Die Gartenlaube (1869)/Heft 52
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No. 52. | 1869. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen.
Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Die Glocken läuten. Das ist Weihnachtstag!
Welch’ lauter Jubel in der Kinderstube!
Was wohl das Christkind alles bringen mag?
So geht ein Munkeln zwischen Maid und Bube.
Wie seine Hufe an der Thüre scharrten!“ –
„Mich hat der Schellen Klingeln aufgestört
Jüngst aus dem Schlafe noch in später Nacht!“
So spricht die Jugend und sie scherzt und lacht
Und endlich, endlich flammt’s im Tannengrün!
Rings goldne Nüsse, bunte Blumen, Lichter,
Die Kinderwänglein, die wie Rosen blühn,
Und klare Augen, frohe Angesichter!
Des Alltags Plage und des Herzens Wunde,
Eh’ wir’s geglaubt, verträumt, vergessen war’s
Bei der geschmückten Fichte hellem Schein! –
Ein Traum im Himmel, stilles Seligsein,
Das ist dein Segen, deutscher Weihnachtsbaum,
Dein Licht erglänzt, wo deutsche Brüder wohnen,
Im tiefen Nord in enger Hütten Raum,
Im fernen Süden unter Palmenkronen.
Bei deinem Leuchten hebt sich mild und labend
Vergang’ne Zeit aus des Vergessens Meer;
Erinn’rung heimwärts die Entfernten bringt!
Es prangt, so weit die deutsche Zunge klingt,
„So weit die deutsche Zunge“ – blitzgeschwind
Kommt dieses Wort mir in den Sinn gefahren!
Heut’ giebt’s ein Doppelfest, mein liebes Kind!
Am zweiten Weihnachtstag’ vor hundert Jahren
He, Wein herbei und eine volle Kanne!
Hoch Vater Arndt! Ei, wie das jubelnd bricht
Aus jeder Brust, wie’s frisch im Kreis erschallt!
Es ist ein mächt’ger Baum im Dichterwald
Rauhborkig, derb, ein Stamm von festem Mark
Und nie gewohnt, daß er den Wipfel biege,
In Blitz und Donner ward er groß und stark;
Ihm sangen Sturm und Woge an der Wiege.
Dem er entsproßt. Nicht duft’ge Blüthentraube,
Die ihren Kelch erschließt dem Sonnenschein,
Bringt solch’ ein Baum, nicht süßer Früchte Schatz,
Doch nimmt im Zweige Nest und Ruheplatz
So ist nicht Arndt der stolzen Palme gleich
Und nicht des Lenzes Königin, der Rose,
Den Kindern aus der Schönheit ew’gem Reich!
Ihm fielen anders des Geschickes Loose!
Die Götter, die in Wodans Himmel wohnen!
Sein Schlachtgesang empor in Sprudeln quoll,
Sprang in die Welt, ein wilder Katarakt;
Der blanke Säbel schlug dazu den Tact
Ein Falk’, der auf den welschen Reiher stieß
Und keck ihn faßte mit den starken Fängen,
So war sein Lied, als unsre Losung hieß:
Den Feind verjagen und die Ketten sprengen!
Die Welt durchflog’s, als hätt’ es Adlerschwingen,
Das Wort von deutscher Kraft und Herrlichkeit –
Und dann ein Lied, von Frömmigkeit durchweht,
So taubenfromm, fast wie das Christgebet,
Er warf sich liebend an der Mutter Herz,
Der Heimath Herz in unsrer Knechtschaft Tagen
Und wies die Geister muthig sonnenwärts,
Die, von dem Joch gebeugt, im Staube lagen.
Den Schleier weg, hat uns empor gerissen!
Dem Völkerzorn hat er das Lied gelieh’n,
Der Sehnsucht nach dem einen Vaterland!
Hoch steht er da, wie er sich selbst genannt:
Du deutsch’ Gewissen, sag’, wann wirst du wach
Und machst uns schamroth ob der Zwietracht Schande?
O Gott im Himmel, noch das alte Ach,
Das alte Weh im ganzen Vaterlande!
„Papa, so ernst zu Weihnacht!“ Ja, ihr Knaben,
Recht närrisch war’s! Die düstren Grillen fort!
Hoch Vater Arndt! Hei, wie’s das Haus durchbebt!
Gott geb’s, ihr Kinder, daß ihr’s noch erlebt,
Wenige Wochen später war die Straße, die zum Schwurgerichtshofe
führte, wie belagert; es war unmöglich noch in den
Saal selbst zu gelangen, so groß war der Andrang, das Landvolk
der ganzen Gegend war herbeigeströmt, die letzte Entwicklung eines
Ereignisses mit zu erleben welches durch seine seltene Eigenthümlichkeit
und die Menge merkwürdiger Nebenumstände das Gespräch
und Anliegen des ganzen Gaus geworden war.
Die gleich einem Wildwasser erbrausende, Kopf an Kopf [820] gedrängte Versammlung verstummte feierlich, als der Gerichtshof die Bühne betrat, die Geschworenen sich um ihre Sitze sammelten und auf Befehl des Präsidenten der Angeklagte eingeführt wurde.
Wendel erschien wohl verhärmt und angegriffen, aber doch nicht gebrochen; der Blick, mit dem er die Versammlung überflog, ließ errathen, daß er innerlich mit sich vollkommen einig war und jedenfalls seinen Entschluß gefaßt hatte. Er verzog keine Miene, als nach der Ausloosung der Geschworenen das Verlesen der Anklageschrift begann, eines rechtlichen und rednerischen Meisterstücks, worin die verschiedenen gegen Wendel sprechenden Anzeichen mit einer Genauigkeit und Schärfe zu einem so erdrückenden Beweise vereinigt waren, daß nach der Beendigung Alles wie beklommen tief aufathmete und wohl nur Wenige im Saale zugegen sein mochten, denen die Schuld des Angeklagten nicht bereits für ausgemacht galt. Die allgemeine Meinung schien ihn zu verurtheilen, wie ein allgemeines Gerücht, dessen Entstehen Niemand kannte, das sich überall hin verbreitete wie unsichtbar vom Winde ausgestreuter Samen, die Anklage gegen ihn hervorgerufen hatte. Kein Mensch vermochte zu sagen, wo er zuerst davon gehört, bald aber schlich überall die leise Sage umher, daß ein Knecht des Feichtenbauers diesem den Hof angezündet. Wer zweifelte dann noch, wenn er vernahm, daß Wendel am nämlichen Tage aus dem Dienste gejagt worden war, weil er sein Auge bis zur Tochter seines Herrn erhoben hatte? Dazu kam, daß er vor vielen Menschen den Bauer schwer bedroht hatte, daß er die Oertlichkeit des Hauses genau kannte, daß er zur entscheidenden Zeit, um seine Kleider zu holen, am Orte der That gewesen war – hatte er sich auch bald wieder entfernt, so lag doch die Annahme nahe, daß er dies absichtlich, nur zum Scheine gethan und sich in der Nähe verborgen gehalten. Dazu kam ferner noch, daß er allgemein als ein Bursche von heftigem Wesen bekannt war, den die auflodernde Hitze gar wohl zu einer raschen wilden That und selbst zu einem Verbrechen hinzureißen vermochte. Viele wollten wissen, daß er ein lauer Christ und ein schlechter Kirchengänger war, ein Mensch, der sich keinem Brauche fügen wollte und überall der gewohnten Ordnung widerstrebte – die Begegnung mit den Hüglinger Burschen war nicht ohne Folgen geblieben.
Das Verhör des Angeklagten war sehr kurz; er setzte der Anschuldigung einen starren, trotzigen Widerspruch entgegen, wenn er auch alle die Nebenumstände, aus denen sie gefolgert wurde, ohne Rückhalt zugestand und sich dadurch von dem gewandten Staatsankläger in ein Netz von Fragen verwickelt sah, das sich mit jeder Frage enger um ihn zusammen zog.
Die Vernehmung der Zeugen war nicht angethan, hieran etwas zu ändern. Der Feichtenbauer, der sich lange auf diesen Augenblick gefreut, machte weder aus seinem Groll noch aus seinem stets gehegten Verdachte ein Geheimniß. Christel rief schon durch ihr bloßes Erscheinen große Bewegung hervor, welche sich noch steigerte, als sie, obwohl auf’s Tiefste ergriffen und unter schmerzlichen Thränen, leisen und doch festen Tones, mit allen Zeichen rückhaltsloser Offenheit die allgemeinen Fragen über ihre Beziehungen zum Angeklagten beantwortete, und ungescheut vor den Menschen, wie sie es vor Gott gethan, ihre Liebe und ihre einst gehegten Hoffnungen bekannte. Wendel vermochte den Anblick des Mädchens nicht zu ertragen; die Hände vor’s Gesicht schlagend, saß er niedergebeugt da und konnte auf die Frage des Präsidenten, ob und was er gegen die Aussagen dieser Zeugin zu erinnern habe, nur mit stummem Kopfschütteln erwidern. Die Angaben der Dienstboten und Nachbarn über Entdeckung und Verlauf des Brandes brachten ebenfalls kein neues Licht in die Sache; Domini, der über den Vorfall im Bergwirthshause vernommen wurde, nahm sich zusammen und sprach zwar ohne Rückhalt, aber auch ohne jede Spur von Gereiztheit, wie ein vollkommen glaubwürdiger Zeuge.
Die Einzige, welche ihre Aufregung nicht zu bemeistern vermochte, war Susi, die geladen war, um über Wendel’s Aufenthalt auf dem Feichtenhofe auszusagen, und die zum ersten Male vernommen ward, weil sie früher nicht aufgefunden werden konnte. Sie war mit Domini lustig im Lande herumgezogen, denn wenn sie ihn auch grollend empfangen hatte, als er am Tage ihres Zusammentreffens anstatt am Abend, wie er versprochen, erst spät in der Nacht und bei fast anbrechendem Morgen gekommen war, hatte seine schmeichelnde Geschwätzigkeit doch nicht eben ein schweres Spiel gehabt, sie zu besänftigen und mit neuen Versprechungen zu ködern. So war es ihm gelungen, sie an entfernte Orte zu locken und dort mit Geschenken, Betheuerungen und Liebkosungen fest zu halten, daß sie über seine neuen Beziehungen zum Feichtenhofe und seine Absichten auf Christel in voller Unkenntniß blieb und dem tückischen Doppelspiel kein Hinderniß bereitete. Arglos sah sie ihn kommen und gehen, des Tages wartend, wo er sie in seine Heimath führen und zur Frau machen würde, während er nur darauf bedacht war, sie hinzuhalten, bis er fest auf dem Feichtenhof faß; dann mochte sie Alles erfahren und toben, dann konnte sie ihm nicht mehr schaden und mußte sich zuletzt wohl oder übel in das Unvermeidliche finden. Es war ihm daher mehr als unangenehm, ihr unter den Zeugen unvermuthet zu begegnen, und ihre laut ausgesprochene Freude über das Wiedersehen fand bei ihm eine sehr zurückhaltende und kühle Erwiderung. Wohl bemühte er sich, die bei der Verhandlung in ihr aufsteigenden Bedenken durch zugeflüsterte Bemerkungen und Liebesworte zu beseitigen; als aber der Feichtenbauer auf eine Zwischenfrage des Präsidenten entschieden erklärte, daß Domini der bestimmte Bräutigam seiner Tochter sei, und daß er ihm bereits am Morgen des Tages, an welchem der Brand stattgefunden, seine Zusage gegeben – da war das Lügengewebe, mit dem er sie umsponnen hatte, mit einem Male zerrissen und bis auf den letzten Faden von der fessellos auflodernden Flamme der Eifersucht, des Zornes und der Rachsucht zerstört.
„Wie wär’ mir das?“ rief sie und trat vor, ohne Rücksicht auf die verweisenden Worte des Präsidenten die Verhandlung unterbrechend. „Das ist ja ’was ganz Neues! Der Domini will Feichtenbauer werden? Und das Alles ist schon so fest abgemacht worden und in der Still’, und damit ich nichts davon erfahren sollt’, hat er mich im Land herumgeführt und hat mich zum Narren gehabt …“
Der Präsident gebot ihr wiederholt, zu schweigen; wenn sie Ansprüche zu erheben habe, so sei ihr deren Verfolgung unbenommen, aber hier sei nicht der Ort, sie zu verhandeln, weil sie nicht zur Sache gehörten – aber die erbitterte und trotz ihres Leichtsinns im Grund der Seele beschämte Dirne war nicht zu beruhigen.
„O ja,“ sagte sie, „das gehört wohl zu der Sach’! Das gehört erst recht dazu! Das muß doch ein Blinder sehn, daß sie Alle zusammenspinnen und dem Wendel heraushelfen wollen oder was sie sonst im Sinn haben. … Aber wenn doch das Trumm an mir ausgehen soll, dann will ich auch meinen Senf dazu geben und will Alles sagen, was ich weiß. … Wenn Sie herausbringen wollen, wie’s mit dem Anzünden zugegangen ist, Herr Präsident – dann fragen Sie nur den Domini, der kann’s Ihnen ganz genau sagen …“
Ein Brausen der Erregung durchflog den Saal. „Es ist nit wahr, Gnaden Herr Präsident,“ rief Domini rasch und laut, „ich weiß nit mehr, als ich schon gesagt habe … das Weibsbild redet nur so aus purem Haß, weil sie sich an mir rächen will …“
„So? Leugnen willst Du es auch noch?“ rief Susi wüthend. „Willst noch von mir schlecht reden obendrein und mich ein Weibsbild heißen? Hast es vergessen, wie ich Dich im Wirthshaus am Fall erwartet hab’ die ganze Nacht, und wie Du erst gegen Morgen gekommen bist und hast Wein bringen lassen, und hast Dich entschuldigt, es sei ’was ganz Merkwürdiges gewesen, was Dich aufgehalten hätt’, und weil ich nit aufgehört hab’ zu fragen, hast mir’s eingestanden im Rausch, Du wüßtest es jetzt ganz genau, wie’s mit dem Brennen auf dem Feichtenhof zugegangen wär’ … so genau, als wenn Du selber dabei gewesen wärst …“
Die Bewegung wuchs und wich erst dem wiederholten Mahnruf des Präsidenten, der Domini dringend aufforderte, ohne Rückhalt die Wahrheit zu sagen.
„Ich muß wohl,“ sagte Domini, sich fassend, „es könnt’ sonst gar den Schein bekommen, als wär’ ich selber dabei gewesen. … Ich muß also sagen – der Wendel hat den Feichtenhof angezündet, ich hab’s aus seinem eigenen Mund gehört, wie er’s erzählt hat …“
„Domini …“ schrie Wendel, entsetzt aufspringend, „willst Du mich in’s Unglück bringen durch Deine Lüg’? Du bist ein schlechter Bursch’, wenn Du auf die Weis’ Deinen Zorn an mir auslassen willst! Ich hab’ Dich nimmer gesehn seit dem Bergwirthshaus. [821] … Red’ – wenn noch ein ehrlicher Blutstropfen in Dir ist, so sag’ … wann, wo hast Du so was von mir gehört?“
„Ja, ja, ich glaub’s wohl, daß Du das nit errathen kannst!“ entgegnete Domini mit seiner alten Ruhe und einem höhnischen Blick. „Deßwegen ist’s aber doch wahr … denk’ nur daran, wohin Du in der selbigen Nacht noch einen Gasselgang gemacht hast und was an dem selbigen Kammerfenster gered’t worden ist. …“
Wendel stand vernichtet. „Das weißt Du?“ stammelte er wie sinnlos. „Das hat sie Dir erzählt? …“
„Das nit!“ rief Domini mit seinem wüsten Lachen, „das hat’s auch gar nit nöthig gehabt … ich hab’ es selber gehört, ich war ja schon vorher bei ihr drinnen in der Kammer. …“
Ein wilder Schrei rang sich aus Wendel’s Brust, ein Schrei des Schmerzes und der Wuth; er wäre auf Domini losgestürzt, hätte die Wache ihn nicht zurückgehalten; Christel war in halber Ohnmacht zusammengesunken.
