Die Gartenlaube (1870)/Heft 7
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No. 7. | 1870. |
Die im vergangenen Herbst zu Berlin stattgehabte Waldeck-Feier rief mir ein Erlebniß in das Gedächtniß zurück. Wenn ich dasselbe hier wiedergebe, so habe ich mich hierbei von der Absicht leiten lassen, die Aufmerksamkeit auf eine Lücke in unserer Gesetzgebung hinzulenken. Vielleicht findet sich bei den nahe bevorstehenden Berathungen der Criminal-Gesetze für den Norddeutschen Bund Gelegenheit, diese Lücke auszufüllen.
An einem Sonntage wurde mir, der ich damals noch Gefängnißinspector war, ein junger Mann zugeführt. Seine Begleitung bestand aus einem Gensd’armen und zwei Polizeibeamten. Der Gensd’arm führte bei der Ueberlieferung das Wort, die Uebrigen verhielten sich schweigsam, selbst der Gefangene gab keinen Laut von sich.
„Den Vogel hätten wir!“ sagte der Gensd’arm. „Das ist ein Fang, wie ich ihn mein’ Lebtage noch nicht gemacht habe. Da sieht man wieder einmal, daß die Steckbriefe ihr Gutes haben. Freilich muß man sich die Mühe geben, den Steckbrief und namentlich das Signalement dem Gedächtnisse genau einzuprägen; dann hält es gar nicht schwer, die verdächtige Person zu greifen. Der da“ – er wies mit der Hand nach dem Gefangenen – „lief mir heute gerade in’s Garn, als ich den Steckbrief still nachbetete, der vor sechs Wochen hinter dem Mörder des Viehhändlers P– erlassen ist. Ich erkannte auf den ersten Blick die gesuchte Person; die Aehnlichkeit ist zu auffallend, sie ist zutreffend. Der Herr Staatsanwalt hat sich auch schon davon überzeugt. Verwahren Sie den Patron gut, Herr Inspector; es scheint sich der Mühe zu lohnen.“
Ich schenkte diesen Worten, die mit vielen Unterbrechungen gesprochen wurden, keine große Aufmerksamkeit, beschäftigte mich vielmehr mit der Durchsicht der mir gleichzeitig übergebenen Papiere und richtete nur einige Male meinen Blick von den Papieren fort und auf den Gefangenen. Dieser war unweit der Thür hoch aufgerichtet; in soldatischer Haltung stehen geblieben. Es war eine große, kräftige, sogar etwas starke Gestalt. Der Blick, der dem meinigen vielleicht zufällig begegnete, war ruhig und fest, die Farbe des Gesichts gesund, der Kopf mit schwarzen, glänzenden Haaren bedeckt. Von dem Gesicht war eigentlich wenig zu sehen; ein gutgepflegter, ungewöhnlich voller und langer Bart bedeckte die Wangen, die Oberlippe und das Kinn. Auf der hohen und breiten Stirn bemerkte ich über dem linken Auge eine Narbe, die etwa anderthalb Zoll lang sein mochte und nach oben zu unter den Haarwurzeln verlief. An der Kleidung zeigte sich kein Makel, sie war neu und modisch.
Die Persönlichkeit des Gefangenen hatte so viel Charakteristisches, daß sie leicht erkenntlich gemacht und eben so leicht erkannt werden konnte. Der Scharfsinn des Gensd’armen hatte daher auch keine besonders schwierige Probe zu bestehen gehabt.
Das Verhalten des Gefangenen während des Actes der Ueberlieferung war vollkommen unbefangen, genau so, als ob er frei, unbetheiligt und ein müßiger Zuschauer sei. Die Worte des Gensd’armen machten auf ihn keinen bemerkbaren Eindruck, er schien dieselben gar nicht auf sich zu beziehen und der ganze Auftritt ihn so zu sagen zu amüsiren.
Als die Sicherheitsbeamten mein Zimmer verließen, machte der Gefangene vor jedem Einzelnen eine tiefe Verbeugung, und kaum hatte der Letzte von ihnen die Thür hinter sich geschlossen, so schlug der Gefangene beide Hände klatschend zusammen, rieb diese sodann gegeneinander und lachte dabei so laut, so ungezwungen heiter und vergnügt, wie nur ein Mensch lachen kann, wenn ihm ein guter Streich gelungen ist oder wenn er auf Kosten eines Anderen sich belustigt hat.
Ich hatte an jenem Tage nicht gerade viel zu thun. Außerdem interessirte mich der Gefangene. Sein Auftreten war nicht gewöhnlich, seine Persönlichkeit gewinnend. und dann hatte ich auch bei der flüchtigen Durchsicht der mir übergebenen Papiere mich mühelos mit seinen Verhältnissen bekannt gemacht und Manches gefunden, das Theilnahme erregen mußte. Außer einem Reisepasse und einigen Rechnungsauszügen befanden sich unter diesen Papieren mehrere Briefe, welche gleichmäßig „Lieber, bester Mann“ überschrieben waren und fast in jeder Zeile Worte der innigsten Liebe und der treuesten Hingebung enthielten. Eine Stelle hatte hauptsächlich meine Aufmerksamkeit gefesselt, weil sie mir von dem Bestehen eines glücklichen Familienlebens Zeugniß gab.
„Nicht wahr, mein lieber, guter Mann“ – so lautete diese Stelle – „Du theilst meine Sehnsucht und meine Wünsche? Ich rufe mir stündlich Dein theures Ich vor die Augen, umschließe Dich mit meinen Armen und herze und küsse Dich nach Herzenslust. Ja, lache nur, mein Herzblatt; ich bin bei dieser Tändelei doch so unaussprechlich, so namenlos glücklich, daß nur die Wirklichkeit mich noch glücklicher machen könnte.“
Im Allgemeinen hält man die Gefängnißbeamten für Menschen ohne alles Gefühl. Es würde allerdings kein Wunder sein, wenn es so wäre, denn täglich tritt ihnen ja das menschliche Elend in den ergreifendsten Gestaltungen vor Augen. Die nicht zu zählende Wiederkehr desselben Anblickes könnte wohl das Gefühl abstumpfen, die Theilnahme schon im Keime ersticken, das Mitleid in der Brust gar nicht aufleben lassen. Und doch trifft das Alles nur in einzelnen und, Gott sei es gedankt, auch nur in seltenen Fällen zu. [98] In der Brust der weit überwiegenden Mehrzahl der Gefängnißbeamten wird es bei solchen tieftraurigen Scenen immer und immer wieder lebendig. Wenn auch bei den unzähligen Thränen, die er weinen sieht, das Auge trocken bleibt, wenn auch auf alle Klagen, die er ausstoßen hört, kein Wort des Trostes gesprochen wird, wenn kein Naß das Auge trübt, kein Laut dem Munde entschlüpft, keine Muskel das Erregtsein verräth: in der Tiefe der Brust ist es darum doch keineswegs kalt, da arbeitet es unaufhörlich mit gewaltiger, mit unwiderstehlicher Macht zum Mitgefühl und zur Theilnahme an fremdem Leide.
Vielleicht liegt dies darin, daß die Gestalten und die Kundgebungen bei jeder Wiederkehr wechseln, daß sie durch die Individualität und den Charakter des armen Elenden bestimmt werden, und daß, da Beides nur in den seltensten Fällen übereinstimmt, die Bilder immer neu erscheinen müssen. Bei mir ist es wenigstens so gewesen. Und deshalb konnte ich auch bei dem Lesen jener Stelle ein Ergriffensein nicht unterdrücken, weil ich zugleich an den Schmerz denken mußte, welcher der Briefschreiberin durch die Verhaftung des geliebten Mannes bereitet wurde.
Das Lachen des Gefangenen war kein gesuchtes, kein erkünsteltes, es war ungezwungen, natürlich und sogar ansteckend, denn ich konnte bei der ausgelassenen Lustigkeit des Gefangenen und bei den urkomischen Bewegungen, welche das Lachen begleiteten, kaum ernst bleiben.
„Thun Sie sich keinen Zwang an, mein Herr,“ rief der Mann lachend, „nehmen Sie Theil an meiner Freude, es ist ja ein Capital-Spaß, der viel zu reden geben wird. Diese, wie soll ich sagen? scharfsichtigen Wächter der Sittenpolizei sehen in meiner geringen Person einen Vagabunden –“
„Sie irren,“ warf ich hier ernst ein.
„Was, keinen Vagabunden? Nun, dann wohl gar einen Dieb?“
„Auch darin irren Sie,“ versetzte ich noch viel ernster.
„Aber was denn sonst? Giebt es denn noch Schlimmeres?“
„Gewiß, es giebt noch weit Schlimmeres.“
„Aber was denn? Sprechen Sie doch!“
„Sie sollen einen Mord verübt haben.“
Ich sagte das langsam, laut, jedes Wort stark betonend. Der Gefangene schien erschreckt zu sein, er lachte nicht mehr, er war ernst geworden. Diese Aenderung war auffallend, weil sie so urplötzlich eintrat. Was mochte sie bewirkt haben? War es die Schwere der Beschuldigung, oder wohl gar das Bewußtsein der Schuld? Ich konnte die Ursache nicht ergründen, mir war nur so viel klar, daß der Gefangene in seiner Verhaftung nicht mehr einen „Capital– Spaß“ sah.
„Habe ich denn das Aussehen eines – Verbrechers? –“ stammelte er nach einiger Zeit, ohne mich anzusehen.
Er sagte „Verbrecher“, nicht „Mörder“. Fürchtete er sich, dies Wort auszusprechen? Ich gab keine Antwort, ich konnte keine geben.
„Mein Herr,“ sagte er hierauf mit etwas mehr Festigkeit, „Sie haben meine Papiere durchgesehen, meine Papiere, die mich in jeder Beziehung als unverdächtig legitimiren müssen. Ich habe in dem Glauben gestanden, daß es nicht anders sein könne und nicht anders sein dürfe. Ich bin Kaufmann, ich besitze ein umfangreiches Geschäft. Das Verlangen, mit mehreren meiner Geschäftsfreunde persönlich bekannt zu werden, trieb mich von Hause fort. Ich habe den südlichen Theil von Frankreich und fast ganz Deutschland bereist, und war im Begriff, nach Hause zurückzukehren, als mir in Magdeburg eine Mittheilung gemacht wurde, die mich bestimmte, hierher zu kommen, um hier ein für mich nicht unwichtiges Geschäft zu ordnen.“
„Waren Sie schon früher in hiesiger Gegend?“ fragte ich, als der Gefangene eine Pause machte.
„In hiesiger Gegend?“ wiederholte er fragend, dann fügte er rasch hinzu: „ja, ja, aber nicht hier in diesem Orte.“
„Wollen Sie mir sagen, wann das war?“
„Warten Sie, mein Herr,“ sagte er nachdenkend, „es mögen nahezu acht Wochen sein.“
Die Zeit traf so ungefähr mit der zusammen, in welcher der Mord verübt worden war. Mir genügte das, auf den Tag kam es mir gar nicht an, ich hatte auch kein Recht, nach dieser Richtung hin weitere Fragen zu stellen, nur über die Familien-Angelegenheiten des Gefangenen wollte ich noch Näheres erfahren, und dann wollte ich denselben auch vorbereiten auf die Leiden einer vielleicht sehr langen Haft.
„Sie sind verheirathet?“ fragte ich freundlicher als bisher.
„Ja, seit vier Jahren.“
„Und haben Kinder?“
„Einen Sohn, einen bildhübschen und klugen Jungen von drei Jahren, und Aussicht in der Kürze meine Familie um ein Glied vermehrt zu sehen.“
In diesem Augenblicke war mein Gefangener freudig bewegt, sein liebes Kind mußte ihm vor Augen stehen, die Erinnerung mußte ihm alle Freuden vergegenwärtigen, welche ihm aus dessen Besitze entsproßt waren. Ich durfte ihn in dieser Stimmung nicht lassen.
„Wollen Sie mir Auftrag geben,“ sagte ich nach kurzem Bedenken, „Ihre Familie von dem, was Ihnen hier begegnet ist, in Kenntniß zu setzen?“
„Wie meinen Sie? –“
„Ich fragte, ob Sie mir überlassen wollen, an Ihre Frau zu schreiben; ich würde das ausnahmsweise gern thun.“
„Sie wollen mich hier doch nicht zurückhalten?“
„Ich muß das thun!“
„Wie? Sie wollten mich –“
„Einschließen in das Gefängniß wie jeden anderen Gefangenen; ich muß meine Pflicht erfüllen.“
„Aber, mein Herr, ich habe in meinem ganzen Leben nichts gethan, was Sie dazu berechtigen könnte; man kann mir keine strafbare Handlung nachweisen; meine Papiere sind in vollständiger Ordnung, sie legitimiren mich; ich kann und muß verlangen, daß dieselben anerkannt werden und daß man mich ungehindert gehen läßt.“
„Mir steht hierüber eine Entscheidung nicht zu, sagen Sie dies Alles dem Untersuchungsrichter, dem Sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden werden vorgeführt werden. Bemerken will ich nur, daß der Besitz der Papiere keineswegs die Möglichkeit einer vertretbaren Schuld ausschließt.“
„Mein Gott! mein Gott! was soll ich thun?“
„Sich in Geduld fügen und ruhig überlegen, was Sie zur Rechtfertigung beschaffen wollen und können.“
„Mein gutes Weib, mein liebes Kind!“
Das waren die letzten Worte, die ich in meinem Zimmer von ihm hörte. Er sagte sie mit allen Zeichen des tiefsten Schmerzes, und verfiel darauf in dumpfes Hinstarren, das ich durch kein Zureden beseitigen konnte.
Die Vorbereitungen zur Einschließung sind für jeden Gefangenen peinlich, sie sind eigentlich weit fühlbarer als das Einschließen selbst, und deshalb stoßen sie nicht selten auf Widerstand, ich möchte sagen willenlos. Sein Muth schien gebrochen, sein Geist erstarrt. Die Erinnerung an Weib und Kind mußte dies bewirkt haben. Ich fragte nicht darnach, ob er schuldig oder unschuldig sei, ich sah in ihm einen Unglücklichen, wie ich deren so viele zu beherbergen hatte, und nahm mir vor, gegen ihn, so weit dies irgend geschehen durfte, die Härte der Haft zu mildern. Er gab mir auch keine Veranlassung, die mich hätte bestimmen können, diesem Vorsatze untreu zu werden; er war still und fügsam und erfüllte alle Anforderungen, welche die Hausordnung an ihn stellte, tadellos. Bei dem Aufsuchen des Materials zur Ueberführung des vermeintlichen Verbrechers waren vielseitige und ungewöhnliche Kräfte in Bewegung gesetzt. Die Thätigkeit dieser verschiedenen Kräfte wurde noch durch pecuniäres Interesse gesteigert, da die Entdeckung des Verbrechers mit einer nicht unansehnlichen Summe Geldes gelohnt werden sollte.
Mein Gefangener war der Criminal-Justiz ein Object von unschätzbarem Werthe geworden, er mußte mit größter Sorgfalt verwahrt und behütet werden, und deshalb war es auch mir zur besondern Pflicht gemacht, persönlich ihn dem Untersuchungsrichter zu den Verhören vorzuführen, ihn überhaupt so viel als nur irgend möglich im Auge zu behalten. Ich erhielt dadurch Kenntniß von allen in der Voruntersuchung ermittelten Thatsachen und konnte mir somit durch eigene Wahrnehmungen ein Urtheil über die Schuldfrage bilden. Ein directer Beweis für die Schuld meines Gefangenen konnte nicht geführt werden, keines Menschen Auge oder Ohr war Zeuge der entsetzlichen That gewesen. Dennoch waren in nicht sehr langer Zeit eine Menge sogenannter Belastungs-Momente zusammengetragen, welche die Unschuld des Gefangenen immer zweifelhafter [99] erscheinen ließen. Das Verbrechen war, wie man im gewöhnlichen Leben zu sagen pflegt, auf offener Landstraße verübt. Der Beschädigte war ein reicher Viehhändler und außerdem ein Mann, der ungewöhnlich groß und stark gewesen sein sollte. Es waren dies Eigenschaften, welche zu der Annahme führten, daß der Mann seinem Angreifer Widerstand entgegengesetzt habe und nur erst nach hartem Kampfe erlegen sei. Dafür sprachen auch die große Zahl und die Beschaffenheit der Verletzungen. Die Gerichtsärzte hatten eine Schuß- und elf Stichwunden constatirt. Der Schuß war nach dem Kopfe abgefeuert worden. Die kleine Kugel, welche ungefähr den Umfang eines sogenannten Rehpostens gehabt haben sollte, hatte die Weichtheile der linken Wange in etwas schräger Richtung von unten nach oben zerrissen, während die verschiedenartig tiefen Stichwunden sich über die ganze Fläche des oberen Theiles der Brust verbreiteten. Aus diesem Befunde entnahm man Belastungs-Momente für meinen Gefangenen. Man sagte, er sei mindestens eben so groß als der Beschädigte und jedenfalls eben so stark als dieser gewesen; er habe daher den Angriff unternehmen und siegreich bestehen können.
