knieen und Ellenbogen zugleich, dann aber sehr behend am steilen Ufer der Sandbank hinabgleitend und rasch untertauchend in der schützenden Fluth.
Erst nach minutenlanger Dauer und meist in ziemlicher Entfernung erscheint dann das Thier wieder an der Oberfläche des Wassers, um Athem zu schöpfen, gewöhnlich jedoch nur, um alsbald von Neuem zu verschwinden.
Bei diesen Manövern kam nur selten eines der schlauen und vorsichtigen Thiere dem von Spaziergängern belebten Strande zu nahe, sie schienen es recht gut zu wissen, daß mancher von diesen eine Flinte trug und eifrig darauf bedacht wart ihnen den Garaus zu machen. Als eifriger Jagdliebhaber wünschte auch ich nichts sehnlicher, als eines der fremdartigen Seeungeheuer zu erlegen, um das Fell als Trophäe mit heimzubringen und dann meine Großthaten den staunenden Jagdfreunden im heimatlichen Gebirge haarklein zu berichten, die ja zumeist nur ein Stückchen Seehundsfell auf den Schulränzchen ihrer Kinder gesehen hatten. Allein fruchtlos war mein Bemühen; so oft ich auch bei beginnender Ebbe mit scharf geladenem Gewehr am Strande auf und nieder wandelte, nie ertappte ich einen Seehund hier, immer lagen sie auf der unerreichbaren Sandbank, oder schwammen in deren Nähe herum.
Glücklicher als ich war ein junger Herr v. K., welcher ganz unverhofft einen jungen, am Strande ruhenden Seehund überraschte und den eilig fliehenden durch einen wohlgezielten Schuß tödtete. Hierdurch angefeuert verdoppelte auch ich meine Bemühungen, und schließlich nicht ohne Erfolg.
In besonders dazu ausgerüsteten Schiffen segeln alljährlich viele Robbenjäger, oder richtiger Robbenschläger, in die öden Regionen des arktische Eismeeres und machen dort, wo schaarenweis die Seehunde auf den Eisfeldern lagern, oft ungeheure Beute. So kehrte während meiner Anwesenheit auf Spiekeroog ein solcher Grönlandfahrer nach viermonatlicher Reise zurück, beladen mit viertausendvierhundert Robben und überdem vier todten und zwei lebenden Eisbären. Viele Spiekerooger Insulaner hatten solche Expeditionen mitgemacht und betrieben auch in den heimathlichen Gewässern der Nordsee eifrig den hier allerdings weit weniger lohnenden Seehundsfang.
Einen vorzüglichen Ruf als geübter Seehundsjäger besaß namentlich Kleyhauer jun., der Capitän der Schaluppe „Bismarck“. Da er während der Saison für gewöhnlich die Badegäste vom Dampfer „Roland“ nach der Insel abholte, außerdem sein Schiff häufig zu Vergnügungstouren in die Nachbarschaft benutzt ward, hielt es schwer, ihn zu einem mehrtägigen Jagdzuge zu bewegen. Endlich siegte wiederholtes Zureden, mehr noch sein eigener Jagdeifer, und bald hatten wir auch in der Person eines jungen Forsteleven aus Oldenburg noch einen Reisegefährten gefunden.
Mein gefälliger Wirth, der Capitän Sanders, gleichfalls ein berühmter Seehundsjäger, gab sich viele Mühe, um uns das „Huxen“ zu lehren, d. h. die Bewegungen der Seehunde nachzuahmen um dieselben anzulocken und zu täuschen. So mußten wir denn im Sande vor dem Wirthshause zur Belustigung der anderen Badegäste auf Knieen und Ellenbogen kriechen und rutschen, dabei den Kopf recke und drehen, die Beine aus- und übereinander spreizen etc. Ich entlief ihm aber bald aus der Schule, theils weil die ungewohnten Bewegungen sehr ermüdeten, namentlich aber, weil ich so wenig Geschick entwickelte, daß ich schier daran verzweifelte, daß mich je ein Seehund für seinesgleichen halten werde. Capitän Kleyhauer billigte dies; er meinte wir könnten nötigenfalls einen Jungen in einen Kartoffelsack stecken und diesen „huxen“ lassen, doch wolle er schon selbst die Seehunde anlocken; dagegen drang er entschieden darauf, daß wir uns mit einer Schifferkleidung versahen. weil die Thiere weit mehr Scheu vor einem gewöhnlichen Rock, als vor der Jacke eines Schiffers hätten.
Wie schon oft vereinigte auch der Abend vor unserer Abreise eine größere Gesellschaft in Sander’s Hotel zu Krabbensalat mit Wein, Spiel, Gesang und Tanz, da meldete der Fuhrmann, daß der Wagen unser harre, und diesmal versuchten die Damen vergebens, uns von der nach ihrer Ansicht so gefährlichen Fahrt auf der alte gebrechlichen Schaluppe zurückzuhalten. Mich reizte ganz besonders, wie eben jeden Jäger, die Gefahr, daher mußte man sich für diesmal begnügen, mit uns auf ein frohes Wiedersehen anzustoßen – und fort ging es durch Nacht
[460] und Wind im hölzernen Wagen, auf holperigem Wege und dann über den sandigen Strand des Wattmeeres hin zum „Bismarck“.
Das Schiff lag, da eben Ebbe war, fast ganz auf dem Trocknen; Kleyhauer und sein Matrose brachten unser Gepäck an Bord, erstaunt über dessen Menge, da sie nicht halb so viel brauchten, wenn sie nach Amerika führen. Alsdann zeigten sie uns das in der Kajüte zu unserem Empfange bereitete Gastbett: eine harte, schmale Bank, belegt mit einem Stück Segeltuch; als Kopfkissen diente ein zusammengerolltes Tau, als Zudecke unsere Kleider. Dicht über unseren Häuptern in den Schiffsbalken staken in traulichem Verein Messer, Gabeln, Kämme, Zangen, an den Planken links daneben hingen die geladenen Flinten, zur Rechten stand der scharfkantige Ofen – Alles so dicht gedrängt beisammen, daß man bei jeder stärkeren Bewegung Gefahr lief, sich erheblich zu verletzen. Trotzdem schliefen wir bald fest, wenig verwöhnt durch die harten Seegrasmatratzen auf der Insel und gehörig ermüdet durch die lange Wagenfahrt in der scharfen Seeluft. Erst am lichten Morgen erwachten wir durch den heiseren eigenthümlichen Gesang des Matrosen, den dieser beim Aufwinden des Ankers anstimmte.
