Die Gartenlaube (1870)/Heft 8
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No. 8. | 1870. |
(Fortsetzung.)
Wochen vergingen dem armen Alfred in Beschwerden aller
Art und lähmten den Schwung seiner Seele auf’s Neue. Der
unglückliche Knabe verfiel in eine an Stumpfheit grenzende
Resignation. Die Krankheit, ein heftiges Scharlachfieber, hatte,
nachdem sie gehoben, eine Augenentzündung zurückgelassen, so daß
Alfred nun beständig mit verbundenen Augen gehen mußte. Der
moralische Anlauf, den seine Mutter in der ersten Angst bei seiner
Erkrankung genommen, wich während der endlos langsamen
Reconvalescenz einer Erschlaffung, die bei solchen schwachen Naturen
unausbleiblich ist, und in einer trüben Abspannung erlosch endlich
die neuentfachte Mutterfreudigkeit. Wohl versuchte sie dieselbe
durch eine verdoppelte, ja übertriebene Sorgfalt zu ersetzen, aber
Alfred empfand es doch und erschreckte Adelheid eines Tages mit
der einfachen Frage: „Nicht wahr, Mütterchen, Du hast’s satt, das
immerwährende Krankenpflegen?“
Warum fiel so etwas dem Knaben nie bei seinem Vater, dem Candidaten oder Tante Lilly ein? Und seine Mutter that doch, was nur möglich war, wich nie von seinem Bette und seiner Seite, ja, sie erlaubte sogar, nachdem jede Ansteckungsgefahr vorüber, daß Aennchen ihn täglich besuchte, die trotz ihrer neun Jahre ein unbedingtes Uebergewicht über den phantastischen, allem wirklichen Leben fremden Knaben gewann, ihm alle möglichen Wunderdinge von der Welt da draußen erzählte und ihn dabei so lieb hatte, daß sie’s keinen Tag aushielt, ohne bei ihm zu sein. Und seit er auch noch die Binde um die Augen trug und sich gar nicht helfen konnte, hatte sie ihn doppelt gern, viel lieber als ihre Brüder, nun that er ihr auch noch so leid! Sie durfte ihn oft im Garten herumführen, das war eine Freude! Sie that es so behutsam, Schrittchen vor Schrittchen, und war gar nicht wild, sondern recht vorsichtig, daß er sich nicht stieß oder stolperte, und strengte sich so an mit Stillsein und Achtgeben, daß ihr ordentlich das kleine Herz dabei schlug.
Ein außerordentliches Ereigniß war es für ihn, als eines Tages Herr und Frau Hösli selbst kamen und den Eltern ihren Sohn Heiri brachten. Das Herz schlug ihm hörbar, als ihn Tante Lilly, die in Aennchens Abwesenheit seine treue Begleiterin war, in das Empfangszimmer holte und er sogleich Frau Hösli’s Stimme erkannte. Man nahm ihm die Binde ab und er sah nun in das helle klare Auge der Frau, die er mit dem ganzen Enthusiasmus einer warmen Kinderseele verehrte. Er konnte vor freudigem Schrecken kein Wort herausbringen. Sein Vater, der neben Frau Hösli saß, sah mit Staunen die Bewegung, die den Knaben ergriff, und faßte ihn in die Arme, als fürchte er, daß ihm in diesem Augenblicke das Herz seines Kindes abtrünnig werde. Doch Alfred schmiegte sich innig an den Vater, und als wolle er einen magnetischen Rapport zwischen den beiden geliebten Menschen herstellen, hielt er in der einen Hand die des Vaters, in der andern die der Frau Hösli, und es that ihm so wohl, daß die Beiden so gut und liebenswürdig mit einander waren, während seine Mutter zu seiner Verwunderung sich fast ausschließlich mit den Herren Hösli Vater und Sohn beschäftigte. Der Knabe konnte nicht ahnen, daß die strenge Aristokratin es, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, bei Männern weniger genau mit dem Standesunterschiede nahm als bei Frauen, namentlich wenn diese Männer so artig wie Herr Hösli Vater und so schön wie Herr Hösli Sohn waren! Und ein herrlicheres Bild blühender Jugend konnte es freilich nicht geben als den jungen Hösli. Wenn sich Apoll in einer muthwilligen Laune in die Kleidung eines eleganten Engländers gesteckt hätte, er würde ungefähr so ausgesehen haben wie Herr Heiri. Und dabei war der Jüngling so ruhig, selbstbewußt und doch von so angemessener bescheidener Haltung. Von dem Vater hatte er das scharfe Profil und die schwarzen Haare, von der Mutter die hellen meerestiefen Augen unter seinen dunkeln Wimpern und Brauen. Fürwahr, es war ein Anblick, der das Herz einer jungen gelangweilten Frau von Adelheid’s Temperament wohl erfreuen konnte. Aber nicht nur mit den Augen des Weibes, auch mit denen einer Mutter betrachtete Adelheid Herrn Heiri. „Wenn dir Gott einen solchen Sohn beschieden hätte,“ sprach es in ihr, „statt dieses armen Kranken, aus dem in seinem Leben nichts werden kann!“ Unwillkürlich stieg in Adelheid der Gedanke auf, daß sie um den Preis ihres Wappens gern mit Frau Hösli tauschen und gern ihren Adel für ein Glück, wie das dieser Frau, hingeben würde. Sie erschrak fast über einen solchen Gedanken; wenn Tante Wika oder Graf Egon eine Ahnung davon hätten!
Und in der That trat auch Wika soeben ein zum größten Schrecken Adelheid’s, die sich nun ganz anders benehmen mußte. Bella erschien nicht, denn sie verrichtete soeben ihre Zwölfuhrandacht. Wika aber hatte sich’s doch nicht versagen können, sich die „Geldsäcke“ wieder einmal anzusehen. Und sie begrüßte mit einem kurzen Kopfnicken die Gesellschaft, schaute mit ihren schlauen Aeuglein bald auf den jungen Hösli, bald auf Adelheid und flüsterte Lilly, die auch einmal etwas sagen wollte, ein zärtliches [114] „Schwatz’ doch nicht immerfort“ zu. Die arme Lilly flüchtete verschüchtert zu Alfred, wo ein- für allemal ihr Platz war, und verhielt sich ruhig, während Wika herablassend erzählte, wie ihre Herzogin – bei der sie einst Hofdame war – eine Vorliebe für Fabriken gehabt habe, und wie sie auf ihren Reisen überall mit der Hoheit die Fabriken habe besuchen müssen, was übrigens ihr – Wika – gar nicht lieb gewesen sei, weil der Geruch der vielen Arbeiter und das Getöse und der Rumor sie ganz nervös gemacht habe.
Herr Hösli erwiderte hierauf lächelnd: „schlimmer als in einem Lazareth, wo sich doch die Damen der Aristokratie wohlthätiger Zwecke halber auch oft aufhielten, werde der Geruch wohl nicht gewesen sein. Und an den Lärm gewöhne man sich wie der Officier an den Donner der Geschütze. Uebrigens sei eine Fabrik auch kein Aufenthalt für Damen, die sich nur mit dem schmücken sollten, was aus dem Schweiß und Brodem einer Fabrik hervorgehe.“
Wika hatte genug für heute und beschloß, sich mit „diesen Leuten“ nicht weiter einzulassen. Frau Hösli aber sagte unbefangen, es habe sie anfangs auch Ueberwindung gekostet, in die Fabrik zu gehen, denn das Getriebe der Maschinen habe ihr immer etwas unbeschreiblich Beängstigendes und sei ihr wie eine Ahnung, daß ihr einmal durch dieselben ein schreckliches Unglück widerfahren müsse. Aber sie habe es doch endlich gewöhnt und gehe öfter hin, um nach den armen Arbeitern und Arbeiterinnen zu sehen.
„War denn Ihr Herr Vater kein Fabrikant?“ fragte Wika spitzig.
„Nein,“ sagte Frau Hösli heiter, „er war ein Colonialwaarenhändler. Das Feuer, das unsere Producte zu Tage fördern mußte, war die Sonne und das Dach unserer Fabrik der blaue Himmel Brasiliens.“
„Das war wohl ein recht angenehmes Geschäft?“ meinte Wika gnädig.
„O, es kann nichts Schöneres geben, als der Erde so unmittelbar ihre Früchte abzugewinnen, die ersten Lebensbedürfnisse der Menschen zu beschaffen und auszusenden in andere Welttheile, wo die Natur spärlicher giebt und die Menschen begierig auf das warten, was wir ihnen von unserem Ueberfluß schicken. Ich mußte wenigstens bei jeder guten Ernte an die armen Leute in Europa denken, wie sie sich freuen werden, wenn Kaffee und Zucker wieder abschlagen und wie ihnen das gut gerathene Product schmecken wird. Ich hatte mehr Vergnügen daran, zu denken, wie die armen Leute in der kalten Stube sich an einer Tasse heißen Kaffee’s erlaben, als wie sich stolze Damen in der Seide spreizen, die mein lieber Mann gesponnen und vielleicht dabei voll Verachtung an den Fabrikanten denken, der aus ihrer Eitelkeit Nutzen zieht.“
„Das wird wohl keine vernünftige Frau thun,“ sagte Adelheid mit herablassender Verbindlichkeit.
„Ich weiß wohl,“ entgegnete Herr Hösli, „man denkt in Deutschland gering vom Kaufmannsstand, weil man den Gelderwerb immer noch mit einer gewissen Verschämtheit betreibt, während man doch auf den Geldbesitz sehr stolz ist. Seltsamer Widerspruch – als ob es eine Schande wäre, zu erwerben, was doch keine Schande ist, zu besitzen! Dem Handelsmann, der noch in Thätigkeit ist, kehrt man in gewissen Kreisen den Rücken, während der reiche Rentier, der sich, Gott weiß wie, ein Vermögen erschwindelt und den Dandy spielt, überall ein gerngesehener Gast ist. ‚Wovon lebt er?‘ – „Von seinen Renten“ – ah, das ist Bürgschaft genug! Ist nun solch ein Mann gar noch ein Ausländer – desto besser! Je weniger man von ihm weiß, desto interessanter ist er. Das putzt den Salon und giebt Gelegenheit mit Sprachkenntnissen zu glänzen. Wie manche vornehme deutsche Familie reist nur in die Schweiz, um auf den so beliebten ‚reichen Engländer‘ zu fahnden, denn wenn sich derselbe auch schließlich als irgend ein einfacher Epicier entpuppt, so deckt wenigstens die große Entfernung die Schande zu, daß man seine Tochter einem Kaufmann zur Frau gegeben. Für die deutsche Verwandt- und Bekanntschaft ist und bleibt er einfach ‚ein reicher Engländer‘! Habe ich nicht Recht, Herr Baron?“ frug Herr Hösli lachend.
„Vollkommen Recht!“ bestätigte der Freiherr.
„Das ist sehr schmeichelhaft für uns!“ bemerkte Wika und wackelte vor Zorn mit dem Kopfe.
„Present company is always excepted,“ sagte Herr Hösli mit einer artigen Verbeugung; „daß ich mir erlaubte, diese kleine Sonderbarkeit der Deutschen in Ihrer Gegenwart zu berühren, mag Ihnen beweisen,[WS 1] wohl wie sehr ich Sie sämmtlich von dieser Sinnesart ausnehme! Es läßt sich ja gar nicht leugnen, daß diese falsche Scham auf einem Zartgefühl beruht, welches die Deutschen vor allen anderen Nationen auszeichnet, auf einer Geringschätzung der materiellen Güter des Lebens. Aber diese Geringschätzung ist eben heutzutage doch nicht mehr am Platze, wo so gewissermaßen alle Menschen bis zu einem gewissen Grade Kaufleute sind.“
„Ah“ – machte Wika, „da wäre ich denn doch begierig!“
„Nun, meine Gnädige, was thut ein Kaufmann? Er läßt gewerbsmäßig für Geld Dinge, in deren Besitz er sich befindet, an Andere ab, nicht wahr?“
„Freilich!“
„Man kann aber auch andere Dinge als Waaren verkaufen und einen nominellen Werth in einen realen umsetzen. Alles, selbst das Höchste und Unschätzbarste, wird mit Geld bezahlt und das Letztere oft gerade am schlechtesten! Der Tagelöhner verkauft seiner Hände Kraft, der Dichter und Künstler die Schöpfung seines Talentes, der Advocat seinen Rath und seine Einsicht, der Richter sein Urtheil, der Gelehrte sein Wissen und der Officier sein Leben oder wenigstens seine geraden Glieder. Wer thut oder giebt etwas umsonst? Sogar der aufopferndste Diener der Menschheit, der Arzt, läßt sich das Menschenleben bezahlen, das er gerettet, auch das, welches er nicht gerettet; ja selbst der Geistliche, der geweihte Diener Gottes, tauscht das göttliche Wort für Geld aus und jeder Segensspruch am Altar oder am Sterbebette hat seine bestimmte Taxe. Wie, und wir Kaufleute sollen uns schämen, für den Fleiß und die Mühe, womit wir die Bedürfnisse der Gesellschaft herbeischaffen müssen, eben auch unsere Entschädigung, unseren Profit zu fordern?“
Eine kleine Pause der Verlegenheit entstand. Herr Hösli wartete einen Augenblick auf Antwort, denn fuhr er ruhig fort: „Sie werden mir im Stillen entgegnen, daß für die Denker, Dichter, Beamten und so weiter das Geld nur Mittel zum Zweck, für den Kaufmann aber Zweck ist. Ich will es anheimgestellt sein lassen, wie viele Dichter um des Geldes willen schaffen, wie viele hochangesehene Geistliche und Beamte ihren Beruf nur als Broderwerb betrachten! Ich sage ganz ehrlich: Ja, wir Kaufleute wollen Geld machen und thun damit nichts anderes, als was in früheren Zeiten die größten Potentaten auf dem Wege der Alchymie versuchten, was heut zu Tage Jeder auf dem Wege vernünftiger Speculation versucht, der erkannt hat, daß Geld Macht und Freiheit in sich schließt! Wer Geld hat, ist unabhängig, ist Herr seiner selbst und seiner Zeit. Ich leugne nicht, daß ich mit Freuden arbeite, um mein Vermögen zu vergrößern, denn, da bei den Bürgerlichen alle Kinder gleich erbberechtigt sind, geht unser Besitz dereinst in vier Theile und ich muß ihn vervierfachen, wenn ich jedes Kind so reich wie uns selbst zurücklassen und meiner Familie auf lange hinaus eine freie unabhängige Stellung sichern will. Sie, Herr Baron, der Sie als Adliger so viel auf Familien-Ehre und Ansehen geben müssen, werden das am besten verstehen. Es ist nur der Unterschied zwischen uns, daß der Adel, um den Glanz der Familie zu erhalten, die jüngeren Nachkommen von der Erbschaft des Hauptvermögens ausschließt, daß wir aber für unsere jüngeren Kinder noch ein Vermögen zu dem bereits vorhandenen erwerben. So haben es die Hösli’s von Alters her gemacht und es existirt Gottlob Keiner mit Namen ‚Hösli‘ in der Schweiz, der nicht auf eigenen Füßen stünde, oder gar dem Glanz und der Ehre unserer Familie Eintrag thäte!“
„Das ist sehr ehrenwerth gedacht, Herr Hösli,“ erwiderte der Freiherr höflich, aber kalt. Er konnte in den, wenn auch boshaften, aber doch immerhin nicht unhöflichen Reden Wika’s keine genügende Veranlassung zu einer so ausführlichen Vertheidigung seines Standes seitens des Herrn Hösli finden. Lilly aber, das enfant terrible, „vor dem man sich doch nie genug in Acht nehmen konnte!“ plauderte, nachdem die Hösli fort waren, dem Freiherrn den Grund aus. Sie hatte mit Wika und Adelheid in der Küche gestanden, als das Mädchen die Karten Hösli’s brachte, und Adelheid hatte gesagt, sie müsse doch erst noch ein wenig Toilette machen. Darauf habe Wika gerufen: „Na, wegen dem Kaufmannsgesindel wirst Du doch keine Umstände machen?“ Da habe ihnen das Mädchen erschrocken abgewinkt, weil die [115] Betreffenden ganz nahe vor der Küchenthür gestanden seien und es gehört haben mußten. Nun war dem Freiherrn alles klar und seine edle Natur empörte sich gegen die Beleidigung, die den ehrenhaften Leuten in seinem Hause widerfahren war. Er stellte Wika scharf zur Rede. Das gab ein paar böse Tage in der Familie Salten! Am schlimmsten war die arme Lilly dran, die sich gar nicht mehr vor den Schwestern sehen lassen durfte, ohne gerupft zu werden wegen ihrer Klatscherei. Das Nachmittagspiket wurde eine gelinde Marter für den Freiherrn und der Candidat wußte kaum, wie er Alfred vor den widerlichen Eindrücken behüten sollte, die solch eine keifende zankende Umgebung auf ein Kindergemüth machen mußte.