„Rede,“ rief Wendel, keuchend vor Erregung, auf sie hin, „red’, Christel … vor allen diesen Leuten, vor unserm Herrgott, red’! … Nit meinetwegen, Christel … ich bin ja doch schon ein zernicht’ter, verlorener Mettsch, aber wegen Dir selber, wegen Deiner eigenen Ehr’ …“
Grabesstille lagerte auf dem Saale, nur sie machte es hörbar und verständlich, als Christel von einer Zeugin unterstützt, sich mühsam erhob und gesenkten Auges flüsterte … „Es ist nit wahr. …“
„O, es ist wahr! Es ist nur zu wahr!“ schrie Wendel auf in namenlosem Schmerz. „Du hast das Lügen schlecht gelernt, Christel; ich seh’s an Deinem Armensündergesicht, daß es wahr ist! – Ist es denn möglich? Du … die ich für einen hell-lichten Engel gehalten hab’, Du hast so falsch sein können, so bodenlos schlecht? Jetzt freilich, wo Du da stehst in Schand’ und Spott, wie ich – jetzt fallt’s Dir auf’s Herz und Du möchtest mir heraushelfen mit einer Lüg’! … Aber ich will das nit – ich will nichts wissen von Deiner Erbarmniß und von Dir; ich will für mich leiden, was mir gehört, und will Alles sagen. … Ja, ich bin’s gewesen, Herr Präsident, jetzt gesteh’ ich’s ein, ich hab’ den Feichtenhof angezünd’t. …“
Er erzählte den Hergang, wie er ihn dem Ohre der Liebe vertraut hatte, der mit jedem Worte steigenden Theilnahme der Versammlung; Richter und Geschworne waren ergriffen und selbst der Ankläger schien mit einer Art mitleidsvoller Scheu daranzugehn, die thatsächlichen Widersprüche und Unvollständigkeiten aufzuklären, welche das Geständniß noch übrig gelassen hatte. Es waren besonders zwei Umstände, welche der Aufhellung bedurften, das Verschwinden der ansehnlichen Summe baaren Geldes, die in dem Schranke des Bauers sich befunden hatte, und der Ort, an welchem der Brand gelegt worden und zum Ausbruche gekommen war. Wendel wies mit Unwillen jede Bezichtigung wegen des Geldes von sich und beharrte dabei, daß er das Heu in der Scheune angesteckt habe, während nach den übereinstimmenden Aussagen der Hausangehörigen und nach dem Ergebniß des Augenscheins die Entstehung und der Hauptheerd im Hause selbst, in der Nähe der Stiege gesucht werden mußte. Wendel wiederholte, er habe Alles gesagt, was er auf dem Herzen gehabt, er vermöge nichts Anderes anzugeben, und wenn man ihm in der nächsten Viertelstunde den Kopf vor die Füße legen würde.
Der Staatsanwalt beantragte die wiederholte gesonderte Vernehmung der Beiden, welche das außergerichtliche Geständniß vernommen hatten. Domini mußte abtreten und Christel wurde vorgerufen. Ein Murren des Unwillens empfing sie, sie vernahm es nur halb, wie sie die Worte des Präsidenten hörte, der mit feierlichem Ernste sie an den Eid, den sie geschworen, erinnerte und vor der schweren Verantwortung und den harten Folgen des Meineids warnte; ihr war wie einem Ertrinkenden, der durch die ihn umgebende Fluth noch die letzten Töne des Lebens vernimmt, und dem die nächste Secunde den Tod bringt.
Die entscheidende Frage war gestellt; sie mußte antworten – da drangen verworrene Laute aus dem Grunde des Saales hervor, eilende Fußtritte und das Geräusch von durcheinander rufenden Stimmen; auf das Ruhegebot des Präsidenten antwortete vielstimmig die Nachricht, ein fremder Mann habe sich eingefunden, der vernommen zu werden begehre, weil er wichtige Entdeckungen mitzutheilen habe – auf den Wink des Vorsitzenden öffnete sich eine Gasse unter den Zuhörern und der Mann trat vor.
Es war der Leinwandhändler aus Schwaben.
Er war wohl unter den geladenen Zeugen gewesen, da aber ein Zeugniß über seine Erkrankung eingegangen, war die Behörde, welche auf seine Aussage kein entscheidendes Gewicht zu legen vermochte, auf seinem Erscheinen nicht bestanden; er hatte sich freiwillig auf den Weg gemacht, und eine schnelle beschwerliche Reise nicht gescheut, obwohl der erste Blick auch den Unkundigen überzeugte, daß seine Krankheit keine erdichtete gewesen war.
„Es hat mich bös gepackt,“ sagte er in seiner Erzählung; „wie ich nach Hause gekommen war, spürte ich erst, daß es mich doch tiefer angegriffen hatte, als ich zuerst gedacht – ich mußte mich legen und über der Sorge um mich hat kein Mensch nach dem Lederpack gefragt, den ich mitgebracht hatte … ich selber dachte nicht mehr daran, bis mir vor ein paar Tagen einfiel, daß nun bald die Verhandlung sein werde … da zog ich die Schnüre auseinander und nahm die geschmolznen Kettentrümmer und die schwarzgebrannten Ringstücke zur Hand, um nur noch einmal den Rest anschauen, der mir von dem ganzen Reichthum geblieben war … da fand ich das da, was nicht mir gehört und was ich doch aus dem Brandschutt neben meinen Sachen hervorgeholt habe … wie ich’s erblickte, machte ich mich auf den Weg, es war mir wie ein Fingerzeig von oben, daß vielleicht das kleine stumme Ding da den Mund aufmachen und Zeugniß ablegen könnte für die Wahrheit!“
„Also Ihnen gehört es nicht?“ entgegnete der Präsident, indem er den auf den Gerichtstisch niedergelegten Gegenstand in die Hand nahm und dann in der Runde bei den Richtern herumgehen ließ. „Dann wird wohl der Eigenthümer des Hofs darüber Auskunft geben können.“
„Kreuzbirnbaum,“ rief der Bauer, auf seinen Wink hinzutretend, „wie kommt denn das daher?“
„Ihr erkennt es also?“
„Freilich – ich trau’ nur meinen eigenen Augen nit recht, aber es ist doch schon so, ich erkenn’s an dem Napoleons-Köpfel da … das ist die Uhrkette vom Domini. …“
„Dafür halte auch ich’s,“ sagte der Händler, „es ist die nämliche Kette, die ich ihm den Abend vor dem Brand hab’ abhandeln wollen und die ich am Morgen nach dem Brand bei ihm vermißte. … Wißt Ihr noch? Er wollte sie verloren haben, konnte aber nicht sagen, wo …“
Wie Baumrauschen vor einem Sturm ging es durch den Saal.
„Und Ihr irrt nicht?“ rief der Präsident. „Ihr habt wirklich dies Stück im Brandschutte gefunden? … In der That ein sehr merkwürdiger und befremdender Umstand … der Eigenthümer selber möge denn das Räthsel lösen. Man lasse ihn eintreten,“ fuhr er mit erhobener Stimme fort, „aber Niemand spreche ein Wort, Niemand unterfange sich, ihm ein Zeichen des Vorgefallenen zu geben. … Tretet näher,“ rief er dann Domini zu, der mit vollster Unbefangenheit eintrat. „Ihr seid vielleicht im Stande, über einen sonderbaren Vorfall Aufklärung zu geben. … Dieses Stück Silber hier wurde im Brandschutt gefunden und so eben zu Gerichts Handen gebracht. Kennt Ihr es? Vermögt Ihr anzugeben, wie es wohl dahin gekommen sein mag?“
Kecken Schrittes war Domini die Stufen zum Gerichtstische hinangestiegen – als ihm der Präsident das in der Hand verborgen gehaltene Kettenstück entgegenhielt, war es, als ob ein Blitzstrahl vor ihm niederführe. Er erblaßte und wankte und mußte nach dem Tischbehang fassen, um nicht über den Antritt herunter zu taumeln.
„Ihr kennt die Uhrkette – Euer Gesicht zeigt es!“ rief ihm der Präsident mit mächtiger Stimme zu. „Euer Schrecken verräth auch, daß Ihr mehr von dem Brande wißt, als Ihr angegeben. An den Ort, wo diese Eure Kette gefunden wurde, kann sie nur durch den Anstifter oder Mitwisser des Brandes gekommen sein … so bekennt und sagt die Wahrheit!“
Die Wendung war so plötzlich und überwältigend hereingebrochen, daß auch Domini’s hart geschmiedete Keckheit unter ihr zusammenbrach; der Boden, auf dem sie fußte, wich unter ihm, er fühlte, daß er verloren war, und er war es vollends, weil er [822] es fühlte. Der erfahrene Richter, der seinen Zustand erkannte und durchschaute, drängte mit wiederholter Frage; er fand nicht Zeit, eine Ausflucht zu ersinnen.
„Es geschieht mir ganz recht,“ sagte er, „meine eigene Dummheit ist’s, in der ich mich gefangen hab’! Meinetwegen – wenn’s doch nicht mehr zu halten ist, gilt mir’s gleich, ob’s an den Gattern angeht ober an den Zaun … hab’ ich doch wenigstens meine Freud’ dabei gehabt und hab’ sie Andern versalzen! Ja …“ rief er dann laut und gegen die versammelte Menge gewendet, „ich hab’ mir gedacht, ich wollt’ machen, daß mich der Feichtenbauer nit sollt’ entbehren können; ich hab’ der Christel, der hochmüthigen Person, einen Denkzettel anhängen wollen; deßwegen hab’ ich mich in den Feichtenhof geschlichen, bin in die Kammer hinauf und hab’ das Geld geholt. … Wie ich drunten war, ist mir eingefallen, der Teufel könnt’ doch sein Spiel haben, da hab’ ich gedacht, es ist das Beste, wenn ich ein bischen einheize! Ich hab’ den Holzstoß angezündet unter der Stiege, hab’ vom Stapel einen Bündel Stroh herein und in einem Augenblick ist es schon lichterloh in die Höh’ gegangen. … Da ist’s auf einmal gewesen, als wenn ich jemand hätte gehn hören, ich bin fort und hab’ nit darauf geachtet, daß ich im Wegspringen an etwas hängen geblieben bin. … Später hab’ ich wohl gemerkt, daß ich mir die Kette abgerissen hatte, aber da hat es schon hellauf gebrannt und ich hab’ mir gedacht, sie liegt mir gut in dem eingestürzten Haus …“
Der Eindruck dieser neuen Entwicklung der Sache war ein ungeheurer – mit Einem Schlage waren alle Zweifel gehoben; es war klar, daß Wendel, obwohl des Anzündens geständig, doch an dem Brande selbst keine Schuld trug, daß sein Bemühen, zu löschen, vollkommen gelungen und daß es das gleichzeitig an einer andern Stelle gelegte Feuer gewesen war, welches den Feichtenhof vernichtete.
Dem alten Bauer ward es nicht schwer, sich in die veränderte Anschauung zu finden; für ihn blieb Wendel doch der Schuldige, und daß auch Domini als solcher erschien, berührte ihn wenig, war er doch des Genossen ledig, gegen den seine Abneigung von Stunde zu Stunde gestiegen war. Das Einzige, was ihn lebhafter erregte, war das Schicksal seines Geldes, das er zuvor schon als verloren betrachtet hatte.
„Gieb mir mein Geld wieder,“ rief er Domini zu. „Sagen Sie ihm, Herr Präsident, daß er mir mein Geld wieder geben muß! Er soll sagen, wo es ist – er wird es wohl vergraben haben, der Böswicht!“
„Nein, so dumm ist unser Einer nit,“ erwiderte Domini frech … „so ein tausend Gülderl wirst schon in den Kamin schreiben müssen, Feichtenbauer, die hab’ ich verjuxt und auf Deine Gesundheit vertrunken! Das andere hab’ ich auf Zinsen gelegt … ich hab’s umgewechselt und hab’ Dir’s selber geliehen – was meinst, ist der Feichtenhof nit eine gute Hypothek?“
Das schallende Gelächter, das an’s Ohr des Ueberlisteten schlug, traf ihn empfindlicher als Alles, was vorher gegangen. Das Schicksal seiner Tochter hatte ihn nicht erschüttert; daß er, der reiche, überall angesehene Feichtenbauer ein Gegenstand des allgemeinen Spottgelächters geworden, drang ihm bis in’s Mark – es wandelte ihn an, als ob sich der ganze Saal mit ihm zu drehen beginne, und mit Erlaubniß des Präsidenten wankte er an der Tochter Hand hinaus.
Die Verhandlung nahm nun ruhig den weiter zu erwartenden Verlauf. Der Staatsanwalt ließ gegen Wendel, dessen That zum gesetzlich straflosen Versuch herabgesunken war, die Anklage fallen, um sie gegen Domini zu begründen; das Urtheil erkannte ihm schwere vieljährige Freiheitsstrafe zu – freigesprochen verließ Wendel unter dem grüßenden Zuruf des Volkes den Saal.
Als er in das Vorzimmer trat, stand er Christel gegenüber.
Sie war nicht mehr blaß – von den Rosen, die einst auf ihren Wangen heimisch gewesen, war eine verspätete Knospe aufgeblüht; der einzige Sonnenstrahl der Freude hatte genügt, sie hervorzurufen, als es zu Tage gekommen, daß der Mann, dem ihr ganzes Leben gehörte, nicht so furchtbar schuldig, daß sie nicht mehr gezwungen war, für seine Zukunft zu zittern …
Wendel sah sie und stand festgebannt, er sah wieder in diese blauen, von wehmüthiger Zärtlichkeit überströmenden Augen und vermochte nicht, dem Drange seines Herzens zu widerstehen, das ihn, wenn auch von schwerer Wunde blutend, zu ihr zog.
„O Christel, Christel,“ rief er mit schmerzerstickter Stimme, „was hab’ ich Dir denn gethan, daß Du mich so elend hast machen müssen …“
„Wendel,“ sagte sie mit mühsam behaupteter Fassung, „ich hab’ trotz Allem und Allem nie schlecht von Dir gedacht – ich hätt’s wohl verdient um Dich, daß Du auch einen bessern Glauben an mich hättest haben sollen. … Der Domini,“ fuhr sie mit sichtbarer Ueberwindung fort, „hat sich in meine Kammer geschlichen und versteckt gehabt – so hat er Alles mit angehört, und damit er schweigen und Dich nit verrathen sollt’ …“
„O du mein Gott,“ unterbrach sie Wendel in feuriger Freude, „so hast Du Dich opfern wollen für mich … Du hast mich retten wollen, und ich … ich hab’ so blind sein, ich hab’ zweifeln können an Deiner Lieb’ und an Dir! Das kannst mir in Ewigkeit nit verzeihn!“
„Es ist Alles verziehen,“ sagte sie sanft und innig, „vergeben und vergessen Alles mit einander – aber ich hab’ Dir ’s sagen müssen; drum hab’ ich da auf Dich gewartet, daß wir abrechnen und ich Dir noch einmal Behüt’ Gott sagen kann …“
„Und müssen wir denn Behüt’ Gott sagen?“ rief Wendel liebevoll. „Jetzt ist ja Alles anders geworden auf einmal – Du hast früher selber gesagt, ich soll Geduld haben und warten, Dein Vater könnt’ sich vielleicht doch noch einmal anders besinnen. … Vielleicht ist das Herz ihm jetzt weich ’worden. … Christel, schick’ mich nit von Dir … gehör’ mein! Ich hab’ Dich ja so lieb und will Dich lieb haben meine Lebenszeit … o viel, noch viel lieber als ehvor! Oder geh’ mit mir, geh’ mit in die neue Welt – wir nehmen den Vater mit und bauen uns drüben einen neuen Hof – ich mein’, es wird ihm auch nit mehr besonders gefallen in der alten …“
„Nein, Wendel,“ erwiderte sie mit traurigem Kopfschütteln, „mit unserer Lieb’ und unserem Glück ist’s vorbei – in der alten und in der neuen Welt! Und wenn Du mich noch so gern hättest, Wendel, schau, ich könnt’s nimmer glauben, daß es Dir Ernst ist … ich thät’ mir immer vorkommen, daß ich Deiner Lieb’ nimmer werth wär’ … ich müßt’ roth werden und mich vor mir selber schämen. … Es ist nit anders, Wendel, wir müssen auseinander; wir sehn uns heut’ noch und nachher nimmermehr!“
Tiefe Rührung begann ihre bisherige Festigkeit zu erschüttern.
„Geh’ nach Amerika, Wendel,“ sagte sie dann, indem sie ihm noch einmal die Hand bot, „laß mich’s wissen, wenn Du irgendwo ein Plätz’l findest, und halt’ gewissenhaft, was Du mir in einer schweren Stund’ versprochen hast. … Ich bleib’ bei meinem Vater, er braucht mich und mit mir wird’s wohl so lang’ noch halten, als er mich braucht. Und wenn ein End’ hergeht, Wendel, dann will ich Dir’s durch den Herrn Pfarrer schreiben lassen … dann denk’ noch einmal an mich und bet’ mir einen Vaterunser …“
„Christel,“ rief Wendel im höchsten Schmerz, „red’ nit so und geh’ nit von mir … ich kann’s ja nit denken, daß ich von Dir lassen soll. … Besinn’ Dich doch noch einmal …“
„Da nutzt kein Besinnen,“ sagte sie, „es bleibt schon wie es ist, und also – B’hüt’ Dich Gott.“ … Einen Augenblick war es, als ob sie sich zu einem letzten Kusse an seine Brust werfen wollte, aber sie unterließ es und eilte schluchzend zur Thür hinaus.