Wir eilten auf’s Deck, wurden aber hier von einem heftigen Wind und kalten Regen so übel willkommen geheißen, daß wir sehr bald wieder in die Kajüte flüchteten, während der Capitän sich mit dem größten Gleichmuth dem Unwetter und den von Zeit zu Zeit über Bord stürzenden Wellen aussetzte und lächelnd meinte: „Der uns naß gemacht hat, macht uns auch wieder trocken.“ Allein auch in der Kajüte war der Aufenthalt durchaus kein angenehmer. Hier herrschte ein unausstehlicher Theergeruch, der Wind hatte ziemlich freien Zutritt und blies namentlich fortwährend den Qualm aus dem Ofen in das kleine Behältniß. In Folge des Unwetters, der schlechten Kajütenluft und des starken Schaukelns des Schiffes begannen bereits die Vorboten der Seekrankheit sich bei uns einzustellen, da belebte der Ruf des Capitäns „Dort!“ auf’s Neue unseren schon sinkenden Muth.
Wir befanden uns östlich von der Insel Wangeroog und sahen in der bezeichneten Richtung, kaum eine halbe Seemeile entfernt, fünf Seehunde beisammen, die eben im Begriff waren, auf einer Sandbank zu landen. Noch war die Platte auf ihrer ganzen Oberfläche mit Wasser bedeckt, doch bereits hatten sich Hunderte von großen Möven auf ihr niedergelassen, unbeweglich des Augenblicks harrend, wo die zurückweichende Fluth ihnen gestattete, ihre Beute zu ergreifen – dagegen plätscherten die Seehunde lustig in der Brandung am Rande der Sandbank, auch sie erwarteten sehnlichst das Trockenwerden der Platte, nicht beutegierig, wie die Raubmöven, sondern um den vom Fischen und Schwimmen ermüdeten Körper zu pflegen und auszuruhen. Das Boot ward ausgesetzt, doch mußte uns Kleyhauer noch eine große Strecke auf seinem Rücken durch das zu seichte Wasser tragen. Bei unserer Ankunft erhoben sich in dichten Wolken die Möven, die Seeschwalben flatterten uns um den Kopf, verwundert über so ungewöhnlichen Besuch, die Robben flüchteten scheu in’s Meer.
Nachdem das Wasser sich vollends verlaufen hatte, lagerten wir uns, je zwanzig Schritte von einander entfernt, an der zum Landen für die Seehunde bequemsten Stelle am Rande der Sandbank. Anfangs war hier die Lage auf Knieen und Ellenbogen nicht so schlecht, je mehr sich aber das Wasser aus dem Sande versickerte, um so lockerer ward dieser und um so tiefer sanken wir ein, ohne einen festen Halt zu gewinnen. Ein feiner kalter Regen durchnäßte uns, trotz der wollenen Schifferkleidung, bis auf die Haut; dicht vor uns brandeten die Wellen der noch immer unruhigen See, und so durchschauerten uns auf’s Neue Anwandelungen der Seekrankheit, namentlich schwankte Alles vor unseren Augen auf und nieder.
Dem Schiffer gegenüber ließen wir uns davon nichts merken, wir harrten geduldig aus, bis die Seehunde sich zeigten. Endlich erschien weit draußen im Meere ein Kopf, äugte einen Moment nach uns herüber und verschwand alsbald, ebenso ein zweiter, dritter. Bald darauf tauchten sie in größerer Nähe empor, doch vergebens hofften wir, daß sie ganz herankommen würden, sie [461] hielten sich nur längere Zeit in einer Entfernung von circa zweihundert Schritt, wobei wir sie sehr genau beobachten konnten, und gingen dann weg nach einer anderen inzwischen emporgekommenen Sandbank. Es waren zwei alte und drei jüngere Thiere; da der Wind etwas ungünstig war, mochten die Alten Unrath gewittert und die ganze Gesellschaft mit fortgenommen haben.
Bereits im Begriff, die Jagd aufzugeben, sahen wir aus der Ferne einen einzelnen Seehund straff auf unsern Platz lossteuern. Er tauchte unter und kam dann in einer Entfernung von nur etwa sechszig Schritt von uns wieder zum Vorschein, den Vorderkopf nach mir gerichtet. Trotz der strengen Regel, nur auf zehn Schritte Distanz und nur von der Seite oder von hinten her auf den Kopf zu schießen, hatte ich leise das Gewehr erhoben – Kleyhauer huxte – und rasch tauchte das Thier abermals unter.
„Aufgepaßt, Doctor! Der kommt nah genug!“ rief jener mir zu, und mit angehaltenem Athem, das Gewehr schußfertig auf die Oberfläche des Wassers gerichtet, harrte ich, bis das Thier wieder emporkäme.
Da plötzlich erschien es nur fünf Schritte vor mir auf dem Wasserspiegel, die großen, dunklen Augen auf meinen Jagdgefährten, der weiter links lag, geheftet – uns beiden gleich schußgerecht, und auch dieser erhob sein Gewehr.
So kurze Zeit auch seit dem letzten Untertauchen des Thieres verstrichen, so war die Anspannung für meine bereits seekranken Nerven doch zu groß; vergebens suchte ich meine Ellenbogen fest auf den lockeren Sand zu stützen, dieser gab nach, mir zitterten die Arme und mit ihnen das Gewehr; vor meinen Augen dunkelte es, dann flammte es grün und gelb und feuerfarben, die Wogen schwankten auf und nieder und, wie in Nebel gehüllt, tanzte auf den purpurn und golden glitzernden Wellen der Seehundskopf mit den großen, strahlenden Augen – mich hatte das Seehundsfieber gepackt. Dennoch raffte ich noch einmal alle Kraft zusammen und gab Feuer. Ein freudiger Ruf Kleyhauer’s zeigte, daß ich getroffen; mit einer Behendigkeit, wie sie sonst die Schiffer nur auf ihren Brettern zeigen, eilte er zur Stelle und zog mit langem Haken das regungslos glatt obenauf treibende Thier an’s Ufer. Hier ward dasselbe kunstgerecht hingelegt, als ob es ruhe, um andere anzulocken, während wir einen Spaziergang nach dem auf der Platte zur Rettung Schiffbrüchiger angebrachten Kaab machten. Es zeigten sich jedoch keine Seehunde wieder in der Nähe, und der unaufhörliche Regen, so wie allmählich wieder eintretende Fluth nöthigten uns bald zur Rückkehr auf den „Bismarck“.