Adelheid aber verlor in diesem Leben und Treiben vollends Geduld und Muth. „So hat kein Sterblicher sich je die Wonnen des Paradieses ausgemalt,“ schrieb sie an den Grafen Schorn, „wie ich mir die Wonne denke, im Frieden Deines Herzens auszuruhen von all’ dem ekelerregenden Gezänk meiner Umgebung und all’ der Sorge und Angst um mein dahinsiechendes Kind! O Gott, nur eine Freude, nur eine Stunde der Erholung, wenn ich nicht zusammenbrechen soll! Ich bin ja nur ein schwaches Weib, und was man mich ertragen läßt, wird endlich unerträglich! Wenn ich nicht den Candidaten hätte, der mich aufrecht hält“ – doch halt, was schrieb sie da? Wie konnte man sich so verschreiben! Sie radirte den „Candidaten“ sorgfältig aus und machte „Glauben“ daraus – das paßte auch, das hatte sie auch ursprünglich schreiben wollen! –
Der Freiherr, stets bereit, ein Unrecht wieder gut zu machen, gab den Hösli’s sehr bald mit Adelheid ihren Besuch zurück, und die ruhigen Leute zeigten keinerlei Empfindlichkeit mehr. Herr Hösli hatte allerdings die Aeußerung Wika’s gehört und mit Bezug darauf gesprochen, was er seinem Stande schuldig zu sein glaubte; nun war aber auch genug geschehen und die ganze Sache viel zu gleichgültig, um noch weiter daran zu denken. Herr Hösli namentlich hatte seit Rückkehr seines Sohnes den Kopf voll von Plänen und Geschäften. Heiri hatte einen gewaltigen Dampfkessel neuester Construction aus England mitgebracht. Die Fabrik wurde nun in ungeheurem Maßstabe vergrößert. Der junge Mann war ein Genie in seinem Fache, er hatte die Prüfung über alle Erwartung gut bestanden, er kam als ein Ingenieur ersten Ranges und dabei als ein ausgelernter Kaufmann aus England zurück. Wie hätte einem Vater da nicht das Herz schwellen sollen vor Stolz? Wie sollten nicht alle die kleinen Kümmernisse um des Sohnes entfremdetes Wesen in den Hintergrund treten vor der grenzenlosen Freude über ein Kind so außerordentlicher Art?
Eine ganz neue Aera that sich in dem Leben der Familie auf. Bisher hatte sich Herr Hösli-Pallender mit dem bescheidenen Ruhme, ein streng rechtlicher und geschickter Kaufmann zu sein, begnügt; jetzt aber erfaßte den sonst so ruhigen Mann ein Ehrgeiz, den er nie gekannt: durch seinen Sohn sollte der Name Hösli nicht nur in der Schweiz, nein, in der ganzen industriellen Welt ein epochemachender werden. Das Geldinteresse, die geschäftliche Speculation des einfachen Handelshauses sollte sich plötzlich aufschwingen an der Hand eines schöpferischen Genius! Und dieser Genius war sein Fleisch und Blut, der Erbe seines Namens, der Zögling seiner Schule. „Der Hösli-Pallender hat die größte Fabrik und den tüchtigsten Sohn im Lande!“ so sollte es durch die ganze Schweiz wiederhallen. Kein König war glücklicher als Herr Hösli. Es war ein Ereigniß, welches ganz Zürich beschäftigte, daß der Hösli-Pallender nun doch baute, die halbe „Enge“ ankaufte, um aus den kleinen Häusern ein einziges Riesengebäude zu machen. Es war ein Gewühl und ein Leben in der „Enge“ am See, daß Alfred, der Alles still beobachtete, an den Ameisenhaufen erinnert wurde, den der neuliche Regen aufgerührt. Und er dachte, daß die Thätigkeit solch eines reichen mächtigen Mannes wie ein befruchtender Regen über das Land komme und eine Menge kleiner Geschöpfe aus ihrer stumpfen Gewöhnung aufstöbere und in neue Bewegung setze. Die Handwerker und Krämer, deren Häuser Hösli gekauft, zogen aus mit all ihrem Plunder. Es ward geklopft und gestäubt, Handwägelchen fuhren mit wurmstichigen Bettstellen und dreibeinigen Stühlen hin und her, Männer schleppten den kleineren Hausrath fort, Frauen rafften noch einen oder den andern vergessenen alten Trödelkram zusammen. Es war eine förmliche Auswanderung. Und kaum waren die Einwohner der betreffenden Häuser weggezogen, als auch schon mit dem Niederreißen begonnen wurde und Wolken von Staub sich herüberwälzten, daß die Büsche des hintern Gartenzaunes ganz grau aussahen.
Sommer und Herbst waren zu Ende, und mit Bewunderung sah die Familie Salten, sah ganz Zürich die Mauern des neuen Palastes, denn nur mit einem solchen war die Fabrik zu vergleichen, emporwachsen. Nicht nur aus Zürich, aus Basel und Luzern, aus allen umliegenden Cantonen waren Arbeiter aufgeboten, denn Heiri Hösli mit seinem raschen jugendlichen Blute und sein energischer Vater wollten auf amerikanische Art bauen, also schnell, wie in jenem merkwürdigen Lande, wo Eines das Andere vorwärts treibt, Alles geschieht!
Die alte Fabrik war nur ein Nebenflügel der neuen geworden, die sich jenem mit einem Mittel- und einem dem alten entsprechenden Seitengebäude symmetrisch anschloß. Der hohe prachtvolle Mittelbau trat etwas vor den andern nach der Straße zu vor bis an einen breiten Bach. Dieser sollte die große Turbine in Bewegung setzen, welche in wasserreichen Zeiten ihre Kräfte mit denen des Dampfes vereinen mußte. Hier war auch das Kesselhaus, von wo aus der Generator, der große Dampferzeugungskessel seine treibende Kraft nach allen Seiten der weitläufigen Maschinenräume gleichmäßig ausströmen konnte. Darüber befanden sich die Säle zur Aufbewahrung der fertigen Fabrikate, und unter dem Dache erstreckten sich die Speicher hin, wo Kisten, Kasten und all’ die hunderterlei Utensilien, welche in einem solchen Geschäft nur allein zur Verpackung und Versendung der Waare dienen, untergebracht werden. Unten lagen die Keller mit der Rohseide, gewaltige tiefe Gewölbe, in denen die Seide vollauf die Feuchtigkeit hatte, deren sie bedarf. Obgleich damals noch allgemein die Sitte herrschte, die Dampferzeugungsapparate in das Hauptgebäude zu verlegen, was später gesetzlich verboten wurde, hatten es doch die Hösli’s absichtlich vermieden, unmittelbar über dem Generator Arbeitersäle einzurichten, überhaupt viele Menschen in diesem Theile des Baues zu beschäftigen. Um so belebter und lauter sollte es in den Maschinenhäusern rechts und links werden. Da sollten die Transmissionen keuchen und die Spulen schnurren, die Webstühle klappern und die Winden sausen, und zwischen all’ dem unaufhörlichen Rasen und Tosen mit Gedankenschnelle sich drehender Maschinen hindurch sollten die Stimmen von fleißigen Menschen erschallen und tausend rührige Hände die Arbeit der Maschinen ergänzen und vollenden.
In dem eigentlichen Haupt- und Fabrikgebäude waren die Spinn-, Zwirn- und Webesäle, jeder zu zweihundert Arbeitern zugerichtet, die Ateliers für die Musterzeichner, die Bureaux und die Localitäten für Verpackung und Versendung der Waare. Aber auch die Hintergebäude waren vergrößert, in den ungeheueren Küchen für die Färberei sollten mehr als hundert Arbeiter beschäftigt werden, und endlich kam noch eine Schlosserei, Schreinerei und Schmiede dazu, denn das Steckenpferd des jungen Hösli war eine Maschinenfabrik, in welcher er alle bei der Seiden-Spinnerei und -Weberei erforderlichen Maschinen selbst anfertigen wollte, ein Gedanke, der dem Geschäft einen unberechenbaren Vortheil sicherte. Ein Unternehmen in solch großartigem Maßstabe mußte natürlich in die ganze Züricher Geschäftswelt einen neuen Umschwung bringen, und das Interesse für und wider war ein allgemeines. Neid und Mißgunst traf natürlich nur den Vater, den Besitzer, – aber die ungetheilte Bewunderung Aller sammelte sich auf dem Haupte des Sohnes, der dieses gewaltige Werk entworfen und ausgeführt hatte.
So standen die Hösli’s auf dem Zenith äußern und innern Glückes und bürgerlicher Größe, und wie mit Flammenzügen prägte sich der Alles beobachtenden Seele Alfred’s, der nun längst wieder genesen war, der grelle Contrast zwischen dem zwecklos und eintönig dahinschleichenden Leben der Seinen und der Hochfluth in dem thätigen weitverzweigten Dasein dieser stolzen Bürgerfamilie ein.
„Herr Candidat,“ sagte er einmal zu Feldheim, während sie mit einander am Fenster standen und dem Bau zusahen, „wenn ich je in meinem Leben gesund und gescheidt genug dazu würde, ich würde auch einen Beruf erwählen, ich würde ein Kaufmann oder ein Gelehrter. Nicht wahr?“
„Wenn Du Johanniter werden willst, mein Kind, kannst Du keinen Handel treiben, das verstößt gegen die Satzungen des Ordens!“ erwiderte lächelnd der Candidat.
[116] Alfred stutzte und schwieg einen Augenblick verlegen, dann fragte er: „Warum denn?“
„Weil sich für den Adel kein Beruf schickt, dessen alleiniger Zweck der Gelderwerb ist,“ erklärte Feldheim mit leiser Ironie. „Und was wolltest Du denn mit dem Gelde machen?“
„Ich würde Krankenhäuser errichten für arme Leute! Ich würde es machen wie Herr Hösli, der seinen Arbeitern noch kleine nette gesunde Wohnungen baut, und Alles lobt und segnet ihn dafür. Ist es denn auch eine Schande für einen Johanniter, etwas studirt zu haben? Wenn ich nun Arzt würde? Da könnte ich mir die Mittel verdienen, die ich brauche, um all’ meine Pläne auszuführen.“
„Mein Kind,“ sprach der Candidat, „Du wirst früher oder später erkennen, was ich meine, wenn ich Dir sage, Du brauchst nicht Johanniter zu werden, um die hohe Mission zu erfüllen, zu der Du berufen bist! Doch jeder Mensch muß seinen Jugendtraum haben. Der Deine ist das Ritterthum der Barmherzigkeit, das so ganz Deinem sanften liebeathmenden Wesen angemessen ist, und ich will Dich nicht daraus erwecken!“
„O nein, Herr Candidat,“ bat Alfred mit einem rührenden Blick, „lassen Sie mir diesen Traum, er ist so schön, so erhaben, wie ich ihn im Herzen trage!“
Der Candidat schwieg und betrachtete sinnend den Knaben. Nein, er wollte ihm nicht an den frommen Wahn rühren. War dieser Gedanke des Johanniterthums doch vor der Hand der einzige friedliche Ausgleich, der sich zwischen dem idealen Drang des Knaben und den Standesforderungen seiner Familie finden ließ. Hatte er doch auch den alten Herrn nie so zufrieden gesehen, als da ihm Alfred zum ersten Male seinen Vorsatz, Johanniter zu werden, mittheilte. Da unterbrach Alfred den Lehrer in seinem Nachdenken: „O Herr Feldheim, sehen Sie, jetzt kommt der Kessel!“ Der Candidat trat herzu.
Wenn man solch einem Bau lange zuzusehen Gelegenheit hat, so gewinnt man allmählich ein Interesse dafür, als ob man ihn selbst anfertigte, und jede neue Phase, in die das wachsende Werk tritt, begrüßt man wie ein Ereigniß. Es ist dies mit Allem so, dessen Entwickelung wir beobachten. Es ist die Freude am Werden oder am Werdensehen, die uns unwillkürlich zu Mittheilhabern an jedem vor unseren Augen entstehenden Werke macht, sei dies nun eine Schöpfung der Natur – eine Pflanze, ein Thier, ein Mensch – oder sei es ein Gebild von Menschenhand und Menschengeist.
„Nach dem Genuß, dem höchsten, den es giebt: selbst zu schaffen, kommt doch gleich unmittelbar der Genuß, schaffen zu sehen,“ sagte der Candidat und lehnte sich weit zum Fenster hinaus, um das angekündigte Ereigniß zu verfolgen.
Alfred war voll Spannung. Das war ja der Kessel, von dem ihm Aennchen einmal erzählte, Heiri habe ihn aus England mitgebracht, und er hatte auch noch neuerdings gehört, man lasse einen besondern Heizer aus England dazu kommen. Wie neugierig war er, um das Wunderding zu sehen, aus dem man so viel Wesens machte! Auf einem niedrigen breitspurigen Wagen, von sechs keuchenden Frachtpferden gezogen, schwankte der schwarze Koloß langsam und majestätisch daher, der größte Hochdruckkessel, der bis dahin noch in Zürich gesehen worden. Die Erde erbebte unter den Schlägen der überlasteten Räder, daß der Boden unter Alfred’s und seines Lehrers Füßen zitterte und die Scheiben leise klirrten. In unterbrochenen donnerartigen Stößen kam es grollend näher und näher, feierlich, ungeheuer, wie eine gefesselte Naturkraft, die in ihrem Schooße lauerndes Verderben birgt. So erschien es Alfred’s erregter banger Phantasie. Aber die Leute da unten betrachteten es anders. Die ganze „Enge“ wimmelte von Zuschauern, ein dichter Schwarm zog jauchzend vor und neben dem Wagen her. Es war, wie wenn die Kinder Israels das goldene Kalb umtanzten. Und doch war dies etwas anderes, denn das goldene Kalb war nichts als ein leerer Begriff, das eiserne Monstrum aber sollte der Wohlthäter vieler Hundert armer Arbeiter werden, die auf Beschäftigung in der neuen Fabrik warteten. Es war kein todtes starres Götzenbild, es war das riesenhafte eiserne Herz eines gigantischen eisernen Fabrikkörpers, ein Herz, das glühen, überströmen, springen konnte, wie ein ungestümes volles Menschenherz und das seine Gluth mächtig pulsirend durch metallene Adern trieb, und damit einen Organismus in Thätigkeit setzte, dessen Brüste, denen einer Isis gleich, Schaaren hungernder Wesen Nahrung boten. Wohl hatten sie Recht, die Massen, welche das Wunder umkreisten, von dem sie so viel hofften, sie brauchten nicht darüber, wie die Kinder Israels, ihres wahren Gottes zu vergessen, sie konnten ihn auch in dieser Schöpfung von Menschenhand erkennen, wenn sie es nur recht verstanden. War doch der Geist, der das gewaltige Werk ersonnen, auch ein Ausfluß des ewigen Geistes, der da waltet und wirkt im Kleinsten wie im Größten und die Menschheit lehrt, aus den rohen Kräften sich Waffen zu schmieden nicht nur im Kampfe um das Dasein, auch im Kampfe um die ewige Schönheit dieses Daseins.
Der Wagen hielt vor der breiten Brücke an, die über den Bach zum Eingang führte. Wie ein Feldherr mit seinem Adjutanten standen Herr Hösli und sein Sohn auf dem Gerüst, um das Abladen zu überwachen. Eine lautlose Stille trat jetzt ein, nur von den Commandorufen der Ingenieure unterbrochen, da die ungeheuren Winden und Hebel in Bewegung gesetzt wurden, um den regungslosen Koloß von der Stelle zu bringen, als fühle Jeder die Verantwortlichkeit einer Operation, wo ein solches Herz in einen solchen Leib gesetzt wurde!
Es war vorüber, die dampfenden Pferde rasselten mit dem leeren Wagen von dannen. Die Höslis waren dem Kessel in das Innere des Baues gefolgt und die Menge zerstreute sich schwatzend und aufgeregt.
Alfred wischte sich den Schweiß von der Stirn: „Mir ist, als hätte ich mitgearbeitet,“ sagte er aufathmend und sah den Candidaten an, ob es ihm nicht auch so gehe. „Was habe ich für eine Angst ausgestanden!“
„Gott gebe seinen Segen!“ sprach Feldheim ernst. „Es ist ein großes Ding, wenn Feuer und Wasser so eng zusammengejocht sind! Gott gebe seinen Segen!“
Eine ansehnliche Schaar von Männern aus den denkwürdigen Jahren, welche der Erhebung Deutschlands gegen die Fremdherrschaft vorausgingen, ist es, um deren Persönlichkeiten die Romantik, eine wilde Poesie und eine oft wehmüthige Erinnerung ihren hellen oder sanften Schimmer ziehen, so daß die Gestalten sich leuchtend abheben von dem dunkeln Hintergrunde voll Hoffnungslosigkeit und Kleinmuth, Eigennutz und Servilismus gegen den gewaltigen Eroberer Napoleon. Unter diesen prächtigen Gestalten ist Friedrich Wilhelm, Herzog von Braunschweig, nach der schlesischen Herrschaft, welche ihm zum Erbe geworden, Braunschweig-Oels genannt, eine der hervorragendsten. Zweimal hatte den neunzehnjährigen Jüngling die feindliche Kugel hart begrüßt, als er unter preußischen Fahnen gegen die Franzosen focht. Am schrecklichen Tage von Jena sah er seinen Vater, den einst gefeierten Führer Karl Ferdinand, tödtlich verwundet aus dem Gefecht schleppen, als „armen, blinden Mann“, wie Ferdinand von sich selbst sagte.
