Die Gartenlaube (1871)/Heft 3
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No. 3. | 1871. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Als ich am andern Tage mich nach oben begab, meine kleine Ausgabe des Faust in der Hand, fand ich nur den Abbé.
Er nahm mich mit einer gezwungenen Höflichkeit auf, entschuldigte zu meiner großen Enttäuschung Fräulein Kühn, die bei ihrer Mutter, welche eine schlechte Nacht gehabt, sei, und fragte dann, nachdem er mich gebeten Platz zu nehmen: „Sie haben da ein Buch von Goethe – ich meine, Sie sprachen gestern davon? – für Fräulein Kühn.“
„So ist es; den Faust, den Fräulein Kühn nicht kennt.“
„Den Faust … ach ja – ich habe davon gehört; er hat sich dem Teufel verschrieben und dann die Buchdruckerkunst erfunden … es liegt eine gute Moral in der Sage … aber werden Sie Fräulein Kühn das, wie ich sehe, ziemlich starke Buch so lange lassen können, bis sie es ausgelesen hat? Sie wirft sich gewöhnlich mit solchem Eifer auf eine solche Lectüre, daß dieselbe nicht beenden zu können ihr eine vollständige Qual ist …“
„Ich kann Sie darüber beruhigen,“ sagte ich; „oder richtiger gesprochen, ich muß Sie leider mit der Erklärung beunruhigen, daß ich voraussetzen darf, unser Aufenthalt hier wird ganz so lange währen, um in vollkommener Ruhe einmal den Faust, den ersten wie den zweiten Theil, durchzulesen, und auch, ihn ein wenig zu studiren – denn ein kleines Studium erfordert er freilich, namentlich für eine Dame, ein junges Mädchen.“
Meine Antwort machte die Züge des geistlichen Herrn nicht heller. Seine Frage war offenbar geschehen, um eine Andeutung über die Dauer unseres Aufenthalts zu erhalten. Doch fuhr er sogleich fort:
„Ist es für junge Mädchen geschrieben?“
„Für eins wie Fräulein Kühn – weshalb nicht?“
„Sie haben Recht,“ versetzte der Geistliche. „Meine Cousine hat sich das Privilegium genommen, so ziemlich Alles zu lesen! Mein Gott, was ist dagegen zu machen! Man kann ihr die Bibliothek nicht verschließen, und sie ist so allein hier; wegen der Mutter auch die langen Wintermonate hindurch. Wenn sie noch die Musik hätte zu ihrer Beschäftigung! Aber sie behauptet, sie habe kein Talent dafür. Sie ist eine vortreffliche Haushälterin – das ganze Hauswesen steht unter ihrer Leitung; sie beaufsichtigt auch die Verwaltung des Gutes, überwacht den Regisseur, hat ihre Kranken und Armen, nimmt sich mit Rath und That der Communal-Angelegenheiten an – unser Regisseur hier ist der Maire der Gemeinde und so macht sich das so gleichsam wie von selbst; aber das Alles füllt ihre Zeit nicht aus, die Winterabende nicht; sie hat immer noch ganze Stunden, um sich einer Lectüre hinzugeben, die uns nicht besser macht.“
„Wenn sie belehrt, macht sie auch besser!“
„Das mag Ihre Anschauung sein, die meine ist es nicht, mein Herr! Aber da Sie ein halber Gelehrter sind und, wie Sie eben versicherten, Ihre Angelegenheit hier eine Dauer haben kann, die Ihnen wünschenswerth machen muß, eine Unterhaltung zu haben, so erlauben Sie mir, Ihnen die Bibliothek zur Verfügung zu stellen. Wenn Sie mich begleiten wollen, so will ich sie Ihnen zeigen.“
Er stand auf und ich folgte ihm. Während wir den Salon verließen, sagte er:
„Die Bibliothek stößt an unsere eigentlichen Fremdenzimmer – ich will Ihnen auch diese zeigen, überzeugt, daß Sie vorziehen werden, sich da einzuquartieren, wo Sie die beste Unterhaltung so dicht zur Hand haben. Die Zimmer sind wohl ausgestattet und sehr freundlich; Sie werden da nicht allein wie unten den Ausblick auf den vordern Hof, wo Sie Ihre Leute beobachten können, sondern auch nach der andern Seite eine reizende Aussicht auf den Garten, den Park und das ganze schöne Oignonthal haben. Eine Kammer für Ihren Burschen findet sich auch da …“
„Ich bin Ihnen sehr verbunden,“ unterbrach ich ihn, „aber ich danke für Ihre Güte; ich will Sie hier oben nicht belästigen.“
„Das thun Sie nicht, gewiß nicht,“ fiel er eifrig ein; „ich werde Ihnen die Zimmer zeigen und ich bin überzeugt …“
„Ich habe meine Gründe, das Quartier unten vorzuziehen.“
„Ihre Gründe?“ rief er aus, indem er mir, wie um in meinen Zügen zu lesen, das Gesicht zuwandte.