In dem Besitze des Gefangenen waren ein kleines Terzerol und ein dolchartiges Messer gefunden worden. Beide Waffen sollten nach dem übereinstimmenden Gutachten der Gerichtsärzte zu den an der Leiche vorgefundenen Verletzungen passen, namentlich das Messer genau in die Stichwunden. Bis zu dem Orte der That hatten zwei, von demselben fort nur eine Fußspur geführt. Es war unzweifelhaft, daß die letztere von dem Thäter zurückgelassen sein mußte. Dieselbe war daher auch mit großer Sorgfalt beobachtet, ausgemessen und nachgezeichnet worden. Die durch Sachverständige ausgeführte Vergleichung dieser Zeichnung mit dem Schuhwerke meines Gefangenen führte zu dem Ausspruche, daß Beides, Schuhwerk und Zeichnung, in der genauesten Uebereinstimmung sich befände.
Mein Gefangener und der ermordete Viehhändler hatten am Tage vor dem Auffinden der Leiche in demselben Gasthofe verkehrt und waren am Abend fast zu gleicher Zeit, der Viehhändler kaum eine Viertelstunde früher, von dort abgereist, und zwar Beide zu Fuß, weil ein Wagen nicht hatte beschafft werden können. Der Gefangene wurde von mehr als zehn Zeugen mit der größten Bestimmtheit wiedererkannt. Es wurde aber auch von einigen Zeugen noch bemerkt, daß derselbe anfangs in dem Gasthofe habe übernachten wollen, daß er nach der Abreise des Viehhändlers unruhig geworden sei und dann plötzlich erklärt habe, daß er nicht bleiben könne, daß er fortmüsse. Seine Abreise habe dann „Hals über Kopf“, wie sich die Zeugen ausdrückten, stattgefunden.
Ich habe bereits erwähnt, daß mein Gefangener oberhalb des linken Auges eine Narbe hatte. Aehnliche, aber weniger tiefe Narben waren auf der Oberfläche der linken Hand vorgefunden. Nach dem Ausspruche der Sachverständigen traf das Alter dieser Narben mit der Zeit der Verübung des Mordes zusammen. Die Entstehung blieb unaufgeklärt. Der Gefangene wollte die Verletzungen bei Gelegenheit eines unglücklichen Falles, also zufällig erhalten haben, vermochte aber für seine Behauptung Beweis nicht beizubringen. Ebensowenig war er im Stande nachzuweisen, wo er sich zur Zeit der Verübung des Mordes befunden hatte. Auch über das Motiv der That schien kein Zweifel zu bestehen. Der Viehhändler hatte in dem Gasthofe eine große Summe Geld gehabt, und diese auch mit fortgenommen. Bei seiner Leiche war davon nichts vorgefunden, der Thäter mußte daher das Geld sich angeeignet, ihm konnte der Mord nur als Mittel zur Erlangung des Geldes gedient haben.
Bemerkenswerth ist hierbei noch der Umstand, daß nur allein das Geld vermißt wurde, daß alle übrigen Werthsachen, namentlich eine alte, aber kostbare Uhr, noch bei der Leiche vorgefunden worden waren. Es sollte hieraus hervorgehen, daß der Thäter mit kluger Berechnung verfahren und vorsichtig Alles, was die Entdeckung zu erleichtern geeignet sein mußte, zu beseitigen bestrebt gewesen war. Von einem gewöhnlichen Verbrecher sollte ein solches umsichtiges Handeln nicht anzunehmen sein.
Endlich muß ich noch eine Auskunft erwähnen, welche die Ortsbehörde des Gefangenen dem Untersuchungsrichter gegeben hatte. Es war darin gesagt, daß dem Gefangenen nichts Nachtheiliges nachgesagt werden könne, daß derselbe aber in der letzteren Zeit mehrfache nicht unerhebliche Verluste erlitten haben solle. Man wird zugeben müssen, daß jedes einzelne Moment völlig werthlos war, oder doch nur eine geringe Bedeutung hatte, daß dieselben aber zusammengerechnet ein Gewicht erlangen konnten, unter dessen Druck der Gefangene erliegen mußte.
Der Untersuchungsrichter arbeitete fast Tag und Nacht. Die Verhöre wurden häufig abgebrochen, und nach Verlauf von einer halben, höchstens einer vollen Stunde wieder aufgenommen und dann nicht selten bis spät Abends fortgesetzt. Er ließ wenigstens in den ersten Tagen der Haft meinen Gefangenen gar nicht zur Ruhe kommen. Die dadurch herbeigeführte fortdauernde Aufregung und der Mangel jedes Ruhepunktes hatten für denselben die bedauerlichsten Folgen. Sein Geist erlahmte, er hielt den Schlägen nicht mehr Stand.
„Was nützt es denn auch,“ sagte er eines Tages, „daß ich wiederholt versichere, unschuldig zu sein? Man glaubt mir ja nicht, weil ich schuldig sein soll, oder schuldig sein muß. Mein Streiten hilft zu nichts, es ist nutzlos.“
Das wurde bei ihm zur fixen Idee. Alle Vorstellungen waren vergeblich, jeder Zuspruch erwies sich wirkungslos, er verharrte in dem Wahne, daß er unter allen Umständen der Schuldige sein solle. Wenn ich ihn in seine Zelle zurückbrachte, so warf er sich regelmäßig auf die Bank, stützte den Kopf auf beide Hände und starrte schweigend vor sich hin. Und wenn ich dann Fragen an ihn richtete oder ihn zu trösten versuchte, so schreckte er zusammen, er blieb aber in seiner Stellung und verharrte in seinem Schweigen. Dieser Zustand übertrug sich auch auf sein Verhalten vor dem Untersuchungsrichter. Er sprach entweder gar nicht oder gab, wenn er dazu gedrängt wurde, kurze, einsilbige Antworten. Einige Tage später schien es mir sogar, als ob er die an ihn gerichteten Fragen gar nicht verstehe, die Worte einzeln sich erst klar machen, die Bedeutung derselben erst aus weiter Ferne herbeiholen müsse. Der Zustand, in welchen der Gefangene lediglich durch die Haft und durch die Untersuchung versetzt war, verstärkte meine Theilnahme. Ich glaubte darin eine Geistesstörung finden zu müssen und fürchtete, daß diese immer tiefere Wurzeln schlagen und zuletzt unheilbar werden möchte. Der Gefängnißarzt bestärkte mich in dieser Annahme. Derselbe verordnete zwar auch verschiedene Heilmittel, erklärte aber gleichzeitig, daß er sich nur dann Erfolg verspreche, wenn der Gefangene durch irgend ein ungewöhnliches Ereigniß aus seinem lethargischen Zustande aufgerüttelt werde.
Dies Ereigniß wollte ich herbeiführen. Ich schrieb an die Frau des Gefangenen. Ich schilderte ihr den Zustand ihres Mannes wahr und treu, und forderte sie auf, entweder selbst zu kommen, oder, wenn sie dazu nicht im Stande sein sollte, von dort aus Schritte zu thun, welche eine Aenderung zu erwirken geeignet sein möchten.
Ich habe später unzählige Male gewünscht, diesen Brief nicht geschrieben zu haben; er hat entsetzliches Unheil angestiftet. Der Frau war bis zu dessen Empfange das Schicksal ihres Mannes unbekannt gewesen, da das Verbrechen weit ab von dem Wohnorte des Gefangenen verübt war und die hier veranlaßten behördlichen Nachforschungen, wie dies in ähnlichen Fällen zu geschehen pflegt, geheim gehalten worden waren. Der Schreck, die Furcht und die Angst in Verbindung mit ihrem ohnedies schon reizbaren Zustande hatten sie niedergeworfen und, nachdem sie eine unzeitige Entbindung überstanden, dem Tode in die Arme geführt. Mein Gefangener war Wittwer, er hatte nur noch für einen Sohn zu sorgen. Die Nachricht von dem Tode seiner Frau war aber das Ereigniß, welches den Gefangenen mit einem Male der Theilnahmlosigkeit entriß. Die Aeußerungen seines Schmerzes waren gewaltig und langdauernd, ein rührendes Zeugniß für die Liebe zu der Verstorbenen, allein sie machten ihm in demselben Verhältnisse, in welchem sie schwächer wurden, den Kopf und die Brust frei und bewirkten, daß er wieder denken lernte, daß er seine Lage übersehen und sich auf den Kampf für seine Unschuld vorbereiten konnte.
Nach etwas länger als acht Monaten war endlich die Untersuchung geschlossen, die Anklage erhoben und die Versetzung in Anklagestand wegen Raubes und Mordes beschlossen. Das nächste Schwurgericht sollte in der Sache entscheiden. Im Allgemeinen zweifelte man nicht an der Verurtheilung, nur einzelne Stimmen wollten die erbrachten Beweise nicht für zureichend erachten, sie meinten, daß bestimmtere Anzeichen dazu gehörten, um ein Todesurtheil fällen zu können und daß deshalb eine Anklage gar nicht hätte erhoben werden sollen.
Bevor das Schwurgericht zusammentrat, bevor also eine [100] Entscheidung gefällt werden konnte, kam die Untersuchung ganz unerwartet in eine andere Lage. Bei der Nachsuchung nach gestohlenem Gute wurde in dem Hause eines wegen Diebstahls schon mehrfach bestraften Menschen eine nicht unerhebliche Summe Geld gefunden, und zwar in einem Verstecke, das äußerst sorgfältig ausgewählt und nur durch Zufall entdeckt war. Der ehrliche Erwerb des Geldes konnte nicht nachgewiesen werden, die in dieser Beziehung gemachten Angaben stellten sich sofort als Lügen dar. Es war daher mit Sicherheit anzunehmen, daß das Geld durch unredliche Handlungen in den Besitz des Mannes gekommen war. Dasselbe wurde mit Beschlag belegt, in Verwahrung genommen, der Fund öffentlich bekannt gemacht und gleichzeitig an die unbekannten Eigenthümer die Aufforderung gerichtet, ihre Ansprüche darauf geltend zu machen und zu diesem Zwecke das Geld in Augenschein zu nehmen.
Unter den Personen, welche sich in Folge dieser Aufforderung bei der betreffenden Behörde meldeten, hatte sich auch die Wittwe des ermordeten Viehhändlers befunden. Die Angaben derselben bezüglich der Summe und der verschiedenen Sorten hatten ziemlich genau mit dem Bestande gestimmt, eine Differenz von wenigen Thalern hatte sich nur bei dem Silbergelde herausgestellt. Die Frau hatte aber auch erklärt, daß, wenn das Geld von ihrem Manne herrühre, sie davon zwei Stücke, einen Papierthaler und einen Ducaten, mit voller Bestimmtheit wieder erkennen werde.
Das Geld war ihr sodann sortenweise vorgelegt worden, erst das Silber- und dann das Papiergeld. Das erstere hatte sie gar nicht berührt, von dem letzteren aber jedes einzelne Stück mit großer Aufmerksamkeit betrachtet. Kein Wort war dabei gesprochen worden, die Anwesenden hatten mit der größten Spannung der Entwickelung entgegengesehen. Bereits waren einige siebenzig Stück betrachtet und wortlos bei Seite gelegt, da hatte die Frau mit einem Male einen Schrei ausgestoßen, einen Schrei, der Ueberraschung und Schreck zugleich ausdrückte; die Hände ließen einen eben erst erfaßten Papierthaler wieder auf den Tisch fallen, die Frau konnte sich nicht aufrecht halten und war auf den ihr untergeschobenen Stuhl niedergesunken. Später hatte dieselbe nicht allein den Papierthaler, sondern auch den gleichfalls noch vorhandenen Ducaten unter Angabe der zuverlässigsten Erkennungszeichen recognoscirt. Man konnte daher kaum noch bezweifeln, daß man das Geld vor sich habe, welches dem Viehhändler jedenfalls erst nach seinem Tode abgenommen worden war. –
Das war das Ereigniß, welches die Untersuchung gegen meinen Gefangenen in ihrem regelmäßigen Verlaufe aufhielt und in eine andere Lage zu bringen schien.
Der Untersuchungsrichter beschäftigte sich von diesem Zeitpunkte an mit zwei Schuldigen. Die Thätigkeit des Einen sollte mit der Tödtung des Viehhändlers abschließen, die Thätigkeit des Andern erst nach diesem Zeitpunkte beginnen, der Eine sollte also Mörder, der Zweite Dieb sein. Ein gemeinschaftliches Handeln Beider wurde nicht angenommen, weil für ein solches alle Anzeichen fehlten.
Die Einzelnheiten der zweiten Untersuchung gehören nicht hierher.
Nach weiteren vier Monaten endlich standen beide Beschuldigte vor den Geschwornen. Beide hatten bis dahin ihre Schuld in Abrede gestellt; gegen Beide konnte der Beweis für die Thäterschaft der ihnen zur Last gelegten Verbrechen nicht direct geführt werden, gegen Beide waren aber eine Anzahl Verdachts-Momente festgestellt, deren Erheblichkeit nicht nach gesetzlichen Bestimmungen abgewogen werden konnte, deren Gewicht vielmehr der freien, durch nichts eingeschränkten Entschließung der Geschworenen anheimgegeben war. Es konnte deshalb auch von dem geschicktesten Rechtsverständigen nicht vorher gesagt werden, wie die Entscheidung ausfallen werde. Die Ungewißheit machte die Zeit bis zum Bekanntwerden des Wahrspruchs für die Beschuldigten peinlich, sie erhielt aber gleichzeitig das Interesse für die Sache in einem weiten Kreise lebhaft.
Mein Gefangener war dabei wohl am wenigsten beunruhigt. Er zeigte sich auf der „schwarzen Bank“ völlig unbefangen; seine Haltung war ungebeugt, sogar straff, seine Sprache fest, sein Blick frei und klar, nichts verrieth Unsicherheit oder Furcht. Als er von dem Präsidenten gefragt wurde: „Bekennen Sie sich schuldig?“ da sagte er:
„Nein, ich bin nicht schuldig. Mir ist himmelschreiendes Unrecht geschehen. Ich sitze länger als Jahresfrist in Haft. Mein Name ist gebrandmarkt, mein Geschäft ruinirt, ja vernichtet, und noch mehr, – noch mehr: der Gram hat zwei Menschenherzen, die jetzt noch in Lust und Liebe mir zur Seite leben würden, gebrochen, gebrochen vielleicht in dem Wahne, daß ich schuldig sei!“
Diese Worte enthielten eine Anklage von unendlicher Schwere. War mein Gefangener unschuldig, wie er zu sein behauptete, wem mußte all’ das Unglück beigemessen werden, das aus seiner Haft hervorgegangen war, und das er mit lauter Stimme in die Oeffentlichkeit hineingerufen hatte? –
Der zweite Angeklagte machte einen widerlichen Eindruck. Aus seinem Gesicht sprachen finsterer Trotz, Furcht und Scheu. Der stiere Blick war stets nach unten gerichtet, und wenn er sich ja von da losriß, so geschah dies nur in Folge einer besonderen Veranlassung und in auffallender Hast. Es kam mir sogar vor, als erwarte der Mensch in jedem Augenblicke einen Schlag und als wisse er nur nicht, von welcher Seite und von welcher Hand er kommen werde.
Dieser Schlag traf ihn, er kam von einer Seite, von der er ihn wohl kaum erwartet hatte.