Wir Alle, Diejenigen sowohl, welche heute noch als lebende Zeugen jener großen Tage unter uns weilen, als auch die Generation, deren Angehörige nur aus den Berichten der Väter, den Ueberlieferungen in Schrift und Bild Personen und Ereignisse der Franzosenzeit kennen gelernt haben, wir Alle haben oft genug das Bildniß des berühmten „schwarzen Herzogs“ mit der Beutelmütze, dem blauen Rande und dem Todtenkopfe davor betrachtet. Diese Farbe der Trauer, in welche der wackere Herzog sich hüllte, war die Livrée des herben Kummers geworden, den er seit dem Jahre 1806 erlitten hatte. Als Blücher die Trümmer der geschlagenen Armee nach Lübeck führte, befand der Herzog sich unter diesen kämpfenden Flüchtlingen. Sie geriethen Alle in französische
[117][118] Gefangenschaft. Der Friede von Tilsit gab ihm eine in gewissem Sinne bedauerliche Freiheit wieder. Er war ein entthronter Fürstensohn; die älteren Brüder hatten ihm, dem vierten Sohne des Herzogs Ferdinand, die Herrschaft abgetreten, aber Napoleon’s Machtspruch befahl: das Haus Braunschweig aus der Reihe der regierenden Mächte zu streichen. Der Erbe des Landes lebte still und einsam in Bruchsal an der Seite einer innig geliebten Gattin, Marie, Prinzessin von Baden, glückliche Tage in schöner Häuslichkeit dahin. War der Verlust des Herzogthums schon eine schwere Prüfung gewesen, so legte das Schicksal ihm noch eine, vielleicht herbere auf. Seine Gattin starb nach vierjähriger Ehe, im sechsundzwanzigsten Lebensjahre.
Der Herzog beugte sein Haupt unter diesem gewaltigen Drucke, den das feindselige Geschick auf ihn ausübte, er hob es wieder kühn empor, als im Jahre 1809 mit dem erwachenden Frühling auch wieder ein Ruf nach Freiheit durch Deutschlands Gauen sich fortpflanzte bis hin zu den Tiroler Bergen, bis nach Wien, von wo dieses Mal die Rettung kommen sollte. Der Herzog verließ seine stille Wohnung, sein Tusculum, in welchem er mit der allzufrüh Dahingeschiedenen so glückliche Tage verlebt hatte. Er sah im Geiste, mit jener schwärmerischen Phantasie, welche die Vorläufer des großen Kampfes zu den gewagtesten Unternehmungen gegen den gewaltigen Kaiser trieb, die Heere Rußlands und Preußens mit denen Oesterreichs vereint, die stolzen Fahnen flattern, die Reihen des mächtigen Franzosenheeres wanken und sinken vor dem Angriffe begeisterter Kämpfer für Deutschlands Freiheit. In diesem Feldzuge, den er als nahe bevorstehend glaubte, eine selbstständige Führung übernehmen, ohne einen weiteren Befehl Höherer sich in die Reihen der Feinde stürzen zu können, seiner gerechten Sache freien Lauf lassend, den ihm entrissenen Thron wieder zu erobern – das war es, was den Herzog begeisterte. In seine dunkle, seitdem historisch gewordene Tracht gekleidet erschien er in dem kleinen Städtchen Nachod. Die kaiserliche Vollmacht zur Werbung einer Freischaar ward entfaltet und der Herzog glaubte, der Tag der Freiheit, der Erhebung sei schon gekommen, aber es dämmerte nur fern am Horizonte der goldene Morgen. Es zeigte sich, daß die große Menge des Volkes noch nicht von den Bestrebungen, die Freiheit erringen zu wollen, ergriffen war, denn wenn der Herzog auch fast Ueberfluß an Officieren fand, welche ihm ihre Dienste anboten, so fehlte doch der gemeine Mann und die endlich mühsam zusammengebrachten Truppen bildeten ein buntes Gemisch von Preußen, Sachsen, Braunschweigern, selbst Tiroler Gebirgsschützen.
Der Herzog wendete sich nach Sachsen. Die Operationen erlitten sogleich eine Stockung. Freilich waren zehntausend Oesterreicher vorhanden, welche mit der schwarzen Schaar gemeinsam agiren sollten, aber ihre Unterstützung war eine nachlässige. Der Name ihres Commandeurs war schon Unglück verheißend. Es war der General Am Ende, welcher die Hülfstruppen befehligte. Das Erscheinen des österreichischen Generals Kienmayer ließ zwar den Herzog eine Besserung dieser schlimmen Lage hoffen, fast wäre die Gefangennahme des Königs von Westphalen, Jérome’s, zu Schleiz gelungen, aber da brauste auf den Schwingen des Unheils die Nachricht von einer großen, verlorenen Schlacht heran: „Wagram!“ erscholl es. Napoleon hatte gesiegt. Zum zweiten Male zieht er als Sieger in die kaiserliche Hauptstadt Wien. Oesterreich ist überwunden und der „Schwarze Herzog“ mit seinen Getreuen verlassen.
Die Mannhaftigkeit des Braunschweigers ward nicht erschüttert; aber er hielt es für seine Pflicht, den ihm untergebenen Leuten freie Wahl bei so bedenklicher Lage zu lassen, und stellte Jedem anheim, zu bleiben oder zu gehen. Der übermüthige Feind behandelte die Angehörigen des herzoglichen Freicorps wie Räuber. Was aber die Franzosen nicht ausführen konnten, dazu gaben sich, es ist schrecklich genug, Deutsche her. Der sächsische Oberst Thielmann hatte bereits, ohne sich an die durch den Herzog angedrohten Repressalien zu kehren, verschiedene Gefangene erschießen lassen.
Am Hofe Jérome’s nannte man die Freischaar des Herzogs „die schwarze Räuberbande des Braunschweigers“. Sämmtliche Mannschaften waren also schwer bedroht. – In dieser furchtbaren Lage tauchte in der weiten Ferne eine Art von Fata Morgana auf. Ein Gerücht ließ die Engländer an den Küsten des Meeres gelandet sein. Der Herzog beschloß, den Gelandeten die Hand zu reichen und durch zwei Officiere erforschen zu lassen, an welchem Punkte die Bundesgenossen ihren Fuß auf das deutsche Land gesetzt hätten. Diese beiden Officiere waren Oberst von Dörnberg und Capitain von Oppen. Sie kehrten bald genug mit der Nachricht zurück, daß von einer Landung der Engländer gar nicht mehr die Rede sein könne. Also „die Waffen auf, die Fahnen frei zum Flattern“ und im gefährlichen Marsche gegen die Elb- und Wesermündungen. Während des Marsches zeigen sich Symptome drohender Art. Die Mannschaften werden durch feige und böswillige Einflüsterungen wankend gemacht. Erst das entschiedene Auftreten des Herzogs sichtet die Braven von den Feiglingen. Die Schaar der muthigen Männer, welche treu bei ihm ausharren werden, hat sich bedeutend verringert. Als in Altenburg der Herzog seine Leute mustert, kann er noch über tausendvierhundert Mann Infanterie mit vier Geschützen und über sechshundert Mann Cavallerie verfügen; mit dieser kleinen Macht soll eine Marschroute von sechszig Meilen, welche mitten durch Angriffe, Tod und Verderben läuft, zurückgelegt werden. Die Sonne schießt Feuerpfeile herab, der Staub und der Wassermangel ermatten die braven Schwarzen und auf dem Wege von Borna nach Leipzig erleidet das Jägercorps noch einen Verlust von neunzehn Mann durch feindlichen Ueberfall. Schrecklich, entsetzlich: die Feinde sind Deutsche! Es sind sächsische Reiter, welche diese kleine Heldenschaar aus dem Hinterhalte her anfallen; sie sind nicht nur gefährliche Feinde der eigenen Brüder, sie sind auch grausame Peiniger, sie mißhandeln selbst die Verwundeten.
Oberst Thielmann verfolgt den Herzog und seine Schaar bis Lauchstädt. Hier, an den Grenzen des damaligen Königreiches Westphalen blieb er stehen. In Halle bereitete die Studentenschaft den Schwarzen einen begeisterten und begeisternden Empfang, der für die durch Deutsche erlittene Unbill reichlich entschädigte, und am 27. und 28. Juli setzte der Herzog seinen Marsch über Hettstedt fort; er traf am 29. Juli Vormittags in Quedlinburg ein und ließ seine Schaar auf dem Kleerse Halt machen.
Während die Schwarzen hier von den Bürgern festlich bewirthet wurden, erfuhr der Herzog durch vorausgesendete Flankeure, daß der Oberst Graf von Wellingerode mit dem fünften dreitausend Mann starken Infanterie-Regimente, auf dem Marsche nach der Weser begriffen, Halberstadt besetzt habe und dort die Nacht zu verbleiben gedenke. Diese Truppen waren Westphälinger. Der Herzog war nicht im Stande die Stadt zu umgehen, ebensowenig konnte er es riskiren, die Feinde unangegriffen zu lassen. Bei der Uebermacht Wellingerodes lief er Gefahr, eingeschlossen, niedergemetzelt oder gefangen zu werden. Er mußte angreifen und den Feind zurück oder auseinander werfen. Dies zur Abwehr vieler Behauptungen, daß der Herzog nur eine kühne That, eine Art abenteuerlichen Streiches habe vollbringen wollen, als er den Angriff auf die Stadt beschloß.
In Halberstadt war man so wenig auf kriegerische Ereignisse vorbereitet, daß noch am Nachmittag um vier Uhr die Bürger unbesorgt ihre Spaziergänge machten, als plötzlich von den Spiegelsbergen aus sich ein seltsames Phänomen zeigte. Es erschienen nämlich in der Nähe des Dorfes Harsleben lange Züge schwarzer Männer zu Roß und zu Fuß, welche sehr schnell gegen die Stadt vorrückten und bald darauf Geschützfeuer gegen Halberstadt abgaben. Sofort ließ Wellingerode in der Stadt Alarm schlagen. Das westphälische Regiment, welches auf dem Domplatze seine Quartierbillets empfangen hatte, war zum Theil schon versammelt, als die Nachricht vom Anrücken der Braunschweiger eintraf.
Augenzeugen berichten, daß diese deutschen Truppen eine kaum geahnte Kampflust an den Tag legten, als es galt, sich mit Deutschen zu messen. Dessenungeachtet war den vom Feinde eingesetzten Behörden namentlich nicht wohl zu Muthe, und vor allen Anderen fürchteten die in Halberstadt stationirten Gensd’armen den Sieg der Schwarzen. Wellingerode hielt es für angemessen, dem Feinde einige Compagnieen entgegenzusenden. Da man nicht wußte, wann und wo das Gefecht beginnen werde, hatten sich noch Viele sorglos in den Straßen umhergetummelt, Andere waren auf die Kirchthürme gestiegen – aber plötzlich krachte es furchtbar und eine Kartätschkugel fegte durch die Gassen. Die von Wellingerode ausgesendeten Compagnieen waren mit den Schwarzen handgemein geworden und Herzog Wilhelm hatte die Feinde sofort mit Kartätschen empfangen.
Die Westphälinger zogen sich eilig in die Stadt zurück, die Thore, vor denen der Feind sich zeigte, wurden verrammelt. [119] Das Breite, Harsleber und Kühlinger Thor lagen den Angriffen der Schwarzen gegenüber, aber auch die entfernt liegenden Thore wurden besetzt. Da Halberstadt eine alte Ringmauer mit Brustwehr, sowie verschiedene Mauerthürme besitzt – Befestigung aus dem sechszehnten Jahrhundert – so blieb es immerhin für die Schwarzen eine gefährliche Aufgabe, die Stadt zu stürmen, welche durch eine doppelt so starke Schaar, als der Angreifer in’s Feld stellen konnte, und durch Mauerwerk vertheidigt und geschützt wurde. Aber unter dem Jubelruf der Mannschaften eröffnete Major Korfes den Angriff auf das Kühlinger Thor. Die zweite Colonne führte der Herzog in Person gegen das Harsleber Thor, mit hochgeschwungenem Säbel den anstürmenden Soldaten das Ziel des Tages weisend, ritt er kühn dem Feuer entgegen, welches von den Mauern auf die Schwarzen nieder knatterte. Herzog Wilhelm ließ zu gleicher Zeit zwei Compagnieen unter Capitain Rabiel gegen das Johannisthor vorgehen. Alle diese Colonnen wurden durch Züge von Uhlanen und Husaren unterstützt. Das Feuer ward von beiden Seiten immer heftiger, und die Schwarzen hatten hier offenbar den Vortheil, welchen das Geschütz gewährt, denn die fortwährend durch die Gassen zischenden Granaten hielten den Feind in Athem und Respect. Gleichwohl that Wellingerode vollkommen seine Schuldigkeit. Er war an allen Orten fast zugleich, und trotz des heftigen Feuers der Angreifer gelang es diesen nicht ein Thor zu sprengen. Man schoß sich an und vor den Thoren hin und her.
Leider floß viel deutsches Blut auf beiden Seiten, Verwundete und Todte lagen genug umher. Die Schatten der Nacht stiegen herauf – fast kein Mann der angreifenden Colonne ist unverwundet, das Geschütz wird nur noch matt bedient. Die beiden ersten Officiere des Schützencorps sind schwer verwundet, ebenso die Lieutenants von Döbell und Faber. Der Muth beginnt in Verzweiflung umzuschlagen – da gelingt es Major Korfes, dem das Pferd unter dem Leibe erschossen wird, durch einen glücklichen Schuß das Kühlinger Thor zu sprengen. Als es aufkracht, steigen die Jäger in die Lücke; fast zu gleicher Zeit hat Rabiel das Johannisthor gesprengt; von zwei Seiten dringen die Schwarzen vor, Geschrei, Feuer aus den Häusern, das Krachen der Granaten und die wilden Rufe der Hörner, das Alles rast durch die bisher so friedliche Stadt, auf dem Markte hinter dem Rathhause vereinen sich die beiden Colonnen der stürmenden Braunschweiger. Die Hauptstätte des Kampfes ist die Kühlinger Straße. Wellingerode hat auf dem Fisch- und Holzmarkte die Westphälinger in starken Trupps postirt, sie schießen rottenweise. Hier ist es, wo der Herzog, hoch zu Rosse, die Seinen auf’s Neue anfeuert. Die Reiterei jagt durch die Straßen, das Handgemenge wüthet, es ist fast chaotisch, denn schon beginnt die Dunkelheit Alles mit ihrem Mantel zu umgeben, nur das Aufblitzen der Schüsse zeigt, wo Freund und Feind steht, aber die Feuernden sind kaum noch zu erkennen. Die Reservetruppen Wellingerodes am Rathskeller waren, einige Hundert Mann stark, mit den Reitern des Herzogs stark im Gefecht geblieben, als sie endlich, da ihnen jede Unterstützung ausblieb, die Waffen streckten.
Von diesem Augenblicke an war die Straße ganz in den Händen der Schwarzen. Man drang in die Häuser, aus denen geschossen wurde, und es ist dann freilich hier manche Gewaltthat verübt worden, beklagenswerth, aber wohl zu entschuldigen, vielleicht gerade deshalb, weil die erbitterten Braunschweiger ihre Feinde als Deutsche erkannten, welche aus dem Hinterhalt auf sie Feuer gaben.
Ein sehr heftiger Kampf fand am Ausgange der Schmiedestraße statt. Hier mußte der Major Korfes erst durch Haubitzenfeuer die Westphälinger verscheuchen, die sich am Domplatze wieder stellten. Sie wurden jedoch auch von dort verjagt und streckten am Burchardithore die Waffen. Ehe dies geschah, brachten die Husaren unter Major von Schrader den Oberst von Wellingerode und den Stadtcommandanten Stockmayer als Gefangene ein. Die Officiere Brüder von Girrenald hatten Wellingerode, der sich verzweifelt wehrte, aus seinen Leuten herausgerissen. Als die Nacht vollends angebrochen war, erfüllte ein ungeheurer Lärm die Stadt. Die Marktplätze, die Gassen in deren Nähe, die Kirchen waren mit Soldaten aller Art, mit Sterbenden und Todten überfüllt. Wildes Geschrei, das Rollen der Wagen, der Hufschlag der Pferde, leuchtende Wachtfeuer und die Signalhörner, hie und da auch noch Geknatter von Gewehrfeuer bildeten das Nachspiel des blutigen Dramas, das sich in den Straßen der alten Stadt abgespielt hatte. Zwischen all’ diesem Lärmen tönten die Rufe: „Es lebe der Herzog! Es leben die Schwarzen!“ Leider war der Fischmarkt auch der Schauplatz einer grausigen That. Von den wüthenden Schwarzen ergriffen, ward einer jener unglücklichen Gensd’armen herangeschleppt und, da er sich weigerte um „Pardon“ zu bitten, unter schrecklichem Wuthgeheul niedergemetzelt. Aber erst am Morgen soll ein vorübereilender Uhlan dem Stöhnenden den letzten Stoß gegeben und ihn von seinen Qualen befreit haben.
Sehr muthig und einer bessern Sache werth, hatten die am Ausgange des Breiten Weges abgestellten Westphälinger gestritten. Sie hielten sich die ganze Nacht hindurch. Im Rücken das feste Thor hatten sie aus allerlei festen Gegenständen sich eine Barricade gebildet, und es gelang nicht, sie aus dieser Stellung zu vertreiben, obwohl die Schwarzen zwei Geschütze auffuhren. Hier wurden einem Officier der Braunschweiger die Beine schwer verwundet, und ein harmloser Bäckerlehrling büßte sein Leben ein, als er den Kopf auf die Gasse streckte, dem Kampfe zuzuschauen. Als die Westphälinger aus ihrer Verschanzung hervorbrachen, streckte eine Salve der Schwarzen viele von ihnen leblos nieder. Sie wurden jedoch erst am kommenden Morgen dahin gebracht, sich zu ergeben. Gegen sechs Uhr Morgens verstummte das Feuer. Allmählich öffneten sich die Thüren und die entsetzten Bewohner zeigten sich auf den Straßen. Es gab allerdings genug zu thun. Verwundete waren in Massen vorhanden. Nach der ersten Ruhe ging man an die Schätzung der Verluste. Das Regiment Wellingerode’s hatte sechshundert Mann verloren; die Braunschweiger zählten Vierhundert an Todten und Verwundeten. Viele ihrer Officiere lagen auf dem Platze, vierzehn von ihnen waren – zum Theil schwer – verwundet. Von den Gebliebenen gehörten drei der Artillerie an. Zweitausend Mann und achtzig Officiere fielen den Schwarzen als Gefangene in die Hände. Ein kleiner Theil war durch die Ausfallpforte in’s Freie gekommen und hatte diese Gelegenheit ergriffen, um bequem desertiren zu können. Nach dem Einstellen des Feuers und des Kampfes ruhten Sieger und Besiegte friedlich nebeneinander. Die Zahl der Schwarzen war ja viel geringer als die der Feinde, welche sie zu Gefangenen gemacht hatten.