Trockene Kleider, ein einfaches Mahl von Sandkartoffeln mit ostfriesischer Butter und hinterher ein vortrefflicher Kaffee restaurirten uns bald. Das stolze Bewußtsein, daß die Ehre des heutigen Tages gerettet sei, hob unsere Stimmung, und vergnügt segelten wir längs der grünumdeichten Küste von Butjadingerland hin, während der Capitän uns von seinen Fahrten nach Grönland erzählte. Gegen Abend gingen wir bei Eversand am Ausgange der Wesermündung vor Anker.
Während der Nacht leider wieder von einem tüchtigen Sturm geschüttelt, nahmen wir am folgenden Morgen unsern Cours nach „Hundehaufen“, einer Platte, auf der, wie schon der Name sagt, die Seehunde in Haufen anzutreffen sein sollen. Richtig zählten wir auch acht Stück beisammen, darunter mehrere Junge. Unser Forsteleve ward zuerst hinüber getragen, weil er heute womöglich zuerst schießen sollte; ein junges Thier blieb auch, dreist genug, in geringer Entfernung von ihm ruhig auf der Oberfläche, unklugerweise schoß er jedoch mit dem Büchsenrohre seines Doppelzeuges und ich sah noch vom Rücken Kleyhauer’s aus die Kugel zwei Zoll hinter dem Kopfe des Thieres auf’s Wasser aufschlagen. Da der Wind günstig war, so näherten sich auch, nachdem wir uns gelagert hatten, bald die verscheuchten Thiere wieder; die Wogen gingen aber so hoch, daß wir mehrmals fehlten, bis endlich ein junger, sehr hübsch weiß und schwarz gefleckter Seehund aus großer Nähe von meinem Oldenburger Jagdgefährten erlegt ward, worüber dieser sich „riesig gefreute“. Daß das Vorbeischießen sehr leicht ist, konnte ich mir später, nachdem die Thiere abgehäutet waren, sehr wohl erklären: der Schädel ist ringsum mit einer sehr dicken Fettschicht bekleidet, die den Kopf so groß erscheinen läßt, bietet aber von der einen oder andern Seite nur eine etwa handtellergroße Fläche dem Schützen als Zielscheibe. Trotzdem gelang es mir am dritten Tage, wo wir abermals in der Nähe von Wangeroog jagten, mit einem Dreyse’schen Zündnadelgewehr einen Seehund auf wenigstens neunzig Schritt Entfernung zu treffen – augenblicklich ließ er den Kopf sinken und trieb platt oben auf, während ein breiter Wasserstreifen blutig roth sich färbte. Als der eilig herangeruderte Kleyhauer das Thier am Haken emporzog, zitterten nur noch die Zehen ein wenig von den letzten entfliehenden Lebensgeistern. Die Seehunde sind ungemein weich und verenden fast augenblicklich, wenn auch nur ein einziges Schrotkorn an der richtigen Stille trifft.
Von der Platte aus, wo wir uns jetzt befanden, konnte man zur Ebbezeit Spiekeroog zu Fuße erreichen, während wir noch mehrere Stunden hätten warten müssen, bis die Fluth so hoch gestiegen, daß wir zu Schiffe heimkehren konnten. Wir entschieden uns für das Erstere und langten nach anderthalbstündigem Waten durch den Sand ohne allen Schutz vor den heute so brennenden Sonnenstrahlen glücklich auf der Insel an, herzlich froh, endlich einmal wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Der anfangs so anhaltende Regen, der scharfe Wind, der Qualm in der Kajüte und endlich die grellen Sonnenstrahlen hatten uns Gesicht und Hände so verwettert und gebräunt, daß wir aussahen, als ob wir wenigstens in Island gewesen wären; verwundert schauten uns die Herren, fahl mit Entsetzen die Damen an, und Alles lauschte gespannt der Erzählung unserer Reiseabenteuer. Frohlockend ward Kleyhauer begrüßt, als er gegen Abend mit den drei zu beiden Seiten des Wagens herabhängenden Seehunden vorfuhr. Mit spitzem Finger betasteten die Damen scheu die glatten, dicken Thiere.
Am folgenden Morgen hatte Kleyhauer die Robben abgehäutet und das Fett ausgebraten; wir verschmähten ein von ihm uns offerirtes Lendenbeefsteak, obwohl der frisch ausgelassene Thran so appetitlich duftete, wie frisches Schweineschmalz. Dagegen nahmen wir die Felle an uns zum bleibenden Andenken an die mühseligen Jagdabenteuer in der Nordsee und an den freundlichen Aufenthalt auf der seehundsplattenumsäumten Insel Spiekeroog.
Reichsgräfin Gisela.
„Es ist kein Zweifel!“ rief der Fürst aus. „Eschebach hat Ihnen eigenhändig dieses Schriftstück, dieses Testament übergeben, Herr von Oliveira?“
„Vor Allem muß ich Euer Durchlaucht die Mittheilung machen, daß ich ein Deutscher bin,“ sagte der Portugiese ruhig. „Mein Name ist Berthold Ehrhardt – ich bin der zweite Sohn des ehemaligen fürstlichen Hüttenmeisters Ehrhardt in Neuenfeld –“
„Ha, ha, ha!“ lachte der Minister im wilden Triumph auf. „Wußte ich doch, daß die ganze Geschichte auf einen Schwindel hinauslaufen würde. … Durchlaucht, da haben wir einen Demagogen vom reinsten Wasser wieder im Lande – er hat sich vor circa zwölf Jahren durch die Flucht der gesetzlichen Strafe entzogen!“
Der Fürst trat mit finster gerunzelten Brauen und einer sehr ungnädigen Bewegung zurück.
„Wie – Sie haben sich unter falschem Namen in meine Nähe einzuschleichen gewußt?“ rief er unwillig.