Die Verhandlung ging dem Ende entgegen. Die Angeklagten waren verhört, die Zeugen und Sachverständigen vernommen; der Staatsanwalt hatte die Anklage aufrecht erhalten und gegen beide Angeklagte das „schuldig“ beantragt; der Vertheidiger meines Gefangenen hatte die Schutzrede gehalten und ein „Nichtschuldig“ gefordert; da wurde der Letztere gefragt: ob er selbst zur Vertheidigung noch etwas zu sagen habe?
Mein Gefangener erhob sich langsam von der Anklagebank, er schien mit einem Entschlusse zu kämpfen und nicht in’s Reine kommen zu können. Als er hoch aufgerichtet dastand, die Arme leicht auf die Lehne der Bank gestützt, ließ er den Blick langsam im Saale umherschweifen und zuletzt mit einem ganz eigenthümlichen Ausdrucke auf dem ihm zur Seite sitzenden Verbrecher ruhn. Aller Augen waren auf den Gefangenen gerichtet, Jeder schien zu erwarten, daß er sprechen werde. Aber er schwieg. Da plötzlich belebten sich seine Augen, seine Hände rissen sich von der Banklehne los, und indem er die eine blitzschnell, aber leicht auf den Kopf des Verbrechers legte, schrie er mit einer Löwenstimme:
„Hier, hier sitzt der Mörder! Sage ‚nein‘, wenn Du es nicht bist!“
Der Mörder – er war es wirklich – zuckte wie vom Schlage gerührt zusammen und – schwieg. Dies Schweigen sagte mehr, als Worte es hätten thun können.
Mein Gefangener blieb stehen und ließ seine Hand auf dem Kopfe des Verbrechers liegen. Er wendete sich zu den Geschworenen.
„Ich glaube in Ihrer Seele zu lesen,“ sagte er, „daß Sie das Schweigen dieses Mannes verstehen; es muß auch den leisesten Zweifel an meiner Unschuld fortnehmen.“
Der Wahrspruch der Geschworenen lautete: nicht schuldig, und das Urtheil des Gerichtshofs: Freisprechung von Strafe und Kosten und sofortige Entlassung aus der Haft.
Als das Letztere verkündet war, stand mein Gefangener auf:
„Herr Präsident,“ sagte er, „erlauben Sie mir nur noch einige Worte. Wie ich jetzt vor Ihnen stehe, bin ich – nicht durch meine Schuld – ein ruinirter elender Mann! Wer entschädigt mich nun – nicht wegen der Leiden, die ich im Gefängnisse ertragen habe, nicht wegen des Verlustes eines geliebten Weibes, denn das läßt sich mit Geld nicht aufwiegen, aber wer giebt mir Ersatz für die pecuniären Nachtheile, die mir durch die Haft zugefügt ist, wer die Mittel, um mir auch die bescheidenste Existenz aus den Trümmern der frühern wieder aufzubauen?“
Der Präsident zuckte mit der Schulter und – schwieg. Die Frage ist noch nicht beantwortet, sie ist augenblicklich noch immer offen. Mein Gefangener hat alle Instanzen durchlaufen, aber bis heute erfolglos. Die Antwort kann ihm nicht gegeben werden, weil es an einer gesetzlichen Bestimmung fehlt.
Darf eine solche Grausamkeit, wie sie nicht vereinzelt dasteht, im neunzehnten Jahrhundert noch ferner fortdauern? Und sollte der nächste zusammentretende Reichstag für diese Frage nicht endlich Abhülfe suchen und schaffen können?
Das Studienleben des Landschaftsmalers, der seine Motive der Hochgebirgswelt entlehnt, bietet selbst einem kräftigen, an mancherlei Entbehrungen gewöhnten Körper vielfache Beschwerden, und oft müssen nach langem Marsche einige flüchtige Striche in’s Skizzenbuch genügen, ein malerisches Object festzustellen, wenn kein wie immer genanntes Obdach einen längeren Aufenthalt gestattet.
In einem nahezu sechstausend Fuß hoch gelegenen Seitenthale Nordtirols fand ich in Mitte der wildesten Felspartien zwei Sommer hindurch eine äußerst primitive, aber immerhin sehr willkommene Zufluchtsstätte in einer Schafalpe, welche als letztes menschliches Asyl, einige tausend Schritte von den Gletscherböden entfernt, zwischen dem verworrenen Chaos entwurzelter oder kahl in die Luft ragender Zirbelkiefern verborgen lag.
Die Hütte, gleich all den Schäferhütten des Hochgebirges blockhausartig gebaut, war kaum fünf Schuh hoch und acht Schuh lang, und die innere Einrichtung bestand aus einer Bettlade, nothdürftig mit Heu gefüllt, einer Bank und dem kleinen Heerd; an den Wänden zog sich eine Brettstelle hin, auf der die geringen Mundvorräthe von Mehl, Brod und Fett untergebracht waren. Ein Crucifix, die dicke silberne Uhr und einige Zinnlöffel konnten als Zierrath gelten in dem schwarzgeräucherten Raume, der nur durch die niedrige Thür Licht empfing.
Abgeschieden von der Welt, so recht nächst den Sternen, wohnt der Schäfer der Hochalpe, meist ein alter Mann, vom Monate Juli bis Ende September und versieht sein mühevolles, wenig beneidenswerthes Geschäft. Seine Heerde besteht aus hundert bis zweihundert Schafen, die ihr karges Futter, aus Moos, Flechte und kurzen Kräutern bestehend, auf gleicher Höhe mit der Gemse aufsuchen; die Thiere klettern dieser gleich, und der Gebirgsjäger haßt die Schafwirthschaft aus vollem Herzen, da die Gemse für den ganzen Sommer den Futterplatz verläßt, auf dem ein Schaf geweidet hat.
Die Freiheit, der Kampf mit Sturm, Regen und Schnee macht die Heerde bald so menschenscheu wie das Wild selbst, und es giebt nur ein Lockmittel, dem sie nicht widersteht und das sie von fern wittert – das Salz.
Zweimal in der Woche steigt der Schäfer mit Bergstock und Salztasche bewaffnet bergauf, bergab und sucht zuweilen stundenlang, bis er die Thiere findet. Je weiter sich die Schafe vorwagen, desto mühevoller wird die Arbeit des Suchenden, und nicht selten kehrt der Schäfer nach acht- bis zehnstündigem Suchen resultatlos heim, um am nächsten Morgen in anderer Richtung neuerdings auszuspähen. Mit dem eigenthümlich monotonen Ruf „Sal! Sal!“ steigt der Schäfer am öden Steingerölle aufwärts; hat er die Spur der Heerde gefunden, so lockt er sie mit diesem Zauberwort rasch von ihren Höhen und streut nun im großen Kreise Salz auf die Steinblöcke. Er selbst steht in Mitte dieses Cirkels möglichst an hoher Stelle, um die Schafe übersehen und abzählen zu können. Nur allmählich rücken die Thiere näher und näher, zuerst in geschlossenen Reihen scheu und langsam vordringend, bis sie endlich das Salz erspäht haben: da löst sich der ganze Knäuel, die Masse stürzt sich darauf los und jedes einzelne Thier kämpft stoßend und drängend, um zur Salzstelle zu gelangen, ohne aber den Erfolg länger als einen Moment ausnützen zu können, da die hinteren Reihen wüthend vorwärts drängen. Wer diesen wilden Kampf nie mit angesehen, wird es unglaublich finden, daß es geradezu lebensgefährlich wäre, einer Schafheerde im Hochgebirge das Salz mit der Hand reichen zu wollen, denn im nächsten Momente wäre man zu Boden geworfen und von der nachstürmenden Schaar zertreten bis sie die Salztasche erobert und geleert hat.
Haben endlich die Thiere die letzte Spur eines Salzkörnchens aufgeleckt und hat der wartende Schäfer jede weitere Annäherung derselben zu seinem Platze durch stets wiederholte Schläge seines mächtigen Bergstockes zurückgewiesen, dann beginnen sie sich in kleinen, getrennten Schaaren wieder zu zerstreuen.
Die Uebung hat den Blick eines erfahrenen Schäfers ganz merkwürdig ausgebildet, und wenn er auch bei einer Heerde von zweihundert Stück das Fehlen von zwei oder drei Thieren übersieht, der Abgang von vier und fünf entgeht ihm nicht, und findet eben darin seine Aufklärung, daß vierzig bis fünfzig Schafe immer eine abgeschlossene Gruppe bilden, und in dieser selbst geschaffenen Ordnung den ganzen Sommer zusammen weiden. – Wenn nun einzelne Thiere fehlen, so beginnt die mühevollste Arbeit des Schäfers, um die Flüchtlinge zu finden oder über deren Abgang eine natürliche Aufklärung zu erlangen. So kehrt der alte Mann einige Male der Woche, müde, naß oder starr vor Kälte, am Abend heim in seine Hütte und die erste Arbeit besteht darin, ein Feuer anzuzünden, um die Kleider zu trocknen und das frugale Abendmahl zu bereiten. Hat die Umgebung der Hütte genügenden Weideplatz für eine Ziege, so ist diese seine Gesellschafterin und ihre Milch seine Nachtsuppe. Hunde haben die Schäfer im Hochgebirge selten.
Von vierzehn zu vierzehn Tagen kömmt ein Bursche seines Dorfes, bringt frischen Mundvorrath und berichtet ihm wohl Neuigkeiten, die, insbesondere in kriegerischer Zeit, dem alten Tirolerschützen alle Erinnerungen seiner Jugend vor die Seele zaubern. Nach kurzer Rast kehrt der Bursche heim, er sucht zum Nachtlager lieber eine tiefer gelegene „Senn-Alm“ mit Butter- und Käse-Wirthschaft, wo er eine behaglichere Stätte nebst Mischkost findet, und wenn nicht ein Edelweißsteiger, ein Jäger oder Wurzelngräber für Branntwein-Brennereien bei dem Schäfer im Vorüberkommen einspricht, so lebt dieser einsam und fast verschollen in seiner unwirthbaren Höhe.
Abends, wenn die Sonne für die Thäler des Hochgebirges längst untergegangen, sitzt der alte Mann, sein kurzes Pfeifchen schmauchend, an einem nahen Felsabhang und schaut mit sehnsüchtigem Blick hinüber zu den sanfteren Hügelketten des Vorlandes gegen den Bregenzerwald und den Bodensee, die alle noch vom vollsten Sonnenlichte beschienen sind. Er möchte so gerne die wogenden Kornfelder und die fetten Weiden der Ebene schauen, von denen man ihm so oft erzählt, und er hält es für unglaublich, daß er dort, von Heimweh befallen, wieder zu den Bergen zurückkehren würde.
Wenn die Schatten am Firneis, dessen Spitzen noch im Abendlichte man erglänzen, länger und länger werden, wenn die Sterne am Himmel aufziehen, schreitet er vor bis zur Felswand, unter welcher in mächtiger Tiefe einige Sennhütten zerstreut liegen, und läßt drei gellende Pfiffe ertönen, die im Echo der Berge ganz geisterhaft verhallen. Bald antworten ähnliche Pfiffe oder „Juchzer“ aus der Tiefe und darauf kehrt der Schäfer in seine Hütte zurück. Dieser Ruf wiederholt sich allabendlich und ist das einzige mögliche Zeichen, sein Wohlbefinden lebenden Wesen mitzutheilen; bleibt dieses Zeichen einen – zwei Tage aus, nun, dann liegt er wohl krank in seiner Hütte, man kommt nachzusehen und bringt Beistand, soweit dies in solcher Einöde überhaupt möglich ist. –
Der Abschied von der Schafalpe wird durch die Witterung bedingt und wechselt zwischen Ende August und Mitte September.
Die Winterwohnung wechselt der Schäfer wochenweise bei den Bauern, deren Schafe er gehütet, und seine Aufnahme gestaltet sich, je nachdem er die Mästung der Thiere durch regelmäßiges „Salzen“ befördert oder durch Aufmerksamkeit das Verunglücken derselben thunlichst zu verhindern suchte. Am Neujahrstag erhält der Schäfer seinen Lohn, der, mit Ausnahme der Kost, die harte Arbeit des Sommers bezahlt: ein Paar Schuhe, zwei Hemden, vier Pfund Rolltabak und fünfzehn Gulden baares Geld. Das ist der Reichthum eines Schafhirten Nordtirols am Neujahrsmorgen; und dennoch vertraute mir mein alter Schäfer beim Abschiede, daß er in zwanzig Jahren, mit Beihülfe kleiner Nebenverdienste als Löffelschnitzen, Reisigbesenbinden und dergleichen, nun vierzig Gulden in der Sparcasse liegen habe.
Ich verließ einen zufriedenen Menschen, der nur die eine Sehnsucht kannte, vor seinem Tode noch etwas mehr von Gottes schöner Erde zu schauen, als seine Berge.
[103]
Hart an der vor Kurzem erbauten Berlin-Görlitzer Eisenbahn, und seitdem von dem öffentlichen Verkehr etwas mehr berührt, liegt die alte Kreisstadt Lübben in der Niederlausitz, ein kleiner, ruhiger Ort; so ruhig, daß Verfasser dieser Zeilen noch vor wenigen Jahren den üppigen Graswuchs auf seinem Marktplatze zu bewundern Gelegenheit hatte, über welchen hinweg das dritte brandenburgische Jägerbataillon, welches daselbst garnisonirt und dadurch die Stille des Tages und der Nacht wenigstens einigermaßen lebendig unterbricht, sonntäglich nach abgehaltener Parade mit klingendem Spiel nach der Hauptwache zu marschiren pflegte. Sonst läßt sich wenig mehr von dem Städtchen sagen, als daß es, seitdem 1815 die neue Organisation der an Preußen abgetretenen Niederlausitz erfolgte, der Sitz der Landstände für dieselbe ist.
Und doch ist das kleine Städtchen nicht ohne Verdienste, welche es berechtigen, auch in weitern Kreisen genannt zu werden.
Es hat nicht jede Stadt sich einer Luthergruft zu rühmen, wie Wittenberg, aber auch nicht der Gruft eines Paul Gerhard, wie Lübben. Wer, wie wir, die Archive der Stadt durchsuchte, den mußte es wie eine heilige Scheu überkommen, fiel sein Auge auf die vergilbten, sicher und fest geschriebenen Briefe voll rührenden Gottvertrauens, in denen der große Mann sich auf seiner Flucht an den Magistrat der Stadt wendete, um in ihren Mauern Schutz zu suchen und – zu finden. Hier war es, wo er sein herrliches Lied: „Befiehl’ du deine Wege etc.“ dichtete; hier war es, wo der Herzog Christian von Merseburg, der damalige Besitzer der Niederlausitz, ihn aussuchen ließ und zum Archidiaconus der Stadt ernannte; hier war es, wo er starb und in der Kirche beigesetzt wurde, in welcher wir seine Gruft noch heut’ finden und uns erbauen können an seinen Zügen; denn das auf des damaligen Syndicus der Landstände, des Freiherrn Ernst von Houwald, Veranlassung 1831 gestochene Bildniß des frommen Mannes, welches in derselben Kirche hängt, ist noch wohl erhalten.
Ernst von Houwald! – wie wir seinen Namen niederschreiben, so schreiben wir mit ihm das zweite Ruhmesdocument des Städtchens nieder. Denn wir müssen auch hier wiederholen: es hat nicht jede Stadt sich eines „Alten in Neuseß“ zu rühmen, wie Coburg eines Rückert, aber auch nicht eines „Alten in Neuhaus“, eines Ernst von Houwald, wie Lübben. Und indem wir dies sagen, schwebt uns die Aufgabe vor, die wir uns gestellt, der Mitwelt einige Skizzen zu der Biographie des am 28. Januar 1870 seit einem Vierteljahrhundert verewigten, seiner Zeit weitgefeierten Dichters des „Bildes“ zu liefern, in deren Besitz wir bei langjährigem Aufenthalt in Lübben und dessen Umgegend, theils durch Ueberlieferungen seiner Zeitgenossen, theils durch gütige Mittheilung eines der nächsten Verwandten des Dichters gelangt sind und welche wir bis zu dieser Stunde für den Druck sorgsam aufbewahrt haben.