Der dem Kampf folgende Tag war ein Sonntag. Aber alle Glocken schwiegen, die Kirchen waren nur für die Verwundeten geöffnet. Von allen Seiten fuhr man die Todten herbei; viele Lebende, welche sich versteckt hatten, kamen zum Vorschein, und das Volk beschäftigte sich damit, das Gepäck der Westphälinger zu plündern, welches man ihm preisgegeben hatte.
Während dies auf und in den Straßen und Häusern stattfand, spielten auf dem Rathhause sehr erregte Scenen. Besonders schwebte der Maire der Stadt in Gefahr, denn das Gerücht hatte ihn als einen begeisterten Anhänger der Franzosen gebrandmarkt. Es war die nächste Frage: was nun geschehen solle? Der wackere Herzog, der gegen Freund und Feind gleich menschlich verfahren war, mußte sich selbst sagen, daß er mit seiner kleinen Schaar, von Oesterreich verlassen, nicht weiter an große Erfolge denken könne. Er hatte männlich und ritterlich gestritten. Der Sieg gegen die Uebermacht, welche noch obendrein durch Mauern und Häuser gedeckt stand, hatte gezeigt, wie große Kraft diesen kühnen und braven Leuten innewohnte; das war aber auch das einzige Resultat des erbitterten Kampfes. Ein zweites mag vielleicht die Beschämung gewesen sein, welche viele Tausende empfinden mußten, wenn sie sahen, wie das kleine Heldenhäuflein dem Feinde preisgegeben ward, ohne daß sich die anderen Stämme zu seiner Rettung erhoben. Es gingen, wie gewöhnlich nach den Augenblicken des Glückes, allerlei kühne und hochfahrende Gerüchte umher. Man sprach von Angriff auf Kassel, Aufhebung des Königreichs Westphalen durch die Schwarzen; doch die Verständigen unter den Letzteren, an ihrer Spitze der Herzog, wußten, daß diese Pläne nur in den Köpfen der Exaltirten spukten, eine Exaltation, die aber sicherlich in späterer Zeit auch ihr Gutes hatte, denn als die Nation sich erhob, waren dergleichen Exaltirte nothwendig, sie hielten Alles für möglich und Alles durch die deutschen Waffen zu erringen. Gerade das führte sie zum Siege.
Herzog Wilhelm mußte darauf bedacht sein, die Freischaar möglichst glücklich weiter zu führen auf dem gefährlichen Marsche, und nach dem blutigen, siegreichen Tage von Halberstadt zweifelte auch Niemand mehr daran, daß die Schwarzen sich glücklich durchschlagen würden.
[120] Am 30. Juli Nachmittags brach Herzog Wilhelm mit den Seinen von Halberstadt wieder auf. Nach schmerzlichem Abschiede von den Verwundeten marschirte das kleine Heer auf die Braunschweiger Straße. In Wolfenbüttel ward es glänzend empfangen, aber Braunschweig überbot sich selbst an Freudenbezeigungen beim Eintreffen des lange entbehrten Herzogs. Der Donner der Geschütze hatte die Kunde von den Vorgängen in Halberstadt zuerst bekannt gemacht; Alles war mit Recht stolz auf die kleine Heldenschaar, in der ein Geist lebte und wirkte, wie er selten gefunden wird in Reihen von Heeren, welche nach Hunderttausenden zählen.
Die nächste Folge des Sturmes auf Halberstadt war das Treffen bei Oelper. Wieder standen Deutsche Deutschen gegenüber. Der General Reubell commandirte fünftausend Mann. Zu gleicher Zeit rückten Holländer unter Gratien von Erfurt her an. Herzog Wilhelm mußte wieder angreifen, er mußte die Feinde wieder auseinandersprengen, die ihn niederwerfen und fangen wollten, denn Jerome hatte an den Oberst Thielmann geschrieben: „Le Duc d’Oels me doit pas nous échapper.“ Er entwischte aber doch, und selbst Napoleon sagte, als er die Nachricht von dem Treffen bei Oelper erhielt: „C’est un vaillant guerrier, je voudrais bien connaître ce petit héros.“
Die Schicksale der Freischaar hier weiter zu verfolgen und zu beschreiben, verbietet der Raum, auch sind sie im Allgemeinen bekannt genug. Der schwarze Herzog, der sein Land durch die Schlacht bei Leipzig wiedererhalten hatte, regierte zu kurz und unter zu schweren Zeiten, als daß er selbst mit dem besten Willen im Frieden bedeutend hätte wirken können. Ihm war es bestimmt, auf dem Schlachtfelde zu enden. Er fiel am 15. Juni 1815 bei Quatrebras.
Hercules, einer der berühmtesten Heroen der griechischen Fabelwelt, hat die ihm aufgebürdeten zwölf Strafarbeiten mit ziemlicher Leichtigkeit vollbracht. Hätte Eurystheus ihm das Einstudiren eines sogenannten „Ausstattungs-Stückes“ an einem großen Residenztheater als dreizehnte Aufgabe gestellt, wer weiß, ob die Kraft des Ahnherrn der Herakliden sich nicht daran gebrochen hätte.
Von der Mühe und Arbeit unter Anspannung aller Kräfte, von der Menge der Verdrießlichkeiten, des Aergers und wiederum der Langmuth und Geduld, die beim Einstudiren einer „Féerie“, wie das echte Zauber- und Spectakelstück in der Kunstsprache heißt, mit in den Kauf geht, hat die große Mehrheit der Theaterbesucher keine Ahnung. Eine einzige Scene wird oft zwanzig Mal wiederholt, bevor Alles in ihr, nach dem technischen Ausdrucke, „klappt“. Aber auch manche heitere Scene spielt sich bei solchen Proben ab und Manches, wovon des Sängers Höflichkeit zu schweigen hat.
Wir wollen es versuchen, eine solche Theaterprobe anschaulich zu machen, obgleich die minutiöseste Beschreibung hinter der Wirklichkeit immer noch weit zurückbleiben wird. Zuvor geben wir in Kürze ein Verzeichniß derjenigen Personen, die für einen theatralischen Flitterstaat erforderlich sind; wir greifen zu diesem Zwecke aus der Reihe der Berliner Bühnen das Victoria-Theater heraus, und nun höre und staune man, wer und was Alles aus einem einzigen Directionssäckel Gagen und Gehalt bezieht: Dramaturg, Ober-Regisseur, Theater-Arzt, Syndicus, zweiter Regisseur, Cassen-Rendant, Bureau-Vorsteher, Buchhalter, Inspicient, Cassirer, Bibliothekar, Haus-Inspector, Requisiteur, Orchesterdiener, Cassendiener, Theaterdiener, Capellmeister, Concertmeister, Ballet-Dirigent, Orchester-Mitglieder, Souffleur, Haus-Statisten, Logendiener, Decorationsmaler, Farbenreiber, ein Hof-Friseur mit vier Gehülfen, Maschinenmeister, Theatermeister, Schnürmeister, Beleuchtungs-Inspector, Dirigent der elektrischen Apparate, Illuminateure, Schlosser, Klempner, Tischler, Zimmerleute, Asphaltarbeiter, Ober-Garderobier und Garderobiere mit zwanzig Gehülfen und Gehülfinnen, Theater-Feuerwerker, Hülfsarbeiter, Gärtner, Portier, Fegefrau und Nachtwächter.
Dazu kommen: Dramatische Künstler und Künstlerinnen, zweiundzwanzig an der Zahl, der größte Theil dotirt mit bedeutenden Gagen, Chorpersonal, bestehend aus vierzig Mitgliedern, Balletmeister, acht Solotänzerinnen, vierundzwanzig Tänzerinnen vom Corps de Ballet, hundert Figurantinnen und dreißig Ballet-Eleven.
Außer diesen Gagen und Gehältern braucht das Victoria-Theater an Extra-Ausgaben für Zeitungsannoncen, Zetteldruck, Säulen-Anschlag, Beleuchtung etc. täglich vierzig Thaler. Der Selbstherrscher eines solchen kostspieligen Staates muß, wenn er keinen Zaubersäckel hat, bei seinen Stücken die Goethe’schen Worte beherzigen:
„Drum schonet mir an diesem Tag
Prospecte nicht und nicht Maschinen!
Gebraucht das groß’ und kleine Himmelslicht,
Die Sterne dürfet ihr verschwenden,
An Wasser, Feuer, Felsenwänden,
An Thier und Vögeln fehl’ es nicht.“
Glückt es dem Director, sein Stück dem Geschmacke des großen Publicums anzupassen, dann trifft auch ein, daß
„… wie in Hungersnoth um Brod an Bäckerthüren,
Um ein Billet das Volk die Hälse bricht.“
Dann kann er „wegen der großen Kosten“ erhöhte Preise eintreten lassen und die Billethändler machen nebenbei noch brillante Geschäfte.
Wir wollen hier eine Theaterprobe schildern. Was muß aber mit einem Stücke erst Alles geschehen, bevor es zur ersten, der sogenannten Arrangir-Probe gelangt! Versuchen wir dies unsern Lesern einigermaßen klar zu machen. Zuerst geht das vom Dichter der Direction eingereichte Stück durch das Fegefeuer eines Prüfungs-Comité’s; wird es von diesem als schlackenrein befunden, so wandert es zum Rollenschreiber; dann folgt eine Conferenz zwischen Director, Dramaturg, Verfasser und Regisseur wegen Besetzung der einzelnen Partien, darauf Leseprobe unter Vorsitz des Ober-Regisseurs, wobei jeder Schauspieler seine Rolle in geordneter Scenenreihe abliest. Nach der Leseprobe hat sich der Verfasser erst einiger Privat-Scenen zu erfreuen. Er will sich entfernen, doch der zweite Liebhaber hält ihn zurück, zeigt ihm ein Heft und redet ihn an: „Haben Sie diese Rolle für mich geschrieben? Wissen Sie, Herr! daß ich in Anclam den Othello und in Züllichau den Franz Moor gespielt habe? – Und mir eine Rolle von vier Bogen? – Hört mich und dann geht heim,“ declamirt er aus Shakespeare; „mir ist Verräthers Urtheil heut’ gesprochen, und dies giebt mir den Tod.“ Noch einen Blick tiefster Geringschätzung wirft er auf den Dichter, dann geht er mit Heldentritt ab durch die Mitte. Von der andern Seite kommt die niedliche Soubrette und bittet gar süß: „Ach, lieber Herr Doctor, schreiben Sie doch ein Liedchen für meine Rolle. Fräulein Süßmund hat eine große Bravour-Arie und ich gehe musikalisch ganz leer aus.“ Der Dichter verspricht galant dem Wunsche nachzukommen und verschwindet eiligst.
Nach acht Tagen ungefähr legen die Decorationsmaler ihre Skizzen und der Maschinenmeister seine Modelle dem Director vor, der Gardrobier nimmt Maße zu den drei- bis vierhundert neuen Costümen, die Modewaaren-Handlungen senden Proben ihrer Wollen-, Sammet- und Seidenstoffe an die Direction, Gold- und Silbertressen werden herangefahren und die Fingerchen einiger Dutzend Nähterinnen in Bewegung gesetzt. Der Componist arbeitet Tag und Nacht, um liebliche Melodien, rauschende Märsche und sinnenbestrickende Tänze zu erfinden, die Notenschreiber arbeiten sich an den Orchester-Stimmen die Finger wund, durch Aufrufe in den Zeitungen werden achtzig junge und „wohlgebaute“ Mädchen zur Mitwirkung verlangt; es melden sich aber deren wohl tausend. Diese Mädchen werden nun in kleinen Trupps nach dem Theater-Bureau beschieden und einzeln gemustert. Der Dramaturg, ein früherer Arzt, vertritt hierbei die Rolle der „Probirmamsell“. Die erste ist ihm zu klein, die zweite zu groß, die dritte zu jung, die vierte zu alt, die fünfte zu rund, die sechste zu eckig, die siebente endlich hat das Glück, vom Secretär in die Liste der Mitwirkenden aufgenommen zu werden.
Ist nach einigen Wochen das nöthige Contingent herausgefunden, so werden sämmtliche achtzig Mädchen dem Balletmeister als Rohmaterial überliefert, um Figurantinnen daraus zu formen, nebenbei bemerkt, eine der schwierigsten Aufgaben bei der ganzen [121] Unternehmung. Auf dem Malersaal fliegen indeß die Pinsel wie die Schwalben im Frühling, ganze Eimer, gefüllt mit Himmelblau, werden auf der am Boden ausgespannten Leinwand umgeschüttet, und die Farbe mit einem Reisigbesen nach allen Richtungen vertheilt; das heißt in der Kunstsprache „Luft malen“, auch „grundiren“. Bestellte eiserne Walzen kommen aus verschiedenen Fabriken, Modelle aus Darmstadt, wo der Maschinenmeister, einer der ersten seines Fachs, domicilirt; Tischler, Zimmerleute, Klempner und Schlosser hobeln, sägen, löthen und feilen, daß es eine Lust ist für Jeden – der seine Ohren davon fern halten darf. Bei dem Allem ist der Geldschrank der Direction das belebende Princip. – Die ganze Ausstattung eines solchen Stückes kostet gewöhnlich fünfzehn- bis zwanzigtausend Thaler, doch nach den ersten dreißig Vorstellungen ergiebt sich im günstigen Falle schon ein Ueberschuß für die Casse des Directors. Wir sprechen hier speciell von dem Victoria-Theater zu Berlin, welches dort allein in großen Féerien und gewinnbringend nur noch in Hermann Hendrichs’ Gastspielen macht.
Das Wallner-Lebrun-Theater führt dem Publicum Possen und Volksstücke vor, die letzteren oft von wirklich poetischem Werth. Das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater hält sich mehr zu dem leichtblütigen Offenbach; am Woltersdorff-Theater ist die Posse dominirend; Kroll’s Etablissement executirt im Sommer eine recht gute Oper, und im Winter bringt es mit großer Pracht und großen Kosten Weihnachts-Ausstellungen – soweit es die französische Gesandtschaft erlaubt. Die nach Aufhebung der Concessionen neu hinzugekommenen Dutzend-Theater sind als Kunst-Institute noch von keiner besonderen Bedeutung; einzelne zeigen jedoch schon, daß aus ihnen noch Etwas werden kann.
Kommen wir nun endlich zur Theaterprobe! Sämmtliche Leser der Gartenlaube mögen sich vom Herrn Director Cerf als eingeladen betrachten und zwar ganz gegen die Hausordnung, denn nach dieser darf während der Proben kein Uneingeweihter die Räume des Theaters betreten. Es muß sich aber ein Jeder nach seinem Platze hin fühlen, denn in den Proben, mit Ausnahme der Generalprobe, die einer wirklichen Aufführung gleichkommt, ist der Zuschauerraum nicht beleuchtet. Auf der Bühne jedoch bemerkt man einen schwachen Versuch von Nachbildung heiteren Sonnenglanzes, da eine theilweise Costümprobe gleichzeitig in Aussicht steht. Kurz vor Beginn der Probe erscheint auch noch der Präses der Berliner Theaterliteratur in Zettelform, die Säule der dramatischen Kunst in Typen, Herr Ernst Litfaß, und zwar in Begleitung eines tüchtigen Zeichners, der von ihm den Auftrag erhalten hat, nach den prächtigen Costümbildern des Hof-Photographen Herrn Graf ein illustrirtes Riesenplacat anzufertigen, durch welches an einem schönen Morgen der werdenden Weltstadt die freudige Nachricht verkündet werden soll, daß die Feen, Elfen und Gnomen mit ihrem ganzen lustigen Märchengefolge in die Räume des an der Straße der Münzen gelegenen Musentempels eingezogen sind, um dort Abend für Abend wieder ihre lustigen Capriolen zu machen. Und wie der Militärarzt seinem Regiment in die Schlacht folgt, um bei Verwundungen und Erkrankungen gleich hülfreich bei der Hand zu sein, so sehen wir hier den Theater-Agenten mit einem contractgefüllten Besteck, um etwaige durch Krankheit, Caprice oder Unbrauchbarkeit entstehende Lücken im Personal durch neue Engagements sofort wieder aufzufüllen. –
Endlich, nachdem ein Jeder seinen Platz eingenommen, beginnt die Probe.