„Ich bin in der That Herr von Oliveira, Herr einer Besitzung, die diesen Namen führt und mir verleiht – in Brasilien gilt er für meine Persönlichkeit so gut, wie mein Familienname,“ entgegnete der Portugiese unerschüttert. „Wäre ich nach Deutschland zurückgekehrt, lediglich im eigenen Interesse, dann würde Nichts in der Welt mich vermocht haben, den lieben, ehrlichen [462] deutschen Namen auch nur für eine Secunde abzulegen. … Aber ich hatte eine Mission zu erfüllen, welche die größte Vorsicht erheischte. … Ich mußte mit Euer Durchlaucht in unmittelbaren, längeren Verkehr treten, und wußte doch, daß die strenge Handhabung der Etikette am Hofe zu A. einem Bürgerlichen diesen Verkehr nie gestatten würde –“
„Und wie sehr diese chinesische Mauer um die Person unseres allerhöchsten Herrn am Platze ist, beweisen Sie in diesem Augenblick schlagend, mein sehr vortrefflicher Herr Ehrhardt!“ fiel der Minister mit satanischem Hohn ein. „Es würde Ihnen in der That nie gelungen sein, Serenissimus mit diesem Schwindel“ – er zeigte auf das Testament in der Hand des Fürsten – „zu mystificiren, wenn Sie Ihren ,lieben, ehrlichen deutschen Namen’ beibehalten hätten … Durchlaucht,“ wandte er sich achselzuckend an seinen fürstlichen Herrn, „wünscht irgend Einer Ihrer Getreuen die Besitzungen und Einkünfte des fürstlichen Hauses zu vergrößern, so bin ich’s – mein ganzes bisheriges Wirken mag für mich sprechen – aber ich müßte mich selbst mit Blindheit schlagen, ich beginge die schreiendste Unterlassungssünde, wenn ich nicht das erbärmliche Machwerk in Ihren Händen für ein Falsificat erklärte! … Mein Herr Ehrhardt, mein sehr verehrter Herr Demokrat, ich durchschaue Ihre und Ihrer löblichen Partei Absichten nur allzu gut! Mit diesem Testament suchen Sie der Schaar, die den Thron ihres Herrn in unwandelbarer Treue umsteht, der Aristokratie, einen Schlag in das Gesicht zu versetzen – aber hüten Sie sich – ich stehe da und gebe den Schlag zurück!“
Wohl flammte der verhängnißvolle Streifen auf der Stirn des Portugiesen wie ein Feuermaal auf, wohl zuckte es in der geballten Rechten, als wolle sie schmetternd niederfallen – aber Berthold Ehrhardt war nicht mehr jener heißblütige Student, den einst nur der tiefernste, heißgeliebte Bruder in die Schranken der Selbstbeherrschung zurückzuführen vermochte – er war in diesem Moment das erhabene Bild mächtiger Willenskraft und moralischer Stärke – die gehobene Rechte sank, und sein flammender Blick glitt ernst messend an der schmächtigen Gestalt des Ministers nieder.
„Seine Durchlaucht wird im Laufe meiner Mittheilungen erfahren, weshalb ich jedwede Satisfaction Ihrerseits verschmähe,“ sagte er gelassen.
„Unverschämter –“ fuhr der Minister auf.
„Baron Fleury, ich bitte dringend um Mäßigung,“ rief der Fürst und streckte ihm gebietend die Hand entgegen. „Lassen Sie den Mann reden – ich will mich selbst überzeugen, ob wirklich die Umsturzpartei, der Haß – “
„Die sogenannte Umsturzpartei in Euer Durchlaucht Lande hat mit dieser Angelegenheit nichts zu schaffen“ – warf der Portugiese ein – „wenn aber Euer Durchlaucht von Haß sprechen, so kann und darf ich ihn nicht leugnen, meinen tiefen, unauslöschlichen Haß gegen diesen Mann!“ Er zeigte auf den Minister, der abermals verächtlich auflachte. „Ja, ja, lachen Sie!“ fuhr der Portugiese fort. „Dieses Hohngelächter hat mich begleitet, als ich aus dem Vaterlande floh; es hat in meinen Ohren gegellt, wohin ich auch meinen flüchtigen Fuß setzen mochte – im lauten Geräusch der Städte und in der tiefen Stille der Einöden! … Wohl kam ich mit heißen Rachegedanken über das Meer zurück – die glühende Sonne des Südens, aber auch die Mittheilungen eines schwer hintergangenen Mannes hatten sie allmählich zum lodernden Brand angefacht. Das Blatt dort“ – er zeigte nach dem Testament – „sollte auch Zeugniß ablegen gegen den Mann, der meinem armen Bruder sein Kleinod hohnlachend entrissen, der das Maß des Elends über zwei unschuldige Menschen ausgeschüttet hat, weil ihm nach des Urias Weib gelüstete – ich sage es noch einmal, ich bin zurückgekommen, einzig und allein, um zu rächen! … Diese Flamme ist erstickt in meiner Brust, – eine edle Stimme, ein unschuldiges Geschöpf hat mich zu überzeugen gewußt, daß sie unrein sei. … Wenn ich jetzt noch meine Mission consequent durchführe, das heißt mit anderen Worten, wenn ich Sie stürze von dem Gipfel Ihrer absolutistischen Herrlichkeit, so geschieht es einzig, um eine Geißel meines unglücklichen Vaterlandes zu vernichten.
Der Fürst stand wie vom Donner gerührt vor dieser unglaublichen Kühnheit, der Minister aber machte eine tigerartig rasche Bewegung nach der Klingel, als stehe er in seinem Bureau, und draußen vor der Thür die Häscher.
Ein kaltes Lächeln glitt bei diesem Anblick um die Lippen des Portugiesen. Er zog abermals ein Papier, ein kleines, vergilbtes, zerknittertes Blättchen, hervor – es bebte auf und nieder – man sah, die Hand zitterte doch, die einen Beweis nach dem anderen für eine schwere Schuld beibrachte.
„Euer Durchlaucht,“ wandte er sich mit bedeckter Stimme an den fürstlichen Herrn – „in der Nacht, da Prinz Heinrich im Sterben lag, ritt ein Mann nach A., um den Fürsten an das Lager des Verscheidenden behufs einer Versöhnung zu holen. … Greinsfeld lag zwar abseits, aber der Reiter verließ doch die Chaussee nach A. und ritt hinüber nach dem Schlosse, wo ein großer Maskenball abgehalten wurde. Bald darauf trat ein Domino an die Gräfin Völdern heran und drückte ihr diesen Zettel in die Hand – er entfiel später dem Busen der Gräfin, als sie am Bett des Prinzen niederstürzte – Herr von Eschebach hob. ihn auf und nahm ihn in Verwahrung –“
In diesem Augenblick stürzte der Minister, bar aller Fassung, auf den Portugiesen zu und suchte ihm das Papier zu entreißen, allein an diese gigantische Kraft durfte er sich nicht heranwagen – ohne zu wanken, mit einer einzigen Bewegung schleuderte der gewaltige Mann den heimtückischen Angreifer weit von sich und überreichte dem Fürsten den Zettel.