Dieselben dürfen auch heute noch das allgemeinste Interesse beanspruchen; sind es doch, wie gesagt, erst wenige Decennien, daß Houwald ein vielgelesener Dichter war, dessen Erzählungen ihrer reichen Phantasie und ihrer schönen Gestaltung halber die bewundernde Theilnahme verdienten, welche sie allerwegen fanden. Es ist zu bedauern, daß Houwald sich nicht nachdrücklicher dieser Form zuwandte und daß er sie über dem Drama vernachlässigte, dem er seine besten Kräfte schenkte und in dessen Geschichte er seinen Namen dadurch eng verflochten hat, daß er sich, wie bekannt, der von Werner und Müllner begründeten fatalistischen Richtung auf’s Wärmste anschloß.
Die ländliche Abgeschiedenheit, in welcher er lebte und in welcher ihm der jüngere Contessa ein treuer Freund und Begleiter war, förderte seine dichterische Production auf das Beste und als er, im Jahre 1822 von den niederlausitzer Landständen zum Landsyndicus erwählt, sein Landgut „Neuhaus“ bei Lübben bezog, verließ er seine Heimath nicht wieder und lebte fortan seinem Amte und in der freien Zeit seiner Muse. Wer ihn aus jener Zeit gekannt, der schildert unsern Dichter als einen Mann von ungemeiner Menschenfreundlichkeit, Offenheit und Hingebung, der allzeit für Jeden das hatte, was er suchte: in Sachen seines Amtes Rath und That, für den Bedürftigen offene Hand und offene Tafel, für Menschen von Geist, Herz und Gemüth ein behagliches Asyl. Sein Haus war der Sammelplatz für Alle, welche mit dem Dichter Eines Strebens waren, und alte, ehrsame Bürger der Stadt erzählten uns, wie sie, des Nachts zu der oder jener Stunde nach Hause zurückkehrend, vor den noch immer hell erleuchteten Fenstern der Dichterwohnung stehen geblieben seien und, wenn aus denselben endlose Heiterkeit und Fröhlichkeit erklungen, den Kopf geschüttelt und bei sich gedacht hätten, was die da drinnen doch gar so Wichtiges vorhaben möchten, daß die Mahnungen der Uhr und des einsamen Wächters der Nacht spurlos an ihren Ohren vorüber gingen!
Es war dem Dichter nicht gegeben, eine Bitte abzuschlagen, wenn sie von einem Bedürftigen an ihn gestellt und ihre Erfüllung ihm möglich war. Mehr als einmal begegnete es ihm hierbei, daß er das Letzte aus seiner Tasche zog, um sie nicht ungewährt zu lassen; – daß er das, was er hingab, vielleicht selbst gerade nöthig brauchte, machte ihm keine Sorge. Er wurde öfter hierin auf die Probe gestellt. Einmal besonders, an einem schönen Sommertage, saß er vor seinem Hause in Sellendorf unter dem schützenden Dach einer alten Linde und gab sich dem Genusse der würzigen Düfte hin. Da kam ein Wanderbursche des Weges, ein armer, dürftiger Geselle, aber mit einem so klaren, freundlichen Gesicht, wie der Himmel über ihm. Er blieb vor dem Dichter stehen und sprach ihn, den Hut in der Hand, um eine Gabe an. Houwald fuhr, wie immer bei solchen Gelegenheiten, mechanisch in die Tasche – aber siehe! es befand sich darin nur noch ein einziger harter, blanker Thaler. Er dachte vielleicht daran, das Stück zu wechseln, aber wie er sich umsah und sein Blick immer wieder nur auf den lustigen Burschen vor ihm fiel, da lächelte er und – warf ihm den Thaler in den Hut. Der Bursche wurde vor Verlegenheit, Ueberraschung und Freude roth, noch mehr, als er es schon war von der Hitze und seinem Marsche; er drehte das Geldstück hin und her und sagte endlich stammelnd: „Hoher Herr, ich habe noch nicht ganz so viel zusammengebracht, um dieses Stück einzulösen!“ – aber der Dichter lächelte auf’s Neue und winkte, daß es schon gut sei. Wie sich der Wandersmann nun hierbei gebehrdete, mußte dem Dichter noch mehr gefallen, denn er ließ sich mit ihm in ein längeres Gespräch ein und nahm ihn mit an seine Tafel, um ihn erst dann seines Weges weiter zu schicken, nachdem er überzeugt war, daß er auch die nöthigen Kräfte dazu gesammelt.
Ein noch schönerer, in weiteren Kreisen nie bekannt gewordener Zug der Herzensgüte des Dichters soll den Lesern dieses Blattes gleichfalls nicht vorenthalten werden. Wir haben oben seines Dramas „Das Bild“ Erwähnung gethan, eines Kunstwerkes von hochpoetischem Werth, welches unstreitig mit zu dem Besten zählt, was der Genius des Dichters geschaffen. Es erschien 1821 und fand den allgemeinsten wohlverdienten Beifall, als es über die Bühne ging. Die Räume des Theaters konnten in der ersten Zeit die Menge der Zuschauer nicht fassen. Die Fama hiervon war auch zu den Ohren eines lustigen Bruders Studio gekommen; und es scheint, als ob er in seinem Drange, das Stück zu sehen, vergessen, daß er seinen augenblicklichen Vorrath an „Spießen“ erheblich erschöpfe, wenn er es sich gönne, für den nächsten Abend, an welchem „Das Bild“ wiederum gegeben werden sollte, sich ein Billet zu lösen. Doch der Zweck war ja ein guter, und erst, als er seinen Sitz im Theater wieder mit dem Schemel seiner Mansarde vertauscht hatte, überfielen ihn Gewissensscrupel. Solche Scrupel sind unleidliche Gefährten, besonders in der heitern Jugend, und man muß sie kühn in die Flucht schlagen. Das mochte sich auch unser Musensohn sagen, denn seine Stirn leuchtete von einem Entschlusse auf und, mit seinen Gedanken halb noch im Theater, halb bei [[Aloys Blumauer]]’s Travestie der „Aeneide“, welche aufgeschlagen vor ihm lag, griff er zur Feder und schrieb unter der Nachwirkung des poetischen Hauchs, welcher ihn bei dem eben gesehenen Stücke entzündet haben mochte, folgendes Gedicht an Houwald nieder und sandte es nach Sellendorf, wo der Dichter eben lebte:
Mein Herr Baron! Verzeihet mir,
Falls ich etwa gestöret;
Laßt von des Dichters Luftrevier
Euch jetzt herab und höret! –
Doch, wenn Ihr mich nicht ärgern wollt,
So seht hübsch freundlich aus und hold,
So, wie ’s dem Dichter ziemet.
Ich bin Student: – mein leichter Sinn
Plagt sich zwar nicht mit Sorgen,
Doch, ohne Spieße, wie ich bin,
Hab’ ich nun müssen borgen;
Da singt der Manichäer Chor
Mir täglich denn ein Liedchen vor
Im schlimmsten Lamentoso.
Herr Fips, mein Wirth, ein Schneiderlein,
Fällt mir gar sehr beschwerlich,
Wer selbst betrügt – kann’s anders sein? –
Hält Andre nicht für ehrlich;
Er läßt mir Tag und Nacht nicht Ruh’,
Sein Eh’weib schießt mir Blicke zu
Gleich einem Basilisken.
Der Schuster ist von feinerm Schrot,
Er sucht mich stets zu rühren
Und mir fast täglich seine Noth
Vor das Gemüth zu führen.
Wie gerne zahlte ich ihm aus,
Hätt’ nicht des armen Schuldners Haus
Die Bücher längst geschlossen!
Und kommt einmal ein Geldbrief an,
Da krümmen sich zehn Hände:
Der Bratwirth macht den Anfang dann,
Der Famulus das Ende.
Bleibt ja ein Rest – „Thaliens“ Hand
Macht an den Ecken uns bekannt:
„Das Bild. Von Ernst von Houwald.“
Ihr seht, verehrter Herr Baron! –
Auch Ihr vermehrt mein Leiden!
Wer hieß Euch denn die Lorbeerkron’
Des Dichterruhms erbeuten!?
Genug – Ihr seid in meiner Schuld,
Drum mäßigt Eure Ungeduld,
Wenn ich Euch um ’was bitte.
Zuckt in Euch nur ein einz’ger Strahl
Von Euerm edlen Maler,[1]
So borget mir ein Capital
Von wenigstens zehn Thaler! –
Aus mir wird noch ein reicher Mann,
Der ’s einst Euch wiedergeben kann:
Das hab’ ich nie bezweifelt.
Doch schickt mit nächster Post das Geld,
Zu enden meine Plagen;
Glaubt mir – so schwer es mir auch fällt –
Das Porto will ich tragen;
Dann zahl’ ich den Philistern aus,
Zieh’ mit den Schwalben froh nach Haus
Und sing’ und trink’ und küsse.
Das erste Glas Euch Ehrenmann!
Mein Mädchen soll Euch loben!
Auch werd’ ich – – – doch was liegt daran,
Wenn ich Euch ein paar Proben
Aus meiner schlechten Versfabrik
Aus Dankbarkeit nach Sell’ndorf schick’ –
Sie treibt stets hohes Wasser!
Und nehmt Ihr meine Bitte schief,
So werd’ ich mich nicht grämen:
Ich schrieb Euch keinen Bettelbrief
Und brauch’ mich nicht zu schämen.
Doch find’t sie eine gute Statt,
So denkt: Bis dat, qui cito dat![2] –
Und bleibt mir wohl gewogen!
Noch Eins! Gebt doch der Lesewelt
Dies „Bild“ gedruckt zum Besten,
Ich möchte gern den alten Held
Sehn ohne Ziethen’s[3] Gesten;
Hätt’ ich das Büchlein im Verlag,
Bei meiner Ehr’! – in Jahr und Tag
Wär’ ich aus meinen Schulden! –
Und was that Houwald? Warf er das launige Gedicht, das lustige Kind einer übermüthigen, glücklichen Jugendminute, welches schon deshalb Anspruch hatte auf Nachsicht und Entschuldigung einer allerdings etwas kühnen Ausbeutung der licentia poëtica, griesgrämig in den Papierkorb? – Nein! Er antwortete dem jungen Dichter in seiner bekannten gutmüthigen Art und in ebenso launiger Weise und noch dazu in ebendemselben Versmaße folgendermaßen:
Mein unbekannter[4] Herr! Du meinst,
Ich sei ein reicher Sänger,
Und, weil Du zu vertrauen scheinst,
So zauderst Du nicht länger;
Du klopfest dreist beim Handwerk an
Und sprichst: „Ihr seid ein reicher Mann,
D’rum müßt Ihr mit mir theilen!“
Reich bin ich wohl, doch nicht an Gut,
Ich kann nicht Schätze graben;
Reich nur an Gottvertrau’n und Muth,
An Mädchen und an Knaben;
Denn achte steh’n vor meiner Thür
Und rufen: Vater, wir sind hier
Und wollen Nahrung haben!
Da geht die Kunst denn wohl nach Brod
Und darf nicht stehen bleiben;
Du schlägst zehn Thaler eher todt,
Eh’ ich sie kann erschreiben;
Ich sitz’ in meinem Stübchen fest,
Du aber kannst nach Ost und West
Dein lustig Wesen treiben.
Doch – – weil ich auch ein Bursche war,
So laß ich mich nicht lumpen;
Ich weiß, wie oft die Spieße rar,
Und will Dir etwas pumpen! –
Du giebst mir ’s wieder einstiglich –
Dann wollen wir uns sicherlich
Versteh’n bei vollen Humpen.
Geh’! Zeige diesen Zettel vor
Bei Voß[5], er wird ihn ehren! –
Nimm gern den einen Friedrichsd’or,
Mehr kann ich nicht gewähren:
Zum Reisegelde reicht er schon,
Will froh zurück der gute Sohn
In seine Heimath kehren.
Nach Deinem Namen frag’ ich nicht –
Ich mag ihn jetzt nicht wissen;
Dumm bist Du nicht – ’s sagt Dein Gedicht –
Doch flüchtig auf den Füßen! [6]
So geh’ und werd’ ein braver Mann,
Dann klopf an meine Thüre an,
Ich will Dich freundlich grüßen. –
Siebzehn Jahre waren verflossen. Der „Alte in Neuhaus“
hatte den Bruder Studio und mit ihm den ihm geliehenen
Friedrichsd’or längst vergessen, wie so manche andere gute That;
denn das kennzeichnete ihn besonders, daß er sich nie erinnern
wollte, Jemandem wohlgethan zu haben, und daß er jeden Dank
bescheiden zurückwies. Es war – erzählt der Volksmund – am
29. November 1838 – dem sechszigsten Geburtstage des Dichters
– und ein recht kalter Tag, als spät am Abend eine Equipage
Lübben passirte. Sie hielt in der Stadt, und ein Herr, in einen
großen Pelz gehüllt, steckte sein gleichfalls pelzverbrämtes Gesicht
aus dem Wagenfenster heraus, mit dem Kutscher einige leise Worte
tauschend und dann wieder verschwindend. Der Kutscher verließ
einen Augenblick seinen Bock und sprach, die Zügel der dampfenden
Pferde in der Hand, einen Vorübergehenden an. Dieser deutete
nach Südost und der Andere bestieg seinen Sitz wieder, indem
er nickte. Und fort ging’s
„mit verhängtem Zügel“
nach der angegebenen Richtung und zum Thor hinaus. Der Boden war verschneit, aber fest gefroren, und die Sterne flimmerten hell. Es schien, als ob dem Manne auf dem Wagen, wie den Pferden, darum zu thun sei, bald unter Dach und Fach zu kommen; denn Ersterer redete letzteren gut zu und diese griffen noch einmal rüstig aus, daß ihre Hufschläge tactmäßig fernhin durch die Stille [105] schollen und ebenso verhallten. Der Mond beschien das Antlitz des Herrn im Innern des Wagens: es war, als wenn eine geheime Lust seine Wangen erglühen mache. Als sein Gesicht den Scheiben näher kam, um in die Nacht hinaus zu spähen, lag es wie ein geheimnißvolles Lächeln, wie eine schöne Gemüthsbewegung auf seinen Lippen. Die Stadt war im Rücken, das Dorf Steinkirchen passirt. Gleich am Ende desselben, rechts einige hundert Schritte abseits von der Straße, liegt auf einem Hügel das mehrerwähnte „Neuhaus“, des Dichters Tusculum, die Stätte seines Stilllebens. Eine schöne Allee führte damals von dem Wege unten zu demselben hinauf. Der Wagen hielt. Der Herr im Pelz stieg aus und ging langsam auf das Haus zu. Die Fenster waren hell erleuchtet; lauter Jubel erklang von innen heraus: es war ja des Dichters Ehrentag, der da gefeiert wurde. Der Fremde ging langsamer, je näher er seinem Ziele kam. Sein auf dem knirschenden Schnee hörbarer Fußtritt machte die Jagdhunde munter, kläffend sprangen sie ihm entgegen, an ihm empor. Er sprach zu ihnen und sie beruhigten sich. Sonst war Niemand sichtbar. Der Herr trat in die Hausflur. Ein Bedienter fragte nach seinem Begehr und führte ihn, als er erklärte, daß er den Besitzer des Hauses zu sprechen wünsche, in das Empfangszimmer, welches von einer kleinen Ampel erleuchtet war. Dem Fremden schien die Helligkeit aber noch zu groß, denn er zog den Docht der Lampe noch mehr ein, als der Bediente ihn verlassen hatte, und, seinen Pelz ablegend, stellte er sich in die Fensternische, so daß sein Gesicht beschattet war. Es währte nicht lange und die Thür öffnete sich wieder – Ernst von Houwald war eingetreten. Der Dichtergreis befand sich in gehobener Stimmung, seine Wangen waren freudegeröthet – so stand er da hellen Auges, mit wehendem Haar, in seinen langen braunen Goetherock gekleidet. Er durchspähte die Stube, blieb am Tische stehen und sah, wie fragend, zu dem Fremden hinüber; das dauerte aber nur einen Augenblick, denn der Letztere näherte sich schon dem Dichter und, indem er mit bewegter Stimme anhob:
Doch, weil ich auch ein Bursche war,
So lass’ ich mich nicht lumpen;
Ich weiß, wie oft die Spieße rar,
Und will Dir etwas pumpen!