Der Oberregisseur kommt mit gedankenvoller Miene, das Regiebuch unter dem Arm, die Klingel in der Hand, und setzt sich an einen Tisch neben dem Souffleurkasten; ein zweiter Stuhl ist für den Director gestellt, auch nimmt wohl der Verfasser oder Bearbeiter des gerade zu probirenden Stückes ab und zu diesen Platz ein; der Capellmeister hat sich’s auf dem Dirigirstuhl im Orchester bequem gemacht und plaudert mit dem neben ihm sitzenden Concertmeister, der zugleich ein trefflicher Violinvirtuose ist; der Orchesterdiener legt Noten auf die Pulte für die Musiker; der Decorationsmaler rennt nach vorn und hinten, er taucht unter in die Tiefen der Versenkung, von da schwingt er sich wieder auf zur schwindelnden Höhe des Schnürbodens, überall die Theaterarbeiter zurechtweisend, denn Jeder von diesen hat seine besonderen Taue zu ziehen oder Coulissen zu schieben. Der Balletmeister instruirt ein paar schwer capirende Balleteusen, und belehrt sie, wie sie die Beine zu werfen, was sie für Attitüden, Pirouetten und Entrechats zu machen haben; die Prima-Ballerina sitzt unter altem Gerümpel auf einem Pappthron im tiefsten Hintergrunde der Bühne und überreicht mit vielverheißendem Lächeln dem zu ihren Füßen kauernden Grafen „Confiturini“ den Wunschzettel für ihren in wenigen Tagen eintreffenden Geburtstag (der nämlich alle zwölf Wochen wiederkehrt); und mit prüfenden Blicken mustert der Requisiteur seine „Erfordernisse“, da das Fehlen selbst einer Stecknadel die heilloseste Verwirrung hervorzurufen im Stande wäre. Gegen die Brüstung einer Prosceniumsloge lehnt der Dramaturg und schäkert mit der Soubrette, die dabei ungenirt eine Caviarsemmel verzehrt; forschend blickt der Theaterinspector überall umher, ob sich auch kein Unberufener mit eingeschlichen hat, der die Geheimnisse der Theaterprobe verrathen könnte. Und während der Maschinenmeister schweißtriefend unter dem Podium herumkeucht, die Walzen, Räder und Taue prüfend und den Arbeitern in der Unterwelt gemessene Instructionen ertheilend, fliegen auf der Bühne Coulissen und Setzstücke von und nach allen Seiten, vom Schnürboden herab senkt man Gardinen, die mit Centnergewichten behängt sind, um die bemalte Leinwand immer glatt und straff zu erhalten, Versenkungsklappen öffnen sich, Zaubermöbel steigen auf, so daß die auf dem Theater Stehenden immer nach unten und oben, nach hinten und nach beiden Seiten zugleich ihr Augenmerk richten müssen, wenn sie nicht urplötzlich versinken, einen Wolkenwagen mit einer Fee auf den Kopf oder ein hölzernes Rosengebüsch in die Weichtheile bekommen wollen.
Jetzt kommt der Director, langsam und gemessen wie ein Feldherr überblickt er das Terrain, dann setzt er sich auf seinen Stuhl; der Souffleur, ein intelligenter Mann, der in seiner Jugend die Hörsäle der Universität und den Fechtboden besucht hat, steigt hinab in den Orcus; auf einen Wink des Oberregisseurs läutet der Theaterdiener die große Glocke, die im Garten und durch das ganze Haus erschallt, und in wenigen Minuten ist der Bühnenraum dicht angefüllt mit Menschendarstellern und solchen, die es zu sein vermeinen.
Schmiegen wir uns nun still in die Logenecken und lassen die Leutchen auf der Bühne selbst reden.
Ober-Regisseur (geht mit der gedämpften Klingel auf dem Theater herum): „Die Damen und Herren, die in der ersten Scene nichts zu thun haben, ersuche ich die Bühne zu räumen. – Aber, Herr Seppel, lassen Sie doch jetzt die Farce, aus Ihrem Taschentuch Springemäuschen zu machen. Wir sind ja nicht zum Spaße hier. – Also: Act eins, erste Scene. – Chor! – Was ist denn das da hinten für ein Gesumme? – Fräulein Rosenthal, wollen Sie endlich der Ansicht Raum geben, daß Sie sich hier in keinem Bienenkorbe befinden?! Heran hier! – Stellen Sie sich aber nicht Alle auf einen Haufen wie die Schafe, wenn es blitzt. Breiten Sie sich ein wenig aus; schließen Sie einen Halbkreis!“
Capellmeister (klopft ungeduldig mit dem Dirigirstab auf den Souffleurkasten): „Ich dächte, wir singen an. Um ein Uhr möchte ich zu Trarbach, meinen Mosel trinken, sonst bin ich morgen krank.“
Regisseur: „Vorwärts! – Chorgesang, Nummer eins: Welche Lust –“
Chor (singt): „Welche Lust gewährt das Reißen –“
Regisseur (springt wüthend von seinem Stuhle auf): „Haaalt! – Haben Sie nicht einmal so viel in der Schule gelernt, daß Sie Reisen von Reißen zu unterscheiden verstehn? – Ich wünsche Ihnen nur so einen Rheumatismus, wie ich ihn manchmal habe, damit Sie erkennen lernten, daß das Reißen keine Lust gewährt. – Herr Uhlich, Sie zahlen fünfzehn Silbergroschen Strafe für’s Lachen. – Jetzt sprechen Sie die Worte hübsch so, wie sie in der Rolle stehn. – Bitte, Herr Capellmeister, noch einmal!“
Chor (singt): „Welche Lust gewährt das Reisen –“
Regisseur: „So ist’s gut! – Nach Beendigung des Chors blicken Sie nach rechts und schreien, mit dem Ausdruck des Entsetzens: ‚Zu Hülfe! Die Schlange!‘ Dann fliehen Sie nach links hinüber; von rechts kommt die böse Fee Dämona, in Gestalt einer Schlange. Also –“
Chor (schreit): „Zu Hülfe! Die Schlange!“ (Laufen bunt durcheinander nach links hinüber.)
Regisseur: „Noch einmal zurück! – So mögen die Chordamen wohl um Hülfe schreien, wenn sie geküßt werden; in dem Aufschrei ist nichts von Entsetzen bemerkbar. Blicken Sie auf mich! Das machen Sie so (giebt seinem Gesicht einen entsetzlichen Ausdruck): „Zu Hülfe! Die Schlange!“
[122] (Allgemeines Gelächter.)
Regisseur (streng): „Was lachen Sie?“
Fräulein Rosenthal: „Ach, Herr Regisseur, Sie sehen zu komisch aus!“
Regisseur (ärgerlich): „Na ja, Sie halten das Alles hier für Spaß. (Schreit:) Requisiteur, wo ist denn die Schlange?“
Requisiteur (aus tiefstem Hintergrunde): „Ich leime ihr eben den Kopf an. Die Katze ist wieder dabei gewesen.“
Inspicient (halblaut: „Das ist Kahlbaums Zibethkatze vom Nachbarhofe. Wenn ich die einmal erwische, hat sie ausgemaust.“
Regisseur: „Probiren wir jetzt erst den Aufzug der Königin Furibunda mit ihrem Gefolge. Herr Petermann, ist der Zug gestellt?“
Petermann: „Alles in Reih’ und Glied. Nur Musik, dann marschiren wir los!“
Director: „Aber Sonnenfeld, stehen Sie doch nicht da wie ein Bäckergesell’ mit Ihren schiefen Beinen! Sie sind nicht hier, um Teig zu kneten, sondern einen Reichsgrafen in voller Würde zu repräsentiren. (Zum Orchester:) Worauf warten Sie denn noch?“
Capellmeister: „Die Königin, Fräulein Süßmund, fehlt an der Spitze des Zuges.“
Director: „Wo ist denn Fräulein Süßmund?“
Regisseur: „Fräulein Süßmund, wo sind Sie?“
Inspicient (ruft in die Coulissen): „Fräulein Süßmund!“
Alle: „Fräulein Süßmund!“
Theaterdiener (kommt vorgestürzt): „Herr Director, ich komme eben von dem Fräulein; sie läßt sich krank melden und meint, die nächsten vier Wochen werde sie wohl das Bett hüten müssen.“
Director (in halber Verzweiflung): „Krank? – Da haben wir’s. – Das hat sie sich in der vergangenen Nacht auf dem Corps de Ballet-Ball bei Kroll geholt, wo sie mit dem Banquier Ephraim Potsdamer bis drei Uhr Morgens champagnert hat. Das gehört so mit zu den Annehmlichkeiten des Theaterdirectorthums! – Wo nehmen wir nun gleich eine böse Stiefmutter für Sneewittchen her, von der der Zauberspiegel sagt, sie sei die Schönste im ganzen Land?“
Theater-Agent (aus der Loge): „Dafür lassen Sie mich sorgen. Sie wissen, man nennt mich den Mann, der Alles kann. In vierundzwanzig Stunden haben Sie eine Furibunda, von deren Schönheit der Zauberspiegel nicht lügen soll.“
Director: „Darf ich mich auf Ihr Wort verlassen?“
Theater-Agent (mit Selbstgefühl): „Was ich bisher versprochen, war ich noch immer gewohnt zu halten. Stelle Ihnen zugleich meine Tochter Mila vor.“
Director: „Habe die Ehre! – Nun weiter!“
Regisseur: „Wo sind die Zwerge?“
Sieben kleine Mädchen (kommen angetrippelt): „Hier sind wir, Herr Regisseur!“
Regisseur: „Habt Ihr auch Eure Rollen tüchtig gelernt?“
Die Zwerge: „Der Herr Souffleur hat sie uns einstudirt.“
Regisseur: „Ida, wirst Du heut’ besser aufpassen als gestern?“
Ida (sehr naiv): „Nein.“
Regisseur (aufhorchend): „Nein? – Warum denn nicht?“
Ida: „Meine Mutter sagt, für drei Silbergroschen Gage an jedem Abend wäre das lange gut genug.“
(Große Heiterkeit auf allen Bänken.)
Director: „Rasch nur weiter, daß wir zum Schlusse kommen. Unser Capellmeister lechzt nach Mosel.“
Regisseur: „Sneewittchen, beginnen Sie mit den Worten: ‚Wie nennt Ihr Euch?‘“
Sneewittchen: „Wie nennt Ihr Euch, Ihr kleinen Männer?“
Die Zwerge (nach einander): „Ich bin der Sonntag, ich der Montag, ich der Dienstag, der Mittwoch, der Donnerstag, der Freitag –“
Der kleine Zwerg (sehr gravitätisch): „Und ich bin der Schabbes. Ich vertrete hier gewissermaßen das Judenthum in der Romantik. Sneewittchen, wenn Du kannst Mazze backen und Schalent bereiten, werden wir uns schon vertragen.“
Alle: „Bravo! Bravo!“
Director: „Hier, mein Töchterchen, hast Du einen Silbergroschen. Wenn das Stück zweihundert Mal gegeben ist, und Du hast Deine Rolle allabendlich so gut gespielt wie heute, sollst Du noch einen Silbergroschen haben.“
Capellmeister: „Aber lieber Director, wollen Sie durch solche Verschwendung sich selbst ruiniren?“
Alle lachen. Der Director verläßt in heiterer Stimmung seinen Stuhl, um ein Glas bairisch Bier, durch Selterwasser verdünnt, zu trinken.
Regisseur: „Prinz Artus! – Gehe wir jetzt Ihre Scene im Felsenthal einmal durch. – Also Sie kommen aus der dritten Coulisse links, schleppen sich mit Anstrengung bis zu dieser Rasenbank im Vordergrunde rechts, und hier sinken Sie mit dem Schmerzensschrei: ‚Ich sterbe!‘ zusammen.“
Prinz Artus: „Erlauben Sie mal, alle früheren Todescandidaten habe ich links umgebracht; warum soll ich denn als Prinz Artus grade rechts sterben?“
Regisseur: „Ganz einfach, weil ich es so angeordnet habe. Sie sterben rechts.“
Prinz: „Ich sterbe links.“
Regisseur (wüthend): „Ich sage rechts!“
Prinz: „Ich sage links!“
Regisseur (stampft mit dem Fuße): „Rechts!“
Prinz (ebenso): „Links!“
Regisseur (nachdem er einige Male mit weiten Schritten die Bühne gemessen): „Aber zum Kukuk, Sie sind ja blos scheintodt. Sobald Sneewittchen sichtbar wird, erwachen Sie blitzschnell zu neuem Leben.“
Prinz: „Das ist etwas Anderes. – Positiv mir den Tod holen werde ich immer nur links, denn rechts ist die Hofloge; sterbe ich auf jener Seite, so sieht Niemand von den hohen Herrschaften etwas von meiner künstlerischen Verendung.“
Regisseur: „Thun Sie mir nur den Gefallen und lassen Sie das ewige, Lächeln andeuten sollende Grinsen; wir wissen ja aus Fränkel’s ‚Neue Coulisse‘, daß Sie vier Reihen weißer Zähne haben. Und Sie, Fräulein Steffansky, sprechen Sie nicht immer ‚ö‘ statt ‚ü‘, ‚e‘ statt ‚ie‘ und ‚ü‘ statt ‚i‘“ – (Sieht nach der Uhr:) „Fünf Minuten Pause. – Nachher Ballet.“
Tänzerin (zum Grafen Confiturini, der die specielle Erlaubniß hat, sich hinter den Coulissen aufzuhalten): „Lieber Graf, haben Sie auch Blumen zur ersten Vorstellung besorgt vor mir?“
Graf: „‚Für mich‘ heißt es, liebes Kind, nicht ‚vor mir‘. Fünfzig Bouquets sind bestellt.“
Tänzerin: „Und wie ist es mit der Handarbeit?“
Graf: „Dem Chef der Claque, dem mit dem goldenen Hundekopfe am Stocke, zahlte ich sechs Friedrichsd’or.“
Tänzerin: „Wie jut Du bist, Hujo!“ (Küßt ihn zärtlich.)
Komiker (im Vorübergehen): „Wünsche allerseits gesegnete Mahlzeit!“
Charakterspieler (zum Souffleur): „Lieber Herr Bläser, ich habe noch nicht eine einzige Sylbe von meiner Rolle gelernt. – Gestern wieder etwas durchgefallen – Kopfschmerz – Ach! – Souffliren Sie doch so laut und deutlich wie nur möglich.“
Souffleur: „Ich werde nach Kräften Ihre Abneigung gegen Alles, was lernen heißt, zu stärken suchen.“
Zärtliche Mutter: „Bitte, Herr Souffleur, mir nur die Stichwörter leise anzuschlagen. Ich habe meine Rolle studirt und kenne sie auf’s Jota. Wenn Sie laut souffliren, verwirren Sie mich.“
Souffleur: „Sobald Sie auftreten, schlag’ ich das Buch zu.“ (Ruft einen Komiker an:) „Sie, Herr Kallipsky! Ihre Couplets sind von der Censur zur Hälfte gestrichen.“
Komiker: „Wie das? Ich denke, die Censur in Preußen ist aufgehoben und darf für ewige Zeiten nicht wieder eingeführt werden?“
Souffleur: „Lieber Freund, man nennt das jetzt auch nur ‚Präventiv-Maßregel‘. Es ist eine dankenswerthe Fürsorge von Seiten der Polizei, um den Staat und die Direction vor Schaden zu bewahren.“
Komiker: „Aber das Couplet ist so harmlos.“
Souffleur: „Dafür halten Sie es. Es kommt jedoch etwas darin vor von der Isabella. Die Spanierin wird von Ihm mit freundlichen Augen angesehen. Darf der Norddeutsche Bund es ruhig geschehen lassen, daß Diejenige von uns bewitzelt wird, die Er protegirt? – Winzigere Umstände in der Weltgeschichte haben [123] schon blutige Kriege hervorgerufen. Wollen Sie das Vaterland dadurch an den Rand des Verderbens führen, daß Sie einen Coupletvers auf Madame Marfori singen?“
Komiker: „Gott soll mich behüten! Erstlich bin ich ein viel zu guter Patriot, und zweitens erlangte dann unser Director niemals den Titel Commerzienrath, den er schon lange verdient hat. Machen wir unsere Ausfälle gegen den Magistrat, dagegen ist noch selten Einspruch erhoben worden. Aber wie Sie das Alles so aneinander zu reihen verstehen!“
Souffleur: „Ja lieber Freund, um so geistreiche Combinationen machen zu können, muß man Logik studirt haben, oder mit so großem Scharfsinn wie die Berliner Theater-Präventiv-Maßregler von der Natur begnadet sein.
Theatermeister (ruft durch das Sprachrohr nach dem Schnürboden hinauf): „Anton, lassen Sie den Prunksaal der Königin herunter!“
Stimme vom Schnürboden: „Bin schon dabei. – Kopf weg, da unten!“
(Ein prachtvolle Decoration kommt von oben herab.)
Regisseur (mit der gedämpften Klingel): „Bühne frei für das Ballet!“
Capellmeister (tritt seinen Stuhl dem Ballet-Dirigenten ab): „Gott sei Dank, daß ich endlich zu Trarbach komme!“ (Nimmt seinen Hut und entfernt sich eiligst.)
Director setzt sich auf seinen Stuhl. Eine gefällige Ballet-Musik beginnt. Man hört im Hintergrunde plötzlich einen sehr lauten und heftigen Wortwechsel.
Director: „Still mit der Musik! – Was geht denn wieder da hinten vor?“
Decorationsmaler und Balletmeister kommen beide furioso nach vorn gestürzt.