„Prinz Heinrich liegt im Sterben“ – las Serenissimus mit wankender Stimme – „will sich mit dem fürstlichen Haus versöhnen, eilen Sie – sonst Alles verloren – Fleury.“
„Schuft!“ stieß der Fürst hervor und schleuderte dem Minister den Zettel vor die Füße.
Aber noch gab sich der Mann mit der ehernen Stirne nicht verloren. Er war bereits wieder Herr über sich selbst – er hob das Papier auf und überlas es – freilich hatte diese Stimme voll Aufregung etwas Lallendes.
„Wollen Euer Durchlaucht wirklich einen treuen Diener Ihres Hauses auf eine solche elende Denunciation hin verurtheilen?“ fragte er mit der Oberfläche der linken Hand auf das Papier schlagend. „Ich habe den Zettel nicht geschrieben – er ist gefälscht – ich schwöre es – gefälscht –“
„Gefälscht, wie die gräflich Völdern’schen Familiendiamanten, die Ihre Frau Gemahlin trägt?“ fragte der Portugiese ruhig.
Drüben im Nebenzimmer wurde ein Poltern laut – dann hörte man fern eine Thür schmetternd in’s Schloß werfen.
Der schlimmste Zeuge gegen den Minister war sein Gesicht – es war entstellt bis zur Unkenntlichkeit; dennoch wehrte er sich mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden.
„Ueberzeugen sich Euer Durchlaucht noch immer nicht, daß Sie es mit einem Ehrlosen zu thun haben?“ stammelte er. „Gehören meine Privat- und Familienverhältnisse, die er mit einer solchen unglaublichen Frechheit zu besudeln sucht, vor dieses Forum?“
Der Fürst wandte sich ab – es mochte ihm unerträglich peinlich sein, in das fieberisch zuckende Antlitz seines langjährigen Günstlings und Beherrschers zu sehen, der, völlig verlassen von Geist, Witz und einer beispiellosen Zuversicht, auf so klägliche Weise nach einem letzten Halt griff.
„Bleiben Sie bei der Sache, Excellenz!“ sagte her Portugiese unerschüttert. „Es fällt mir nicht ein, Ihre Privat- und Familienverhältnisse zu berühren; obwohl ich nicht leugnen kann und darf, daß ich auch auf diesem Gebiet nicht fremd bin.“ –
„Ach, es hat Sie interessirt, die Tiefe meines Portemonnaie und die Länge meiner Wäschzettel kennen zu lernen?“ Der Minister versuchte noch einmal, mit diesen Worten seinen gewohnten hohnvollen sarkastischen Ton anzuschlagen – er klang von den angstbleichen, bebenden Lippen nur um so widerlicher. Der Portugiese ignorirte den beißenden Einwurf vollständig.
„Sie haben in Herrn von Eschebach einen unversöhnlichen Feind gehabt,“ fuhr er gelassen fort. „Ihn hat das begangene Unrecht aus der Heimath fortgetrieben; er ist trotz seiner erworbenen Reichthümer ein armer, unglücklicher, einsamer Mann geblieben und hat auf fremder Erde sterben müssen. Auch an Herrn von Zweiflingen haben sich Verrath und Treubruch schwer gerächt – er ist schmählich untergegangen. … Nur Sie, der das Signal zu jenem abscheulichen Betrug gegeben, der Sie, als getreuer Helfershelfer der Gräfin Völdern, die ersten Knoten des Netzes geschlungen haben, in das die zwei Bethörten gelockt worden sind – Sie haben sich mit beiden Füßen auf Ihr Verbrechen gestellt, um von da aus, Staffel für Staffel, nach Ehren, [463] Ansehen und unumschränkter, schändlich gemißbrauchter Macht emporzusteigen. … Noch einmal hoffte der Einsame in Südamerika, den seine glühende Liebe für die Tochter jenes ränkevollen Weibes bis in den Tod begleitet hat, auf Glück – es war da, wo Graf Sturm heimging. Herr von Eschebach wollte nach Deutschland zurückkehren – aber da stand bereits Seine Excellenz der allmächtige Minister wieder, streckte seine Hand aus und führte die schöne Wittwe heim.“
„Aha – da kommt des Pudels Kern!“ rief der Minister mit hohlem, klanglosen Auflachen. „Mein Glücksstern hat den scheelen Neid, die im Finstern schleichende Bosheit gegen mich herausgefordert!“
„Excellenz, sagen Sie lieber, die Entrüstung darüber, daß das Böse so viele Jahre lang triumphiren durfte!“ sagte der Portugiese mit starkem Nachdruck und sprühenden Augen. „Seit jenem Augenblick hat Herr von Eschebach Sie allerdings verfolgt, wie der Jäger das einmal aufgespürte Wild. Er hatte über Millionen zu gebieten – sie haben ihm tausend Wege erschlossen, Sie in Ihrem geheimsten Thun und Treiben zu belauschen – er hat Ihre intimsten Beziehungen in Paris und in den Bädern den Spielhöllen – gekannt, und wenige Tage vor seinem Tode bin auch ich zur Kenntniß aller dieser Einzelnheiten gekommen. Doch das sind in der That Ihre Privatangelegenheiten, und sie gehören nicht hierher. … Dagegen ist es mit nichten Ihre Privatsache, wenn Sie das Besitztum Ihrer Mündel veruntreuen, wenn Sie die ihr gehörigen Juwelen für achtzigtausend Thaler verkaufen und einen werthlosen, imitirten Schmuck dafür eintauschen. … Es ist ferner ebensowenig Ihre Privatsache allein, daß Sie hier auf unrechtmäßig erworbenem Boden stehen – Sie haben das weiße Schloß nie gekauft – es war der Preis für Ihren Verrath am Fürstenhause!“ …
„Teufel!“ schrie der Minister auf. „Sie plündern mich bis auf’s nackte Leben!“ Er fuhr mit beiden Händen nach dem Kopfe. „Ha, ha, ha! Und lebe ich denn wirklich noch? … Ist es wahr, daß der erste, beste Glücksritter daherkommen und mir vor Eurer Durchlaucht Augen die nichtswürdigsten Verleumdungen ungestraft in das Gesicht schleudern darf?“
„Widerlegen Sie diese Verleumdungen, Baron Fleury!“ sagte der Fürst mit scheinbar äußerer Ruhe.