Stumm und gebrochen kehrten Vater und Tochter auf den Feichtenhof zurück; sie sprachen nicht von dem Geschehenen, der Bauer hatte keinen andern Gedanken mehr, als den Neubau, dessen Beschleunigung er mit alleu Mitteln und wie in steter Fieberhast betrieb. Er vergaß darüber, daß sein Leiden vor Allem Ruhe und Schonung erforderte; er wollte den Schmerzen wie dem Wetter und der Anstrengung trotzen und über sie Herr werden, um aller Welt zu zeigen, daß die alte ungebrochene Kraft wiederkehre – es mißlang: ein Regenschauer, der ihn durchnäßte und das Uebel aus den Gliedern in den Leib zurückdrängte, machte dem unruhigen Treiben ein rasches Ende. Der Rest seiner Lebenskraft hatte eben noch ausgereicht, daß er von dem neuen Dachstuhl die Bänder des Giebelkranzes flattern sah und die Vivats hörte, welche von den Arbeitern beim Hebwein auf den freigebigen Bauherrn ausgebracht wurden – der andere Morgen traf ihn nicht mehr unter den Lebenden, eine düstere gewitterhafte Nacht hatte unbemerkt die dunkel umwölkte Seele von hinnen genommen. Als der Sarg hinweggebracht wurde und die ersten herbstlichen Blätter darauf hernieder fielen, schaute Paul der Knecht, der mit [823] am Sarge trug, zu der vollkommen dürr gewordenen Hof-Fichte hinauf und sagte vor sich hin: „Wer hat nun Recht behalten, Feichtenbauer? Ich mein’, du gäbst mir jetzt wohl gern einen Kronthaler, wenn du aufstehn könntest, wenn’s auch nichts ist mit dem Auslachen.“ …
Bald zog der Winter ein und machte den einsamen Feichtenhof noch einsamer; es war, als ob alles Leben daraus hinweggezogen, und fast Niemand sprach dort ein, als der Pfarrer, den Christel häufig zu sich bat. Auf seinen Rath kamen ein paar von der Verwandtschaft herbei, um nach der Hofhaltung und Wirthschaft zu sehn, denn die Tochter war die meiste Zeit krank oder schloß sich ein, um zu beten; Manche wollten gar wissen, sie sei tiefsinnig geworden. Gewiß war, daß sie mit jedem Tag sich mehr verzehrte und dahinschwand; es war eine einzige Hoffnung, die ihr das Dasein fristete – die Hoffnung, noch eine Nachricht von Wendel zu erhalten.
Die erwartete Botschaft traf auch ein – wenige unbeholfene Zeilen von Wendel’s eigener Hand, aber sie enthielten, daß er wohlbehalten in der neuen Welt angekommen, daß er als Knecht einen Platz gefunden in einer Farm, die gerade so einsam liege, wie der Feichtenhof, und daß sein Herz bei ihr zurückgeblieben überm Meere.
Christel hatte sich mit dem Briefe mühsam an’s Fenster gesetzt, wie um ihn besser lesen zu können; die Hand mit dem Blatte sank herab und ihr Blick irrte hinaus in die erstorbene weite Landschaft, die ein kalter Winterabend in strenger Herrschaft umfangen hielt.
Weithin, unabsehbar, ununterbrochen lag schimmernder Schnee gebreitet, wie das weiße Tuch, das man über eine Leiche breitet, um sie dem Schmerz derer zu entziehen, denen sie theuer gewesen; nur die Wälder und zerstreuten Bäume ragten mit den blattlosen Aesten und dürren Kronen daraus hervor, wie dunkle Zeilen und Zeichen, in denen geschrieben stand, wie flüchtig das Leben und wie vergänglich Alles, was schön ist in ihm. Drüben aber, jenseits der trostlosen Ebene stiegen unerschütterlich die Berge empor, vom Scheitel bis zur Sohle in Eis gekleidet wie Genien in weites wallendes Gewand, und die früh hinabgehende Wintersonne schlang ihnen purpurne Strahlenbänder um die himmelnahen Stirnen – von ihnen glänzte es wie Trost und Hoffnung
[824] zurück bis hinter die Eisblumen an Christel’s Fenster und weit getragen von der reinen klaren Winterluft klangen die Abendglocken aus den Thaldörfern herauf und läuteten zum Gebet und riefen, wie es unter den Linden der Wallfahrtskirche gerufen, mit majestätischen Stimmen ihr Heilig – heilig – heilig ist der Herr Zebaoth … Himmel und Erde sind seiner Herrlichkeit voll. …
Als der Frühling kam und der Waldeinfang des Feichtenhofs wieder anfing in Blätter zu schießen, lag das Wahrzeichen desselben gefällt und lang hingestreckt in dem jung aufkeimenden Grase – Tags darauf ließ der Pfarrer den versprochenen Brief nach Amerika abgehn.
Ob er Wendel erreichte, was aus diesem geworden, ist unbekannt geblieben; auch Domini verscholl. Auf den Feichtenhof, der längst in fremden Händen sich zu neuem Ansehn und Wohlstand gehoben, ist nie mehr eine Kunde gelangt von den beiden Gasselbuben.
Langer trockener Decemberfrost, den der dabei eisig stürmende Nord um so empfindlicher werden ließ, war vorhergegangen, bis endlich milderes Wetter folgte, welches sich bald zu ausdauerndem Schneefall anließ, so daß mit dem Hereinbrechen des Weihnachtstages der weite Wald in wunderbarer Pracht seines neuen Schmuckes prangte, besonders da sich vorher, etwa gegen Mitternacht, der Himmel völlig geklärt hatte und so die unverhüllt aufgehende Sonne die Haide mit wundersamem Farbenschmelz übergoß. Purpurn angehaucht leuchteten da zuerst die schneebedeckten Fichten- und Tannenwipfel in rosigem Lichte, während weiter herab die frischgefallene Last auf dem niedergedrückten Gezweig der sonst ungebeugt gen Himmel starrenden Baumwelt noch im Halbschatten lag, tiefer aber, unter dem beschneiten Nadeldache, herrschte noch grauendes Dämmern, daß trotz der überall ausgebreiteten lichten Decke das spähende Auge doch nur auf wenige Schritte in das verschwimmende Düster des Waldes eindringen konnte. Aber bald huschte das vergoldende Licht an den hohen Waldwänden und einzelnen Bäumen hernieder, bis es den Boden erreichte und nun in flirrenden Punkten und langen Streifen eindrang in die Tiefen der geschlossenen Holzbestände, darinnen gleichsam vom Boden aus wieder an den Stämmen hinanklimmend, dabei sich halb verlierend, um gleich darauf wieder von Neuem hell aufzuglänzen – fortwährend wechselnd, in nimmer rastender zauberischer Beweglichkeit. Wo aber der Lichtstrom ungehindert über weite Flächen hinfluthete und deren gleichförmig darüber ausgebreiteten Teppich in seiner makellosen Reinheit grell beleuchtete, da ward das Auge um so mehr geblendet, als es hier mit angestrengter Sehkraft etwaiges Gefährt zu erspähen trachtete und solches wohl auch hier und da von den nach Aufhören des Schneefalles noch umhergezogenen Wildgattungen gewahrte. Sonst aber, so weit die Blicke reichten, kein Tritt eines menschlichen Fußes, als der, welchen ich, der einsame Waldläufer, lautlos in das sonst noch so unberührte Edelweiß gefurcht. Aber vorwärts trieb es mich mit unwiderstehlicher Gewalt auf der pfadlosen Wanderung, hingerissen von immer neu auftauchenden Reizen, welche die mit phantastischen Formen umkleideten Bäume, Sträucher, Ranken und Gräser, wie der bestrickende Zauber von Farbenfrische in Wald und Luft mit jedem weiteren Schritte dem Auge boten.
Wie nun schon diese Herrlichkeit das Herz mit tiefster Wonne erfüllte, so steigerte sich der Hochgenuß für mich noch bedeutend durch das Erscheinen der lebendigen Thierwelt, welche bald die stille Einsamkeit belebte.
Zuerst waren es der Krähen zahlreiche Züge, welche aus ihren Horst- und Schlafstätten kommend den weiten Wald überflogen, um Feld und Dorf und Stadt heimzusuchen, dort unter dem tiefen Schnee ihr kärgliches Mahl zu finden. Schweren Fluges und tristen Gekrächzes durchstrichen die geflügelten schwarzen Gesellen die eisige Luft in langgedehnter Reihenfolge – wie Leidtragende hinter einem Leichenzuge – und regten durch den Contrast ihrer Erscheinung zur sonnigverklärten, schneeprächtigen Natur das Menschengemüth unwillkürlich zu ernster Stimmung an. Um so mehr aber ward darnach das Herz erquickt, als die fröhlich zwitschernden und lustig pinkenden Stimmchen der Goldhähnchen und Meisen durch den sonst so tief schweigenden Wald an das Ohr schlugen; begierig suchte mein Auge nach den rastlosen niedlichen Urhebern, welche in den schneebehangenen Zweigen schwirrend hin und her huschten und bald hier, bald da, oben und unten in das Geäst sich einhingen, um Insecteneierchen und Larven zu suchen. Flogen die Leichtbeschwingten wieder davon, dann schnellten die kleinen Zweige den Schnee federgleich empor, andere Schneelagen wehten mit herab und im Nu war die Luft mit Tausenden sonnendurchschienener Krystalle erfüllt und ein entzückendes Glitzern und Flimmern durchglänzte das Dunkel des Waldes.
So setzte ich meine Wanderung fort, bisweilen Wege überschreitend, die etwa zu einem Haidedorfe führten, oder den plumpen Fußspuren der Waldarbeiter begegnend, die in den Holzschlägen noch vollauf Arbeit fanden und deren eintönige Axtschläge den Forst durchhallten. Bald kam ich auch an einer solchen Blöße vorbei, wo die wackeren Leute schon fleißig ihrer schweren Arbeit oblagen, während hinter der haushohen Wurzelwand einer vom Sturme niedergeworfenen Riesenfichte ihr hellflackerndes Feuerchen brannte, dem die knisternden Funken lustig entstiegen, indeß der blaue Rauch die umliegenden mächtigen Waldwände in hoher duftiger Säule überstieg. Von hier aus führte mich mein Weg hinab in ein erlenbestandenes Thal, wo das wilde, über die Kiesel seines Bettes noch ungefesselt rauschende Wasser in schäumender Fluth die schneeigen und an ihren Säumen beeisten Ufer netzte. Später betrat ich wieder die Heerstraße; aus den einsam zur Seite gelegenen Haidedörfern klang der anheimelnde Dreiklang der Dreschflegel; aber weit ab von ihnen, tief im Forste einer meilenweit eingehegten Wildbahn, lag mein Ziel: eine jeglicher menschlichen Wohnung fern stehende Försterei.
Hier endlich angekommen ward ich auf’s Herzlichste willkommen geheißen, und die Kinder, mit denen das Haus vollauf gesegnet war, umsprangen mich fröhlichen Muthes; war ja doch heute das liebe Weihnachtsfest und die Kleinen, Knaben wie Mädchen, die mir herzlich zugethan waren, ahnten wohl, daß ihr Gast an einem solchen Tage nicht leer gekommen sein würde. So verbrachte ich denn den Nachmittag im traulichen, echt waidmännisch geschmückten Stübchen der Försterwohnung, hier und da helfende Hand mit anlegend, wo der Förster für seine Buben noch für den Abend zu schnitzen oder zu leimen hatte. So war der Abend bald herbeigekommen und nun ließen sich die gütigen Förstersleute nicht länger bitten, und es ward die harzduftige, frischglänzende Tanne, bereits geschmückt mit buntem Flitter und vergoldeten und silberbetupften rothwangigen Aepfeln und klappernden Nüssen, hereingebracht. Darunter aber wurden auf schneeweißem Tischtuch die Geschenke für die im Nebenstübchen jubelnden Wildfänge ausgebreitet, dann noch hurtig die Lichter des Baumes entzündet, worauf der Signalruf auf des Vaters Flügelhorn ertönte, der die jauchzenden, sich drängenden Geschwister im Nu zur Thür hereintosen ließ.
Da gab’s denn ein Freuen und Seligsein der staunenden Kleinen. Hier ward der niedliche, so naturgetreue Wildschuppen mit seinen daneben aufgestellten Thieren bewundert, dort die kleinen Flinten und Jagdtaschen gemustert; von den Mädchen aber mit gleicher Wonne die Puppen, Wägelchen, Kochgeschirre etc. in’s Auge gefaßt. Aber auch Höschen und Schürzchen, Strümpfe und Schuhe fanden vollsten Beifall, der sich natürlich auch ganz besonders auf die rosinenreichen Stollen und das andere Naschwerk erstreckte.
Draußen aber war der Mond aufgegangen und beleuchtete die Winterlandschaft mit erst noch bleichem Schein, der von dem lichtglänzenden Stübchen aus fast gespenstig erschien, bis er in hellstrahlender Pracht den grabesstillen Wald überstrahlte. Da rief plötzlich das älteste Mädchen freudig: „Die Hirsche, die Hirsche kommen!“ Und schnell das Schürzchen voll Aepfel nehmend, öffnete es das Fenster, sie ihren Lieblingen zum Leckerbissen auf die äußere Brüstung desselben und die darunter stehende Gartenbank [825] zu legen. Mich aber hatte der Ruf nicht wenig erregt, neugierig spähte ich hinaus und wirklich erblickte auch ich nun die Verkündeten: zwei geweihte stattliche Edelhirsche nebst einem dergleichen Spießer, die von Weitem vertraulich an die Försterei herangezogen kamen, beim Fensteröffnen aber doch verschüchtert ein paar Schritte zurückwichen. Doch nicht lange dauerte es, so kamen sie wieder näher, aber dabei immer erst wieder einmal Halt machend und sichernd, was jedoch, wie mich der Förster versicherte, von ihnen heute nur ausnahmsweise in so zögernder Art geschah, wahrscheinlich weil sie den ungewohnten Lichtglanz des Weihnachtsbaumes scheuten. Endlich, nach ziemlich langem Besinnen, kamen die Forschenden plötzlich trollend heran, und begehrlich, wenn auch immerhin vorsichtig genug, langte der eine von den Hirschen, der, welcher nur sechs Enden auf dem Schädel trug, sofort zu, die schmackhaften Christäpfel sich trefflich munden lassend. Der Spießer hingegen wie der stolze Zwölfender (denn ein solcher war der dritte Mitgekommene) zögerten mißtrauisch noch lange, ehe sie sich entschlossen, die verlockenden Früchte zu berühren. Ich aber schlich mich nun auf des Försters Rath zum Hinterpförtchen hinaus, den seltenen Anblick mit allen seinen Reizen unmittelbar im Freien zu genießen, was mir auch, da ich natürlich gegen den Wind mich stellte, die Hirsche aber überhaupt den Verkehr am Hause gewöhnt waren, im vollsten Maße gelang.
So stand ich denn draußen in monderhellter Waldespracht, vor mir das malerische fichtenumschlossene Jägerhaus mit den alten Linden, hinter deren einem Stamme hervor der Spießer neugierig nach dem lichtschimmernden kleinen Fensterchen der trauten Waidmannswohnung, welche so herzige Kinderlust in sich barg, äugte. Die beiden starken Hirsche aber, die sich seit Langem schon gewöhnt hatten, allabendlich von der nahen Wildfütterung herüber an die Wohnstätte ihres freundlichen Hüters zu kommen, wo ihnen durch dessen Kinder jedesmal noch ein Mund voll Körner, Kastanien, Möhren oder Obst geboten wurde, ließen sich auch heute statt der gewöhnlichen Holzapfel die süßere Christkost der kleinen Geber wohlschmecken, dabei aber mit nicht weniger Verwunderung, als ihr jugendlicher Cumpan, die außergewöhnliche Helle im heimischen Raume betrachtend.
Mir aber ward durch diese Scene eine seltene und unübertroffene Weihnachtsfreude bereitet, und nicht satt schauen konnte ich mich an dem so eigenthümlich fesselnden, herrlichen Bilde. Schier zauberhaft waren die hochgeweihten Häupter der Hirsche von dem goldenen Glanz der Weihnachtslichter angestrahlt, daß die prunkenden Enden ihrer Kopfzier bei jeder Bewegung hell aufblitzten, während die dem Lichtstrom sonst abgewandten Gestalten bläulich glänzende Mondhelle umspielte. Dazu die Stille der geisterhaft durchhellten Waldesnacht, die nur zuweilen durch das laute Aufjubeln der Kinder drinnen im schmucken Stübchen unterbrochen wurde, während der mondbestrahlte Quell den ausgehöhlten Baumstamm im Gehöfte des Försters unter leisem Plätschern geschäftig füllte.
Lange, lange gab ich mich den bestrickenden Eindrücken hin; dann aber rasch, fast wehmüthig von der glücklichen Familie Abschied nehmend, trat ich den weiten einsamen Heimweg an, der mich erst in weit vorgeschrittener Nacht meiner stillen Behausung zuführte.
Das Glück in Utopien.
So sehr der Name Utopien, der ein Land „Nirgendwo“ bedeutet, zum Allgemeingut der gebildeten Welt geworden ist, so vergessen ist das Buch, das ihn vor dreihundertundfünfzig Jahren in die Literatur einführte: die Utopia des Thomas Morus, des trefflichen Mannes, der als früherer Kanzler Heinrich’s des Achten von England die beiden von ihm geforderten Eide (daß die erste Ehe des Königs mit seiner Gemahlin Katharine nichtig und daß der König rechtmäßiges Oberhaupt der Kirche sei) standhaft verweigerte und dafür im Jahr 1535 das Haupt auf den Block legte. Nicht bloß um ihres Verfassers, auch um ihrer selbst willen verdient die geistreiche und in vieler Beziehung interessante Schrift, daß ihr Andenken wieder aufgefrischt werde.