Balletmeister: „Ich sage Ihnen, die Säulen müssen fort, oder ich lasse keinen Pas tanzen; nicht die halbe Wendung einer Pirouette wird gemacht.“
Decorationsmaler (ein Böhme, sehr heiser): „Und ich sag’ Ihnen, die Säulen bleib’n! Ob Sie tanzen lassen, oder nicht, dös ist mir völlig gleichgült’g.“
Director: „Aber meine Herren, was haben die Säulen mit dem Tanze und was hat der Tanz mit den Säulen zu thun?“
Maler: „Herr Director! Ich hab’ den Prunksaal mit besonderer Vorliebe g’malt. Die zwei Säulen rechts und links im Vordergrunde müssen mir’s Ganze halten –
Balletmeister (schiebt ihn zur Seite): „Herr Director! Die zwei Säulen rechts und links im Vordergrunde verdecken mir’s ganze Ballet, das grad’ an dieser Stelle die schönsten Aufzüge und Evolutionen zu machen hat. Ich lasse mir die mühsam einstudirten Tänze nicht verderben durch solche Farbenkleckserei!“
Maler: „Ach, was reden Sie von Farbenkleckserei! Sie werden mit Ihrer kurzröckigen Garde den Kohl a nit fett machen!“
Director: „Ich bitte um Ruhe! Bei der Decorations- und Ballet-Probe werde ich selbst prüfen und danach, keinem zu lieb oder zu leid, entscheiden. – Für heut’ wollen wir uns nach Hause verfügen; kühlen Sie sich über Nacht ein wenig ab. Adieu, meine Herren!“
Regisseur: „Schreiben Sie an’s schwarze Brett, Theaterdiener: ‚Morgen Vormittag um neun Uhr Chor- und Scenen-Probe‘. – Empfehl’ mich, Herr Director!“
Zehn Minuten darauf herrscht tiefe Dunkelheit auf der Bühne und in dem eben noch geräuschvollen Raume hört Nachbars Zibethkatze die Promenadentritte der Mäuschen. Unten auf der Straße aber vor dem Theater stehen die Statisten, Choristen und Musikanten in hellen Haufen, die Ereignisse der eben geendeten Probe noch einmal durchzusprechen oder die durch ihre Mitte schlüpfenden Figurantinnen und Ballerinen mit wohlgemeintem Scherze zu verfolgen; in der Einsamkeit seiner vier Wände aber sieht sich der Director, wie er den Verlauf der Probe noch einmal überdenkt, plötzlich von neuen Sorgen und neuen Befürchtungen überfallen. Wie, wenn der zuversichtliche Theateragent die versprochene Fee Furibunda nun doch nicht zu schaffen vermöchte –? Was dann? Dann sind alle Leiden und Widerwärtigkeiten einer Probe, wie wir sie heute geschildert haben, umsonst gewesen.
Es waren in den jüngsten Tagen 295 Jahre, daß eine Frau aus dem Leben geschieden ist, der das Glück zugetheilt war, für ihre Zeit und die kommenden Geschlechter eine wahre Wohlthäterin des Landes zu sein, und die zu den wenigen Frauen gehört, welchen es vergönnt gewesen ist, in der Geschichte der Industrie ihren Namen zu verewigen. Wir sprechen von Barbara Uttmann, der gütigen Fee des Erzgebirges. Die Quellen über ihre Lebensverhältnisse fließen nur spärlich. Frau Barbara stammt aus einem angesehenen Nürnberger Patriciergeschlecht, welches sich nach dem Erzgebirge gewendet hatte. Ihr Vater, Heinrich von Elterlein, lebte als wohlhabender Fundgrübner im Städtchen Elterlein, zwei Stunden westlich von Annaberg, und seit 1526 als Bergzehntner in Annaberg selbst, wo er im Jahre 1539 starb. Sein älterer Bruder Johann war in den Jahren 1500 bis 1504 Stadtrichter in Annaberg, wo sich die Familie Elterlein noch lange erhalten hat.
Barbara Uttmann ist im Jahre 1514 geboren und soll frühzeitig in allen weiblichen Arbeiten eine ungewöhnliche Geschicklichkeit sich erworben haben. Die Frauen der höheren Stände beschäftigten sich damals vorzugsweise mit dem äußerst mühsamen Sticken von Spitzen. Was die fromme Hand geschaffen, sollte hauptsächlich frommen Zwecken dienen, weshalb man diese kunstvollen Arbeiten meist zum Schmuck der Meßgewänder und Altartücher verwendete. Barbara verheirathete sich im Jahre 1535 mit Christoph Uttmann, der seine Heimath Schlesien verlassen hatte und im Erzgebirge ein wohlhabender Bergherr geworden war. Am Hochzeitstage soll ihm die Braut einen von ihr gefertigten Spitzenkragen überreicht haben und dieser Spitzenkragen die erste Klöppelarbeit im Erzgebirge gewesen sein.
Man sagt nämlich, daß die eifrige Stickerin nachgedacht habe, ob es nicht möglich sei, die Spitzen auf einfachere Weise, welche namentlich auch weniger Zeit in Anspruch nehme, herzustellen, und wiederholte Versuche sollen sie nach und nach zum Spitzenklöppeln geführt haben, das also von ihr selbstständig erfunden worden sei. Andere behaupten dagegen, Barbara habe die Kunst von einer Niederländerin erlernt. Die Wahrscheinlichkeit für diese Annahme gründet sich auf den Umstand, daß um jene Zeit das durch seine reichen Silbergrubenfunde in Ruf gekommene Erzgebirge viele Flüchtlinge aus den Niederlanden an sich zog, die, von Alba’s Grausamkeit vertrieben, hier Schutz und Erwerb fanden. Doch selbst dies zugegeben, würde Frau Uttmann immer die gütige Fee des Erzgebirges bleiben; denn das Verdienst, das vorher im Erzgebirge nicht bekannte Spitzenklöppeln dort eingeführt zu haben, würde ihr ja Niemand streitig machen können. Es giebt aber noch andere, gewichtige Gründe, welche für die Selbstständigkeit ihrer Erfindung sprechen. Von sachkundiger Seite wird hierbei namentlich auf die Verschiedenheit der technischen Einrichtung in Belgien und im Erzgebirge hingewiesen.
Wir müssen diese Verschiedenheit etwas näher in’s Auge fassen. Sie prägt sich namentlich in der Form der Polster und Klöppel aus. Im Erzgebirge besteht der „Klöppelsack“ aus einem ein bis zwei Fuß langen und sechs bis zehn Zoll im Durchmesser haltenden walzenförmigen Polster, welches auf einem Gestelle, dem „Klöppelstuhle“ oder „Ständer“, quer vor der Arbeiterin liegt und beim Fortschreiten der Arbeit gedreht wird. Um die Mitte des Kissens ist ein Streif rothen oder weißen Papiers von der Breite der zu fertigenden Spitzen geschlungen, auf welchem das Muster durch Nadelstiche vorgezeichnet ist. Dieser Streif heißt der „Klöppelbrief“. (Die Herstellung dieses Streifens erfolgt durch einen besondern Industriellen, den „Briefstecher“.) Die Fäden sind um die „Klöppel“, hölzerne vier bis fünf Zoll lange Stäbchen, gewickelt, die, um das Abrutschen zu verhindern, oben und unten mit einem Knopfe versehen sind. Darüber ist, zum Schutze des Fadens, eine hölzerne Hülse, das „Klöppeldütel“, geschoben, gerade [124] weit genug, um ein leichtes Abwickeln des Fadens zu erlauben. Diese Klöppel werden mit den Enden der darauf befindlichen Fäden oberhalb des Musters befestigt, und die Herstellung der Spitzen erfolgt durch Verflechten der Fäden zwischen angesteckten Nadeln, wozu die Löcher im Klöppelbriefe gestochen sind. Letzterer liegt, wie bereits bemerkt, rings herum ohne Ende fest auf dem Polster. Ist ein Stück Spitzen fertig, so wird dieses abgehängt, was sich sehr leicht thun läßt, da während des Klöppelns aus dem vollendeten Stücke die Nadeln herausgezogen und weiter unten wieder hineingesteckt worden sind. Es läßt sich also auf einem einzigen Briefe so lange klöppeln, bis er entzwei ist; dann erst besorgt sich die Klöpplerin einen neuen.
In Belgien und Frankreich dagegen sind die Polster viereckig, etwa zwei Fuß breit und anderthalb Fuß hoch, mit einer flachen, zu beiden Seiten herabfallenden Wölbung. Sie haben vor den im Erzgebirge üblichen den Vortheil, daß die Klöppel aufliegen und nur durch eine kurze Berührung der Fingerspitze geworfen werden, wodurch die Arbeit rascher und müheloser vor sich geht, als bei den erzgebirgischen Polstern, bei denen die herunterhängenden Klöppel beim jedesmaligen Ergreifen eine ausgedehnte Handbewegung nöthig machen. Die Aufwickelung des Fadens erfolgt auf den oberen Theil des Klöppels, und da der Faden nicht mit den Händen in Berührung kommt, so ist eine Hülse über dem Klöppel nicht erforderlich. Die Spitze wird, so oft nöthig, vom Polster abgehoben und am oberen Theile des Polsters von Neuem befestigt. Aus dieser Verschiedenheit der technischen Einrichtung scheint allerdings hervorzugehen, daß die erzgebirgische oder deutsche Spitzenklöppelei von der niederländischen unterschieden werden müsse, womit ein neuer Wahrscheinlichkeitsgrund für die Selbstständigkeit der Erfindung Barbara Uttmann’s gewonnen sein würde.
Außer allem Zweifel ist, daß Frau Uttmann die Kunst des Spitzenklöppelns als Wittwe 1561 in Annaberg lehrte und verbreitete. Sie selbst trieb einen einträglichen Spitzenhandel. Nach ihrem Tode, der am 14. Januar 1575 erfolgte, wurde die Kunst rasch volksthümlich. Von Annaberg aus ging die anmuthige und einträgliche Beschäftigung zunächst in die übrigen Bergstädte über, weshalb sie auch als städtisches Gewerbe angesehen wurde. Dorfbewohner, die sie ausübten, mußten eine eigene Abgabe, das sogenannte „Klöppelgeld“, zahlen, das laut Verordnung von 1609 eingeführt wurde. Schon im sechszehnten Jahrhundert soll die Zahl der Klöppler über zehntausend betragen haben. Das Absatzgebiet erweiterte sich ungemein, als bei Beginn des siebenzehnten Jahrhunderts reiche Kaufleute aus Schottland, welche sich des Bergbaus wegen in Annaberg niedergelassen hatten, die Spitzen in den Welthandel brachten. Namentlich gilt dies von dem Schotten Cunningham, der sie durch seine Hausirer in allen Himmelsgegenden vertreiben ließ. Bald konnte Annaberg den Bedarf nicht mehr decken, und schon 1612 finden wir dort einen „Spitzenmarkt“, der jeden Dienstag abgehalten wurde und den Orten der Umgegend Gelegenheit bot, die von Woche zu Woche fertig gewordenen Waaren an die „Spitzenschotten“ zu verkaufen. So eröffnete Frau Uttmann ihren Landsleuten, die sie zugleich zur Reinlichkeit und Kunstfertigkeit anhielt, eine Nahrungsquelle, welche viele Jahre hindurch floß. Sie wurde die gütige Fee des Erzgebirges. Drei Jahrhunderte lang haben Hunderttausende, welche sich vom Klöppeln ernährten, ihr Andenken gesegnet.
Frühzeitig nahmen die Männer an der zarten Arbeit der Frauen und Kinder theil, und noch heute setzen sie sich in arbeitslosen Zeiten an den Klöppelsack. Sie fertigen jedoch, bei ihrer geringen Uebung, nur einfache Muster, die wenige Paare von Klöppeln – die geringste Anzahl ist fünf – nöthig machen, während bei geübten Klöpplerinnen die Zahl der Klöppelpaare bis auf fünfzig und darüber steigt.
Das Klöppeln selbst zu beschreiben ist nicht ganz leicht. Das Führen der Klöppel besorgt die rechte Hand; sie schlingt die Fäden um die in die wichtigen Punkte des Musters gesteckten Stecknadeln, während die Linke am Briefe beschäftigt ist, indem sie fortwährend aus dem fertigen Stück Spitzen die Nadeln herauszieht und sie weiter unten wieder in den Brief einsteckt. Außer diesen Nadeln steht ihr noch ein großer Vorrath von anderen, mit denen der leere Theil des Sackes besteckt ist, zu Gebote. Ist die Linke fertig, so hilft sie der Rechten mit klöppeln. Zuweilen kommt es vor, daß die Hände ihre Arbeit tauschen, und ein solcher Moment ist es, der in unserem Bilde wiedergegeben. Wo viele Klöppel gebraucht werden, sind übrigens zu ihrer Bewältigung beide Hände nöthig. Es ist wunderbar, mit welcher Sicherheit sich die Arbeiterinnen in dem Labyrinth von Fäden zurecht finden. Man fragt erstaunt, woran die Klöpplerin erkenne, welches Paar nun an die Reihe komme, da doch alle Klöppel einander ähnlich sind, wie ein Ei dem andern, und sich weder durch Nummern noch andere Zeichen unterscheiden. Die Klöpplerinnen meinen, „man habe das so in der Hand.“
Dabei fliegen die Klöppel mit so großer Geschwindigkeit, daß das Auge des Zuschauers der raschen Bewegung kaum zu folgen vermag. Ein wahrhaft feenhaft graciöses Spiel entfaltet sich vor den Blicken. „Die Klöpplerin sitzt zwar“ – schreibt B. Sigismund – „an ihrer Arbeit etwas vorgebeugt, wie beim Schreiben, die reizenden Bewegungen ihrer Hände aber lassen sich eben so schwer darstellen, wie der flüchtige Tanz der Finger des Clavierspielers. Wirklich erinnert das federleichte und blitzschnelle Spiel der klöppelnden Hände ebenso sehr an die Fingerfertigkeit der musikalischen Virtuosen, als an die der Taschenspieler. Das von den Dichtern besungene Stricken, welches die schlanken Frauenfinger zu wirbelnden Contretänzen anregt, ist nichts im Vergleich zu dem zierlichen Feenreigen des Klöppelns.“
Die einfachsten Spitzen sind die Mohairspitzen, die sogenannten „Wollborten“ und die „Flechtspitzen“, die Bettschnüre oder Bettspitzen aus weißem Garn oder starkem Zwirn. Sie bilden die Arbeit für Kinder und alte Mütterchen, auch für die weniger geübten Männer. Größere Geschicklichkeit gehört zur Anfertigung von Guipure-, Cluny-, Schnürl- und Nadelgrundspitzen. Sehr zart wollen die feinen leinenen Picots, Valenciennes und Eternelles behandelt sein. Zur Anfertigung von Kragen, Manschetten, Taschentüchern, Pelerinen etc. sind gut geschulte Klöpplerinnen nöthig. Eigenthümlich sind die den verschiedenen Mustern beigelegten Namen, wie sie unter Arbeitern, Verlegern und Einkäufern gebräuchlich sind. Da giebt es zum Beispiel „Fitting“ (Flügelchen), „Spinnel“, „Wässerle“, „Mandelkern mit oder ohne Tappen“, „Fächerl“ und eine Menge anderer wegen ihrer volksthümlichen Naivetät nicht gut wiederzugebender Bezeichnungen.
Der Spitzenhandel bewegt sich noch gegenwärtig in althergebrachter ursprünglicher Form. Die Klöpplerin liefert ihre Spitzen gewöhnlich einmal wöchentlich an den „Spitzenherrn“, das ist den Spitzenfactor, oder, da das Geschäft gewöhnlich in den Händen der Frauen ruht, an die „Factorin“ ab. Von diesen wird die Waare in Schachteln, Ranzen und Tragkörben nach der oft meilenweit entfernten Stadt gebracht. Da zum großen Theile, wenigstens bei den Ellenspitzen, aus freier Hand, nicht auf Bestellung gekauft wird, so suchen sich die Einkäufer in den Geschäften aus, was sie eben brauchen. Das Uebrige wird in die nächste Handlung gebracht, welche sich wieder ihren Bedarf aussucht, und so geht es fort. Ein solcher Vertrieb ist vom Hausiren wenig unterschieden. Jede Handlung hat eine „Stickerstube“, wo die Spitzen von eigens dazu geschulten Mädchen, den „Stickerinnen“, versandtbereit gemacht werden. Zunächst werden die Stücke, unmittelbar nachdem sie eingegangen sind, durchmustert, und das weniger Gute wird dem Lieferanten zurückgegeben. Es entstehen dadurch Stücke von ungleicher Länge. Um die gewünschte Ellenzahl zu erlangen, werden sie „gestickt“, das heißt durch eine äußerst feine Naht, die selbst der Sachkundige nur schwer zu erkennen vermag, verbunden. Einige Arten werden hierauf, um ihnen mehr „Griff“ zu geben, durch ein eigenthümliches Verfahren und meist bei ungeheurer Hitze mit einer Flüssigkeit getränkt, welche nach dem Eintrocknen den Spitzen den nöthigen Grad von Appretur verleiht. Von den Stickerinnen werden sie nun auf Pappen oder Rähmchen geschlagen, mit eleganten Unterlagen versehen und sind dann bereit, in alle Welt zu gehen, um zum Schmuck zu dienen.