„Euer Durchlaucht verlangen in der That von mir, daß ich mich herbeilasse, die Anklagen dieses Abenteurers zu entkräften? … Es fällt mir nicht ein – ich stoße sie verächtlich mit dem Fuße weg, wie einen Stein, den man mir in den Weg geworfen!“ rief der Minister mit heiserer, aber ziemlich fester Stimme – seine Frechheit und Zuversicht wuchsen wieder; es hatte Etwas wie ein schmerzliches Bedauern in Serenissimus Ton mitgeklungen. „Durchlaucht, ich setze den Fall – ich sage nur – gesetzt, es träfe mich in Wirklichkeit hie und da ein Vorwurf – liegen nicht in der anderen Wagschale so viele Verdienste um das Fürstenhaus, daß ein längst verjährtes Unrecht darüber vergessen werden könnte? … Sollte es nicht schwer in das Gewicht fallen, daß ich den Glanz der Dynastie zu mehren verstanden habe wie keiner meiner Vorgänger? Daß ich wie ein Schild vor ihr stehe und den Steinhagel auffange, den die Schlechtgesinnten, die Demokratie nach den Traditionen Ihres edlen Hauses schleudert? Daß ich dem Zeitgeist nie gestatte, auch nur mit einem Finger an die geheiligten Rechte des Herrschers zu rühren? … Ich bin Euer Durchlaucht getreuester, uneigennützigster Rathgeber in den Beziehungen zu Ihrem Lande, wie in den intimen Angelegenheiten der fürstlichen Familie –“
„Sie sind es nicht mehr,“ unterbrach ihn der Fürst mit schwerer Betonung.
„Durchlaucht –“
Der Fürst wandte ihm den Rücken, trat in die Fensternische und trommelte mit den Fingern heftig auf den Scheiben.
„Bringen Sie mir Gegenbeweise, Baron Fleury!“ rief er in das Zimmer zurück, ohne sich umzuwenden.
„Ich werde nicht verfehlen, Euer Durchlaucht,“ stammelte der Minister, buchstäblich zusammenbrechend. Er griff mit unsicher tappender Hand nach dem Thürschloß und taumelte hinaus in den Corridor.
Am unteren Ende des Ganges erschien in diesem Augenblick Gisela. Die Besorgniß, daß der Fürst doch vielleicht einen anderen Rückweg einschlagen könne, hatte sie endlich die Treppe hinaufgetrieben – sie wollte ihn im Corridor erwarten; denn sie sagte sich mit Recht, daß sie nicht mehr in seine Nähe gelangen würde, wenn er wieder im Tanzsaale, inmitten seiner Gäste sei.
Der Minister brach bei Erblicken seiner Stieftochter in ein höhnisches sichern aus – es war, als gäbe sie ihm die Besinnung zurück.
„Du kommst ja wie gerufen, Goldkind! … Gehe nur hinein, da hinein!“ rief er und zeigte mit dem Daumen über die Schulter nach dem eben verlassenen Salon zurück. – „Liebchen, Du hast mich gehaßt vom Grunde Deines Herzens, mit der ganzen Kraft Deiner störrischen Seele –ich weiß es, und jetzt, wo unsere Wege sich trennen für immer und ewig, kann ich mir die Genugthuung nicht versagen, Dich wissen zu lassen, daß die Antipathie gegenseitig gewesen ist. … Das erbärmliche, eigensinnige Geschöpf, das mir die Gräfin Völdern hinterlassen, war für mich ein Gegenstand des Abscheues – ich habe stets nur mit innerem Widerstreben den kleinen, kranken Körper berührt, den man ,meine Tochter’ nannte. … So – nun sind wir quitt! Und nun gehe da hinein und sprich: ,Mein lieber Papa hat mich à tout prix in’s Kloster stecken wollen, weil ihm nach meinem Erbe gelüstete!’ Ich sage Dir, das wird einen Knalleffect geben, einen Knalleffect“ – er schnippte wie wahnwitzig mit den Fingern in die Luft „Im Uebrigen waren Deine geistreichen Argumente gegen das Klosterleben völlig überflüssig – wir hätten uns den Streit um des Kaisers Bart ersparen können, Gräfin Sturm – ein Anderer hat die fatale Angelegenheit ungleich gelungener zum Auftrag gebracht! … Ha, ha, ha! Ich hatte mir die letzte gräflich Völdern’sche Physiognomie so allerliebst im Nonnenschleier gedacht! … Armensuppen brauchst Du nun auch nicht zu kochen. Du kannst getrost und ungenirt über die Wiesen laufen, wie Du Dir idyllischer Weise gewünscht, und behältst auch ein ganz respectables Stück Himmel über Dir – aber merke Dir wohl: nur den Greinsfelder Himmel, in Arnsberg schüttle Dir nur den Staub von den Füßen, wie Seine Excellenz der Minister binnen wenigen Augenblicken auch thun wird!“
Er stierte vor sich hin, als steige erst jetzt die ganze entsetzliche Zukunft mit ihrer niederschmetternden Wucht vor ihm auf, während Gisela sprachlos vor Schrecken und Abscheu zurückwich und sich an den nächsten Fenstersims anklammerte.
„Ja, ja, Alles fort, Alles fort!“ stieß er heiser hervor. „Die gräflich Völdern’schen Dorfinsassen und ihre Abgaben, und die Wildbraten in den Wäldern und die Karpfen in den Teichen, Alles, Alles wieder hochfürstlich! … Bei Dir verfängt das freilich nicht – gelt, meine Kleine? Du bist zufrieden, wenn sie Dir Milch und Schwarzbrod lassen. … Aber sie, sie! Da liegt sie drunten, die schöne, erhabene, heilige Großmutter, und hält ein Crucifix, das sie ihr in die weißen Hände gedrückt haben – ha, ha, ha! Der schönen Helena, die schnurstracks nach dem Blocksberg gefahren ist, ein Crucifix! … Wenn sie aufwachen und das elende Papier sehen könnte! Sie würde es mit den Zähnen zerreißen und den Boden zerstampfen mit ihren Füßen – sie würde – wie ich – nur Eines haben für Alle, für Alle: ihren Fluch!“ …
Er lief an dem jungen Mädchen vorüber, nach der Treppe zu und stieß ein gellendes Hohngelächter aus – es hallte schauerlich von den engen Wänden des Corridors wider und mußte wohl auch schreckhaft in den Salon mit den violetten Plüschvorhängen dringen. Die Thür wurde geöffnet und der Fürst sah heraus.