Du giebst mir’s wieder einstiglich –
Dann wollen wir uns sicherlich
Versteh’n bei vollen Humpen – – –
reichte er ihm – – – einen neuen blanken Friedrichsd’or hin. Der Dichter sah den fremden Herrn erst einige Augenblicke verwundert an, dann aber kam ihm sein Gedächtniß zu Hülfe, die Augen wurden ihm feucht und mit den Worten: „Lieber, guter Herr,“ schloß er den Fremden im Gefühle innigster Rührung über einen so schönen Beweis männlicher Treue in die Arme. Es dauerte lange, bis sich Beide in kurzen, schnellen Hin- und Herfragen völlig verständigen konnten. Als aber dieser schöne Rausch vorüber war, da leuchtete es von Houwald’s Stirn wie von einem neuen Gedanken und trotz seines Sträubens zog er den Fremden mit sich fort, unaufhaltsam, hinüber in das Festzimmer, um die dort Versammelten Theil nehmen zu lassen an der Freude, die ihm soeben widerfahren war. Es bedarf wohl der Erwähnung nicht, daß der Dichter die beiden oben mitgetheilten Gedichte, als wenig werthvolle Documente, nicht aufbewahrt hatte und daß der Jubel, namentlich Seitens der beiden Hauptpersonen, ein noch größerer war, als der ehemalige Bruder Studio, aus dem wirklich „ein braver Mann“ geworden war, dieselben hervorzog und den Anwesenden zum Besten gab. Mit ihm war wieder einmal ein guter Mensch zu guten Menschen gekommen, und der Dichter hielt auch sein Wort und „verstand sich mit ihm bei vollen Humpen“.
Seinem Gruße galt noch manch schäumender Becher edlen Weins, ehe sich der Gast losmachen konnte von dem herrlichen Manne neben ihm. Wehmütig schieden Beide endlich, und der Fremde, H., damals Rath in O., kehrte mit den schönsten Erinnerungen in seine Heimath zurück – er hat den Dichter nicht wiedergesehen, denn auch dieser kehrte nur wenige Jahre später in seine bessere Heimath zurück, in die seiner irdischen Träume, wo er den irdischen Frieden und die absolute Harmonie gefunden haben wird, die er hienieden so sehr geliebt und gesucht.
Treue für sein Vaterland, für sein Amt, für die Seinen und die seiner bedurften, Liebe und Freundschaft, Seelenadel, warmes Gedenken für Freud’ und Leid, die ihm auf seiner irdischen Pilgerschaft je begegnet, endlich ein unerschütterliches Gottvertrauen – das waren die Züge, die sein Leben athmete. Wir finden hier überall die Spuren in Dem, was er gesagt und gethan, und wir finden sie auch noch in einem uns überkommenen Toaste aus seiner letzten Lebenszeit, welchen der Dichter bei Gelegenheit der Feier eines Goethe’schen Gedächtnißtages ausbrachte, und es scheint, als wenn noch einmal sein um seine Entwicklung hochverdienter alter Jugendfreund Contessa es hauptsächlich ist, an den er sich darin wendet:
Der erste Becher sei gebracht
Dem König, unserm König,
Dazu ein Denkspruch ausgebracht
Voll Kraft, an Worten wenig!
Der zweite ehre dann den Freund,
Der’s unverändert bliebe!
Und mit dem dritten sei gemeint
Das Herz und seine Liebe!
Und endlich wendet sich der Greis
Zu seinem Freund, dem Greise: –
Du kennst die Tage, kalt und heiß,
Der langen Lebensreise!
Dies Glas der alten guten Zeit,
Der sel’gen wie der trüben,
Der heiligen Vergangenheit,
Den Gräbern unsrer Lieben!
Ernst von Houwald wurde am 28. Januar 1845 von einem schnellen, sanften Tode ereilt. Sein Verlust war selbstverständlich für Alle, die je mit ihm in Berührung gekommen, ein beinahe gleich schmerzlicher. Man senkte mit dem Edelmanne einen wahrhaft edlen Mann in das Grab.
Gegenüber seinem lieben „Neuhaus“, auf dem kleinen Kirchhofe des Dörfchens Steinkirchen steht ein altes Kirchlein. Grau und verwittert sieht es mit bemoostem Antlitz zum Himmel auf und mahnt uns schon von Weitem zur Ehrfurcht. Es hat auch sein gutes Recht, stolz zu sein auf sich selbst, denn es weiß von einer Zeit zu erzählen, wo Dr. Martinus Luther’s ehernes Wort von seiner Kanzel herab sein kleines Gewölbe erdröhnen machte. Am Fuße dieses Kirchleins schlummert der Dichter unter so üppigem Grün,
„daß man vor Riedgras kaum das Grab zu sehn vermag.“
Es ist schon eingesunken, dieses Grab, und mit ihm der ausgewaschene Sandstein darauf. Aber seine noch lesbare Inschrift giebt dem Wanderer deutliche Kunde, was für ein Grab es ist, das er beschirmt! Ja, sie giebt ihm auch wohl noch Anlaß darüber nachzudenken, wie er selbst leben müsse, um sie dereinst für sein eigenes zu wählen:
Christoph Ernst, Freiherr von Houwald, Seines Namens Gedächtniß |
Auch des Dichters Herz ist längst in Staub zerfallen, aber noch steht sein Bild Vielen vor der Seele sammt den bedeutungsvollen Worten, die er unter sein ähnlichstes Portrait geschrieben hat und die gerade in Bezug auf ihn selbst zur herrlichen Wahrheit geworden sind:
Des Menschen Antlitz ist das Titelblatt
Des Buches, das in stiller Herzenskammer
Die Seele niederschreibt und aufbewahrt.
Nicht kannst du die verschwieg’nen Blätter lesen,
Doch schaust du prüfend auf das Titelblatt,
Wird dir der Inhalt auch wohl offenbar.
[106]
Ritt über das Schlachtfeld. – General Sigel. – Unangenehme Begegnungen. – Prinz Salm und sein Brigadecommandeur. – Rencontre mit demselben.
Das Wetter war höchst unangenehm, denn es fiel mit eisigem Regen untermischter Schnee, und der Boden wurde schlüpfrig und schwierig. Ein breiter Bach mit steilen Ufern kreuzte unseren Weg. Die Prinzessin setzte mit einem ungeheuern Sprunge hinüber; aber da das eine Hufeisen meines Grauschimmels etwas lose war, so sprang er zu kurz und ich hatte mit ihm das steile Ufer hinaufzuklettern. Das lustige Lachen der Prinzessin verbesserte meine Laune keineswegs.
Wir ritten über das Schlachtfeld von Bull Run, welches einen schauerlichen Anblick darbot, mit welchem der bleifarbene Novemberhimmel trefflich harmonirte. Ueberall lagen zertrümmerte Laffetten, verbogene und verrostete Flintenläufe, nicht crepirte Bomben und weiße Pferdegerippe in Menge. Nicht selten ragte auch durch die dünne und abgewaschene Erddecke ein menschlicher Arm oder ein Bein, von welchen sich bei unserm Herannahen die Geier nur widerstrebend und mit schwerfälligem Flügelschlag entfernten.
Als der Abend herannahte, wurde es empfindlich kalt, und die Prinzessin, die wie Espenlaub zitterte, mußte nun doch meinen Mantel annehmen, den ich ihr jedes Mal angeboten hatte, wenn sie mich um das Glycerin für ihr „großes kleines Mund” bat, was ungefähr alle Viertelstunden geschah.
Um die Situation noch unangenehmer zu machen, führte uns unser Kundschafter in der Dunkelheit irre und es war neun Uhr Abends, als wir endlich in Gainesville anlangten, nachdem wir seit dem Morgen gut dreiundsechszig englische Meilen gemacht hatten. Hier in Gainesville hatte General Sigel sein Hauptquartier, und wir erwarteten dort den Prinzen zu finden, hörten aber sogleich bei unserer Ankunft, daß sein Regiment am Morgen abmarschirt sei, ohne daß man uns sagen konnte, wohin. Das ließ sich am besten von General Sigel selbst erfahren, und wir ritten nach dessen Hauptquartier. Die Prinzessin zog es vor im Sattel zu bleiben, und nur ich stieg ab und ging in das Haus.
Sigel und ich kannten uns von der badischen Revolution her. Ich habe in meinen „Erinnerungen“, die auch in Amerika nachgedruckt wurden, meine Ansichten über Sigel als Mann und General ausgesprochen und was ich darin sagte, ist durch seine Handlungen in Amerika auf das Ueberzeugendste bestätigt worden. Sigel ist ein braver, achtungswerther und wohlmeinender Mann, der durch wunderliche Verhältnisse an Stellen geschoben und mit Aufgaben betraut wurde, denen er durchaus nicht gewachsen war. Seit 1849 hatte ich ihn nicht gesehen und fand ihn nun in einem großen Zimmer vor einem behaglichen Kaminfeuer. Das Zusammentreffen mit mir schien ihn in Verlegenheit zu setzen und die Art, wie er mich empfing, contrastirte in fast komischer Weise mit dem Empfange Blenker’s. – Nachdem ich ihm den Grund meines Besuches mitgetheilt und erfahren hatte, daß Salm mit seinem Regimente in Aldy, dem äußersten Vorposten, stehe, fragte er: „Hm, – ja so – ist die Prinzessin draußen? – hm – ja wohl – so – dann wollen Sie wohl einen Paß? – Ja so – Lieutenant X., sagen Sie doch Asmus, daß er dem Obersten einen Paß giebt. – Ach – ja so – gute Nacht.“
Das war noch derselbe Sigel, wie ich ihn in Baden gekannt hatte, und halb amüsirt, halb ärgerlich folgte ich dem Officier in das Bureau, wo wir Sigel’s Generalstabs-Chef, Oberst Asmus oder Asmussen, fanden. Nachdem er gehört, um was es sich handele, rief er einem andern Officier zu: „Y., geben Sie dem jungen Mann einen Paß!“ – Ich mußte laut auflachen, denn der Oberst konnte mein Sohn sein, und ich erwiderte etwas, was ihn roth machte.
Die Prinzessin, die draußen im Regen gehalten hatte und an die Höflichkeit amerikanischer Generale gewöhnt war, mochte wohl auch ein wenig Höflichkeit von Sigel erwartet haben und schien etwas frappirt, daß weder er, noch irgend ein anderer Officier, den wir anredeten, von ihr Notiz nahm.
„Es wird nichts übrig bleiben, Prinzessin,“ sagte ich, „als daß Sie sich in meinen Mantel wickeln und in irgend eine Ecke legen, während Perkins und ich bei Ihnen Wache halten.“
Die Prinzessin beschloß, selbst mit der Besitzerin der großen Farm zu reden. Ich ließ sie am Feuer in der großen Halle, und es gelang mir und Warren genügende Fourage für unsere Pferde zu erhalten, die indessen im Freien übernachten mußten. Das sind übrigens die amerikanischen Pferde gewohnt. Ich kenne keine ausdauernderen, genügsameren und intelligenteren Pferde als die amerikanischen.
Als ich in die Farm zurückkehrte, hatte sich die Situation bedeutend geändert. Die Liebenswürdigkeit der Prinzessin hatte ihren Einfluß auf die Wirthin und deren Tochter nicht verfehlt; sie fand ein bequemes Zimmer, und auch ich und Warren erhielten ein Zimmer, mußten aber in demselben Bett schlafen. Daran mußte man sich während des Krieges in Amerika gewöhnen. Selbst in großen Gasthöfen erhielt man oft nur einen zweiten Platz in einem Bette angewiesen, und ich habe nicht selten mit Leuten geschlafen, deren Gesicht ich nicht einmal zu sehen bekam. In einer Farm auf der virginischen Halbinsel, am Pamunky – schlief ich acht Tage lang in demselben Bette mit einem Manne, der spät kam und vor Tag aufstand, so daß ich ihn auch nicht einmal gesehen habe.
Am 10. November 1862 brachen wir früh am Tage auf, um bei Zeiten Hoperell Gap zu erreichen, wo Generalmajor Stahel, welcher eine Division befehligte, sein Hauptquartier hatte. Stahel war ein lieber Freund von mir, und ich freute mich sehr darauf, ihn wiederzusehen.
Das Wetter war schön geworden, und wir erreichten schon bei guter Zeit sein Hauptquartier, welches in einem hübschen, auf einem kleinen Hügel gelegenen Farmhaus war. Er empfing uns auf sehr liebenswürdige Weise und bewirthete uns mit einem vollkommenen Frühstück, während wir unsere Pferde beschlagen ließen.
Auf unserem Weiterwege nach Aldy hatten wir einen Wald zu passiren und es schien mir, als ob wir eine Richtung einschlügen, welche uns direct in die feindlichen Linien führen müßte. Unser Kundschafter gestand denn auch ein, daß er nicht genau Bescheid wisse, da er seit Jahren nicht in diesem Theil von Virginien gewesen sei. Als ich vor uns im Waldweg ganz frische Spuren von Cavallerie sah, fing die Sache an mir sehr bedenklich zu werden, und meine Besorgniß wurde gleich darauf von zwei uns begegnenden Kindern bestätigt, welche uns sagten, daß White’s Reiterei nicht weit davon seitwärts im Walde stehe. Der Führer behauptete, daß dies nicht möglich sei; allein ich veranlaßte ihn, in einem Hause, welches wir in einiger Entfernung liegen sahen, nach dem Wege nach Aldy zu fragen. Als er dort hinkam, sah eine alte Frau zum Fenster hinaus, die seine Frage mit der Gegenfrage beantwortete: „ob er zu White’s Leuten gehöre?“ Er war klug genug das zu bejahen und sie sagte ihm, was er zu wissen wünschte. Ich hatte vollkommen Recht gehabt, wir ritten gerade auf den Feind zu, dem wir übrigens jeden Augenblick begegnen konnten. Der Kundschafter fing nun an sehr ängstlich zu werden, dann sagte er: „sie kennen mich und werden mich auf der Stelle aufhängen.“
Wenn ein solches Schicksal auch weder der Prinzessin noch mir drohte, so wäre doch eine Unterbrechung unserer Reise durch Gefangenschaft sehr unangenehm gewesen, und ich wandte alle mögliche Vorsicht an, ein solches Unglück zu verhindern. Zu diesem Zwecke ritt ich mit gespanntem Revolver etwa zweihundert Schritt voraus, um zu recognosciren; allein die Prinzessin rief mit durchdringender Stimme, daß man es eine Meile weit hören konnte „Corvi-i-in! reiten Sie nicht voraus, mein Pferd wird unruhig – oh!“ – Ich mußte über das „Oh!“ lachen trotz meinem Aerger und dachte: „man reitet nicht ungestraft dreiundsechszig Meilen, wenn man nicht ganz von Gummi elasticum ist.“ Ich beschwor sie, ruhig zu sein, aber sie sprach laut und sang sogar, als ob sie es darauf angelegt hätte, daß die Conföderirten uns hören sollten. Ich wurde am Ende ärgerlich, allein je mehr ich schalt, desto ausgelassener wurde sie. Ich war in der That sehr froh, als wir endlich die Chaussee erreichten, die nach Aldy führte, ohne den „Rebs“ begegnet zu sein.
[107] Das Regiment des Prinzen hatte vor Aldy, rechts von der Chaussee, ein Lager aufgeschlagen. Das erste Zelt zunächst der Straße und dem Ort war das des Prinzen. In einem Hause, welches von seinem Zelte nur durch die Chaussee getrennt war, hatte er ein Zimmer für seine Frau gemiethet.
Der Prinz war froh, daß ich kam, denn die Schwierigkeiten mit seinen Officieren hatten bereits angefangen, und er hoffte, daß ich beitragen würde, sie auszugleichen. Gleich bei meiner Ankunft erzählte er mir, daß der alte Struve um seinen Abschied eingekommen sei.
Salm hatte einen schweren Stand nicht nur mit den Republikanern, denen er als Prinz verhaßt war, sondern auch mit den schiffbrüchigen Junkern, die ihn wegen der Aufmerksamkeit beneideten, mit welcher ihn die Regierung behandelte. Einer derselben war sein Brigadecommandeur, Oberst ***.