Der Verfasser erzählt, daß er in Antwerpen durch seinen Freund Petrus Aegidius, dem das Buch gewidmet ist, einen Portugiesen kennen gelernt, welcher den Amerigo Vespicci, nach dem bekanntlich der Erdtheil Amerika seinen Namen empfangen, auf seinen letzten drei Reisen nach der neuen Welt begleitet, zuletzt sich von ihm getrennt habe und nach Utopien gekommen war. In einem fünfjähriger Aufenthalt hatte er den dortigen Staat als den besten überhaupt existirenden kennen gelernt, dessen Verfassung er nun auf Wunsch des Morus und Aegidius ausführlich beschreibt. Ganz ohne Zusammenhang mit der Cultur der alten Welt ist Utopien übrigens nicht; denn nach den dortigen Chroniken war vor etwa eintausendzweihundert Jahren (also ungefähr dreihundert nach Christi Geburt) ein Schiff mit Römern und Aegyptern dorthin verschlagen worden, welche die Utopier mit den Hauptresultaten der antiken Civilisation bekannt gemacht hatten. Der Erzähler glaubt übrigens, daß die Utopier Abkömmlinge der (von ihm hoch verehrten) alten Griechen sind, denn er fand bei ihnen die Werke des Plato, Aristoteles und Galenus. Er machte sie mit den Erfindungen des Bücherdrucks und der Papierfabrikation bekannt, die bei ihnen den größten Anklang fanden und mit solchem Eifer in’s Werk gesetzt wurden, daß sie bereits tausende von gedruckten Büchern besitzen. Die übrigen wichtigen Erfindungen haben sie für sich selbst gemacht.
Der Staat der Utopier ist darum der vollkommenste, weil ihm das Grundübel aller übrigen Staaten abgeht: das Eigenthum und dessen ungleiche Vertheilung, daher die Utopier natürlich auch des Geldes nicht bedürfen. Während in Europa die Menschen vom öffentlichen Wohle zwar reden, aber nur ihre Privatinteressen im Auge haben und durch die Sorge für Erwerbung, Erhaltung und Vermehrung des Eigenthums ganz und gar in Anspruch genommen sind, widmen die Utopier, aller dieser Sorgen überhoben, sich ganz dem Gemeinwohl. Während in den übrigen Staaten die größte Ungerechtigkeit in der Vertheilung der Lebensschicksale herrscht, Adelige und Reiche (bei Morus: Wucherer und Goldschmiede, die damals in London Bankiergeschäfte trieben) müßig schwelgen, Arbeiter, Handwerker und Ackerbauer aber darben, so daß diese Zustände aus einem Complot der Wohlhabenden hervorgegangen zu sein scheinen, herrscht im Gegensatz dazu in Utopien die größte Gleichheit. Die Dauer dieses glücklichen Zustandes ist auch dem Verfasser nicht ohne Abgeschiedenheit von der übrigen Welt denkbar: Utopien hing einst als Halbinsel mit dem Festlande zusammen; der König Utopus aber ließ die verbindende Landenge durchgraben und verwandelte das Land so in eine Insel.
Alle Utopier, Männer und Frauen, treiben den Ackerbau, in dem sie von frühester Jugend an durch Unterricht und praktische Thätigkeit geübt werden. Niemand darf sich davon ausschließen, doch steht es jedem frei daneben ein beliebiges Handwerk zu treiben, als Woll- und Flachsspinnerei, oder das Maurer-, Schmiede-, Schlosser-, Zimmermannshandwerk, andere kommen kaum vor. Die Kleider, die, abgesehen von dem Unterschied in der Tracht der Geschlechter, der Verheiratheten und der Ehelosen, für alle dieselben sind, verfertigen die Familien sich selbst. Die Handwerke erben in den Familien fort, wer jedoch zu dem einer andern Familie Neigung hat, kann sich in diese adoptiren lassen. Indessen arbeiten die Utopier keineswegs wie Lastthiere oder wie Knechte, was leider, wie Morus sagt, das Schicksal der meisten Handwerker in der übrigen Welt ist, sondern nur sechs Stunden am Tage, drei am Vormittag, dann nach einer dreistündigen Ruhe die übrigen; acht Stunden schlafen sie. Die übrige Zeit verwenden die meisten auf wissenschaftliche Ausbildung. Täglich werden vor Sonnenaufgang belehrende Vorlesungen gehalten, die immer eine große Menge von Männern und Frauen besucht, obwohl Niemand dazu gezwungen ist. Eine Stunde, in welcher die Mahlzeit stattfindet, ist stets dem Spiel und der Erholung geweiht, im Sommer in Gärten, im Winter in gemeinsamen Höfen; sie unterhalten sich hauptsächlich durch Gespräche und Musik; Würfel- und Hasardspiele kennen sie nicht, doch haben sie zwei dem Damenbrett ähnliche Spiele. Daß eine so geringe Arbeitszeit zur Production alles Erforderlichen hinreicht, erklärt sich daraus, daß alle arbeiten, während in der übrigen Welt ein so großer Theil der Bevölkerungen müßig ist, namentlich die überwiegende Mehrzahl der Frauen, die [826] Priester und Mönche, die Reichen und Adeligen und deren Anhang, endlich so viele Bettler und Taugenichtse, ferner daraus, daß alle unnützen dem Luxus und Vergnügen dienenden Thätigkeiten, die überall eine so große Zahl von Arbeitern in Anspruch nehmen, in Utopien wegfallen. Unter den Arbeitsfähigen sind von der Arbeit dort nur folgende ausgenommen: die (aus der Wahl der Familien hervorgegangenen) Beamten, Syphogranten genannt (der Name, wie alle übrigen in dem Buche vorkommenden, ist nicht aus dem Griechischen, sondern willkürlich gebildet), im Ganzen zweihundert; ferner Diejenigen, die sich nach geheimer Abstimmung der Syphogranten ganz den Wissenschaften widmen dürfen, aber, wenn sie nicht den gesetzten Erwartungen entsprechen, wieder zu Arbeitern degradirt werden.
Jede Gemeinde besteht aus sechstausend Familien, deren keine unter zehn noch über sechszehn erwachsene Personen enthält; überzählige werden in Familien vertheilt, denen die erforderliche Zahl fehlt, ebenso wird die Bevölkerung der Gemeinden gegen einander ausgeglichen. Tritt auf der ganzen Insel Uebervölkerung ein, so werden Colonien auf das benachbarte, noch wenig angebaute Festland ausgeführt und nach utopischen Grundsätzen eingerichtet. Die Häuser in Utopien bleiben Tag und Nacht unverschlossen, und wechseln alle zehn Jahre die Besitzer.
In der Mitte jeder Stadt ist ein Markt von Magazinen umgeben, in welche die Producte aller Familien abgeliefert werden. Dort finden sich die Familienväter ein, um den Bedarf für sich und die Ihrigen zu verlangen, der ihnen unweigerlich und unentgeltlich verabreicht wird, da er ja durch gemeinsame Arbeit erzeugt ist. Zuerst wird aber für die Kranken gesorgt, für welche jede Stadt vor den Thoren vier große, sehr geräumig eingerichtete Hospitäler hat. Nachdem die Intendanten der Hofspitalküchen die Speisen gemäß ärztlicher Vorschrift erhalten haben, findet die Vertheilung der Lebensmittel für die Mahlzeiten der Uebrigen statt, die immer von je dreißig Familien gemeinsam in einem besondern Hof eingenommen werden; zwar ist es Niemandem verboten zu Hause zu essen, aber die Wenigsten schließen sich freiwillig von den allgemeinen Mahlen aus, die durch Gespräche und Musik gewürzt werden. Natürlich ist die Nahrung Aller dieselbe und nicht einmal die Möglichkeit vorhanden sich andere zu verschaffen, da es keine Bier-, Wein- oder sonstige Gasthäuser giebt.
Wenn ein so großer Vorrath von Producten aufgehäuft ist, daß von allem Erforderlichen mehr als der Bedarf für zwei Jahre vorhanden ist, wird der Ueberschuß an Korn, Honig, Holz, Wolle, Flachs, Scharlach, Muscheln, Fellen, Wachs, Talg, Leder und lebenden Thieren in’s Ausland ausgeführt. Theils werden dafür andere Waaren eingetauscht, theils auch Gold und Silber, dessen die Utopier zwar nicht für sich, aber zur Bezahlung von Söldnern bedürfen. Den Krieg verabscheuen sie nämlich als etwas ganz Thierisches. Nichtsdestoweniger üben sich nicht blos Männer, sondern auch Frauen fortwährend in den Waffen; sie führen jedoch den Krieg nur zur Vertheidigung ihres eigenen oder befreundeter Länder, oder um ein befreundetes Volk vom Druck einer Tyrannenherrschaft zu befreien. Sie sind aber am stolzesten auf Siege, die sie durch List gewonnen haben, und halten jedes Mittel zur Bezwingung der Feinde für rühmlicher, als blutige Schlachten. Beim Beginn eines Krieges streuen sie Bekanntmachungen unter die Feinde aus, worin sie Dem, der den Fürsten derselben tödten werde, große Belohnungen versprechen, und geringere den Mördern seiner Rathgeber; werden ihnen die betreffenden Personen lebend überliefert, so bewilligen sie den doppelten Lohn; auch suchen sie die feindlichen Führer durch lockende Versprechungen zum Verrath und Abfall von den Ihren zu bewegen, und erreichen häufig ihren Zweck. Diese Erkaufung ihrer Feinde rechnen sie sich zum höchstem Ruhm. Gelingt sie nicht, so suchen sie Zwietracht und Parteiung im feindlichen Lager zu erregen, unterstützen Prätendenten gegen den feindlichen Landesfürsten, oder suchen dessen Nachbarn zum Kriege gegen ihn zu bewegen. Ihre eigenen Soldaten sind, wie gesagt, hauptsächlich Söldner aus dem benachbarten wilden und barbarischen Volk der Zapoleten. Diese setzen sie unbedenklich den größten Gefahren aus, und halten es für einen doppelten Vortheil, wenn eine große Anzahl von ihnen umkommt, weil sie dann weniger Sold und Belohnungen zu zahlen haben, und überdies die Erde von diesem unnützen und bösartigen Gesindel gereinigt wird. In das zweite Treffen stellen sie die Truppen des Volks, für welches sie kämpfen, in das dritte Hülfsvölker und Verbündete, und erst in das hinterste ihre eigenen Bürger. Von diesen ist übrigens Niemand zum Kriegsdienst gezwungen, wer ficht, thut es freiwillig; dagegen ist auch den Frauen erlaubt, ihre Männer in den Kampf zu begleiten, und dies wird sogar gern gesehen und gelobt.
Außer zur Bezahlung der verachteten Landsknechte dient das Gold und Silber bei den Utopiern nur zu Zwecken, die Beides so sehr als möglich herabzuwürdigen geeignet sind. Trink- und Eßgeschirre sind aus Thon und Glas, Behälter für Abfälle, Schmutz etc. aus den edeln Metallen, desgleichen Sclavenketten, und Verbrecher werden durch Ausstellung mit goldenen Ohrringen, Fingerringen, Halsketten und Krampen der öffentlichen Schande preisgegeben.
Sclaverei und Knechtschaft kommt bei den Utopien, wo die vollkommenste Gleichheit der Rechte herrscht, nur ganz ausnahmsweise vor. Die Sclaverei ist die Hauptstrafe für schwere Verbrechen. Die Delinquenten sollen zugleich durch ihr Beispiel abschrecken und durch ihre Arbeit so viel als möglich dem Staate nützen, im Falle der Besserung und Reue können sie freigelassen werden.
Zur Eheschließung ist bei Mädchen ein Alter von achtzehn, bei Männern von zweiundzwanzig Jahren erforderlich. Die Scheidung ist selten und bringt in der Regel dem einen Theil Schande.
Religionen giebt es in Utopien sehr viele, als Mond- und Sonnenanbetung, Sternendienst, Heroencultus; doch die Mehrzahl der Gebildeten huldigt einem geläuterten Deismus, d. h. sie verehrt einen einzigen unsichtbaren Gott als Schöpfer und Allvater. Das Christenthum, mit dem sie der Erzähler bekannt machte, fand bei ihnen Eingang hauptsächlich wegen der von Christus gelehrten Grundsätze der Brüderlichkeit und des Communismus, und Viele ließen sich taufen. Als aber einer von den Begleitern des Erzählers in seinem Eifer für die Verbreitung des Christenthums alle übrigen Religionen verdammte und ihre Anhänger für Gottlose erklärte, die ewig in der Hölle brennen würden, wurde er verhaftet und, nicht wegen Religionsschmähung, sondern wegen Störung der öffentlichen Ruhe verbannt. Denn zu den schon von König Utopus eingeführten Grundgesetzen des Landes gehört, daß „Jeder nach seiner Façon fertig werden könne“, sich aber bei etwaigen Bekehrungsversuchen aller Gewalt und alles Schmähens Andersgläubiger zu enthalten habe. In Bezug auf den Unsterblichkeitsglauben sind die Utopier jedoch nicht so tolerant. Wer nicht an Vergeltung im Jenseits und an persönliche Unsterblichkeit glaubt, darf kein öffentliches Amt bekleiden und steht in allgemeiner Verachtung; bestraft wird er nicht, darf aber auch seine Grundsätze, wenigstens vor Ungebildeten, die dadurch verführt werden könnten, nicht aussprechen. Der Selbstmord gilt ihnen als erlaubt und wird selbst empfohlen, falls ein genügender Grund dazu vorhanden ist, wie eine unheilbare und qualvolle Krankheit; wer sich ohne einen solchen Grund das Leben nimmt, dessen Leiche wird nicht bestattet, sondern auf schimpfliche Weise in einen Sumpf gestürzt.
An Vorzeichen und Weissagungen glaubet die Utopier nicht, wohl aber an Wunder, als Zeugnisse der göttlichen Allmacht, die nach ihrer Aussage oft auf allgemeines Gebet erfolgt sind und wichtige Entscheidungen in zweifelhaften Fällen herbeigeführt haben. Für den beste Gottesdienst halten sie die Betrachtung der Natur und den Preis ihrer Schönheit. Viele unter ihnen, suchen sich jedoch die Seligkeit in jener Welt zu verdienen, indem sie ihr ganzes Leben der Vollbringung guter Werke widmen. Sie pflegen Kranke, stellen Wege, Brücken und Gräben wieder her, führen Holz und Getreide in die Städte und erweisen sich auf jede Weise dem Staate oder Einzelnen dienstbar. Diese Diener Gottes zerfallen in zwei Classen, von denen die eine ehelos lebt und sich des Fleischgenusses enthält, die andere in der Lebensweise von den Uebrigen sich nicht unterscheidet. Diese Letzteren gelten den Utopiern für die Klügeren, die Ersteren für die Heiligeren. Priester giebt es dort nur sehr wenige. Die Tempel sind groß, aber im Innern halb dunkel, weil die Helligkeit nach ihrer Meinung der Andacht nicht zuträglich ist. Der Gottesdienst wird stets von Musik begleitet, in welcher sie, wie Morus sagt, mehr als in allem Andern den Europäern voraus sind; denn ihre Melodieen, mögen sie auf der Orgel gespielt oder von Chören vorgetragen werden, drücken immer auf das Vollkommenste die Empfindungen aus, die der Text ausspricht, und versetzen die Hörer in die entsprechende Stimmung.
[827] Die Philosophie der Utopier ist eine Glückseligkeitslehre, die hart an Epikur’s Wonnedienst grenzt. Ihnen ist das Glück das zu erstrebende Ziel des Menschendaseins, und der sicherste Weg es zu erreichen ist ein Leben gemäß der Natur. Sowie sie alle falschen Freuden verachten, worunter Morus den Putz, den Stolz auf Adel und hohen Stand und die Jagd anführt, welche dort nur von Sclaven geübt wird, sowie auch das Fleischerhandwerk: so halten sie alle unschuldigen und unschädlichen Genüsse des Geistes und der Sinne nicht nur für erlaubt, sondern auch für erstrebenswerth. Ein bußfertiges Leben erscheint ihnen verwerflich; sich „um eines eiteln Schattens der Tugend willen“ zu peinigen, ohne irgend Jemandem dadurch wohlzuthun, das gilt bei ihnen „als Raserei, als Grausamkeit des Geistes gegen sich selbst und als Undankbarkeit gegen die Natur, deren Gaben man entsagt, als ob man verschmähe ihr Schuldner zu werden.“
So weit der Inhalt dieses merkwürdigen Buches, dem man schwerlich anzusehen vermöchte, daß es im Anfange des sechszehnten Jahrhunderts geschrieben ist; allenfalls nur durch seinen Wunderglauben verräth sich der Verfasser als ein Mann seiner Zeit, doch sind von diesem ja die hellsten Köpfe auch neuerer Zeiten keineswegs immer frei gewesen. Sonst erscheint die großartige Freiheit und Kühnheit seiner Weltanschauung nirgend durch nationale, gesellschaftliche oder dem Geist seiner Zeit eigenthümliche Vorurtheile eingeengt, vielmehr stoßen wir überall auf Grundsätze und Ansichten, die wir als charakteristisch für spätere Jahrhunderte anzusehen gewohnt sind. Morus ist ein Vorläufer der Socialisten und Communisten des neunzehnten Jahrhunderts, ohne aber den bei ihnen so häufigen rohen Haß gegen höhere Cultur, gegen Kunst und Wissenschaft zu theilen; und er überbietet, wenn möglich, noch die Manchesterschule an Friedensliebe und Verachtung des Kriegshandwerks. Er überrascht uns nicht weniger durch seine religiösen Ansichten. Sein allem specifisch kirchlichen Wesen (und offenbar nicht blos dem Mönchthum, sondern auch der Geistlichkeit überhaupt) abholder Rationalismus, seine Empfehlung einer unbedingten Toleranz, seine Verdammung nicht blos des Fanatismus, sondern selbst des geistlichen Bekehrungseifers – alles dies ist eben so sehr im Geiste des achtzehnten Jahrhunderts, als es dem sechszehnen fremd erscheint.