Der Minister war bereits im Treppenhause verschwunden; Gisela aber lehnte mit schlaff niedergesunkenen Händen, die Augen voll Entsetzen nach dem Fliehenden gerichtet, wie erstarrt an der Wand.
Der Fürst schritt geräuschlos auf sie zu und legte seine Hand leicht auf die Schulter der Zusammenfahrenden. Ein furchtbarer Ernst lag auf seinem schmalen Gesicht – es schien binnen einer halben Stünde um fünfzehn Jahre gealtert zu sein.
„Kommen Sie herein, Gräfin Sturm,“ sagte er freundlich, wenn auch jene zärtliche Güte, mit welcher er sie sonst anzureden pflegte, aus Ton und Antlitz verschwunden waren.
Blätter und Blüthen.
Instinct oder Ueberlegung! Im Jahre 1844 kam ich als Revierförster nach Niederdorf, einem netten Flecken in Tirol mit schönen Forsten und Wildständen. Das Amtsgebäude, welches ich mit meinen Untergebenen bewohnte, war durch einen weiten Hofraum von einem parallel laufenden Nebengebäude getrennt, in welchem sich die Waschküche, Holzlage, der Backofen und der am verstecktesten abseits liegende Eingang zum Wildkeller befanden. Ich hatte damals neben andern guten Jagdhunden eine Hündin, Namens „Diana“, welche durch ihre ausgezeichnete Dressur, feine Spürkraft und große Schönheit sehr lieb und theuer geworden.
Es war am 9. December desselben Jahres, als wir von einer ziemlich ergiebigen Jagd nach Hause zurückkehrten. Unter den Gästen war auch der Jägermeister irgend eines kleinen Fürsten anwesend (des Namens kann ich mich nicht mehr entsinnen, welcher während des ganzen Heimweges von nichts Anderem sprach, als von meiner Diana, und mir endlich die Summe von achtzig Thalern für dieselbe bot. Nicht wenig Mühe kostete es mich, ihm begreiflich zu machen, daß ich um keinen Preis mich von meinem Lieblinge trennen würde – dafür aber versprach ich demselben ein Junges von Diana’s erstem Wurfe, welcher nach meiner Berechnung in vier bis sechs Wochen erfolgen sollte.
Zu Hause angelangt, war ich einige Zeit beschäftigt, das erlegte Wild im Keller aufzuhängen, und als ich nachher nach den Hunden sah, stellte es sich heraus, daß Diana fehlte. Darüber machte ich mir jedoch keine Scrupel, indem ich der vielbewährten Folgsamkeit und Klugheit des Thieres unbedingtes Vertrauen schenken durfte. Allein als bis zum Abende noch keine Spur von dem Hunde gefunden war, wußte ich wirklich nicht, was ich davon denken sollte, denn ich war ja fest überzeugt, daß Diana zu jeder Zeit viel besser als mancher Mensch wußte, was ihre Pflicht erfordere. Das Wohnhaus wurde wiederholt durchsucht, allein ohne Erfolg. Von meinen Leuten, welche ich einzeln und auf’s Genaueste befragte, wann und wo sie den Hund zum letzten Male gesehen hätten, wußte, mit Ausnahme eines Einzigen, keiner etwas Bestimmtes anzugeben. Dieser Eine versicherte mir, daß er die Diana beim Thore des Forsthauses gesehen habe, als er mit den anderen Hunden, die er an der Leine führte, daselbst eintrat. Später wäre er sowie die Anderen bei der Abrechnung mit den Treibern, sowie mit der Versorgung der Jagdgeräthe und Abladen des Wildes voll auf beschäftigt gewesen. – Ich ging hierauf selbst nochmals in den Wald und suchte einige Stunden überall, wo wir heute gejagt hatten, allein erfolglos. Am nächsten Tage versprach ich Demjenigen, der mir die Diana zurückbrächte, eine Belohnung von zwanzig Gulden, der Oberjägermeister legte ebenfalls zwanzig Gulden dazu, so daß der Finderlohn sich auf vierzig Gulden belief. Dies bewirkte, daß das halbe Dorf sich auf die Sohlen machte, um den Hund zu finden.
Es wurde wieder Abend, ich konnte nicht schlafen, es wurde endlich wieder Tag, ich rannte suchend im Walde umher – vergehens. Daß ich’s kurz mache, es vergingen vier lange Tage und Nächte, ohne daß irgend Jemand den Hund gesehen. Ganz verstimmt und niedergeschlagen über diesen Verlust, ging ich am Morgen des fünften Tages, seitdem Diana vermißt wurde, nur von zweien meiner Leute begleitet, wieder auf die Jagd. Wir hatten jedoch kaum begonnen zu jagen, als das Wetter sich änderte und heftiger Wind, verbunden mit Schneegestöber, uns veranlaßte, für heute nach Hause zurückzukehren, was mir damals um so lieber war, als ich ja ohnedies nur mit halber Seele theilnahm.
Zu Hause angekommen, trug ich den einzigen Hasen, den ich geschossen, in den Keller. Ich schloß die starke Thür auf, erschrocken prallte ich zurück – auf den obersten Stufen der Stiege lag – meine Diana – todt! Ganz abgezehrt lag sie da mit blutig zerarbeiteten Vorderläufen, deren Spuren das Eichenholz der Thür an sich trug. Das treue Thier war des Hungertodes gestorben unter der reichsten Auswahl aller Arten von Federwild, Hasen und Rehen! Pflichtgetreu wie immer war es lieber elendiglich zu Schanden gegangen, ehe es das Eigenthum seines Herrn anrührte. – Damals habe ich geweint wie ein Kind!