Der Oberst war ein großer, schlanker, noch junger Mann, mit nur wenigen rothblonden Haaren auf dem hinteren Theile seines Kopfes; der Schädel war ganz kahl. Seine Haltung war sehr militärisch und sein Auftreten barsch und arrogant. Er war preußischer Officier, ich glaube, in einem Garderegiment, gewesen, und hatte sich später als Hauptmann im schleswig-holsteinischen Kriege ausgezeichnet. Er galt für einen sehr tüchtigen Soldaten und war es wohl auch. Warum er nach Amerika fliehen mußte, weiß ich nicht, doch glaube ich nicht, daß es wegen einer unehrenhaften Handlung war; den Eindruck machte er durchaus nicht. Es war ihm anfangs in New-York schlecht gegangen, und er hatte eine sehr bescheidene Stelle in einem Comptoir einzunehmen, in der That die allerletzte, denn er hatte die Zimmer auszukehren. Er besaß eine schöne Stimme, spielte ausgezeichnet Clavier und fand, daß diese Fertigkeiten sich verwerthen ließen, indem er in öffentlichen Localen spielte und sang. – Als der Krieg ausbrach, wurde er Oberst des „de Kalb“-Regiments und stand später bei Blenker’s Division, den er als Freischaarenobersten natürlich verachtete und mit dem er nicht selten aneinandergerieth.
Oberst *** konnte Salm nicht leiden und mißbrauchte seine Stellung, es ihn in der brutalsten Weise fühlen zu lassen, wie er denn schon am andern Morgen der Prinzessin die Weisung ertheilte, ihr Zimmer zu räumen, da es für dienstliche Zwecke gebraucht würde. Dieser dienstliche Zweck war, wie sich nachher zeigte, nicht vorhanden, denn das Zimmer wurde von Frau *** eingenommen. Die Prinzessin war empört und hatte Lust zur Opposition; ich rieth ihr aber nachzugeben und eine Wohnung einzunehmen, die ein paar Schritte weiter hin an der Straße gelegen war. Sie hatte es sich jedoch kaum in dieser bequem gemacht, als sie abermals von Oberst *** unter irgend einem Vorwand vertrieben wurde, und so faßte sie denn, zur großen Freude der Soldaten, den Entschluß, mit ihrem Manne dessen Zelt zu theilen.
Ich blieb etwa acht Tage, da es aber nicht den Anschein hatte, als ob es zu einem Zusammentreffen mit dem Feinde kommen sollte, so beschloß ich, mich auf einen andern Theil des Kriegsschauplatzes zu begeben und auf meinem Rückwege nach Washington ein paar Tage bei General Stahel zu bleiben, der mich eingeladen hatte. Eines Nachmittags nahm ich daher Abschied von Salm, um noch bei Tage Hoperell Gap zu erreichen, wohin Stahel an demselben Morgen zurückgekehrt war.
Als ich in den Wald kam, den ich zu durchreiten hatte, achtete ich sorgfältig auf den Wind, da ich keinen andern Führer hatte und auch nicht einem einzigen Menschen begegnete. Der Wind drehte sich jedoch, und ich wußte nicht mehr, in welcher Richtung ich Hoperell Gap suchen sollte, als ich den Schritt eines Pferdes hörte. Es war eine Ordonnanz, die mir sagte, daß sie eben von General Stahel’s Hauptquartier komme, und mir den Weg zeigte. Nach einer Stunde sah ich denn auch Zelte; die Gegend kam mir sehr bekannt vor – ich war wieder glücklich in Aldy angelangt, nachdem ich einen Kreis von etwa zwölf englischen Meilen gemacht hatte. Die Ordonnanz kam von Stahel’s Hauptquartier in Aldy und wußte nichts von der Verlegung desselben nach Hoperell Gap.
Als die Prinzessin meine Stimme vor ihrem Leinwandpalast hörte, kam sie heraus und lachte mich unbarmherzig aus, freute sich aber doch, mich wiederzusehen. Es war wirklich ein glücklicher Zufall, der mich zurückführte, denn in der Nacht kam der Befehl, das Lager abzubrechen und eine retrograde Bewegung nach Chantilly zu machen.
Als die Zelte am Morgen abgeschlagen wurden, fing es an zu regnen, und die Feuer, die man mit all’ dem Holzwerk und Geräthschaften unterhielt, welche man den Rebellen nicht überlassen wollte, waren gar nicht unangenehm. Das Zelt des Prinzen wurde natürlich auch aufgepackt, und die Prinzessin saß auf dem hölzernen Fußboden desselben wie auf einem Präsentirteller, während die Truppen sich zum Abmarsch formirten.
Unser Kundschafter war nach Hause zurückgekehrt, und die Prinzessin und ich ritten den Truppen voraus nach Chantilly, um uns nach einem Quartier für sie umzusehen. Der Ritt war nichts weniger als angenehm, denn es regnete stark. Glücklicherweise hatten wir Beide Gummimäntel, und nichts wurde naß als unsere Hüte und der Prinzessin verwünschte scharlachene Straußfeder, welche sie mit einem vertrauensvollen „da, lieber Corvin“ meiner Sorgfalt anvertraute.
Wir ließen unsere Pferde stark traben und kamen bald nach Chantilly, einer Besitzung der Familie Stuart, welche ihren Ursprung von den englischen Stuarts herleitete. Die Familie mußte sehr reich gewesen sein, denn die Besitzung war nicht nur sehr ausgedehnt, sondern die Gebäude waren auch in einem für Amerika ganz ungewöhnlichen schloßartigen Styl erbaut. Das erstreckte sich sogar auf die Ställe, wenn dieselben auch nicht so prachtvoll eingerichtet waren wie die in dem Chantilly bei Paris, welche die Condés erbaut hatten.
Ein hundertjähriger Neger, der im Hause geblieben war und der noch Washington gekannt hatte, sagte uns, daß wir vielleicht im Hause des Aufsehers Quartier und ein Mittagessen finden möchten; dasselbe lag etwa eine englische Meile hinter dem Herrenhause, aus dem alle Meubels entfernt worden waren, wenn es auch in gutem Stande gehalten wurde.
Wir fanden in dem kleinen, auf einem Hügel liegenden Hause des Aufsehers dessen recht anständige Frau nebst zwei Töchtern, die Alles thaten, was sie konnten, es der Prinzessin behaglich zu machen. Der Mann war wahrscheinlich in der südlichen Armee. Die eine Tochter, ein schönes, verständiges Mädchen, bot der Prinzessin sogleich ihr Zimmer an; allein diese nahm es nur unter der Bedingung an, daß sie dasselbe und das einzige Bett mit ihr theilte.
In der Nähe des Aufseherhauses war ein sehr großes Oekonomie-Gebäude, welches an jedem Ende Ställe, mit je sechs Ständen, hatte, und zwischen Beiden war bequem Raum für gewiß hundert Pferde. Ich nahm Besitz von einem der Ställe, indem ich unsere beiden Pferde hinein stellte und die vier leeren Stände für des Prinzen vier Pferde reservirte.
Die Truppen kamen am Nachmittag an. Sie hatten kaum ihre Gewehre zusammengestellt, als sie geschlossen wie zum Sturm gegen die noch unberührten Fenzen vorrückten. Diese waren im Nu auseinander gerissen und mit Ameisengeschäftigkeit schleppte jeder Soldat seine Beute zum Lagerplatz. Die Fenzen reichten jedoch für das Holzbedürfniß der Soldaten nicht aus, und bald sah man sie mit wunderbarer Geschicklichkeit an einer hohen und großen Scheune emporklettern. In einer Viertelstunde war dieselbe ihrer Bretterbekleidung entledigt, denn Bretter waren sehr begehrt, da sich mit ihnen regendichtere Dächer herstellen ließen, als sie die sogenannten shelter-tents gewährten. Es regnete in Strömen und man konnte es den Soldaten wirklich nicht verdenken, wenn sie Holz hernahmen, wo immer sie es fanden.
Als ich nach dem Stallgebäude ging, um zu sehen, ob unsere Pferde versorgt seien, traf ich dort einen Burschen von ***, einen der unverschämtesten New-Yorker Bummler, den man nur finden konnte. Der Kerl sagte mir mit frecher Miene, daß sein Oberst befohlen habe, der Prinzessin und mein Pferd aus dem Stalle zu werfen und denselben für seine Pferde in Beschlag zu nehmen. ***’s Ungezogenheit gegen die Prinzessin hatte mich schon genug geärgert, allein diese neue Unverschämtheit machte das Maß voll. Ich wurde blaß vor Zorn; doch ich hielt mich zurück und begnügte mich damit, dem frechen Kerl mit ruhiger Stimme zu sagen, daß ich ihn todt schießen würde, wenn er wagte, einen Finger an der Prinzessin oder mein Pferd zu legen, ehe ich mit seinem Herrn gesprochen hätte.
Kochend vor Wuth kehrte ich nach dem Hause zurück und theilte der Prinzessin diese neue Beleidigung ***’s mit. Sie sagte kein Wort, sondern nagte an ihrer Unterlippe und sah zum Fenster hinaus. Sie that mir wirklich leid und in der Absicht, der Sache [108] eine scherzhafte Wendung zu geben, sagte ich: „Jetzt weiß ich bestimmt, daß Sie, wie ich immer behauptete, eine Hexe sind, denn Sie möchten gern weinen und können nicht.“
Sie stampfte ungeduldig mit ihrem kleinen Fuße und mit der Hand mich abwehrend, sagte sie mit zitternder Stimme: „O, wäre ich ein Mann!“
„Meine liebe Prinzessin,“ antwortete ich, „ich bin einer,“ steckte meinen geladenen Revolver unter meinen Gummimantel in den Gürtel und verließ das Haus, um im Hauptquartier Oberst von *** aufzusuchen.
Ich hörte, daß derselbe bei General Stahel sei. Ich fand den letztern neben dem Kamin sitzend, vor welchem *** stand, sich den Rücken wärmend. Ohne ein Wort zu sagen, gab ich dem General die Hand, trat vor den Oberst hin, sah ihm fest in’s Auge und fragte: „Oberst ***, haben Sie den Befehl gegeben, mein und der Prinzessin Pferd aus dem Stalle zu werfen?“
„O, es ist da genug Platz für Ihre Pferde,“ antwortete er.
„Haben Sie Befehl gegeben, meine Pferde aus dem Stalle zu werfen?“ wiederholte ich mit erhobener Stimme. Er mußte wohl in meinem Blicke etwas sehen, was ihm nicht gefiel; oder vielleicht sah er auch ein, daß er zu weit gegangen war; genug, er bejahte meine Frage nicht, sagte einige ausweichende Worte und verließ das Zimmer, wie ich vermuthe, seinen Befehl zu widerrufen.
Als er fort war, trat ich zu Stahel, schlug meinen Mantel zurück, zeigte ihm meinen Revolver und sagte: „Sehen Sie hier, Stahel; *** war seinem Ende in seinem ganzen Leben nicht näher als jetzt. Hätte er mich thätlich insultirt, wie ich beinahe von ihm erwartete, so würde ich ihn auf der Stelle hier erschossen haben.“ Der General hob nur die Hand und schüttelte den Kopf, sagte aber kein Wort.
Die Brutalität, mit welcher *** seine Stellung mißbrauchte, trug ihm schlechte Früchte, und wenn er trotz seiner militärischen Tüchtigkeit nicht General wurde, so verdankte er das nur seinem Benehmen gegen die Prinzessin. Diese erzählte es dem Präsidenten und verschiedenen Senatoren, und der Erstere gelobte, daß ein gegen eine Dame so brutaler Mensch nie General werden solle. Er hielt sein Wort. *** blieb Oberst, bis er am Ende des Krieges ausgemustert wurde. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Doch war ich später noch einmal mit ihm in Washington zusammen und vertrug mich sehr gut mit ihm, denn im gewöhnlichen Leben war er ein angenehmer Gesellschafter und achtungswerther Mann.
Ich schlief die Nacht mit Salm im Zelte auf einer auf den bloßen Boden gelegten Matratze. Es war eine abscheuliche Nacht, denn die eine wollene Decke, die wir hatten, schützte uns nur nothdürftig gegen den Wind und Regen, die von allen Seiten eindrangen.
Der Leipziger Carneval.
Das Jahr 1866 war verhängnißvoll über Europa hereingebrochen. Die Schlacht von Königgrätz hatte das deutsche Land in Geburtswehen versetzt, deren Dauer im Bündniß mit jener schrecklichen, aus Asiens Sümpfen entstammten Seuche auf die allgemeine gewerbliche Thätigkeit so unheilvollen Einfluß übte. Es war eben eine Zeit der Ernte, wo sich die Spreu vom Weizen sichtete und reicher Segen Denen winkte, die nicht vorher verhungert waren. Am Hungertuche aber nagten Hunderttausende, und auch die sonst wohlhabende Stadt Leipzig stellte zu ihnen kein geringes Contingent. „Guten Morgen, Feierabend!“ lautete damals das Motto, und wo es sich machte, begann man einen Strike, um den Beutel internationaler Freundschaft und Genossenschaft in Anspruch zu nehmen.
Um diese Zeit der allgemeinen lieben Noth war es, wo eines Abends in Leipzig einige Künstler beisammen saßen und, nachdem sie die Tagesordnung durchgenommen, auch auf die Arbeitercalamität zu sprechen kamen und sich in Muthmaßungen erschöpften, wie man es anzufangen habe, um einen tröstlichen Geist über die Bevölkerung herabzubeschwören. Da gedachte Einer der Künstler des alten Ben-Akiba, welcher durch seine Versicherung, „es sei Alles schon dagewesen,“ zum verkörperten Sprüchworte geworden ist, und stellte die Frage, wie denn unsere Voreltern bei ähnlichen Gelegenheiten gehandelt und ob, mit Ausnahme der Religion, von ihnen nicht auch noch andere Trost- und Beruhigungsmittel angewendet worden wären? Und diese Frage war es, welche den Keim des ersten Leipziger Carnevals in sich barg. Die Erinnerung an den Palmenesel der lustigen Chorherren des Augustinerklosters zu Sanct Thomas in Leipzig weckte in den Künstlern den Gedanken, ein Narrenfest zu gründen und dadurch der ärmeren Bevölkerung Verdienst, neue Regsamkeit und heiteren Sinn zu schaffen.
Mit dem Palmenesel aber hatte es folgende Bewandniß. Zur Zeit der Augustinermönche wurde am ersten Ostertage in der Thomaskirche von ihnen eine Komödie veranstaltet und nach verschiedenen Possen, wobei das Volk sich nicht selten prügelte, zur Erinnerung an den Einzug Christi in Jerusalem, ein mit Palmenzweigen geschmückter Esel in den Straßen herumgeführt. Dies geschah unter großem Zulaufe der Bevölkerung, die sich theilweise vermummt hatte, und aus den Häusern, an welchen der Zug vorüberging, allerhand Spenden erhielt, von welchen freilich der Löwenantheil den Augustinermönchen zu Gute kam. Die Leipziger Jahrbücher wissen eine Menge ernste und komische Dinge von diesem Palmeneselfeste und der damit verbundenen lustigen Mummerei zu erzählen, und es hatte dieser Carneval in der Bevölkerung so festen Boden gefaßt, daß nach der Reformation und der damit verbundenen Säcularisation des Augustinerklosters die Leipziger, mit zeitgemäßer Abänderung, ihn noch beinahe zwei Jahrhunderte fortsetzten und die alten Rathsherren nur mit Mühe und Noth die letzten Spuren desselben zu tilgen vermochten. Dieses alte Volksfest wieder aus dem Grabe erstehen zu lassen, ihm ein modernes Narrengewand anzulegen und es, etwa nach dem Vorbilde Kölns, dem neuen Norddeutschen Bunde vorzuführen, das war der rasch entworfene Plan der wackeren Künstlergruppe, welchen lebensfähig zu machen man sogleich die nöthigen Schritte that.