Wenn auch die Utopia im Wesentlichen die freie Schöpfung eines originellen Denkers ist, so hat doch Morus sichtbar die Anregung dazu von Plato empfangen; auch das platonische Staatsideal beruht auf der Aufhebung aller Privatinteressen durch Aufhebung des Privateigenthums, daher auch Plato den Gebrauch des Goldes und Silbers aus seinem Staat ausschließt und gemeinsame Mahle und Behausungen vorschreibt. Ebenso schwebte bei der Verlegung seines Idealstaates auf eine fabelhafte Insel im fernen Westmeer Morus eine Platonische Phantasie vor Augen. Plato spricht zwei Mal von einer ungeheuern Insel im atlantischen Ocean, Atlantis, die größer war als Asien und Afrika zusammen, aber, als ihre Bewohner in Lastern entarteten, an einem Tage und in einer Nacht durch Erdbeben und Ueberschwemmungen vernichtet, im Meer versank. Auch diese Atlantis war eine reine Phantasie. Ihre Bevölkerung stammte von dem Meergotte Poseidon, das Land war eine Art Paradies, in dem alle nützlichen Pflanzen und Thiere in unermeßlicher Fülle vorhanden waren, unter den letzteren nennt Plato ausdrücklich Elephanten. Tempel und Paläste prangten in Feenpracht. Lange Zeit lebte das dortige Volk seinen Gesetzen gehorsam, als es aber in Ueppigkeit und Schwelgerei fiel, brach jene Katastrophe herein.
Von neueren communistischen Schriften ist Cabet’s „Reise nach Ikarien“ (zuerst 1840 erschienen) dem Werke des Thomas Morus am nächsten verwandt. Auch hier kündigt sich schon durch den Namen ein Utopien an; auch in diesem Idealstaat giebt es kein Eigenthum und kein Geld, keine Standesunterschiede; alle, selbst Fragen der Religion werden durch allgemeines Stimmrecht entschieden. Auch hier sind Ehe und Familie heilig, nur daß die Frauen in den gemeinschaftlichen Werkstätten arbeiten. Die Strafen bestehen in dem allgemeinen Bedauern des Verbrechers etc. Und für die Verwirklichung dieses Ideals setzte Cabet seine ganze Thätigkeit ein. Thomas Morus übertrifft ihn und andere Apostel des Communismus nicht blos an Originalität, sondern auch an Klarheit: er wußte sehr wohl, daß Utopien nicht in der wirklichen Welt liegen könne.
Auch dieses Jahr zur Sommerfrische wieder nach Thüringen, das stand fest, nach jenem Stück deutscher Erde, dessen sonnige Berge und prächtige Wälder mit ihrem unsagbaren Reiz schon so viele tausend Herzen bestrickt haben und dessen poetischer Zauber wieder in alle Welt verkündet worden ist durch die E. Marlitt’schen Romane, die sich auf diesem Boden abspielen.
Das Soolbad Arnstadt, Marlitt’s Geburtsort, stand ohnehin auf meiner Reiseroute verzeichnet; es lag daher der Wunsch so nahe, daß es mir vergönnt sein möchte, das Bild, welches sich mir aus ihren Werken und aus dem von der Gartenlaube gebrachten Holzschnitt aufgedrängt hatte, bei einem persönlichen Begegnen zu vervollständigen und so eine schöne Erinnerung mit heimzubringen, die mir eine Freude sein sollte für so manchen kommenden düstern Wintertag. Der Wunsch, als Besuchender an Marlitt’s Thür anzuklopfen, ward bald zum festen Entschluß, trotz des hin und wieder vernommenen Munkelns, wie unmöglich es sei, bei ihr vorgelassen zu werden.
Schon im Hôtel, in dem ich bei meiner Abkunft abgestiegen war, sah mich der Wirth, ein junger, wohlgenährter Gentleman, auf meine Frage nach der Wohnung der Schriftstellerin mit einer plötzlichen Wendung des Kopfes so zweifelhaft lächelnd an, daß ich seiner Versicherung, sie lebe absolut abgeschlossen von aller Welt nur im Kreise ihrer Familie, kaum bedurft hätte.
„Sie zu besuchen, haben trotz meiner Versicherung schon Hunderte versucht,“ fügte er hinzu, „und sind, ohne ihren Zweck erreicht zu haben, wieder abgereist.“
Das klang nun freilich nicht sehr erbaulich; allein das Vertrauen auf meinen guten Stern und auf das stolze Aushängeschild, unter dem ich mich, wenn alle Stricke rissen, einzuführen entschlossen war – und das war kein geringeres als das eines „Mitarbeiters der Gartenlaube“ – gaben mir wenigstens den Muth, das Aeußerste zu thun.
Auf gut Glück schritt ich die wenigen Häuser bis zum Thor entlang und gewann das Freie. Vor mir den bergaufsteigenden Buchen- und Eichenwald, an Gärten und neuerbauten freundlichen Häusern vorbei, fand ich bald, von einem Arbeiter zurecht gewiesen, das reizend auf der Sohle des engen Thales gelegene Haus, in welchem zur Zeit die Dichterin der „Goldelse“, des „Geheimnisses der alten Mamsell“ und der „Reichsgräfin Gisela“ ihr hartnäckiges rheumatisches Leiden mit dem Lächeln echt weiblicher Ergebung und mit der Ruhe einer großen Seele trägt, die über den freien Flügelschlag der Gedanken die schmerzenden Glieder zu vergessen vermag.
Und mein Wirth hatte nicht Unrecht. Empfangen vom Bruder der Autorin, in dessen Familie sie sammt ihrem ehrwürdigen greisen Vater lebt, mußte ich anfangs freilich hören, wie es factisch unmöglich sei, ein Begegnen mit ihr zu vermitteln, und erst nachdem ich das ganze Geschütz meiner Ueberredungsgabe in’s Feuer geführt und auch nicht unterlassen hatte, schließlich das besondere Vorrecht der „Mitarbeiterschaft“ nachdrücklich zu betonen, gelang es mir, wenigstens den Bruder zu bestimmen, seiner berühmten Schwester meinen sehnlichen Wunsch mitzutheilen.
Ich hatte, während sich derselbe zu diesem Zweck nach ihrem Arbeitszimmer begab, Muße genug, den einfach, aber überaus sinnig geschmückten Salon zu durchmustern. Da hingen in schöner Gruppirung die photographisch ausgeführten Gestalten lieber, der Dichterin an das Herz gewachsener Persönlichkeiten. Da hing das große, im Mathaus’schen Atelier zu München prächtig ausgeführte Bild der geschiedenen regierenden Fürstin von Schwarzburg-Sondershausen, welche, die vielseitige Begabung des damals jungen Mädchens erkennend, in wahrhaft fürstlicher Weise für ihre umfassende gründliche Bildung Sorge trug, wenn auch zunächst ihrer schönen Stimme wegen für die Bühne. Die Zeitungen haben ja bereits berichtet, daß ein Gehörleiden diese Laufbahn im Keim erstickte. Dieser Photographie gegenüber hing Marlitt’s eigenes, und so weit ich urtheile, wohlgetroffenes [828] Portrait, gemalt von ihrem Vater. An der Hinterwand, unter einem vortrefflichen Bilde Schiller’s, stand der Flügel, zu dessen Accorden sie wohl dann und wann im allerengsten Familiencirkel, oder die blondhaarigen Neffen zu beiden Seiten, Volksweisen vorträgt, welche sie so sehr liebt.
Eben wollte ich von den offenen Thürflügeln des Salons aus, zu denen herein ein frischer, würzig harziger Luststrom quoll, die labende Aussicht auf den Garten und die im Hintergrunde aufsteigenden bewaldeten Ausläufer des Thüringer Waldes genießen, als plötzlich die Thür des Nebenzimmers zurückgeschlagen wurde und ich mich gegenüber der sinnigen Schöpferin der „Goldelse“ befand, die, in einem Lehnstuhl sitzend, mich mit anmuthvoller Handbewegung grüßte.
Mein Blick überflog die elegante Gestalt der Dichterin, deren schöpferische, kunstbegabte Hand eine Goldelse gemalt, eine Felicitas gemeißelt und eine Gisela erzogen hatte. Der leicht geneigte, von dunklen Locken umrahmte Kopf, das heiter lachende blaue Auge, der schelmische Zug, der die Mundwinkel umspielte, machten den gewinnendsten Eindruck; herzlicher, als man wohl sonst einer Dame zu thun pflegt, der man zum ersten Male gegenüber steht, drückte ich der Schriftstellerin die Hand, die in ihren Dichtungen einen so unerschrockenen Kampf aufgenommen hatte mit der buntfarbig gleißenden Heuchelei, mit der Jämmerlichkeit einer herzlosen Religiosität, die nur in äußerem Formelkram und einschläfernder Selbstberäucherung sich bläht, und mit den längst verrotteten, längst verurtheilten Ansprüchen eines Standes, der sich umsonst gegen die freiheitlichen Forderungen der Gegenwart stemmt.
Und doch war über die ganze Figur eine feste harmonische Ruhe ausgegossen, die sich nur dann unterbrach, wenn irgend eine Mittheilung das Auge hell aufleuchten ließ. Ein ganz eigentümliches Zucken – ich konnte nicht unterscheiden, ob es nur schalkhaft oder innere Erregung war – umspielte dann den Mund, der sehr fröhlich lachen konnte, wenn es sich um heitere Dinge handelte. Vielleicht mit in Folge ihres Gehörleidens ist bei der Unterhaltung ihr Auge stets scharf und fragend auf den Sprechenden gerichtet, und nur wenn sie ihr Vis-à-Vis nicht oder nur halb verstanden hat, wendet sie dasselbe dem Bruder zu, der dann sofort mit lauter Stimme die Worte des Fremden wiederholt. Ein äußerst gewandter und eleganter Conversationston und ein liebenswürdiges, verständnißfeines Eingehen auf alle Fragen der Kunst und Literatur erleichtern eine Unterhaltung mit ihr ungemein und machen solche zu einer sehr angenehmen und anregenden.
Zunächst sprach ich ihr meinen tiefgefühlten Dank aus für die vielen genußreichen Stunden, welche ihre poetischen Schöpfungen mir bereitet hatten – nicht mir allein, denn in diesem Augenblick fühlte ich mich berufen zum Anwalt der nach vielen Hunderttausenden zählenden Leser der Gartenlaube. Mit der ihr eigenthümlichen mädchenhaften Bescheidenheit, welcher das Lob ein Erröthen in die Wangen trieb, nahm sie diesen Dank entgegen und suchte ihm schalkhaft dadurch die Spitze abzubrechen, daß sie auf die bekannte oder, was so ziemlich auf dasselbe hinauskommt, nicht bekannte Eckartsberger Brochüre: „Die Religion der Gartenlaube“, sowie auf das fanatische Gebahren jener schwarzen Biedermänner hinwies, denen die Dichterin allzu grell in das Gesicht geleuchtet.
Wie mechanisch blätterte sie dabei, mit der Linken in einem seitwärts auf ihrem prächtigen Schreibtisch liegenden Album, in welchem sie all’ die unzähligen Zuschriften aufbewahrt, die, aus aller Herren Ländern – so weit die deutsche Zunge klingt – zwischen zwei schön verzierte Pappendeckel hier zusammengeweht, meist in tief empfundener und begeisterter Weise den Gefühlen des Dankes, der Verehrung und Liebe beredten Ausdruck geben.
„O ja,“ sagte sie - im Laufe des Gespräches, „ich leugne nicht, daß mir diese Blätter manche angenehme Stunde bereitet haben und noch bereiten; geben sie mir doch den Beweis, daß meine schriftstellerische Thätigkeit nicht ohne Segen ist. „Glauben Sie nicht auch,“ fügte sie hinzu, „daß so manches vielversprechende Talent krank und siech wird, weil die Welt, für die es ja ringt und strebt, die schaffende Seele achtlos sich verbluten läßt? Nicht Alle haben leider das Glück, sich bis zu einer allgemeinen Anerkennung durchzuringen.“
„Aber auch nur Wenige haben das Glück, wirklich berufen zu sein,“ erlaubte ich mir zu erwidern; „und wenn halbe Talente ihr Mühen erfolglos sehen, so erliegen sie eben dem unerbittlichen Gesetz, dem jedwede Halbheit nothwendig erliegen muß. Ich meinerseits glaube, wirklich Berufene ringen sich stets durch.“
Besonders oft war in diesen Briefen des Dankes der Wunsch ausgesprochen, Näheres zu erfahren über eine Schriftstellerin, die gleichsam wie im Sturm sich die Herzen so Vieler erobert, und als ich hervorhob, wie berechtigt ein solcher Wunsch sei, und wie Einem ganz unwillkürlich die Begierde nahe trete, zu hören, welch’ eine Vergangenheit es ihr möglich gemacht habe, die reichen Schätze in sich aufzunehmen, wie sie in ihren Werken zu Tage treten, erwiderte sie, daß, wenn es denn einmal sein müßte, sie eine eigentliche Biographie für spätere Zeit ihrer eigenen Feder vorbehalte. Damit war mir auch zugleich der enge Rahmen gegeben, in welchen ich diese flüchtige Skizze zu bringen habe.
Auf die oft gehörte Frage hinübergleitend, warum sie es vorgezogen, unter dem Pseudonym E. Marlitt sich einzuführen, fühlte ich heraus, daß sie bei dem einmal eingewurzelten und zum Theil auch wohl nicht ganz unberechtigten Vorurtheile gegen alle Frauenliteratur, den Erfolgen ihrer Begabung mißtrauend, sich dafür entschieden habe. Von dem Drange beseelt, der Welt nach Kräften sich nützlich zu machen, hatte sie die Feder in die Hand genommen, aber nichts lag ihr dabei ferner, als die Sucht, ihren Namen genannt zu wissen, oder gar berühmt zu werden. Und nun diese rauschenden Erfolge! Das gesammte Publicum der Gartenlaube zum Auditorium zu haben, und dann seine Romane in unglaublich rasch aufeinander folgenden Auflagen immer und immer wieder vergriffen und sie in fast alle lebenden Sprachen übersetzt zu sehen, das sind Erfolge, die selbst auf den Anspruchslosesten eine berauschende Wirkung ausüben könnten. E. Marlitt freut sich ihrer, wie ein guter Mensch sich freut im Bewußtsein einer braven schönen That, welche das Glück und, die Freude Anderer bezweckte. Ich brachte ihr die mir seitens eines ganzen für sie schwärmenden Damencirkels aufgetragenen Grüße mit den Versicherungen der Verehrung und Ergebenheit, und da hätte ich wohl gewünscht, die Damen hätten selbst sehen können, wie sie so herzlich erfreut lachen konnte, und wie das sinnige blaue Auge leuchtete im Reflex innerer Befriedigung.
Und doch auch konnte sie recht ernst werden, als sich das Gespräch ausdehnte auf die Vergewaltigungen, welche ihren lebensvollen Gestalten in den sogenannten dramatischen Bearbeitungen von unberufenen Autoritäten zweifelhaftesten Ranges widerfahren sind. Daß diese Bühnenspeculanten Geld machen, ohne auch nur die Autorin zu fragen, ob sie auf den ihr von Rechtswegen gebührenden Ehrensold freiwillig verzichten wolle, daran denkt ihre Seele nicht; aber es berührt sie auf das Schmerzlichste, ihre künstlerisch harmonisch in sich abgerundeten Gebilde gewaltsam zerrissen und roh wieder zusammengeleimt, ohne alle Farbe, ohne allen Duft, verstümmelt und verkrüppelt über die Bretter gehen sehen zu müssen. Wenn ein armer Schelm in der Verzweiflung seiner Noth dem Vorübergehenden seine paar Groschen abnimmt, so kann er sicher sein, daß ein ganzes Heer von Wächtern des Gesetzes hinter ihm her ist, um ihn hinter Schloß und Riegel fest zu machen; wenn aber unter den Augen eines großen gebildeten Publicums der frechste literarische Straßenraub verübt wird, da findet sich leider weder Gesetz noch Wächter.