Rüge. – „Zeichenblättchen zur Selbstbeschäftigung für Kinder“ von H. E. Wagner, Lehrer, nicht von J. Hagelberg in Berlin! Vor Jahresfrist gab der Lehrer Wagner in Copitz, bei Pirna in Sachsen, drei Hefte Zeichenblättchen heraus, nachdem die Nützlichkeit derselben an mehreren hundert Kindern der Altersstufen vom dritten bis zum achten Jahre sorgfältig geprüft worden war. Die Blättchen fanden von Seiten der Eltern, der Lehrer und der pädagogischen Presse so freundliche Aufnahme, daß sich bald eine zweite um drei Hefte vermehrte Auflage nöthig machte. Jetzt erst konnte dem Herausgeber für seine glückliche Idee und seine viele Sorge und Arbeit der wohlverdiente Gewinn werden, und es ist wohl bekannt genug, wie sehr ein solcher Nebenverdienst einem deutschen Schullehrer, der für die Zukunft von sechs Kinderchen zu sorgen hat, zu gönnen ist.
Da schleudert ein Berliner Lithograph vier Hefte „Zeichenblätter“ auf den Markt, welche Format, Zeichnung und Farbe des Umschlags der Wagner’schen Blätter mit aller Kunstfertigkeit der Falschmünzerei wiedergeben, so daß die unanständige Absicht, die dem Wagner’schen Unternehmen gewordene Empfehlung für sich auszubeuten, klar am Tage liegt. Wie bei der Falschmünzerei ist auch hier der Gehalt weniger werth, als das Gepräge. Der Berliner Lithograph J. Hagelberg hat sich schon einen weit niedrigeren Zweck gesetzt als der Lehrer Wagner. Während dieser in der dem Heftchen gedruckt beiliegenden „Anweisungen zum Gebrauch der Zeichenblättchen“ „das Selbstschaffen schon der kleinsten Kinder“ als etwas Heilsames für sie erkennt und nur darum seine in Schule und Haus erprobten Zeichenblättchen als ein herrliches Bildungsmittel empfiehlt – empfiehlt Herr Hagelberg seine Zeichenblättchen nur „als eine gewiß vielen Eltern willkommene Gabe, weil sie den Zweck haben: die Kleinen im Zimmer zeitweise geräuschlos zu beschäftigen!“ Also weiter hat’s keinen Zweck, als – Ruhe im Haus! – Und darnach ist denn auch der Inhalt beschaffen. Bei Herrn Hagelberg unnützer und leicht zerreißlicher Bilderkram, dessen ausgeführtes Colorit die Augen unkundiger Eltern bestechen, von den Kindern aber nicht nachgemalt werden kann, während aus den Wagner’schen die Anordnung des sinnigen Pädagogen hervorschaut, der schrittweise das spielende Kind mit dauerhaften Vorlagen vom Einfachsten zum Schwersten fortführt.
Trotz alledem würde das treffliche Wagner’sche Unternehmen nun in der Gefahr stehen, durch das Hagelberg’sche doppelt zu Grunde gerichtet zu werden: materiell durch die überfluthende Concurrenz des Berliners, und ideell dadurch, daß durch die Hagelberg’schen Blättchen die ganze Idee in Mißcredit kommen muß, – wenn nicht den Eltern, Erziehern und Lehrern in Deutschland, Frankreich und England (auch in diesen Sprachen ist die Wagner’sche „Anweisung“ gedruckt) durch die Presse zugerufen wird, daß die Hagelberg’sche Nachahmung ebenso unpädagogisch als unpraktisch und darum keinem Kinde in die Hand zu geben sei! Möge dem wahren Verdienst auch diesmal sein Lohn werden!
Ein deutscher Dichter und sein Sohn. Im Anfange des Frühlings 1866 erschien plötzlich und hastig ein stattlicher junger Mann in knapper Freiwilligenuniform im Hause des gelähmten Dichters Mosen, drang unaufhaltsam in das Zimmer und vor das Bett des Kranken, stürzte vor demselben auf die Kniee und sagte mit tiefbewegter Stimme: „Lieber Vater, ich bitte Dich um Deinen Segen, denn ich gehe mit in den Krieg. Falle ich, so habe ich einfach meine Pflicht gethan, und die Alten sagten ja schon, der süßeste Tod sei: zu sterben für das Vaterland.“
Mosen erhob mit größter Anstrengung die gelähmte Hand, um sie auf das Haupt des vor ihm knieenden Sohnes zu legen, und sagte tiefbewegt: „Geh’ mit Gott, mein Sohn! Er segne Dich und gebe Dir seinen Frieden.“ – Mit Thränen im Auge küßte der Sohn den schwerkranken Vater und stürzte hinaus.
Der Großherzog aber sagte dem Obersten des Regimentes, in dem der junge Mosen diente: „Halten Sie mir den jungen Mann sehr im Auge und sorgen Sie, daß er sich nicht unnöthig und unnützer Weise aussetzte, ich weiß, daß er ein Hitzkopf ist.“ Der junge Mosen machte den Krieg mit, kam als decorirter Officier zurück, quittirte aber sofort den Militärdienst. „Ich habe das Meinige gethan,“ sagte er, „den Gamaschendienst mögen Andere thun.“
Die Thränen einer Mutter zu trocknen! – Ein Officier des nordamerikanischen Unionsheeres, Friedrich Emil Großmann aus Kamenz in Sachsen, ist, nach einem Berichte des Generalconsuls des Norddeutschen Bundes zu Newyork, Herrn Johannes Rösing, vor etwa einem Jahre von Salt Lake City als Capitän beim siebenten Regiment nach Omaha abmarschirt. Seitdem ist die Mutter desselben, die Wittwe Sabine Großmann in Kamenz, ohne Nachricht von dem Sohne. Vielleicht ist einer der geehrten Leser der Gartenlaube in Nordamerika so glücklich und so gut, Nachricht vom Capitän Großmann zu besitzen und sie der Mutter mitzutheilen.
bedarf keiner Anpreisungen. Es hat in sieben Auflagen für sich selbst gesprochen und wird das in der achten durch seine zeitgemäßen wissenschaftlichen Verbesserungen und Vermehrung der Abbildungen noch mehr können. In 7 Heften ist das Werk vollständig. Der Subscriptionspreis jedes Heftes von ca. 6 Bogen ist nur 71/2 Ngr., wofür auch der weniger Bemittelte im Stande ist, sich diesen Helfer in der Noth nach und nach anzuschaffen. Das erste Heft ist soeben erschienen.
Die Verlagshandlung von Ernst Keil in Leipzig.