Die humoristische Gesellschaft Klapperkasten, deren pecuniäre Mittel ihr „Manches“ erlauben, bot sofort zur Ausführung der Carnevals-Idee die Hand, und ohne Zögern ging man an’s Werk. Tausend rüstige Hände wurden in Thätigkeit versetzt, ein Comité gewählt und die Welt durch die Presse von der bevorstehenden neuen Schöpfung in Kenntniß gesetzt. Ein Carneval in Leipzig! Das war ein verwegener Gedanke! In der Bevölkerung Leipzigs erregte er eine förmliche Revolution. Einige Wochen lang vergaß man selbst die preußische Einquartierung und die noch immer herrschende Seuche. Alles sprach vom Carneval, die Männer mit weniger Sympathie als die Frauen. Eine Hauptklippe jedoch, an welcher so mancher Freund der Sache Schiffbruch litt, war die Furcht, öffentlich als Narr aufzutreten. Im Hause oder im engeren Cirkel wäre dies schon angegangen, aber als reputirlicher Bürgersmann, Handelsherr oder Beamter mit der Narrenkappe auf dem ehrsamen Haupte – welcher Gedanke! Der Klapperkasten ließ sich jedoch durch die reputirliche Schüchternheit nicht beirren. Er schrieb zunächst Narrenabende aus, für welche er ergötzliche Unterhaltung versprach, und hatte denn auch die Befriedigung, daß eine Menge heiteren Elementes zuströmte und mit Vergnügen auf der Leimruthe sitzen blieb. Die Narrenabende waren ein würdiges Vorspiel des Hauptfestes. Nicht nur daß sie den Geist und Witz, die Sorgsamkeit und Gewandtheit des leitenden Elementes in’s hellste Licht stellten, gaben sie auch dem Zögernden Muth und dem Muthigen Begeisterung bis zur Opferfreudigkeit. Wir selbst sahen alte Herren, die bei der ersten Nachricht von dem Entstehen eines Leipziger Carnevals mit gerungenen Händen und verdrehten Augen nach oben blickten, als fürchteten sie des zürnenden Himmels Strahl mitten in die ganze Narrenfreude hinein – wir selbst sahen diese alte Herren am zweiten Narrenabend mit kreuzvergnügtem Antlitz, die Narrenkappe auf dem Haupte, wie sie aus heller Kehle den Bierwalzer mitsingen halfen und bis nach Mitternacht als treue Jünger dem Prinzen Carneval huldigten. Hätten die Damen Zutritt gehabt, wer weiß, ob nicht schon beim ersten Carneval der größte Theil der Bevölkerung in das Lager des Beherrschers des Narrenreichs übergelaufen wäre!
Prinz Carneval war mit großer Feierlichkeit an der Seite seiner Auserwählten, der Prinzessin Klapperia, in Leipzig eingezogen und hatte nebst seinem Hofstaate in dem bekannten Hôtel
[109][110] de Prusse die Residenz aufgeschlagen. War von dem Einzugstage an die Stadt in nicht geringer Aufregung, so erreichte diese den höchsten Gipfel, als am 4. März 1867, zum ersten Male seit man den Palmenesel der Augustinermönche zu Grabe getragen, sich wieder ein Maskenzug durch die Straßen der alten Handelsstadt bewegte. Nicht weniger als sechsunddreißig Gruppen bildeten denselben und die Hunderttausende von Zuschauern, welche die prächtigen und theilweise überaus komischen Gebilde an sich vorübergleiten sahen, brachen in Rufe der Bewunderung und Heiterkeit aus. War es denn möglich, daß diese Märchenwelt, welche da vorüberzog, wirklich eine Schöpfung weniger Monate durch den Klapperkasten und seine Getreuen sein konnte? War nicht von dem Thronwagen des Prinzen Carneval bis zu der Altweibermühle und den Dresdener Gänsen herab hier ein Verständniß, ein Humor entwickelt, wie man kaum von den eingeweihtesten Carnevalsbrüdern ihn erwarten konnte? Verwundert schaute die ehrsame Hausfrau, welche doch im Laufe ihrer Ehe so mancherlei gesehen und erfahren hatte, auf das Maskengewühl, und das Töchterchen blickte mit unverkennbarem Wohlgefallen auf die schmucken Männergestalten in phantastischen Gewändern, die ihm wohl auch zu ihrer Ueberraschung wie alte Bekannte zunickten. Almoseniere sammelten mit ihren Stangenbeuteln Scherflein der Liebe für die Armen und sie flossen reichlich und haben später tausend Thränen getrocknet.
Bei diesem ersten Carnevalsfeste zeigte sich auch deutlich, daß Leipzig keinen Pöbel hat. Obgleich das Volk zu vielen Tausenden auf den Straßen schwärmte und sich im äußersten Stadium der Fröhlichkeit befand, machte sich nirgends Rohheit bemerkbar, kamen nirgends Excesse vor. Wollte etwa ein Uebermüthiger sich unliebsam machen, so griff das Volk ein und brachte ihn zur Vernunft, ohne daß man dabei die Hülfe der Polizei beansprucht hätte. – Die Großartigkeit des ersten Leipziger Carnevalszuges wurde selbst von der alten Carnevalsstadt Köln anerkannt und zahlreiche Orden des dort herrschenden „Hanswursten“ an die verdienstvollsten Beförderer und Schöpfer des Leipziger Carnevals legten davon Zeugniß ab. Bemerkenswerth bleibt es für alle Zeiten, daß die kleine Stadt Leißnig, trotz alles Kopfschüttelns der Nachbarschaft, der einzige Ort war, welcher sich dem Leipziger Carneval anschloß und aus seinen Mitteln eine Gruppe stellte. Dafür wurde er von dem Prinzen Carneval annectirt und unter dem Namen der Burggrafschaft Leißnig den Erblanden des Narrenreichs einverleibt.
Die Lebensfähigkeit des Leipziger Carnevals war bestätigt, denn die Einwohnerschaft erkannte, welchen Segen er ihr brachte. Was jene Künstler, welche ihn in’s Leben riefen, erwarteten, hatte sich glänzend erfüllt. Der Carneval schuf fröhliches Blut und viel Verdienst, und außerdem hatte Leipzig an ihm eine Errungenschaft erworben, der in der Geschichte der Stadt für alle Zeiten ein ehrendes Gedächtniß gesichert ist.
Dreimal hat nunmehr Leipzig seinen Carneval gefeiert und nächster Tage wird dies zum vierten Male geschehen. Wie schon erwähnt, hat auch die anfänglich nicht geringe Zahl der Bedenklichen und Aengstlichen ihre Vorurtheile abgelegt, und jetzt versteht es sich schon ganz von selbst, daß der Herr Vetter und die Frau Muhme zum Carneval nach Leipzig kommen, und wohnten sie auch zwanzig Meilen entfernt.
Und was die Närrinnen anbetrifft – an denen ist am wenigsten Mangel! Die zierlichen Narrenkappen auf den reizenden Köpfchen, sieht man sie, besonders bei der Theatervorstellung, wie Blumenketten aneinander gereiht, oder während des Zuges durch die Straßen an den geöffneten Fenstern oder in eleganten Wagen mit zurückgeschlagenem Verdeck. Bei dem Corso fungiren holde Frauengestalten der feinen Welt als Verkäuferinnen oder Cassirerinnen und Mancher kauft eine Kleinigkeit im Werthe von wenigen Groschen und legt ein großes Geldstück oder werthvolles Papier in die schöne Hand, nur um einen Blick freundlichen Dankes zu erhaschen. Gewechselt wird nicht; was man für das Kaufobject aus dem Portemonnaie nimmt, gehört den Armen.
Daß Leipzig schon jetzt vom Carnevalstaumel umfangen sei, kann man so eigentlich nicht sagen, denn dazu ist die Bevölkerung zu geschäftlich-praktisch oder mercantil-nüchtern, wie man’s gerade nennen will. Erst das Geschäft, dann das Vergnügen! heißt die Devise. Man wartet, bis es losgeht, und dann ist der Jubel um so größer! Wohl aber giebt es eine alte Garde, welche sich schon zur Granitcolonne vereinigt und im Namen des Prinzen Carneval die Stadt besetzt hat. Sie zählt über tausend alte und junge Burschen, alle fröhlichen Geistes und harmlosen Herzens, deren Officiercorps das Comité bildet. Die Musterungen finden an den Narrenabenden statt und als Uniform genügt die Narrenkappe. Das berühmte Leipziger Schützenhaus enthält den Exercirsaal, wo die Garde, in langen Reihen aufgepflanzt treulich dem Dienste obliegt und dazu Bier trinkt.
Der erste diesjährige Narrenabend fiel noch in die Neujahrsmesse, und dieser Umstand gab einer Menge von Meßfremden Gelegenheit, sich dem fröhlichen Treiben anzuschließen. Sie haben wacker mitgeholfen bei der Huldigung des Narrenprinzen, und man muß sagen, daß ihnen das Zeug dazu wahrlich nicht fehlte. Wurden doch sogar verschiedene dieser Fremdlinge feierlichst decorirt. Wir selbst waren gegenwärtig, als eine Gesandtschaft des Prinzen, in die wunderlichsten Uniformen und Gewänder gekleidet – der Kriegsminister trug Wasserstiefeln – eine Anzahl Auserwählte mit dem Orden „des grünen Affen mit gekreuzten Kugelspritzen und Sauerkraut“ und des „wahnsinnigen Frosches mit der wasserdichten Schleife“ schmückte.
Die Gruppe, welche unsere Abbildung darstellt – wer möchte sie verkennen? Sie ist eine Schöpfung von Künstlerhand, gleich dem Liede ohne Worte, und vergegenwärtigt den Moment, wo das Auditorium dem weisen Unverstande eines großen Redners lauscht, der in einer zur Sprechbühne vorgerichteten Biertonne erwartet, ob ihn rauschender Beifall überströmen, oder die sich langsam niedersenkende Nebelkappe verhüllen und belehren wird, daß er „Blech“ gesprochen hat. Weiter dürfen wir den Vorhang nicht lüften! In der ganzen großen weiten Welt wird die Gartenlaube Leute finden, welchen aus unserer Narrenabend-Gruppe liebe, befreundete Gesichter entgegenschauen.
Und so möge denn Prinz Carneval der Vierte mit seinem reichen Hofstaate bei uns einziehen und auf der Zinne seiner so reizend gelegenen Residenz, des Hôtel de Prusse, das Banner der Narrheit flattern lassen – man wird ihn mit offenen Armen aufnehmen. Bei aller Lust und Fröhlichkeit mag man aber auch nicht vergessen, daß die großartige Schöpfung des Leipziger Carnevals den warmen Herzen einer bescheidenen Künstlergruppe entsprang, daß der Klapperkasten das Kindlein groß zog und dasselbe zu seinem Urgroßvater Niemand anders hat als – den Palmenesel der lustigen Augustinermönche im Kloster zu Sanct Thomas!
Aus eigener Kraft.
„Gnädige Frau,“ tönte die Stimme eines Dienstmädchens, „der Herr Candidat schickt mich, der junge Herr sind so krank, – ob Sie nicht aufstehen möchten?“
„Alfred, barmherziger Gott!“ rief Adelheid. „Ja, ich komme gleich, gleich!“
Wäre nur erst das verwünschte Diadem herunter gewesen; sollte es an ihr hängen bleiben und die Schande dieser Stunde verrathen? Wie eine ätzende Flüssigkeit hatte sich der Ruf, daß Alfred krank sei, über Silber, Gold und Steine ergossen und Alles geschwärzt, was eben noch so hell geglänzt. Erschrocken flüchteten sich die Dämonen des Dumas’schen Romans in ihre Blätter zurück; das Diadem ward mit sammt den Haaren herausgerissen, da es nicht gutwillig ging, und verächtlich, als sei es plötzlich zu Blei verwandelt, in sein Behältniß zurückgeschleudert. Der nächtige Traum mit seiner Farbenpracht war zerronnen, und aufgewacht war ein zärtliches, zuckendes Mutterherz. Kaum wissend, was sie that, wand Adelheid ihre Haare mit beiden Händen in einem dickem Strange um den Kopf und zog ein weißes Häubchen darüber. Ihren [111] Anblick im Spiegel vermied sie, wie wir das Antlitz eines Menschen vermeiden, vor dem wir uns schämen, und sie schämte sich vor sich selbst, sie mochte sich jetzt nicht in die Augen sehen.
Noch eine Secunde und sie war in ein schlichtes Morgenkleid gehüllt und eilte die Treppe hinunter in Alfred’s Zimmer. Da lag der Knabe im heftigsten Fieber mit verschleierten entzündeten Augen und brennenden Wangen, und der immer geduldige Wächter, der Candidat, stand an seinem Bette. „Mein Kind, mein Kind,“ schrie Adelheid, „was ist Dir?“
„Er hat die ganze Nacht schon Hals- und Kopfschmerzen gehabt und mich leider nicht geweckt,“ sagte der Candidat. „Als ich vorhin aufstand, fand ich ihn im Bette sitzend und kaum im Stande, mich um einen Tropfen Wasser zu bitten, so ausgetrocknet und verschwollen war ihm der Gaumen. Ich schaffte sogleich warmes Zuckerwasser herbei und seitdem kann er doch wieder sprechen. Dann schickte ich zum Doctor und zu Ihnen, gnädige Frau.“
„Mütterchen!“ stammelte Alfred aus seinem Fieber heraus und griff nach ihrer Hand.
„Kind, Herzenskind!“ rief Adelheid und drückte den Knaben an sich. „Warum hast Du denn so lange gezögert, Herrn Feldheim zu wecken, wenn Du doch schon die ganze Nacht Schmerzen hattest?“
„Weil ich wußte, daß er dann Dich wecken würde, wie Du es immer befohlen, und das wollte ich nicht,“ sprach Alfred mit schwerer Zunge. „Du bist gestern spät zu Bette gekommen; ich hörte Dich bis nach Mitternacht über meinem Zimmer auf und nieder gehen, und da wollte ich Dich ruhig ausschlafen lassen.“
Adelheid stand da wie vernichtet. Eine ganze endlose Nacht hatte das Kind seine Schmerzen überwunden, um den vermeintlichen Schlaf der Mutter nicht zu stören, und während ihr Kind in Fiebergluth Stunde um Stunde vergebens nach einem Tropfen Wasser lechzte, hatte sie an ihren Geliebten geschrieben, und als die Noth des armen Kindes auf’s Höchste stieg, sich Diamanten in das Haar gewunden, und während er den kindlichen Angstschrei nach der Mutter mit männlicher Willenskraft aus Schonung für sie unterdrückte, hatte sie den Entschluß gefaßt, ihn für Wochen oder Monde zu verlassen! Vielleicht hing des Knaben Leben von dieser stundenlangen Versäumniß ab, vielleicht kam die Hülfe schon zu spät – dann starb das Kind aus liebevoller Rücksicht für die Ruhe der Mutter, für die Ruhe, die sie Träumen der Sünde geopfert! Stumm, keines Wortes mächtig, sank sie vor dem Bette nieder und barg das Gesicht in Alfred’s Kissen, während es nur in ihrer Seele rang und flehte: „Nicht diese Strafe, Gott, nicht diese Strafe!“ Und sie war nicht mehr die schönste Frau und die Geliebte des glänzendsten Cavaliers; sie war nichts mehr als eine Mutter, eine geängstigte, zerknirschte Mutter, die in diesem Augenblicke mit dem Opfer all ihrer heißen Liebes- und Glückwünsche das Leben ihres Kindes von Gott erkaufen will.
Der Candidat stand schweigend wie immer dabei und rührte sich nicht, um sie nicht zu stören, denn er fühlte, daß etwas Großes in ihr vorging. Er sah, wie sie kämpfte und litt; er lauschte ihren tiefen Athemzügen; er sah, wie das rasch aufgewundene Haar sich löste und unter der leichten Hülle hervorquoll, und er kehrte den Blick ab und heftete ihn auf das Kind.
Endlich hob Adelheid, immer noch knieend, den Kopf und wandte sich gegen den Candidaten, daß es aussah, als kniete sie vor ihm.
„Herr Feldheim,“ sagte sie leise, „haben Sie mir verziehen, was ich gestern gesprochen?“
„Ich that es gestern schon!“ war die ruhige, fast kalte Antwort.
„Um des Kindes willen – aber nicht um meiner selbst willen. O Herr Feldheim, ich habe schwer gegen Sie gefehlt! In der Angst dieser Stunde fühle ich erst wie schwer, und um der Angst dieser Stunde willen bitte ich Sie, vergeben Sie mir ganz und voll und großmüthig, wie Sie sind!“
Sie nahm seine harte Hand in ihre weichen sammtenen Hände und Thränen glänzten in ihren Augen.