Es giebt nichts Interessanteres, als einen Blick zu werfen in die geistige Werkstätte eines Dichters, aus der das funkelnde Gold der Dichtung in wunderbar getriebenen Formen heraus in die Welt tritt – die Eigentümlichkeiten kennen zu lernen, unter denen Schöpfungen entstanden, die zu Lieblingen aller Kreise geworden sind. So hat Marlitt z. B. vorzugsweise ihre schöpferischen Stunden, wenn der Himmel bedeckt ist und der Regen oder Schnee an die Fenster schlägt; dann, gleichsam in sich selbst zurückgeworfen, tritt jene behagliche, innerlich warme Stimmung und mit ihr die intensive Schaffungslust ein, der sie unwiderstehlich gehorchen muß. Dann schweift ihre Phantasie auf blühende Fluren, ihre Gestalten gewinnen volles pulsirendes Leben, und mächtig dehnt sich der Stoff aus, mit dem sie sich trägt. Zur Feder greift sie erst dann, wenn dieser bis auf Einzelheiten herab im Kopfe völlig ausgebaut ist, und die Charaktere in plastischer Vollendung ihr vorschweben. Geradezu unmöglich aber würde es für sie sein, wenn sie in der Art und Weise vieler Anderer nach einem schriftlich ausgeführten Plane arbeiten sollte.
[829] Ebenso liebt es Marlitt’s Muse, sich während des Schaffens in undurchdringliches Geheimniß und Schweigen zu hüllen; ihre unter der Feder sich befindende Arbeit ist völlig unnahbar, selbst für die ihr so theure Familie; kein Auge darf auch nur nach einer Zeile ihrer Niederschrift blicken, bevor dieselbe druckfertig ist, wenn es nicht damit ihren sichern Flammentod provociren will. Dagegen ist es ein frohes Ereigniß im Hause, wenn endlich nach langer, langer Arbeit „Leseabend“ ist, d. h. wenn die Dichterin am Vorabend der Absendung des Manuskriptes nach Leipzig dem Bruder und der Schwägerin ihre neue Schöpfung vorliest, vorliest mit der weichen bestrickenden Stimme und dem tiefinnerlichen Verständnisse der Schöpferin selbst.
Leicht und heiter berührte sodann die Conversation noch offene Fragen der Zeit und Literatur, für welche Marlitt das warme Interesse des vollen Durchdringens zeigte, und wobei sie, momentan erregt, mit gesteigerter Lebendigkeit eine Fülle positiven Wissens, der Erfahrung und auf die schärfste Beobachtung gegründete Menschenkenntniß an den Tag legte. Aber noch weit höher muß ich die sittliche Kraft, die ehrenhafte Festigkeit anschlagen, mit welcher sie, gegenüber den verrotteten Vorurtheilen orthodox-religiöser Stabilität und privilegirter Kasten, den aufgenommenen Kampf für geistige Freiheit, für Menschenthum und Menschenwürde mit all’ den ihr vom Himmel in die Wiege gelegten Mitteln, soweit es an ihr liegt, unerbittlich auszufechten entschlossen ist. Das ist freilich ein das gewöhnliche Niveau tief unter sich lassender Standpunkt eines Frauengeistes, der weit abseits liegt von jener unglücklichen wissenschaftlichen Oberflächlichkeit, mit welcher sich die verhaßte Blaustrümpfigkeit so breit und unausstehlich macht.
Die Zeit zum Aufbruch war da; mit der Erlaubniß, im nächsten Jahre wieder anklopfen zu dürfen, verabschiedete ich mich, um eine schöne, unvergeßliche Stunde meines Lebens reicher, aber auch reicher um die Erfahrung, wie sehr die ihrer Zeit durch viele Blätter laufenden Notizen bezüglich ihres schweren Gehörs und rheumatischen Leidens sich der Uebertreibung schuldig gemacht haben. Es ist wahr, der Armen wird das Gehen sehr schwer, aber daß man ihr die Feder in die Hand geben müsse, ist nicht wahr.
In Begleitung des Bruders durchwanderte ich die Straßen des netten Städtchens, das überall das Gepräge regen Gewerbfleißes und der Intelligenz trägt. Oben am Marktplatze unter der Colonnade sah ich das Haus, in welchem E. Marlitt in dem Augenblicke das Licht der Welt erblickte, als schrägüber auf dem Balcon des Rathhauses das Stadtmusikchor zu Ehren des durchlauchtigsten Herrn, dessen Geburtstag das Land feierte, eine festliche Weise hinausschmetterte. Vis-à-vis, am südlichen Ende des Marktplatzes steht das Haus, z. Z. „Gasthof zum Schwarzburger Hof“, welches die Phantasie Marlitt’s zum „Hellwig’schen“ Hause, zur Wohnung der alten Mamsell, jener blumig-poetischen Mansarde einer feinfühligen Frauenseele umgeschaffen hat. Von allem dem verräth jedoch die alltägliche Prosa dieses den pecuniären Interessen seines Besitzers dienenden Hauses selbstverständlich nicht das Leiseste, und doch suchte unwillkürlich mein Auge wenigstens nach jenen Dachrinnen, über welche hinweg die kleine Felicitas sich an das große Herz der Tante Cordula flüchtete, und von denen herab Johannes im entscheidenden Augenblicke die verzweifelnde Jungfrau an seine Brust rettete.
An einem allen Styles baren Gotteshause vorüber und unter einem alten Thurm hinweg, dessen Thor merkwürdigerweise das „neue Thor“ genannt wird, stiegen wir die Alteburg hinan und genossen bei wundervoller Abendbeleuchtung die herbkräftige Thüringer Bergluft, deren stärkendem Wehen ich die offene Brust bot. Zu unseren Füßen breiteten sich mitten im Grünen die rothen Dächer aus; westlich lag mit den Resten eines alten verfallnen Klosters die altehrwürdige, von grauer Sage umsponnene Liebfrauenkirche mit ihren prächtigen Thürmen und dem weit und breit berühmten Glockengeläute: das ist die Stätte, auf welcher Marlitt’s erste Novelle „Die zwölf Apostel“ sich bewegt.
Das Nordende der Stadt verläuft in den geradlinigen, monotonen Reihen der weißen Grabsteine des Friedhofes; dort schlummern Marlitt’s Mutter und Schwester, und an nicht genau zu bestimmender Stelle die schöne Mutter ihrer Felicitas.
Rechts aber im Thale lag mit der erfrischenden Aussicht auf bewaldete Höhen, von rothgoldenem Abendsonnenschein überfluthet, die friedliche Villa, in deren einem traulichen Gemache vielleicht zur Stunde die Dichterin auf eine neue poetische Schöpfung sinnt.
Weihnachten im Schlosse.
Von Schnee und Eis umstarrt, erfaßt von Todesmächten,
Steht rings der Wald, wo einst in schönen Sommernächten
Ihr Feuer Liebe hat geschürt;
Ein kalter Ostwind stäubt die Flocken von den Zweigen,
Der Sterne Heer melodisch führt.
Da horch! Den Weg herauf ein Singen und ein Klingen,
Von Schlitten wie Geläut’, und grelle Lichter springen
Die Bäume hin im Geisterflug,
Ein Feuerkreis umsprüht – wie von Millionen Sternen –
Den abenteuerlichen Zug.
Im Nu saust er dahin, im blitzenden Gefunkel –
Vor ihm gähnt schwarz die Nacht und hinter ihm das Dunkel –
Doch kein Verderben droht, so wild die Rosse fliegen
Des schneeumstäubten Zugs, und in den Kissen wiegen
Sich stolze, schöngelockte Frau’n.
Weihnachten ist im Schloß! Hier nahen seine Gäste!
Der Gaben aufgehäuftes Gut;
Aus allen Fenstern lacht die glanzumwallte Feier,
Und tausendfältig strahlt der kaum bewegte Weiher
Zurück der Lichter helle Gluth.
Was Reichthum spenden kann, blickt hin, es ist gespendet,
Zur Pein wird hier dem Wunsch die Wahl!
Wohl ist die Pracht ein Glück, um das sich Menschen neiden,
Doch die im Herzen lacht, die Freude ist bescheiden
Sie lauscht vor jedem Haus, wo ihre liebsten Glocken,
Wo Kinderstimmchen sie zum hellen Fenster locken,
Da weiht sie auch den kleinsten Raum;
Sie fliehet nicht den Glanz, ehrt er die fromme Sitte,
Und schmückt auch ihrem Kind’ den Baum.
Und scheint sie, wo ihr Strahl aus langen Häuserzeilen
Auf laute Straßen glänzt, am glücklichsten zu weilen,
Ei seht, wie gern sie weiter flieht
Gelockt vom Weihnachtlicht, auf schneebedeckter Halde
Das scheue Wild in’s Fenster sieht.
[830]
Ein Begegnen in den oberbairischen Bergen.
Es mochte Ende October sein, wo der Reif schon auf dem Felde liegt und der Schritt härter hallt, als sonst. Ich war tief in den Bergen gewesen, in einer jener Winterstuben, die die Holzknechte bewohnen. Erst um Mitternacht kehrte ich heim. Der Weg, der etwa drei Stunden betrug, führte anfangs durch den Wald, dann stieg man an’s Ufer des Tegernsees hinunter, auf dessen anderer Seite unser Haus stand. Ich würde lügen, wenn ich behaupten wollte, daß dieser Spaziergang sehr behaglich war; allein die Nacht schien wenigstens sternenhell, der Mond zeigte das erste Viertel. Eilig und wachsam zog ich des Weges. Finstere Tannen standen zu beiden Seiten, die scharfe Luft zog mir um’s Gesicht, und in den Zweigen knisterte es leis, wenn Blatt um Blatt zu Boden fiel. Oft blieb ich stehen und horchte, dann und wann ertönte der Schrei eines Nachtvogels durch die lautlose Stille. Es ist merkwürdig, wie die Sinne sich anspannen, wie Auge und Ohr sich schärft, wenn einer allein durchs Dunkel geht.
Mit einem Mal hörte ich Tritte hinter mir – zu sehen war noch Niemand. Ich hatte einen guten Schritt, aber mein Nachfolger einen noch besseren, und es dauerte nicht lange, bis er mich erreichte. Mit rauher Stimme rief er mir Gute Nacht entgegen. Es war eine Gestalt im gewöhnlichen Bauernkostüm, nur etwas mehr gedrungen und finsterer, als die meisten sind. Ueber den Schultern trug er den Rucksack, in der Hand eine breite Hacke, die ganze Figur hatte etwas kriminelles, selbst ohne die Finsterniß. Wie eine Ironie klang die „Gute Nacht“ von seinen Lippen, denn mir wenigstens war sehr übel dabei zu Muthe.
Es verstand sich von selber, daß wir nun miteinander gingen. So ungemüthlich es ist, wenn man bei Nacht allein durch die Berge geht, so schien es mir doch, daß ich eine Gesellschaft gefunden, die noch weit ungemüthlicher war. Unwillkürlich stellte sich eine gewisse Ideenverbindung zwischen der Hacke und meiner Hirnschale ein, und mit einiger Unruhe maß ich mit jedem Schritte den Begleiter.
Was mir an ihm vor Allem auffiel, das war ein gewisser rabiater Ton, der sonst nicht im Charakter des Bauern liegt. Denn dieser ist gegen Unbekannte viel eher reservirt, als gesprächig und mehr zur Bescheidenheit als zum Pathos geneigt. Im Uebrigen sprach der Bursche ganz vernünftig; stellenweise hatte er sogar etwas Flottes, Chevalereskes in seinen Ansichten. Nur ein einziges Mal fiel ein Wort, das mir ein düsteres Licht auf seinen Charakter warf. Als die bleichen Felsen der Halserspitze herüberragten, deutete er mit der Hand nach denselben und sprach: „Da drinnen liegt auch Einer, den ich eingethan hab’.“ Und dabei machte er eine Bewegung, wie der Schütze, wenn er zielt. Ein leiser Schauder überrieselte mich, denn das Wort konnte ja dem Burschen bitterer Ernst sein, daß er ganz offen davon sprach.
Schweigend gingen wir neben einander; wenn er Etwas behauptete, gab ich ihm Recht; kurz, ich war so „liebenswürdig“ als möglich. Nur als der See kam, dessen Ufer steil in die Tiefe fallen, trat ich heimlich auf die andere Seite. Endlich nahte sich unser Haus. Es war mir bedenklich genug erschienen, mit dem Burschen zusammenzutreffen, aber noch bedenklicher erschien es mir, mich nun von ihm zu verabschieden. Sollte ich ihm verrathen, wo ich daheim sei? Sollte ich die Hausthür in seiner Gegenwart aufschließen? Wenn der Hallunke etwas im Schilde führte, dann war jetzt der Augenblick gekommen.
Mein Herz pochte, als ich vor dem niedrigen Gartenthore stand. „So, da bist Du daheim?“ sprach Jener; „dann bist Du wohl gar einer von den Stielerbuben?“
„Jawohl, der bin ich,“ war die Antwort. „Und wo bist denn dann Du daheim, damit wir uns doch kennen, wenn wir wieder zusammenkommen?“
Der Angeredete brach in ein räthselhaftes Lachen aus und sagte: „Franzl heiß’ ich – gute Nacht.“
Damit trottete er von dannen, ich aber warf die Thür zu, und immer war mir’s, als ob der Franzl sich durch die Spalte hereindrängte und hinter mir die Treppe empor stiege. Es war halb zwei Uhr Nachts.
Am andern Morgen lief in der Tegernseer Gegend das Gerücht um, der Wiesbauerfranzl sei wieder da; er sei aus der Frohnveste ausgebrochen und über Lenggries zurück in’s Gebirg gekommen.
Ein unbehagliches Grauen befiel mich, es war kein Zweifel, daß ich gestern die Ehre gehabt, in seiner Gesellschaft nach Hause zu kehren. Die Beschreibung der Persönlichkeit, sein Lachen, sein Abschied, all’ das deutete darauf hin. Also in der Frohnveste war mein neuer Freund von Rechtswegen zu Hause!
Franzl war der Sohn eines armen abgehausten Bauern aus dem Bezirke Miesbach und hatte schon frühe seine criminellen Anlagen verrathen. Oftmals wegen Wilderns bestraft, war er von diesem poetischen zum gemeinen Diebstahl übergegangen und von da zum Raube. Eine Art von unheimlicher Furcht, welche sonst die Leute dieser Gegend nicht kennen, verbreitete sich um seinen Namen. Nirgends hielt er sich auf, aber überall war er da; Niemand wußte seine Wege, aber jeder fürchtete sie. Dies Gefühl erzeugte einen wahren Terrorismus. Mitten in der Nacht erschien der Franzl, klopfte an’s Haus und weckte die Leute. Dann mußte die Bäuerin aufstehen und Feuer anzünden, um eine Mahlzeit zu kochen, er aber saß plaudernd am Heerde und sah ihr zu. Er stahl nicht, um zu stehlen, nur wenn er Etwas brauchte und nur so viel er brauchte, begehrte er. In den meisten Fällen ward es ihm gutwillig gegeben, denn seine Kühnheit schüchterte die Leute ein. Dann benahm er sich wie ein Gast, ward leutselig und gemüthlich, und that als ob er zu Hause wäre. Niemals nahm er von solchen, denen das Geben sauer ward, allein wenn die Reichen sich weigerten, so drohte er mit den fürchterlichsten Flüchen, daß er den rothen Hahn auf’s Dach setzen und das ganze Dorf zusammenbrennen werde. Er war eine echte Räubernatur: großmüthig und grausam, wie es gelegen kam.
Erst nach langer Mühe war man seiner habhaft geworden und hatte ihn in die Frohnveste der Hauptstadt abgeliefert. Doch seiner verzweifelten Entschlossenheit gelang es, zu entfliehen, indem er sich durch sämmtliche Stockwerke herunterließ. Unten angelangt, gewann er das Freie und entkam in die Berge, in denen es zum allgemeinen Entsetzen hieß: Der Wiesbauerfranzl ist wieder da! Es war mir fatal, daß er nun auch mich zu seinen Freunden zählte; denn ich fürchtete, er würde die neue Bekanntschaft ausnützen und sich eines schönen Abends zum Souper (en petit comité) einladen.
Und wirklich machte er mir bald einen neuen Schrecken. Ich war allein im Hause und saß noch Abends bei der Lampe, da kam mit einemmal die alte Dienerin gerannt und flüsterte entsetzt: „Denken Sie nur, draußen auf den steinernen Staffeln der Hausthür sitzt schon seit einer Viertelstunde ein Kerl; ich hab’ durch’s Küchenfenster hinausspeculirt, und fürchte, es ist der Wiesbauerfranzl. Jesus, Maria und Joseph,“ setzte sie hinzu, „jetzt wird er noch anklopfen und hereinwollen.“
Schrecken und Neugier waren gleich mächtig, und so stieg ich denn die Treppen empor, lautlos und ohne Licht. Oben wollte ich das Fenster öffnen und hinabspähen, denn vielleicht war es doch nur ein harmloser Handwerksbursche, der diesen unentgeltlichen Ruheplatz benützte.
Trotz der äußersten Sorgfalt hörte der Fremde, daß sich die Scheiben bewegten, und indem er den Kopf zurücklehnte, sah er regungslos und wortlos zu mir empor. Es war dieselbe Gestalt wie neulich’, es war der Wiesbauerfranzl. Um das Risiko zu vermindern, ergriff ich die Initiative. „Möcht’st was, Franzl, soll ich Dir was hinaustragen, wann D’ Hunger hast?“ – rief ich mit künstlicher Zärtlichkeit dem Gauner zu. Er aber erwiderte mit stoischem Kopfnicken „Dös braucht’s nit, Karl, ich hab’ schon g’futtert heut’ und muß noch weiter. Bloß rasten möcht’ ich a wenig.“ Kurz darauf erhob er sich und ging von dannen.