Die Spitzenklöppelei ist bekanntlich heutzutage einer der am wenigsten lohnenden Erwerbszweige. Die Kunst der Frau Uttmann ist in Verfall gerathen. Die beste Arbeiterin bringt es kaum zum Verdienst von einigen Neugroschen täglich. Die Maschinenspitzen, welche seit dem Jahre 1809 in England gefertigt werden, haben die Handspitzen weit unter ihren Werth herabgedrückt. Die eisernen Arbeiter griffen mit rauher Hand hinein in das Stillleben des Gebirgs. Die kunstsinnige Hand, die Hinterlassenschaft der Fee von Annaberg, ist dieselbe geblieben; nur der Verdienst der Arbeit ist so tief gesunken, daß eben nur von einem „Hungerlohn“ die Rede sein kann. Charakteristisch ist die nachstehende Anekdote. Ein greises Mütterchen von sechsundachtzig Jahren, welches allwöchentlich
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sein Stückchen Spitzen nach der drei Viertelstunden entfernten Stadt brachte, wurde gefragt, wie viel sie denn täglich verdiene. „Eenen Sechser,“ antwortete sie, fügte aber sogleich mit einem gewissen Stolze hinzu: „Mei Bruder is zwee Gahr äller als ich, der klippelt aber noch besser, der verdient siem Pfänge (Pfennige).“ Die Genügsamkeit der Spitzenklöppler wie der Erzgebirger überhaupt ist eine sprüchwörtliche. Das stehende Gericht bilden „Kartoffeln in Uniform“, dazu giebt es Kaffee – d. h. einen unverfälschten Blümchenkaffee vom reinsten Wasser, „fünfzehn Bohnen auf sechszehn Tassen“, wie man scherzhaft sagt. Scheinheilig haben Cichorie und Runkelrüben die Maske und das Anhängeschild „Kaffee“ vorgenommen, um durch diese Taschenspielerei ihr schwarzes Dasein zu verbergen. Ein Dichter bezeichnet den Verrath mit den Worten: „Es ist Mephistopheles, der das Antlitz eines Engels borgt.“
Vorschläge verschiedener Art sind gemacht worden, damit die Spitzenklöppelei des Erzgebirges nicht noch mehr verfalle! Das geeignetste Heilmittel scheint die Weiterbildung der Klöppelei zu sein, damit sie die Concurrenz des Auslandes nicht zu fürchten braucht. Mögen die vierundzwanzig Klöppelschulen, welche die Regierung für diesen Zweck der Weiterausbildung gründete und unterhält, ihre Aufgabe segensreich lösen, damit dem Erzgebirge das Erbtheil der Barbara Uttmann nicht entfremdet werde!
Frau Barbara ruht auf dem Friedhofe zu Annaberg. Eine Messingplatte, welche früher ihr Grab bezeichnete, ist im Jahre 1834 einem Denkmal aus Sandstein gewichen, welches die Firma Eisenstuck und Comp. der Erfinderin der deutschen Klöppelei setzen ließ. Das schönste Denkmal würde für sie freilich sein die Wiederbelebung ihrer zierlichen vaterländischen Kunst, damit sie noch einmal werde – die gütige Fee des Erzgebirges![1]
- ↑ Barbara Uttmann hat die künstlerische Phantasie mehrfach beschäftigt, wie sie denn auch auf dem oben erwähnten Denkmal abgebildet ist, auf einem Bienenkorbe, dem Symbol des Gewerbfleißes, sitzend und mit Klöppeln beschäftigt. Ein Portrait, das heißt ein portraitgetreues Bildniß der hochverdienten Frau war bis zur jüngsten Zeit nicht bekannt. Der leider vor einigen Wochen plötzlich verstorbene Chef des Hauses Eisenstuck und Comp., Herr C. Hohl in Annaberg, ließ in den reichen Dresdener Sammlungen Nachforschungen nach einem solchen anstellen, die auch insofern von Erfolg begleitet waren, als im Grünen Gewölbe sich eine Elfenbeinschnitzerei fand, welche Barbara Uttmann am Klöppelkissen darstellt. Nach dieser hat Historienmaler Sachse in Dresden das Portrait der Frau Uttmann in geistreicher Weise construirt. Sein in Kreidemanier ausgeführtes Bild befindet sich im Besitze der Hohl’schen Erben und wurde auf’s Liebenswürdigste der „Gartenlaube“ zur Verfügung gestellt. Die Redaction.
Oeffentliche und geheime Vorgänge im Concil. – Die Bannbulle. – Die Liste der Excommunicirten. – Gründung einer katholischen Universität. – Wie die geistlichen Herren in Rom fahren. – „Prälatenlatein“. – In der Peterskirche. – Der Monte Pincio und Pio Nono.
Obwohl das Concil bereits gegen anderthalb Monat in unsern Mauern tagt, obwohl die klerikalen Blätter nicht müde werden, die große und erhebende Einigkeit der Kirchenfürsten, welche an die der ersten Christen gemahne, zu preisen, haben die Väter doch noch gar nichts zu Stande gebracht. Zwanzig Generalcongregationen (d. h. Versammlungen der Prälaten ohne den Papst, unter dem Präsidium von fünf Cardinälen) haben stattgefunden, wichtige Vorlagen in Sachen des Glaubens, größtentheils scharfe Verdammungsurtheile der neueren Philosophie, wurden gemacht und besprochen, aber das Resultat war, daß man dieselben der dazu constituirten Commission mit Gegenanträgen versehen zur Umänderung zurückschickte, und daß die auf das Epiphaniasfest angesagte zweite „öffentliche Sitzung“, in der man feierlich abstimmen und die Decrete oder Canones durch den Papst sanctioniren wollte, blos als eine leere Formalität abgehalten wurde, in der die Väter das gemeinsame Glaubensbekenntniß aussprachen. Darauf sind andre minder wichtige Dinge, die geistliche Disciplin betreffend, der Versammlung zur Berathung übergeben worden. Mit ihnen beschäftigt man sich in den gegenwärtigen Sitzungen.
Dies ist im Ganzen und Großen bis jetzt die öffentliche Geschichte des Concils. Wichtiger aber sind die Vorgänge, welche heimlich, unter den einzelnen Parteien und unter den einzelnen Mitgliedern sich begeben. Sie sollen freilich den Augen und Ohren des Publicums sorgfältig entzogen bleiben; trotzdem dringt das Eine und Andere, dieses und jenes in die Oeffentlichkeit, man stellt zusammen, man vergleicht, man zieht Schlüsse, man erräth und kommt manchmal wirklich, zwar langsam, aber im Ganzen doch sicher auf die eigentliche Wahrheit, wie es denn längst kein Geheimniß mehr ist, daß man sich jetzt, während in den Sitzungen Dinge von secundärer Bedeutung verhandelt werden, im Getriebe der Parteien mit der ernstesten Angelegenheit des Concils, mit der Infallibilitätsfrage, eifrig genug beschäftigt.
Eine That indeß, die viel von sich hat reden machen, ist bis jetzt in der conciliarischen Stadt vollbracht worden, und wenn sie auch nicht vom Concil ausgegangen ist, sondern vom Papste selbst, so steht sie doch in unmittelbarem Zusammenhange mit der Einberufung der Versammlung, für deren Thätigkeit sie gleichsam einen Fingerzeig geben soll. Ich meine die Publicirung der päpstlichen Bannbulle. Eines schönen Morgens sah man in den Straßen und Plätzen Roms, an den Häuserecken eine Monstre-affiche angeschlagen, mit dem päpstlichen Siegel darunter und von einem Haufen neugieriger Leser umstanden. Das Actenstück gab sich denn bald als eine „Begrenzung der geistlichen Censuren“ zu erkennen, und man gewahrte mit seltsamem neugierigem Staunen, daß man vor einem Compendium mittelalterlicher Bannstrahlen stand, von denen mehr als einer den andächtigen Leser niederzuschmettern geeignet war. Aber nicht etwa conservativ, nein vielmehr höchst liberal und der Neuzeit Rechnung tragend meint Pius IX. in dieser Bulle zu erscheinen.
Er meint das und versichert wirklich im Anfang der Bulle, daß mit der Zeit die Zahl der einzelnen Fälle, auf welche die Excommunication zu erfolgen hat, zu sehr angewachsen sei, und daß daher durch diese Bulle diejenigen Vergehen namhaft gemacht werden sollten, auf die allein jetzt noch die oberste Kirchenstrafe d. h. die Ausstoßung aus der Gemeinschaft der Gläubigen, Anwendung haben darf. Aber kaum daß man sich durch diese Vorrede etwas erleichterten Herzens fühlt, so erkennt man beim Lesen der nächsten Zeilen schon das sichere und unausbleibliche Verderben. Denn gleich der erste nun folgende Paragraph excommunicirt so ziemlich die ganze gebildete Welt. Er lautet: „Alle vom christlichen Glauben Abgefallenen, alle Häretiker, mit welchem Namen sie auch genannt werden, und welcher Secte sie angehören mögen, Alle die ihnen glauben, die sie aufnehmen oder begünstigen, und überhaupt Alle, die dieselben vertheidigen, sind excommunicirt.“ Man sollte meinen, nach diesem so umfassenden Paragraph bliebe nur noch eine geringe Nachlese übrig, indeß folgen noch vierundvierzig andere Paragraphen, welche innerhalb des übrig gebliebenen, wie man meinen sollte, frommen und echt katholischen Häufleins der Gläubigen aufräumen. Davon theile ich Ihnen nur einige der interessantesten Paragraphen mit.
So trifft die ewige Strafe Alle, welche von den Geboten und Befehlen des regierenden Papstes an ein „allgemeines ökumenisches Concil“ appelliren – eine schöne Ermunterung für die Katholiken, welche vom Concil als der obersten Kircheninstanz etwas erwarten, und ein deutlicher Wink für die Väter, die Stellung klar zu erkennen, die sie Pius dem Neunten gegenüber einnehmen sollen – ferner Alle, welche „unter Anrathen des Teufels“ Klerikern, Mönchen oder Nonnen irgend welche Gewalt anthun“, die „ein Duell ausfechten, oder unterstützen, und zwar auch wenn sie königlichen oder kaiserlichen Ranges sind,“ die Freimaurer und Carbonari, sowie Alle, die denselben irgendwelche Gunst ertheilen und die „ihre verborgenen Koryphäen und Führer nicht denunciren“. So wird denn mit diesem Satz schon zum zweiten Male in einer Bulle fast die gesammte christliche Welt aus den Pforten der alleinseligmachenden Kirche herausgejagt.
Es kommt nun die Reihe an diejenigen, welche „die Freiheit des geistlichen Asyls zu verletzen gebieten oder selbst mit frevlem Wagen verletzen“; die die Clausur der Mönche und Nonnen nicht respectiren, und zwar, welches Standes, Alters, Geschlechts sie auch sein mögen; diejenigen, welche Knochen und Reliquien aus den römischen Katakomben stehlen (wehe den vielen Unschuldigen Reisenden!), und so fort ein langer Katalog „geistlicher Verbrecher“. Schließlich kommt man noch einmal mit besonderer Aengstlichkeit und mit Hinsicht auf früher Erlebtes auf die Appellationen an Concile zurück und belegt eo ipso alle Universitäten, Collegien und Capitel mit dem Interdict, die es sich einfallen lassen, von den Weisungen des Papstes an eine zukünftige ökumenische Synode zu appelliren „Keinem der Menschen,“ so schließt dieses erschreckende Actenstück, „soll es erlaubt sein, diesem Blatte unserer Constitution zuwiderzuhandeln; wenn aber einer ein solches Attentat zu begehen unternehmen sollte, so möge er wissen, daß er damit den Zorn des allmächtigen Gottes und seiner beiden seligen Apostel Petrus und Paulus auf sich ladet.“
Ob dergleichen Dinge heutzutage noch gedruckt werden oder nicht – so mag Mancher denken – ist völlig gleichgültig, die Welt geht über solche machtlose und darum lächerliche Zornesergießungen zur Tagesordnung über! Das ist gewiß in vieler Hinsicht wahr. Aber die katholische Kirche zeigt durch Publicirung derartiger Schriftstücke doch offen an, wie sie in einem Lande verfahren wird, in dem sie zu derjenigen Stufe von Macht gelangt, welche sie von jeher als „zur freien und gesunden Bewegung der Kirche“ gehörig beansprucht hat.
Liest man dazu noch die Artikel der Civiltà cattolica, die in einer ihrer letzten Nummern glücklich herausgefunden hat, daß die „unwahre oder antikatholische Philosophie“ namentlich in Deutschland wuchere, wo alle Hörsäle von ihren Irrlehrern besetzt seien, und wo der Katholicismus wieder Terrain zu fassen und den „Verderbern der Wissenschaft“, Kant, Fichte, Schelling und Hegel, gegenüber wieder Herrschaft zu gewinnen suchen müsse, so wird man begreifen, was von jener „katholischen Universität“ zu erwarten steht, deren Gründung der hohe deutsche Clerus in unserem Vaterlande mit allen Kräften und Mitteln anstrebt.
Lassen Sie mich aber nach dieser Excursion wieder nach Rom zurückkehren, der Stadt, von der aus alle diese geistigen Bannstrahlen in die arme Welt hineingeschleudert werden, und die sich selbst doch am wenigsten darum kümmert. Der Römer genießt in vollen Zügen den Segen des Concils und läßt sich von Fremden gern erzählen, daß die Väter wahrscheinlich sehr lange die ewige Stadt mit ihrer Gegenwart beglücken würden, denn er selbst liest höchstens die Römische Zeitung, welche über das wichtige in ihren Mauern sich abspielende conciliarische Drama mit Beharrlichkeit schweigt, mit Ausnahme des sich ewig formelhaft wiederholenden Berichtes über die vergangene Sitzung, welcher lakonisch lautet: „Sitzung vom … Die Väter versammelten sich um neun Uhr. [127] Die Messe hielt der Bischof X, die vorgeschriebenen Gebete recitirte der Cardinal X. Darauf sprachen in Bezug auf die Vorlagen X Väter. Die Versammlung wurde um ein Uhr geschlossen.“ – Basta! Mehr will der Papst also vor der Hand seine getreuen Unterthanen nicht wissen lassen, und diese bezeigen in der That keine Neugierde, mehr zu hören.
Machen wir uns bei diesem Schweigen der römischen Staatszeitung einmal selbst früh um acht Uhr auf den Weg nach dem Vatican. Die Stadt ist um diese Zeit noch nicht allzu lebhaft, denn die Römer lieben es lange zu schlafen, die kleinen Wagen mit Gemüse, Obst, Käse und anderen Lebensmitteln trotten unter den eintönigen Anpreisungen ihrer Führer über das Pflaster, hier und da lassen die Esel ihr entsetzliches Geschrei vernehmen, auf den Plätzen stehen noch viele Campagnolen (Bauern der Umgegend) in ihrer malerisch bunten und zersetzten Landestracht, um sich zu irgend einer Arbeit zu verdingen. Sie glotzen die Fremden mit ihren Banditengesichtern verwundert an, oder spielen leidenschaftlich Morra; finden sie keinen Arbeitgeber, so ist es ihnen auch gleich, sie lungern dann den ganzen Tag über spielend und bettelnd umher und sind am Abende in Bezug auf ihre Schlafstelle nicht wählerisch. Die spanische Treppe hinunter, wo die Modelle sehnsüchtig die Künstler erwartend sich niedergelassen haben, kommen wir nun auf den spanischen Platz. Das ist der moderne Platz Roms, der Mittelpunkt des Fremdenviertels, voll von jenen nichtssagenden Miethshäusern unserer Zeit und großstädtischen Hôtels. Hier wohnen mehrere Cardinäle und reiche fremde Prälaten.
Vor den Palästen steht der goldstrotzende Wagen, auf dem Rückbrette zwei buntgekleidete Diener. Bald sieht man zum Portal heraus im rothseidenen Talar die hofmännische Gestalt des Kirchenfürsten treten, begleitet von niederen Geistlichen. Ein Auserwählter von diesen steigt mit in den Wagen, wo er bescheiden auf dem Rücksitze Platz nimmt, und das Gespann rasselt die elegante Via de’ Condotti entlang von dannen nach der Peterskirche zu. Dies ist so zu sagen die erste Classe des Prälatenfuhrwerks; ehe wir zu der dritten und letzten Classe, der gemeinen Droschke gelangen, betrachten wir erst die mittlere, den gemietheten Wagen. Ihn benutzen die Bischöfe, welche von mäßigem Vermögen nicht gerade Paläste bewohnen, aber doch auf eigene Kosten einige Zimmer gemiethet haben. Sie sind aus dem Centrum des theuren Quartier de’ Forestieri hinweg etwas näher nach dem Vatican zu in die Gegend des Palazzo Borghese gezogen. Unser Weg nach der Peterskirche führt uns durch diesen Stadttheil. Hier und da hält vor den Häusern ein bestellter Wagen mit noch gähnendem Kutscher, der sich durch die Einfachheit der Kleider von dem glänzend galonnirten Cardinalsrosselenker, durch eine weniger confiscirte Physiognomie und eine gewisse Sauberkeit vom Droschkenkutscher unterscheidet. Ein Bischof in seiner violetten Gewandung mit breitkrempigem Hute, der durch eine grüne, gelbe, rote Feder verziert ist, und mit dem goldenen Kreuze auf der Brust, steigt, begleitet von einem Geistlichen, ein, und mit minderem Feuer als die Cardinalscarrosse setzt sich das Gespann nach dem Vatican hin in Bewegung. So gelangen wir allmählich an die Engelsbrücke, auf welche zu in einem kleinen Platze fünf Straßen aus dem Innern Roms münden. Sie führt nach der Leontinischen Stadt über die Tiber hinüber, nach dem eigentlichen päpstlichen Viertel, der Urbs Vaticana. Hier strömen nun die Wagen von allen Seiten zusammen, nur langsam können die Väter des Concils diese Brücke, auf der nicht mehr als zwei Wagen neben einander fahren können, passiren und es erscheint sofort, aus den inneren Stadttheilen Roms kommend, die bischöfliche Droschke in der Ueberzahl.