„Gnädige Frau, ich bitte Sie!“ – wehrte der starre Mann ab; es war, als ängstige ihn die Reue der leidenschaftlichen Frau. „Wie mögen Sie um dieser Geringfügigkeit willen ein solches Aufheben machen!“
Adelheid sah ihn erstaunt an; welch ein Ton war das? Ein heimlicher Schmerz durchzuckte sie, eitle Schamröthe überflog ihr Gesicht. Sie wandte sich wieder Alfred zu. „Mein Kind, mein Kind,“ sprach es in ihr, „was brauch’ ich mehr als Dich?“
Da berührte Jemand leise ihre Schulter. Erschrocken sah sie auf; es war ihr Gatte. Kalt erhob sie sich und machte ihm Platz, daß er sich zu Alfred setzen konnte.
„Was ist Dir, mein Sohn, ich höre, Du bist krank?“ fragte der alte Mann und legte seine schwere zitternde Hand auf des Knaben Stirn.
Alfred versuchte zu lächeln.
„O, es ist nichts Besonderes, mein lieber Vater, nicht der Rede werth. Aengstige Dich nicht, mein Herzensväterchen; ich würde es ja sagen, wenn es was Besonderes wäre, ganz gewiß.“
„Gott gebe es!“ sagte der Freiherr beruhigter. „Ich bin so erschrocken, als ich hörte, daß Deine Mutter schon auf ist! Ich finde aber doch, Du bist sehr heiß! Du glühst ja förmlich.“
„Der Herr Candidat hat mich so warm zugedeckt,“ beruhigte ihn Alfred. „Es wird wohl ein Schnupfenfieber werden, das ist Alles – gewiß! Geh’ nur wieder zu Bette, mein Väterchen, thu’s mir zu Liebe, sonst ängstigst Du mich, es ist ja erst fünf Uhr. Ich werde wohl ein paar Tage liegen bleiben müssen; Du weißt ja, ich liege gern im Bette. Da leistest Du mir wieder Gesellschaft und spielst Schach mit mir und erzählst mir aus Deinem Leben, nicht wahr? Besonders aus Deiner Kindheit, das höre ich am allerliebsten. Aber nun geh, lieber Vater; bitte, bitte, geh wieder zur Ruhe!“
„Ich will Dir’s zu Liebe thun, mein Junge,“ sagte der Freiherr, „ich thue Dir ja Alles zu Liebe! Aber nicht wahr, wenn es schlimmer würde, läßt Du mich rufen, liebe Adelheid?“ wandte er sich an seine Frau, die gesenkten Blickes neben ihm stand.
„Gewiß!“ sagte sie, und der Freiherr erhob sich von seinem Stuhle.
„Vater, einen Kuß!“ bat Alfred, und als der alte Herr sich zu ihm niederbeugte, fühlte das Kind, wie rasch und ängstlich sein Athem ging – und wieder lächelte es und nickte und winkte mit der Hand, bis der Vater das Zimmer verlassen, dann fiel es in die Kissen zurück, und es war als ergössen sich die Wogen des Fiebers, die der Knabe durch Willenskraft zurückgehalten, auf’s Neue über ihn. Er schloß die Augen, aber eine Thräne rann langsam unter den gesenkten Wimpern hervor.
„Alfred, Du weinst?“ fragte der Candidat.
„Es würde mir so leid für den Vater thun, wenn ich sterben müßte!“ stammelte er wie im Traume.
„Alfred,“ rief Adelheid, „was sind das für Gedanken!“
„Armer Vater!“ lallte er, als habe er nichts gehört.
„Kind, nur um den Vater klagst Du?“ sprach Adelheid mit sanftem Vorwurf, „und an die Mutter denkst Du nicht?“
„Mutter – Mutter!“ wiederholte Alfred mechanisch, aber er konnte keinen Gedanken mehr fortspinnen, er verfiel in eine Betäubung, die dem Schlummer glich.
Adelheid und der Candidat setzten sich leise nieder. Adelheid schaute starr vor sich hin. „Wohl dir, wohl dir,“ dachte sie, „daß du an deines Kindes Bette sitzest! Wie wäre es, wenn du in der Fremde, von einem rauschenden Feste kommend, die Nachricht von seiner plötzlichen Erkrankung erhieltest und müßtest noch Tag und Nacht in der Todesangst reisen, um zu ihm zu gelangen – und fändest es dann vielleicht – – o wohl dir, daß du an seinem Bette sitzest!“ wiederholte sie mit einem Blicke gen Himmel, den nur Gott sehen sollte. Aber auch der Candidat hatte ihn gesehen. Er war so schön, dieser Blick, so schön wie der einer Madonna, da sie über dem Leichnam des gekreuzigten Sohnes betet! Er sah, daß sie betete, und sein Herz that sich ihr auf im Namen der ewigen Barmherzigkeit!
Da sank ihr Auge wieder nieder und unwillkürlich streifte es das ihr zugewandte Gesicht des Candidaten und wieder verbreitete sich tiefe Röthe über ihre durchsichtige Stirn.
Keines sprach ein Wort, Alfred schien ja zu schlafen. Sie vermieden es einander anzusehen, und in diesem Vermeiden lag ein banges Etwas, das schwül und schwer auf ihnen lastete wie die Fieberhitze, die von dem Lager des Kranken ausströmte.
Da ward der Arzt hereingeführt und bei seinem lauten „Guten Morgen“ fuhr Alfred in die Höhe: „St, der Vater, leise [112] – der Vater hört’s“ – lallte er und verfiel dann wieder in Bewußtlosigkeit.
Der Arzt erklärte nach kurzer Beobachtung das Uebel für nichts anderes als eine heftig auftretende, aber gefahrlose Kinderkrankheit. Da legte Adelheid die Hand auf’s Herz: „Ich danke Dir, mein Gott, diesmal war es nur eine Mahnung, aber ich will sie beherzigen!“
Der Tag, der für die Familie Salten den Schrecken mit Alfred’s Erkrankung brachte, war auch für die Familie Hösli kein so heller Freudentag, wie sie es gehofft. Heiri, der erwartete Sohn, der Erstgeborene, dem die Herzen der Eltern und Großeltern in heißer Liebe entgegenschlugen, Heiri kam nicht ganz als Der zurück, als welchen man ihn erwartet hatte. Er war ein Mensch wie aus einem Stück Eichenholz geschnitten, so festgefügt, so durch und durch tüchtig, dabei der schönste eleganteste Jüngling, der je ein Mutterauge entzückt, und der talentvollste Kopf, der je den Stolz eines Vaters ausmachte, aber er war nicht mehr das, als was er erzogen worden: ein Schweizer. Wie konnte er es auch sein? Herr Hösli war vor einundzwanzig Jahren, als der alte Bürgermeister das Seidengeschäft noch selbst leitete, als schweizerischer Consul nach Brasilien geschickt worden und hatte sich da mit seiner Frau, der Tochter eines in Rio Janeiro etablirten Nordamerikaners, vermählt. Nach seiner Verheirathung vertauschte Hösli, der sich in Brasilien nicht eingewöhnen konnte, sein dortiges Consulat mit dem in New-York.
Heiri wurde, wie alle seine Geschwister, in New-York geboren, aber er als der Aelteste brachte gerade die entscheidendsten Entwickelungsjahre dort zu, denn Hösli behielt das New-Yorker Consulat, bis sein Vater ihm das Geschäft zu übergeben und sich zur Ruhe zu setzen wünschte. Da erst, vor etwa vier Jahren, legte er es nieder und kehrte in die Heimath zurück.
Heiri hatte von je eine Vorliebe für das Bau- und Maschinenfach gezeigt und mit so außerordentlichem Erfolg seine Studien in New-York begonnen, daß Herr Hösli es nicht für rathsam hielt, ihn wieder herauszureißen und mit in die Heimath zu nehmen. Alle Eltern müssen ja ihre Söhne in die Welt, auf Reisen schicken; was war natürlicher, als daß er seinen Heiri da ließ, wo er war und wo er in einem großen befreundeten Geschäftshaus untergebracht werden konnte, wie in Abrahams Schooß. Von dort sollte er dann nach zwei Jahren über England nach der Schweiz zu den Eltern zurückkehren. So kam es auch. Aber in England gefiel es dem jungen Geschäftsmann und Ingenieur so gut, und er hatte dort Gelegenheit so außerordentliche Dinge zu sehen und zu lernen, daß er immer neuen Urlaub von dem Vater zu erbitten wußte, und so war die beabsichtigte Rückkehr über England zu einem zweijährigen Aufenthalt angewachsen. Endlich hatte aber doch Herr Hösli einen Machtspruch gethan und Heiri gehorchte, aber nicht ohne geheimes Widerstreben. Zuvor jedoch hatte er seinen Vater noch zu dem Entschluß gebracht, einen seit Jahren gehegten Plan der Vergrößerung seiner Fabrik in Ausführung zu bringen. „Vater, gieb mir gleich einen großen Wirkungskreis, eine Beschäftigung, die mich nicht zu Athem kommen läßt, sonst thut’s mit mir kein gut in Euren kleinstädtischen und kleinkrämerischen Verhältnissen!“ hatte er seinem Vater geschrieben, und der Vater hatte ihn auf diese Aeußerung hin scharf zurechtgewiesen, aber doch eingewilligt, ihm nach bestandener Prüfung die Umgestaltung der Fabrik zu übertragen.
Herr Hösli ahnte nicht, daß diese eine Aeußerung der Schlüssel zu Heiri’s ganzem Wesen war. In Amerika geboren und erzogen, in England vollends ausgebildet, ward eine gewisse – nicht Großthuerei, dazu war er zu nobel – aber eine gewisse Großlebigkeit in dem Wesen des jungen Mannes entwickelt. Ihm war Amerika die Heimath, die Schweiz aber fremd, er liebte, wie die Jugend stets thut, das Gewaltige in allen Dimensionen, und die schweizer Verhältnisse mußten ihm, mit seinem amerikanischen Maßstabe gemessen, klein und lächerlich erscheinen. Er war mit einem Wort in seinem Benehmen, in allen seinen Anschauungen und Neigungen ein Amerikaner geworden, der in das einfache Schweizerhaus, das den Großeltern zu Liebe seine alt-ehrwürdigen Bräuche mit frommer Pietät einhielt, nicht mehr paßte. Denn einmal wieder im Vaterland, war Herr Hösli auch wieder ganz Schweizer geworden; sein Sohn aber wurde es schwerlich mehr! Nach wenigen Stunden froh bewegten Beisammenseins wußten das die Herren Hösli Vater und Großvater, und ein Schrecken bemächtigte sich der Beiden, als hätten sie in dem, der sich für ihren Sohn und Enkel ausgab, und den sie mit überströmender Zärtlichkeit im Schooß der Heimath aufnehmen wollten, plötzlich einen Fremden erkannt, der die Rolle des echten Sohnes nur spielte, sehr natürlich zwar, sehr liebenswürdig und warm, aber doch nur spielte. „Bei uns in New-York ist das anders“ – war sein drittes Wort bei Allem, was ihm nicht anstand. Die Großeltern, die er ja noch nicht gesehen hatte, behandelte er mit Liebe und Respect, aber mit einer Art von Mitleid. Daß sein Vater und seine Mutter sich so gründlich „eingeschweizert“ hatten, war ihm unbegreiflich und das „Züridütsch“ war eine scheußliche Sprache, die er nie lernen wollte.
Und die Herren Hösli Vater und Großvater sahen sich einander an schweren, umdüsterten Blicks, und das Auge des Alten schien zu sagen: „Siehst Du, es ist gekommen, wie ich es prophezeit – es thut kein gut, solch junges Blut vier Jahre lang in der Fremde zu lassen.“
Herr Hösli der Vater aber stand auf und ging schweigend hinaus. Der Abend dämmerte über dem See, und Herr Hösli trat mit seiner gepreßten Brust an die Balustrade und athmete die bange Sorge vom Herzen herunter in die weite, in die ätherreine Luft hinaus, die kein noch so schmerzlicher Seufzer aus Menschenbrust je beschweren konnte; denn hätte er’s gekonnt, schon längst wären Alle, die da lebten, Glückliche und Unglückliche, erdrückt worden von der ungeheuren Wucht solch einer schmerzverdichteten Atmosphäre!
Und während er so dastand und hinausschaute in die duftige Ferne und der See – der alte traute See – zu seinen Füßen murmelte, der ihn und seine Ahnen und Urahnen von Kindheit auf geschaukelt und getragen wie ein treuer Wärter, da kam auch neue Zuversicht über ihn. „Er wird sich wiederfinden!“ sprach er zu sich selbst und sandte liebend und hoffend den Blick in die Ferne nach den grau verschwimmenden Gebirgen mit ihren weißen Spitzen. Da haftete sein Auge wie trunken an einer Stelle. Was war das? Dort oben auf den höchsten Gipfeln erglühte plötzlich eine Zacke feurig roth. Dunkler und dunkler ward es, und als glimme in den Gletschern ein verborgener Brand, der nur sichtbar würde, nachdem das Tageslicht erloschen, so erleuchtete sich mit der sinkenden Nacht Firn um Firn, als sollten die alten Hüllen von Eis schmelzen an der inneren Gluth. Wie eine Braut, die von dem Kuß des Geliebten träumt, im Schlummer erröthet, so schimmerte purpurn die Erinnerung durch die kristallenen Stirnen der schlummernden Alpen, die flammende Erinnerung an den heißen Kuß des Tages und der dunkle Spiegel des Sees strahlte den rosigen Schein wieder, ruhig, traumversunken.
Das war das Nachglühen der Alpen, das von Millionen, die da kommen, um die Wunder der Schweiz zu schauen, oft nicht Einer gesehen, das kein Schweizer erblickt, ohne daß es ihn selbst auf die Kniee niederzieht.
Und Herr Hösli, der ernste trockene Geschäftsmann, stand wie in Zauber befangen, aus dem zähen stillen Schweizerherzen stiegen wohlthätig warm die Thränen auf.
„Vater, was ist das?“ tönte jetzt plötzlich die Stimme seines Sohnes hinter ihm, und der Mann wandte sich um, zog den Sohn in seinen Armen an das Ufer und deutete hinaus: „Sieh, mein Sohn, das ist Deine Heimath!“ Die sonst so sichere Stimme zitterte ihm, er konnte nicht mehr sagen – er brauchte auch nicht mehr zu sagen! –
Bestätigung. Die Mißhandlung der drei jungen Deutschen in Bologna, von welcher Nr. 1 der diesjährigen Gartenlaube berichtet, wird uns durch eine Zuschrift von Seiten des „Vorstandes des deutschen Hülfsvereins in Basel“ soeben mit dem Zusatze bestätigt, daß die drei
Genannten, Koch, Rinau und Schultz, nachdem sie vom deutschen Hülfsverein in Bern mit Freikarten bis Mannheim und dem nöthigen Reisegeld
versehen worden, am 26. November v. J. außerdem von dem deutschen
Hülfsverein in Basel noch in den Stand gesetzt wurden, ihr Reisegepäck
auf der Post auszulösen. Mit Freuden lesen wir auch in dem Augenblick,
da unser Blatt in die Presse geht, die Mittheilung der Zeitungen, daß es
nunmehr dem Gesandten des Norddeutschen Bundes gelungen ist von der
italienischen Regierung eine Geldentschädigung für die drei Reisenden durchzusetzen.
- ↑ Der Held des gedachten Dramas.
- ↑ Doppelt giebt, wer schnell giebt.
- ↑ Der Schauspieler Ziethen gab damals den Maler, den Helden
im „Bild“. - ↑ Die Antwort des Dichters scheint darauf hinzudeuten, daß der Student seinen Namen bei Zusendung seines Gedichts verschwiegen und die Antwort unter einer Chiffre poste restante erwartet hat, wie er sie denn auch in der That erhielt.
- ↑ Voß war der Verleger der Schriften des Dichters.
- ↑ Der Dichter scheint hier weniger auf die körperlichen, als vielmehr auf die Versfüße des Bruders Studio hinzudeuten.