Unterdessen kam der erste Schnee; ich schloß meine Sommersaison und zog zurück in die Stadt; draußen aber geisterte mein Freund herum und fuhr fort zu requiriren. Wie es ihm dabei ergangen ist, erfuhr ich erst, als ich später einmal wiederkehrte.
Eines Tages, nachdem er Siesta gehalten, fiel er doch den Häschern in die Hände. Im Triumph ward er an das Gefängniß des Landgerichts abgeliefert, und Jedermann athmete
[831] [832] leichter, wenn man sich auch nicht ganz vor ihm geborgen glaubte. Denn etwas Unverwüstliches lag in seinem Wesen. Bald machte er neuen Alarm. Der nächste Tag war kaum angebrochen, so kam der Eisenmeister gelaufen und klingelte wie toll am Hause des Arztes. „Kommen Sie nur geschwind herüber, Herr Doctor, der Franzl hat sich heut’ Nacht erhenkt. Gerade, wie ich jetzt die Runde machen wollte, seh’ ich ihn am Kreuzstock hängen. Doch weil er schon eiskalt war, hab’ ich ihn gar nicht mehr abgeschnitten.“ Spornstreichs eilte der Arzt in das Gefängniß und fand, daß sich Alles nach Bericht verhielt. In jener wilden Verzweiflung, die bei energischen Naturen entsteht, wenn sie keinen Ausweg mehr sehen, hatte der kühne Räuber beschlossen, sich selbst zu morden – Sofort schnitt der Arzt die Leinwandschlingen durch; kaltes Wasser wurde ihm in’s Gesicht gegossen, aber alle Belebungsversuche blieben erfolglos. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde im Ort und Viele, die sie vernahmen, meinten, das sei die erste nützliche Handlung des Franzl. Ja, wenn er nur wirklich hin ist! setzten die Pessimisten dazu, dem Teufel darf man nicht trauen, bis er im Grab liegt. Die Section war unterdessen vorbereitet; man ging daran, die Leiche zu entkleiden. Doch siehe da, die Wimper regt sich, ein Muskel zuckt, der Todte ist wieder lebendig geworden. Es war auch die höchste Zeit gewesen, denn das Sectionsmesser lag bereits auf dem Tische. So hatte die Lebenskraft des jungen Verbrechers über seine Willenskraft gesiegt; gegen alle Absicht befand er sich diesseits.
Mit aller Sorgfalt ward er nun zum Bewußtsein und dann wieder in die Keuche gebracht, um am nächsten Tag nach München spedirt zu werden. Niemand mochte ihn gern „verwalten“; selbst das Gefängniß schien unsicher, so lang er darinnen war. Gleichwohl war er von stoischer Ergebung. Ja, es sah fast aus, als ob er kleinlaut geworden wäre, als ob er auf neue Todesarten sinne, statt sich des neuen Lebens zu freuen.
Am nächsten Tage wurde ein Bauernwagen eingespannt und Franzl, an Händen und Füßen gefesselt, nahm Platz auf demselben. Neugierig blickten die Leute auf das gefangene Wunderthier. Langsam zog das Gefährt des Weges, der dicht am Ufer vorüberführte. Plötzlich knackt es leise, die Fesseln waren zerrissen, – ein Ruck, und der Verbrecher schnellte aus dem Wagen. Kopfüber warf er sich in den See, daß die Wogen über ihm zusammenschlugen, und schwimmend suchte er das Weite. Da Niemand von seiner Bedeckung ihm folgen konnte, oder Jeder einen Ringkampf in den Wellen vermeiden wollte, so wurde ein Schiff geholt, das dem Entwichenen nachfuhr. Trotz des Vorsprungs hatten ihn die flinken Ruderer bald erreicht, allein was nun? Anfangs tauchte er unter, um sich den Blicken der Verfolger zu entziehen; jedoch sein Athem war von der Anstrengung gar bald erschöpft. Ein wahres Gefecht begann. Da ihm anders nicht beizukommen war, so ergriffen jene die Ruder und schlugen ihn, so oft er emportauchte, mit aller Macht auf den Kopf, um ihn zu betäuben. Seine Eisenstirne aber war nicht zu brechen, noch weniger war es möglich, ihn zu packen und hereinzuziehen; denn wie wüthend warf er sich auf das Schiff und suchte dasselbe umzuschlagen. Jetzt war die Gefahr auf der andern Seite und man fand es gerathen, die Verfolgung einstweilen einzustellen. Stürmisch brandeten die Wellen, als nach hartem vergeblichem Kampfe das kleine Schifflein an’s Land zurückfuhr; jener dagegen erreichte das hohe Schilf, das ihm ein sicheres Versteck gewährte.
Erst als es dunkel wurde, kroch er aus demselben hervor und fand es angemessen, für einige Zeit zu verschwinden. Wochenlang hörte man nichts mehr von ihm, und Viele glaubten, daß er im Sturm ertrunken sei. Plötzlich aber stand er wieder da, wie aus dem Boden gestiegen. Sein Wesen hatte sich nicht gebessert, dafür war die Feindschaft, die er gegen Alles hegte, was Gesetz und Friede hieß, durch die letzten Niederlagen nur geschärft worden. Jetzt nahm er die Fehde mit erneutem Ingrimm auf; er hatte sogar einen Compagnon (mit vier Beinen) gefunden, denn ein riesiger gelber Wolfshund folgte ihm auf Schritt und Tritt. Forschend sah er seinem Herrn in die Augen und leckte die räuberische Hand; auch knurrte er der ganzen Welt so misanthropisch entgegen wie sein Gebieter. Dieser schien ihm nicht minder zugethan, denn wenn er seine Mahlzeit forderte, so reichte er ihm den ersten Bissen, und wer sich weigerte, dem zeigte der „Wolf“ die Zähne, noch eh’ sein Herr mit den Augen winkte. Er besaß die einzige Liebe, die dem Burschen geblieben war, und wenn man den Beiden begegnete, so sah man’s ihnen an, daß sie auf Leben und Sterben verbunden waren.
Unterdessen trieb es der Franzl ärger als je zuvor. Von Tag zu Tag ward er ungestümer und der Schrecken unter den Leuten größer. Eines Nachts hatte er wieder eine Bauersfrau geweckt, daß sie ihm kochen sollte. Zagend erschien sie am Fenster und weigerte sich der seltsamen Zumuthung, während er unten vor der Altane stand. Da ergriff er das breite Messer und stieß es in’s Haus, daß es durch die Balken fuhr. „Hast Du’s g’sehn? ’s nächste Mal trifft’s bei Dir,“ rief er drohend hinauf, und ging mit dem schäumenden Hund von dannen. Alle Nachforschung der Behörden blieb erfolglos, denn einen Schelm in den Bergen aufzuspüren, ist verlorene Mühe. Längst hatte die öffentliche Meinung ihn vogelfrei erklärt; und so geschah es denn, daß auch von Amtswegen ein Preis auf seine Einbringung gesetzt wurde. Es war das äußerste Mittel.
An der Straße, wo die Wege sich kreuzen, steht ein einsames mächtiges Wirthshaus. Es ist noch ganz im alten Styl errichtet; eichene Tische und steinerne Krüge. In der Bauernstube hängt das Fuhrmannszeichen, unter dem Ofen schnarcht der Kettenhund und der Wirth ist noch der mächtige souveräne Gebieter. Hier saßen in später Stunde einige Genossen zusammen, den Hut auf dem Kopfe und die trotzige Feder weit vorgerückt. Plötzlich ging die Thüre auf; ein gedrungener Bursche trat herein und setzte sich bei ihnen am Tische nieder. Jeder kannte ihn, so gut wie wir ihn kennen.
Es war am selben Tage, wo der Steckbrief gegen ihn erlassen worden war. „Weißt Du’s schon, Franzl, daß sie Dich verschrieben haben?“ rief der Eine. „Fünfzig Gulden kriegt der, der Dich fangt,“ versetzte ein Anderer. „Das muß Dich doch freuen, weil die Leut allweil sagen, Du bist nix werth!“ Lautes Gelächter scholl durch die Stube; der Franzl verzog aber keine Miene, sondern stemmte die Hände in die Seite und rief: „Nun ja, da habt ihr mich, so fang’ mich halt einer, wenn ihr a Schneid habt und kein Geld.“ Niemand rührte sich; nur unter dem Tische knurrte der gelbe Wolf, als ob er die Worte verstanden hätte. Schweigend setzte sich der Räuber nieder und trank dann gemüthlich mit den Andern weiter, wie er es so oft gethan. Etwas stiller als sonst aber war er doch geworden, denn nach einer halben Stunde legte er seine Kupferkreuzer auf den Tisch und ging in die Nacht hinaus, ohne sich mehr umzusehn. Nur der Hund wandte den Kopf unter der Thür und zog zornig die Lippen empor, daß die riesigen Fangzähne herausstachen. „Heut hat er keine Freud nit mit den Karten,“ sagte der Eine, der ihm ein verbotenes Hazardspiel angetragen hatte. „Glaub’s gern,“ erwiderte der Nachbar, „daß einen ’s Spielen nimmer freut, wenn man’s selber verspielt hat.“ Und dann rückten sie enger zusammen und munkelten: „Diesmal kommt er nimmer durch.“ „Todt oder lebendig, heißt’s in dem Schreiben,“ fügte Einer halbleise bei.
Zwei Tage waren seitdem verstrichen, da pochte der Franzl wieder an die Thür eines Bauernhauses. Es war in der Nähe von Gmund, auf jenem Höhenzug, der wie ein Riegel vor dem Gebirge liegt und von Tegernsee bis Miesbach hinüberreicht. Als die Bäuerin unter die Thüre trat, erkannte sie wohl in verhaltenem Schreck den Missethäter, allein sie stellte sich, als ob sie einen Armen aufnähme, und hieß ihn in die Stube treten. Unterdessen rief ihr Mann die Nachbarn zu Hülfe. Lautlos schlichen die Gerufenen durch die Hinterthüre in den Stall und beriethen dort, wie man ihn überwältigen könne; aber keiner hatte den Muth dazu. „Todt oder lebendig, heißt es im Schreiben; wie wär’s, wenn wir ihn niederschießen?“ Unter den Herbeigeeilten war ein junger Soldat, der als guter Schütze berühmt und erst vor wenigen Tagen vom Regiment zurückgekehrt war. Dieser beurtheilte den Fall nach Standrecht und meinte, daß nicht für die Einbringung des Todten, sondern für die Tödtung der Preis bestimmt sei. Der bringt doch noch Einen um, wenn er weiter lebt, dachte er sich, und da ist’s besser, ich bring’ ihn selber um. „Hinten beim Ofen hängt mein Zwillingsstutzen,“ flüsterte der Bauer und dann trat athemlose Stille ein.
Unterdessen hatte der Franzl sein Mittagsbrod verzehrt und rüstete sich zum Aufbruch.
„B’hüt’ di Gott, Bäuerin,“ rief er, „und wenn Dich wer fragt, wem Du aufgewart’ hast, dann sag’ nur: dem Wiesbauerlumpen.“
[833] Mit diesen Worten trat er vor die Thür; von der andern Seite aber eilte ein schlank gewachsener Bursche in die Stube, der noch die blaue Soldatenmütze trug. Schweigend nahm er die Büchse von der Wand und verbarg sie unter dem Fenstersims, dann öffnete er leise die kleinen Scheiben.
„Nicht so g’schwind, Franzl,“ rief er dem Dahingehenden nach; „diesmal bleibst stehen oder es schnallt.“
Jener wandte sich um und lachte mit lautem Hohne.
„Wer mir was will, soll nur zu mir kommen; ich geh’ Niemandem zu G’fallen.“
Noch ein Schritt und ein sausender Knall erdröhnte. Wie ein Baum zu Boden schlägt, sank der Getroffene darnieder; stromweise quoll das Blut aus seinem Munde. „Faß“, rief er halblaut dem Hund entgegen. Es war sein letztes Wort. Mit den Fingern riß er die Erde auf, noch ein paar Mal zuckte sein Körper und dann lag eine Leiche auf dem Boden. Der Hund aber stürzte wie rasend auf das geöffnete Fenster, als wollte er mit einem Sprunge den Kreuzstock niederreißen. Da krachte der zweite Lauf des Stutzens und auf halbem Wege brach das treue Ungethüm zusammen. Röchelnd kroch er noch bis zur Stätte, wo die Leiche seines Herrn lag, und nach wenigen Athemzügen verschied er.
Es war ein seltsamer Zufall, daß ich gerade an diesem Tage aus der Stadt in die Berge kam und gerade auf jenem Weg, wo das Ereigniß stattgefunden hatte. Da die Gerichtscommission erwartet wurde, so durfte an der Stellung der Leiche nichts geändert werden, und das ganze Drama, wie es vor wenig Stunden sich zugetragen hatte, lag noch vor meinen Augen. Sonderbar ward es mir zu Muthe, als ich den Gefährten hier wiederfand, mit dem ich einst in tiefer Nacht gewandert war.
Weil alle Nachstellungen so lange vergeblich blieben, so hatte sich vielfach das Gerücht verbreitet, daß der Franzl verhext sei und ein Zaubermittel besitze, um sich unsichtbar zu machen. Merkwürdigerweise fand sich in seiner Tasche (als man die Leiche untersuchte) eine Wurzel von räthselhafter Gestalt. Was er damit bezweckte, hat Niemand erfahren, daß aber jener Aberglaube dadurch nur befestigt ward, kann man sich denken. Die Wurzel aber, die Niemand zu nehmen wagte, liegt noch heute in meinem Schrank.
Eine Cabinetsordre Friedrich Wilhelm des Dritten. Der bekannte
Abgeordnete Wantrup hat jüngst im preußischen Landtag die
Aeußerung gethan, er halte es für undenkbar, daß ein Jude Officier sein
könne, und er vermöge nicht, sich einen Juden in Uniform vorzustellen, der
trotz der eisernen Disciplin, die ihn stütze, sich werde halten können.
Herr Wantrup scheint nicht zu wissen, daß schon vor langer Zeit ein
jüdischer Officier in der preußischen Armee mit Ehren gedient hat, und es
interessirt vielleicht die Leser der Gartenlaube, eine charakteristische Cabinetsordre
kennen zu lernen, welche Friedrich Wilhelm der Dritte in dieser
Angelegenheit erlassen hat. Meno Burg, geboren am 9. October 1789
zu Berlin und seinem Stande nach Feldmesser, trat am 9. Februar
1813 als Freiwilliger in die Armee, zunächst beim Garde-Normal-Bataillon
(dem jetzigen zweiten Garde-Regiment zu Fuß), dann, weil bei der Garde
kein Jude dienen durfte, bei der Artillerie ein, wo er vom Generalinspector,
dem Prinzen August, sofort zum Bombardier ernannt wurde. Bald zum
Unterofficier befördert und als Lehrer der Mathematik verwandt, legte er
die Officiersprüfung ab und wurde durch Cabinetsordre vom 18. August
1815 zum Secondelieutenant befördert. Auch als solcher war er fortwährend
lehrend thätig, namentlich da die neue Artillerie- und Ingenieurschule
in Berlin eingerichtet wurde, und veröffentlichte in der Folge ein
größeres Werk unter dem Titel: „Die geometrische Zeichenkunst etc. Berlin
1822“ (zwei Theile). Dasselbe fand vielen Beifall und ist später auch in’s
Französische übersetzt worden. Prinz August von Preußen hatte dem jungen
Manne seine volle Zuneigung geschenkt und war seinerseits eifrig bemüht,
ihn zu befördern. Bei den bekannten Grundsätzen des Königs hatte das
indeß seine besonderen Schwierigkeiten. Lieutenant Burg war seiner
Anciennetät nach daran, zum Hauptmann befördert zu werden. Statt
des Patents erhielt er am 6. Januar 1830 folgendes Schreiben:
„Ew. Wohlgeborn vorgerückte Stellung in der ersten Artillerie-Brigade hat mich veranlaßt, bei dem königlichen Kriegs-Ministerio anzufragen, in wie fern künftig, mit Rücksicht auf das Gesetz vom 11. März 1812, Ihre Beförderung zum Hauptmann nachgesucht werden könne, wobei ich nicht unerwähnt gelassen habe, durch welche nützliche Dienste Sie sich in Ihrem zeitherigen Verhältniß ausgezeichnet haben. Das königliche Kriegsministerium hat mich hierauf benachrichtigt, daß Se. Majestät der König allerhöchst Sich nicht bewogen gefunden haben, in der Sache eine besondere Entscheidung zu ertheilen, und zwar in der Voraussetzung, daß Sie durch Ihre Bildung, Stellung und religiöse Ueberzeugung wohl bereits diejenige Annäherung zum Christenthum in sich fühlen, welche Sie dazu bewegen würde, durch förmlichen Uebertritt zur christlichen Religion zugleich jeden Anstoß zu Ihrer ferneren Beförderung aus dem Wege zu räumen.