Die Orientalen ganz besonders, wenn sie nicht ihre Füße vorziehen, bedienen sich dieses Vehikels mit Vorliebe. Auch verzichten diese patriarchalischen Männer auf eine niedere geistliche Begleitung. Selten fährt einer allein, in der Regel haben sich zwei zusammengethan und den Kutscher gedungen. Sie sitzen gravitätisch nach hinten gelehnt auf dem Vordersitze, ihre Füße bequem auf dem kleinen Rücksitze ausstreckend; oft aber ist auch dieser Platz noch von einem dritten Bischofe irgend welchen orientalischen Ritus eingenommen. Da fahren nun diese Kinder des Orients, Syrer, Armenier, Chaldäer, Griechen, Bulgaren, Maroniten – dies sind die sechs orientalischen Riten –, phlegmatisch sich die Schnupftabaksdose reichend und wenig sprechend, mit ihren prächtigen tiefschwarzen oder schlehweißen Bärten und apathisch in die Welt schauenden Gesichtern nach der Sitzungshalle hin, wo sie über die Irrthümer der deutschen Philosophie, über die gesammte europäische Civilisation ihr Urtheil fällen werden. Aber mehr als Einer von ihnen macht noch eine kleine Rast am Petersplatze, ehe er sich dem Anhören einer fünfstündigen Debatte übergiebt. Denn hier giebt es für die Orientalen gar zu verlockende Bottegen (Läden), das Café und der Tabacajo. Nachdem sie schnell noch zur Herzensstärkung eine Tasse Mocca’s aus der Unterschale geschlürft haben, schlüpfen sie nebenan zum Tabakhändler, um sich für die langen Verhandlungen die Dosen mit dem köstlichen Kraute zu füllen. Denn dieser Mann hat echte Waare, aus Quellen bezogen, die ihm durch die allerhöchste Vermittlung orientalischer Patriarchen fließen sollen. Da sieht man nun in der kleinen Bude die Herren Bischöfe oft bis zu einem Dutzend stehen, mit der Miene des feinen Kenners die Prise zur Nase führend, sie dem Nachbar reichend und mit den Augen fragend, was er dazu meine. Auch schwere türkische Rauchtabake für den Hausbedarf der kleinen Pfeife werden dort eingehandelt und verschwinden in den inneren großen Taschen des langen seidenen Talars.
So gerüstet schreiten die geistlichen Herren zu den Pforten der Peterskirche herein, wo Wagen an Wagen vorfährt. Man begrüßt sich gegenseitig an der Thür oder in der Vorhalle, und der Fremde hört seltsame Sprachlaute. Zwischen die Gurgel- und Kehltöne semitischer Sprache mischt sich plötzlich eine griechische Unterredung, und während bei diesen Lauten die Gestalten des schönen Hellas uns in die Erinnerung treten, erschrickt man, wenn man hinsieht, vor den Gestalten mit verschmitztem Gesicht und schleppenden Pfaffengewändern. Da kommen zwei französische Bischöfe, bartlos, mit Brillen auf der Nase und beweglichen Zügen im elegantesten Salonton plaudernd, und neben der schönen, kräftigen und wohlklingenden spanischen Sprache ertönt als Antipode das englische Idiom. Bisweilen aber begrüßt man sich von einer nationalen Gruppe zur andern hinüber, und das Ohr vernimmt dann Laute, von denen man im Anfange kaum weiß, in welcher Sprache man sie unterbringen soll: das ist das conciliarische Latein. Es hat sich dies während der Zeit herausgebildet, daß die Väter in Rom tagen, als ein erstes Product des Concils; jeder versucht sein Latein möglichst anders auszusprechen, als er es zu Hause gelernt hat, indem er von der einen Nation das und von der andern jenes entlehnt; den Italienern zu Liebe zischt man das c vor i und e; um sich den Engländern einigermaßen verständlich zu machen, spricht man das lange i wie ei aus u. A. m. So entsteht ein Mischmasch von Aussprache, vor dem sich ein alter Römer wahrscheinlich im Grabe umwenden würde, wenn er es hörte. Nur unsere orientalischen Freunde enthalten sich standhaft dieser Corruption der alten Römersprache; sie verstehen kein Latein, halten die Messe in ihrer Landessprache und haben für die Sitzungen ihre vereidigten Dolmetscher.
Unterdeß haben wir schon das lange marmorgeschmückte Hauptschiff der Peterskirche durchschritten, am Hauptaltar, dem barbarischen Werk des Bernini, das aus den schönen bronzenen Dachziegeln des Pantheon gegossen ist, uns rechts gewendet, und stehen nun an der hölzernen großen Pforte der aula conciliaria, die zu betreten gewöhnlichen Sterblichen nicht gestattet ist. Die mit etwas kühnem Pinsel auf die marmorartig angestrichene Holzwand gemalte Maria mit den Aposteln Peter und Paul zur Rechten und zur Linken ladet die Hirten der Welt einzutreten, wir können noch sehen, wie sie sich auf den grün gepolsterten amphitheatralisch sich erhebenden Bänken niederlassen, dann schließen sich vor dem profanen Auge die Thüren, und wir müssen durch die hölzernen Schranken von der erlauchten Versammlung getrennt unsere Betrachtungen mit dem Ohre fortsetzen. Alsbald erklingt der Meßgesang der Väter, dann Litaneien und Gebete, bei deren Schall die frommen Katholiken in der Kirche niederknieen und zu Gott beten, er möge den Prälaten den Geist erleuchten; dann eine kurze Pause, und die Verhandlungen beginnen in dem oben beschriebenen Latein; aber die wachehaltenden Schweizer, mit großen Hellebarden versehen, von ihren Posten an den Eingängen weiterschreitend, säubern jetzt im Umkreis von etwa zehn bis zwölf Schritt die Halle von muthwilligen Horchern, und diese Vorsichtsmaßregel, die oben erwähnte Art des bischöflichen Idioms und die schlechte Akustik bewirken, daß nur verworrene dröhnende Laute bei starkstimmigen Rednern dem Ohre der Draußenstehenden wahrnehmbar werden. Nur ob die Verhandlungen in einem friedlichen, ruhigen Geleise sich bewegen, oder ob eindringlich und heftig sprechende Redner [128] den Unmuth der Majorität erregen, macht sich auch draußen bemerkbar. Im Ganzen spürt man bald, daß die Rolle, die man vor den Schranken der Aula spielt, eine undankbare ist, und verläßt die Peterskirche. Politische Correspondenten aber, denen eine gewisse Gabe der Wahrsagung verliehen ist, vermögen aus den verworrenen Tönen, die bis zu ihren Ohren gedrungen sind, wie einst die Priester bei antiken Orakeln, genau den Inhalt der Verhandlungen zu verkünden. –
Wenn um ein Uhr und später die Sitzung zu Ende ist, verlassen die Prälaten in der Regel lebhafter und erregter die Peterskirche, als sie sie betreten haben. Da sieht man sie in Gruppen, die um bedeutende Führer sich geschaart haben, über den Petersplatz hin ein weites Stück zu Fuß gehen, ehe sie sich trennen und in die ihnen nachfolgenden Wagen steigen. Leute wie Dupanloup und Matthieu, die Führer der französischen Liberalen, Manning, der Erzbischof von Westminster, und Deschamps, der von Mecheln, zwei Hauptleute der Infallibilisten, haben ihre Landsleute um sich versammelt; vor Allem Stroßmayer, der Bischof der Kroaten, der durch die Unumwundenheit und das Feuer seiner Rede, durch die Schärfe, mit der er die Pläne der römischen Jesuitenpartei aufdeckte, der ergebenen Mehrheit der Versammlung keinen gelinden Schreck verursacht hat, ist stets von österreichischen und deutschen Bischöfen umdrängt. Er gilt, seitdem er seine tapfere Rede gehalten, als der eigentliche Führer der Liberalen dieser Nationen, wenn man auch die äußeren Ehren eines solchen mehr dem Cardinal-Erzbischof von Prag, Fürsten Schwarzenberg, dem älteren und an Rang höher stehenden Manne, darbringt. Der fanatisch blickende schöne Bischof von Urgel, ein echter Spanier, und der eben mit dem Cardinalshut gekrönte Erzbischof Moreno von Valladolid sammeln in der Regel die Väter dieser Nation um sich, auf deren Mienen man nicht gerade immer Zufriedenheit mit dem Gange der Berathungen liest. –
Nachmittags, besonders Sonntags und Donnerstags, wo bei hellem sonnigem Winterwetter unter den Klängen der Militärmusik der Monte Pincio sich mit den corsofahrenden vornehmen Römerinnen und mit Fremden aller Nationen füllt, lustwandeln auch die Väter des Concils mit Vorliebe im Grünen und betrachten sich zur Erholung alle die wunderbaren Schönheiten, die diese einzige Promenade der Welt bietet. Kommt doch auch der heilige Vater selbst bisweilen dorthin, wenn es die drückende Geschäftslast und sein Gesundheitszustand erlauben. Dann erscheint einige Hundert Schritt vor seinem goldenen Wagen ein glänzender Vorreiter, der seine Ankunft verkündigt. Alles macht Platz, Jeder sucht einen Punkt, wo er den Papst am bequemsten besehen, respective sich den Segen geben lassen kann. Die Musik verläßt die große Palme, um die herum sie gewöhnlich postirt ist, stellt sich an der Seite der Fahrstraße auf und spielt den von Gounod zum fünfzigjährigen Jubelfest des Papstes eigens componirten Hymnus.
Pio Nono, mit dem großen rothen Cardinalshut bedeckt, steigt aus, und von Cardinälen und ausgewählten Kirchenfürsten umgeben, geht er langsam und unaufhörlich den Segen ertheilend einige Male die Anlagen auf und ab, während die Menschenmasse nachziehend und viva il Papa rufend ihm den Genuß der Naturschönheit eigentlich sehr streitig macht. Viele auch – besonders Weiber – drängen sich direct an ihn heran und bitten um einen ganz speciellen Segen. Unter solchen Umständen bleibt Pio Nono in der Regel nicht länger als höchstens eine Viertelstunde auf diesem angreifenden Spaziergange, dann fährt er wieder durch den Corso im geschlossenen Wagen nach dem Vatican zurück.
Lehrernoth. Vor einigen Tagen las ich in Nr. 48 der Gartenlaube vom vorigen Jahre den interessanten Artikel „Ein preußischer Subalternbeamter“, und dies veranlaßt mich, Sie mit diesem Schreiben zu belästigen. Ich bin überzeugt, daß Sie, der Sie mit so regem Interesse an allen öffentlichen Zeitfragen Theil nehmen, mir diese Freiheit verzeihen werden.
In dem erwähnten Artikel werden die Gehaltsverhältnisse der Subalternbeamten der preußischen Gerichte beleuchtet, und durch Thatsachen der Beweis geführt, wie ein solcher Beamter durch die schlechte Besoldung leicht genug zum Verbrechen getrieben werden kann.
Es ist nicht zu bestreiten, daß das Einkommen der Subalternbeamten theilweise besser sein könnte, aber ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich, ein preußischer Lehrer, und Tausende meiner Collegen uns glücklich schätzen würden, in pecuniärer Hinsicht so gestellt zu sein, wie die Subalternbeamten. Höher versteigen sich unsere Wünsche nicht – und dennoch klagt man uns von gewissen Seiten offen und rückhaltslos der Unbescheidenheit an. Um zu beweisen, daß ich nicht übertreibe, erlaube ich mir folgendes Thatsächliche über unsere Gehaltsverhältnisse in Kürze hier mitzutheilen.
Ich bin fast zehn Jahre im Amte. Ehe ich hierher versetzt wurde, war ich in einer kleinen Stadt von zweitausend Einwohnern angestellt und bezog sieben Jahre lang ein baares Gehalt von hundertfünfzig Thalern jährlich nebst freier Wohnung. Noch zwei andere meiner dortigen Collegen bezogen dasselbe Gehalt. Und bei diesem enormen Einkommen hatte ich den Muth, mich zu verheirathen und glücklich sein zu wollen. Daß Schmalhans täglich Küchenmeister war, ist leicht zu begreifen; aber dennoch mußten wir davon leben: Schulden sollten nicht gemacht werden, obgleich dieselben unvermeidlich waren, und dabei mußte auch der äußere Schein gewahrt bleiben. Wie es möglich war, mit diesem Gehalte nur einigermaßen auszukommen und nicht dabei zu verhungern, wird Manchem wohl unbegreiflich sein, und der Einblick in unser tägliches Ausgabebuch, welches ich eine Zeit lang gewissenhaft geführt, würde wohl Ihre gerechte Bewunderung erregen. Weil nun die würdigen Vertreter der Stadt gar nicht einsehen wollten, daß mit solchem Gehalte nicht auszukommen sei, bewarb ich mich um andere Stellen, und es gelang mir, an der hiesigen Bürgerschule mit zweihundertfünfundzwanzig Thalern ohne freie Wohnung angestellt zu werden. Ich wähnte mich glücklich – aber ich war aus dem Regen in die Traufe gekommen; denn die hiesigen Theuerungsverhältnisse sind ganz anderer Art, als die der kleinern Stadt. Noth und Sorgen blicken selbstverständlich täglich zum Fenster herein. Miethe, Feuerungsbedarf, anständige Kleidung für Frau und Kinder, und alle sonstigen Bedürfnisse des Lebens sollen von diesem Gehalte bestritten werden. Es kamen Krankheitsfälle in meiner Familie vor – und um nicht geistig zu versumpfen, mußte doch auch für Fortbildung etwas gethan werden, was natürlich Alles Geld kostet.
Es bedarf wohl keiner Versicherung weiter, daß die größte Kunst dazu gehört, sich unter diesen Umständen ehrlich durch das Leben hindurchzuwinden. Von einundzwanzig Lehrern, die sich hier befinden, beziehen die meisten dasselbe Gehalt wie ich, einige etwas mehr; aber nur drei haben das Gehalt eines Bureau-Assistenten, dreihundertfünfzig Thaler, und das sind Männer, von denen der eine bald dreißig, die beiden anderen über dreißig Jahre im Amte sind. Dabei sind die hiesigen Verhältnisse noch nicht einmal die schlechtesten. Trotzdem man nun den Lehrerstand, der doch mit der wichtigste Stand im Staate ist, so kärglich hinstellt, wird doch von ihm Berufsliebe, Berufsfreudigkeit und noch vieles Andere verlangt. Denken Sie sich hinein in diese Lage, geehrter Herr, und Sie werden mir Recht geben, wenn ich nochmals behaupte: glücklich, dreimal glücklich würden wir Lehrer sein, wenn unsere Besoldung durchschnittlich so beschaffen wäre, wie die der Subaltern-Beamten der preußischen Gerichte! – Ob sich dieser bescheidene Wunsch erfüllen wird, darüber liegt die Entscheidung noch in weiter Ferne. Wenn es in jetziger Zeit häufig vorkommt, daß Lehrer ihr Amt aufgeben und eine andere Carrière wählen, ist ihnen dies wahrhaftig nicht zu verdenken, denn Entbehren und Entsagen ist der meisten Lehrer herbes Loos!
Es wird mir sehr angenehm sein, wenn Sie diese Zeilen der Veröffentlichung werth halten; doch bitte ich dann, meine Namensunterschrift und den Ortsnamen wegzulassen, da ich sonst Maßregelungen zu befürchten haben würde. Es ist ja allbekannt, daß unsere größten Gegner unsere nächsten Vorgesetzten, die Pastoren, sind, wie auch Sie zur Genüge schon erfahren haben werden, daß die meisten Priester entschiedene Feinde der Gartenlaube sind. So eiferte der zweite Prediger in J–w eines Sonntags eine halbe Stunde lang gegen das Lesen der Gartenlaube, und nannte unter anderm die Gartenlaube ein gefährliches Gift, welches den Verstand berücke und durch seine Süßigkeit schleichend, aber sicher Herz und Seele vergifte.
Er selbst aber las sie mit dem größten Interesse!
J. v. F… in Petersburg. Ihr Artikel über die Transmutationstheorie, unaufgefordert und unfrankirt eingesandt, steht Ihnen gegen Ersatz der Portokosten wieder zur Verfügung.
B. D. in Paris. Pfingstfreitag – nicht verwendbar.
F. W. in Hbg. Wir wissen, daß das neulich mitgetheilte Gedicht Bürger’s schon früher veröffentlicht worden ist, ohne jedoch in weitere Kreise gedrungen zu sein, und haben dies auch bei seinem Abdrucke in der Gartenlaube selbst betont. Uebrigens ist das Gedicht wirklich von Bürger und das Original befindet sich in den Händen Hermann Althoff’s zu Detmold, der, wie wir aus seiner in diesen Tagen erfolgten fr. Mittheilung an uns ersehen, demnächst zahlreiche, in seinem Besitz befindliche Briefe Bürger’s der Oeffentlichkeit übergeben wird.
Inhalt: Aus eigener Kraft. Von W. v. Hillern. (Fortsetzung.) – Aus den Zeiten der schweren Noth. Der schwarze Herzog vor Halberstadt. Von G. Hiltl. Mit Abbildung. – Eine Theaterprobe. – Die gütige Fee des Erzgebirges. Mit Portrait. – Im Banne der Engelsburg. II. – Blätter und Blüthen: Lehrernoth. – Kleiner Briefkasten.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: bewesen