Ich setze Sie von vorstehender Aeußerung mit dem Anheimstellen in Kenntniß, Mir zu seiner Zeit von dem Ergebniß Ihrer hierauf bezughabenden Entschließung Mittheilung machen zu wollen.
Berlin, 6. Januar 1830 gez.: August.“
Der ihm gegebene Wink war deutlich, Burg zögerte aber keinen Augenblick, der Lockung zu widerstehen. Er lehnte es ab, seinen Glauben zu wechseln. Bald darauf ließ er dem oben genannten Werke ein weiteres folgen: „Das architektonische Zeichnen“ (Berlin, 1830), das sich gleichfalls der besonderen Theilnahme des Prinzen August und des Königs zu erfreuen hatte. Der König fragte an, ob es angezeigt sei, dem Verfasser eine Gratification zu bewilligen. Als Prinz August hierauf wiederholt Gelegenheit nahm, Burg zur Beförderung zum Hauptmann zu empfehlen, erging folgende charakteristische Cabinets-Ordre:
„Ich kann aus Euer Königlichen Hoheit Bericht vom 1. d. M. den bei der Artillerie- und Ingenieur-Schule als Lehrer stehenden Premier- Lieutenant Burg von der ersten Artillerie-Brigade nicht zum Hauptmann von der Armee ernennen, und verspreche mir von seiner geistigen Ausbildung, er werde noch zur Erkenntniß der Wahrheit und des Heils des christlichen Glaubens gelangen. Seinen nützlichen Diensten lasse ich gern Gerechtigkeit widerfahren und für die Bearbeitung seiner Lehrbücher mögen Eure Königliche Hoheit ihm die beiliegenden fünfzig Thaler in Gold als Gratification zustellen lassen.
Berlin, 6. December 1830. gez. Friedrich Wilhelm.“
Erst nach zwei Jahren, im November 1832, erfolgte auf erneute Verwendung
des Prinzen die Ernennung und ein schwerer Stein war damit
von Burg’s Herzen genommen, da die fernere Zurücksetzung ihn gezwungen
hätte, seinen Abschied zu nehmen. Nach fünfundzwanzigjähriger Dienstzeit
erhielt er das goldene Dienstauszeichnungskreuz, bald nach dem Regierungsantritt
Friedrich Wilhelm des Vierten, im Jahre 1841, den Rothen
Adler-Orden, wurde im März 1847 zum Major befördert und hat dann
noch bis zum Jahre 1853 segensvoll und eifrig in seinem Berufe gewirkt.
Am 26. August 1853 starb er, eines der ersten Opfer der eben ausbrechenden
Cholera, und wurde auf dem jüdischen Kirchhofe in Berlin
unter zahlreicher Theilnahme der Bevölkerung, speciell seiner Cameraden
und Vorgesetzten, beerdigt. H.
Aus den Sonntagsbriefen eines Zeitgenossen „ … Es ist ein schlimmes Merkmal unseres heutigen Culturzustandes und der allgemeinen Volksitte, daß anständige Frauen nicht mehr in Eisenbahnwagen dritter Classe fahren können, ohne Unzuträglichkeiten zu gefährden“ – so sagte ein Mitreisender und erzählte, daß namentlich in Süddeutschland und der Schweiz, aber auch in Norddeutschland, wenn hier gleich in niederem Grade, eine empörende Rohheit und Rücksichtslosigkeit sich auf den Eisenbahnen breit mache. Ein Zweiter bemerkte kurzweg, daß überhaupt in Frankreich, England und Amerika sich weit mehr Anstand und gute Sitte finde, als bei uns in Deutschland, und es muß zugestanden werden, daß der Engländer, wenn er auch rücksichtslos ist und sich nicht um seinen Nachbar kümmert, doch auch dessen Rechtssphäre nicht verletzt, er bleibt bei seinem nationalen Grundsatz „Hilf dir selbst“. Der Franzose dagegen ist höflich, handreichend, gesprächig und gesellig, er knüpft gern mit seinem Nachbar, und noch lieber mit seiner Nachbarin an, aber er hat dabei den Ehrgeiz oder auch die Eitelkeit, für einen Mann comme il faut zu gelten; und mögen die Motive sein, welche sie wollen, sein Benehmen giebt eine gewisse Sicherheit des Anstandes durch alle Classen hindurch; er erweist sich der Nachbarin hülfreich, er macht es ihr bequem, er wird versuchen, eine nähere Beziehung anzuknüpfen, aber er läßt sich auch leicht durch ein entschiedenes Wort in die Schranken zurückweisen und wird eine abgewehrte Zudringlichkeit gewandt in einen Scherz verwandeln.
Der Deutsche dagegen – es muß leider eingestanden werden – hat entweder die egoistische Rücksichtslosigkeit des Engländers oder die Zuthulichkeit des Franzosen, die er in’s Täppische und Rohe steigert. Die alten festen Umgangsformen haben sich aufgelöst und noch haben sich keine neuen gebildet.
Es ist keine Frage, daß die Eisenbahnen einen demokratischen Zug in die Welt gebracht haben; der soll erhalten, aber mit guter Form versehen werden. „Ich habe mein Fahrbillet gelöst so gut wie Du und bin so viel wie Du, “ sagen die Mienen und die Ellenbogenbewegungen des in den Bahnwagen Einsteigenden. Das Gefühl der Gleichheit ist berechtigt, das hebt aber die Pflicht der Menschenfreundlichkeit und des Anstandes nicht auf. Leider aber glauben noch Viele bei uns ihr Bewußtsein der Gleichheit durch barsches Auftreten und durch Hintansetzen jeder guten Form bewähren zu müssen. Der Kleinstädter, der Dorfbewohner, von seiner alten Unbeholfenheit und Scheu erlöst, läßt sich nun ganz gehen, renommirt mit dem Schoppen, den er da und da sich gekauft hat, randalirt nach Lust und dünkt sich wunder wie frei in der Formlosigkeit, die er ungestraft gegen Frauen zeigen kann, ja er glaubt seine Aufdringlichkeit oft gar noch Gemüthlichkeit nennen zu dürfen.
Hier liegt eine Aufgabe zur Versittlichung, zur Herausbildung eines öffentlichen Anstandes, der Jedermann auf jedem Wege sich unterziehen sollte. Vorerst aber wäre es wohl angemessen, auch in der dritten Wagenclasse eigene Coupés für Frauen einzurichten.
[834] Weihnachtsfreude in der Redaction. Auf den Arbeitstisch eines Redacteurs fallen aus der großen Lesewelt im Lauf des Jahres mehr Dornen als Rosen nieder, der Tadel hatte leider von je raschere Beine als der Ausdruck des belohnenden Dankes. Um so freudiger begrüßen wir den folgenden Fall, den wir heute unsern Lesern mittheilen, die sich gewiß noch eines Aufsatzes in Nr. 48 der Gartenlaube erinnern. Es war darin das Leben eines preußischen Beamten geschildert, der, durch zu kärglichen Gehalt in das größte Elend gekommen, zuletzt der Versuchung unterlag und eine ihm anvertraute Summe unterschlug. Wir hatten schon aus verschiedenen Gegenden – so auch aus Sachsen – aus dem Kreise von Beamten dankende Zuschriften dafür erhalten, daß die Gartenlaube die oft jammervolle finanzielle Lage öffentlicher Beamten und die durch sie unausbleiblich veranlaßten Conflicte der Wahrheit gemäß schildere, als wir in diesen Tagen folgende ebenso erschütternde, als rührende Zuschrift erhielten:
„Innigster, tiefster Dank, geehrter Herr, ist die Grundursache dieser Zeilen an Sie. Gewiß gewährt es Ihnen eine Genugthuung, wenn Sie erfahren, daß Sie, durch den Aufsatz in Nr. 48. Ihres Blattes ‚Aus den Erinnerungen eines preußischen Gefängniß-Inspectors‘ eine zahlreiche Familie vor unsäglichem Unglücke bewahrt haben. – Der, bis auf den Namen, treue Spiegel, den Sie (oder der Verfasser) mir vorgehalten, hat mir ganz den Abgrund gezeigt, an dessen Rande ich stand, und mich zur Erkenntniß gebracht. Ich will nun wieder mit Gottes gnädiger Hülfe kämpfen und ausharren, bis es ihm gefällt mir die Last zu erleichtern oder mich davon zu befreien.
Ihnen aber, geehrtester Herr, möge das Bewußtsein, wirklich einen Theil des Ihnen vorgeschwebten Zieles erreicht zu haben, eine frohe Weihnachtsstunde bereiten. Das ist mein und gewiß auch (wenn auch unbewußt) der Meinigen sehnlicher, innigster Wunsch. Gott vergelte Ihnen, was Sie und der Verfasser, vielleicht ohne Ahnung, an uns gethan.
Verzeihen Sie, daß ich mich Ihnen nicht näher bezeichne. Genüge es Ihnen, daß im fernsten –preußen Dankesthränen für Sie fließen. Gott segne Sie, die Ihrigen und den Verfasser!“
B. A. aus K… „Ist Weiß und Schwarz eine Farbe?“ Nach dem im gewöhnlichen Leben wie auch in der Kunst herrschenden Sprachgebrauche ist sowohl Weiß als Schwarz eine Farbe. In der Physik setzt man allerdings bei der Besprechung der Zerlegung des Sonnenlichts in verschiedene Farben diese letzteren in Gegensatz zu dem weißen Sonnenlichte, und sowohl Weiß, als die Gesammtheit aller Farben, in welche das Sonnenlicht durch ein Prisma zerlegt wird, wie auch Schwarz, als die Abwesenheit jeden Lichtes, zählt dann nicht mehr zu den Farben. Es ist aber kein Grund vorhanden diese für ihren Zweck ganz gute Bezeichnungsweise allgemein einzuführen und man darf daher sowohl Weiß wie Schwarz unbedenklich als Farbe bezeichnen.
J. B. in M. a. Rh. „Hat die Rotation der Erde Einfluß auf Meeresströmungen oder ist erstere vielmehr einer der Urheber jener Erscheinung?“ Letzteres ist der Fall. Durch die Rotation der Erde wird eine allgemeine Strömung des Meereswassers in der Nähe des Aequators in der Richtung von Ost nach West, entgegen der Rotationsrichtung der Erde, bewirkt. Diese Aequatorialströmung ist sowohl im Atlantischen, als im Stillen Ocean vorhanden. Die Rotation der Erde bewirkt ferner, daß die nach den Polen hin fließenden Ströme warmen Wassers, wie der Golfstrom und der Japanesische Strom (Kuro Siwo), immer mehr und mehr nach Osten abgelenkt werden, je näher sie dem Pole kommen.
X. „Hat der europäische Continent außer Island und Grönland im Laufe der Jahre in seinen klimatischen Verhältnissen Veränderungen durch die Veränderung oder Erkaltung der Meeresströmungen erlitten?“ Die ehemalige Vergletscherung eines großen Theiles des europäischen Continents, die sogenannte Eiszeit, erklärt sich wahrscheinlich durch die frühere Abwesenheit des Golfstromes, der erst nach dem Emportreten Centralamerikas über den Meeresspiegel seinen jetzigen Lauf erhielt und welcher jetzt Nordeuropa ein weit wärmeres Klima verleiht, als der geographischen Breite entspricht. In historischer Zeit sind in Europa keine bedeutenderen klimatischen Veränderungen constatirt.
Thekla, H. A. S., A. W., G. B. in M., A. V. etc. etc.! Es geht in die Dutzende! Namen sollen sie nicht nennen, all’ die, wie das Veilchen im Verborgenen, aufblühenden männlichen und weiblichen Lyriker, welche in rührendster Bescheidenheit von uns über „den eigentlichen Werth“ ihrer Gedichte belehrt sein wollen. Alle, aber ohne Ausnahme, sind in den Kreisen ihrer Freunde, Verwandten oder Gönner ermuntert worden, die vielversprechenden Erstlinge ihrer Muse der Gartenlaube anzuvertrauen, und zagend senden sie eine reiche Auswahl in der schüchtern angedeuteten Hoffnung, daß wenigstens Einiges davon vor dem grausamen Ende im unersättlichen Redactionspapierkorb sicher zu sein verdienen möge.
All’ diese vielen Dutzende von Hoffnungen muß die Redaction mit Einem Schlage vernichten, und zwar aus Pflicht und Gewissen.
Wir wollen das geschäftlich Unthunliche der Zumuthung unserer angehenden Lyriker nur kurz berühren, denn jedem Einzelnen müssen ja sofort die Fragen bedenklich werden: Wo soll eine an sich schon vielbeschäftigte Redaction die Zeit hernehmen, so viele Gedichte zu lesen und brieflich zu beurtheilen, – wo die Gartenlaube den Raum, auch nur den zwanzigsten Theil derselben abzudrucken, – und wo die Leser die Geduld, sich so viele Verse gefallen zu lassen? – Wichtiger ist der Einfluß, welchen die Gewährung ihrer Bitte auf die jungen Versucher selbst üben könnte: die Lyrik ist der gefährlichste Werber für das literarische Proletariat, das trotz aller Gehässigkeit des Begriffs doch einmal nicht wegzuleugnen ist und so manche Familiennoth in sich birgt, die um so bitterer empfunden wird, auf je höherer Bildungsstufe diejenigen stehen, deren Leben sie mit den alltäglichsten Sorgen verdüstert. – Einige gelungene Gedichte sind nur zu leicht geeignet, ein junges Talent zum Gegenstand der Bewunderung seiner nächsten Umgebung zu machen; der Dichterruf ist so verlockend; es freuen sich so Viele, einen Dichter „den Ihren“ nennen zu können – und das strenge ehrliche Urtheil tritt so selten zu rechter Zeit der Verirrung eines Lebenslaufs entgegen. Erst wenn’s zu spät ist, merkt der Verführte, daß sein Pegasus nicht zu den Preisrennern gehört, welchen die goldenen Becher zufallen, sondern daß er beim großen Schwarm zurückbleibt, der um’s tägliche Brod rennt. Bei einem Mädchen macht möglicherweise eine Heirath das Versehen wieder gut, der junge Mann bedarf ungewöhnlicher Spannkraft zu dem Entschluß, die zu schwache Leier an die Wand zu werfen und ein praktischeres Instrument dafür zu ergreifen.
Solches Unheil können ein paar gelungene und in einem öffentlichen Blatte abgedruckte Gedichte anrichten! Das ist’s, was es uns zur Gewissenspflicht macht, mit der jungen Lyrik nicht zu schön zu thun, auch wenn sie ‚gar nicht Uebles‘ leisten sollte. Es liegt daher etwas Beruhigendes für eine Redaction in der Verbindung mit älteren, bereits bewährten Dichtern, an deren Schicksal nichts mehr zu ändern ist.
Alle, welche in Obigem Beziehung zu sich finden, ersuchen wir um freundliche Beherzigung desselben zu ihrem Besten und zu dem unsern.
Mit dieser Nummer schließt das vierte Quartal und der siebenzehnte Jahrgang unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen (achtzehnten) Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.
Wir beginnen den nächsten Jahrgang mit dem bereits angekündigten vortrefflichen Roman
von W. von Hillern, Verf. des „Arztes der Seele“,
und lassen gleichzeitig eine zweite Novelle:
erscheinen. Daß
bereits seit langen Wochen an einem neuen Romane arbeitet, der ebenfalls noch im Laufe des nächsten Jahrgangs zur Veröffentlichung kommen wird, und auch Herm. Schmid und Paul Heyse uns mit Schöpfungen ihrer Feder bestimmt erfreuen werden, theilten wir schon in den beiden letzten Nummern mit. An nichtnovellistischen Beiträgen habe unsere Leser in den nächsten Nummern zu erwarten:
Karl Vogt, Begegnungen mit großen Zeitgenossen Nr. 1. Bei A. v. Humboldt. – Prof. Bock, Schulkrankheiten. – Brehm, Um eines Vogels willen. Mit Abbildung. – Louis Büchner, (Kraft und Stoff) Entstehung des Menschen. – Prinz und Prinzessin von Salm. Erinnerungen. – Braun (Wiesbaden), Holländische Leute. – Adelaide von Matthisson. – Rudolf Gottschall, Literaturbriefe an eine Dame.
Außerdem liegen Beiträge vor von: R. Benedix, Beta. H. Bodenstedt, Albert Fränkel, E. Geibel, Fr. Gerstäcker, Rud. Gottschall, G. Hammer, G. Hiltl, Fr. Hofmann, L. Kalisch, S. Kolisch, H. Lingg, J. C. Lobe, R. Löwenstein, A. Meißner, Melchior Meyr, Adolf und Karl Müller, Robert Prutz, Prof. Richter, Max Ring, Arnold Ruge, K. Ruß, Joh. Scherr, Schulze-Delitzsch, Ludwig Steub, Karl Stieler, L. Storch, A. Traeger, Otto Ule, Franz Wallner, M. M. v. Weber, Max Wirth, den Damen M. v. Humbracht, E. Polko etc.
Leipzig, im December 1869. | Redaction und Verlagshandlung. |
Geschmackvolle Decken zum Einbinden der Gartenlaube sin durch alle Buchhandlungen auch zum Jahrgang 1869 zu dem billigen Preise von 13 Sgr. zu beziehen.