Offenbar hatte meine Aeußerung etwas, das ihn stutzig oder betroffen machte.
„Ich bin unten der Hausthür und meinen Leuten näher und ziehe das vor,“ sagte ich.
„So, so … es steht ganz bei Ihnen!“ erwiderte er, eine Flügelthür vor mir öffnend; sie führte in einen hellen schönen Saal, der der Eingangsthür gegenüber ein großes mit farbigen, gemalten Scheiben verglastes Fenster hatte. Unter diesem Fenster stand ein mächtiger runder Tisch und an diesem Tische, über eine aufgeschlagene Mappe gebeugt, stand Fräulein Kühn. Die Sonne warf eine Fülle vollbunten Lichts durch die farbigen Scheiben auf ihre in graue Seide gekleidete Gestalt – sie war in der That [38] eine „blendende Erscheinung“ in diesem Augenblick, und dies kann die einzige Entschuldigung für die plötzliche Betroffenheit und Verwirrung sein, in die ich gerieth, als ich sie so unerwartet vor mir sah.
Sie konnte nicht anders als dies wahrnehmen; meine Anrede war zu stockend hervorgestottert – ich hatte meinen Faust völlig vergessen und ja auch im Salon liegen lassen; es war sehr liebenswürdig von ihr, so rasch meiner Verlegenheit durch die Worte ein Ende zu machen:
„Sie verschmähen also nicht, unserer kleinen Büchersammlung einen Besuch zu machen, obwohl Sie hier in’s Herz Frankreichs gelangen? Dies Alles rundum sind französische Bücher …“ sie deutete auf die dunklen Eichenholzschränke an den Wänden – „das Herz Frankreichs ist nicht Paris, sondern es ist da, wo die Gedanken der großen Geister unseres Landes in ihren besten Werken vereinigt sind. Sie können Paris nehmen, aber auf dieses Herz Frankreichs können Sie die Hand nicht legen; es wird immer mit derselben Kraft und Wärme schlagen, durch alle Zeit und Zukunft, wie der Pendel an der Weltenuhr, deren Zeiger den Völkern zeigt, wann die Stunde einer neuen großen Entwickelung zum Schönen, eines neuen mächtigen Fortschritts zur Freiheit gekommen!“
Ich mußte sie wohl mit einem eigenthümlichen Mienenspiel angesehen haben; anfangs imponirten mir ihre Worte, im nächsten Augenblicke mußte ich auflachen.
Sie sah mit einem bitterbösen Blick zu mir auf.
„Weshalb lachen Sie? … scheint Ihnen das auch ein falsches ‚Dogma‘?“
„Werden Sie mir darum nicht böse,“ versetzte ich – „aber ich konnte nicht anders. Was Sie sagten, war sehr schön, schwunghaft, sonor – es war eines jener Worte, die in Ihrer Presse, in Ihren Volksversammlungen, Ihren Kammern zünden; bei denen das Gemüth eines Franzosen von einer edlen und schönen Regung für sein Vaterland ergriffen wird und sich auf’s Erhabenste erweitert fühlt, – und bei denen sich solch eine kalte kritische Seele, wie sie in uns Deutschen steckt, nur sofort fragt: ist das auch wahr?“
„Nun, ist es nicht wahr?“
„Nein! Weder Italien, als es Dante, Rafael, Michelangelo hervorbrachte, noch England, als es Shakespeare der Welt gab, noch Deutschland, als es die Buchdruckerkunst erfand, die Reformation vollzog, Kant und Goethe gebar, haben nach der französischen Uhr gesehen, ob dazu die Stunde gekommen!“
Sie wurde roth, ich ebenfalls, in der Furcht, sie erzürnt zu haben.
„Ach,“ sagte sie, „ich glaube gar nicht, daß solcher an alte abgethane Geschichten und Namen sich klammernder Widerspruch etwas just nur Deutsches sei … man kann ihm hier in Frankreich auch begegnen … es ist eben nur Widerspruchsgeist, männlicher Widerspruchsgeist; im Grunde fühlen Sie doch, daß ich Recht habe. Und so bin ich weit entfernt,“ setzte sie den Kopf aufwerfend hinzu, „Sie in diesem Augenblick als das, wofür Sie sich ausgeben wollen, den Repräsentanten der deutschen ‚Kritik‘ gelten zu lassen, die jeden Schwung, jeden schönen Enthusiasmus todt macht!“
„Desto besser,“ sagte ich, „die Kritik hat selten das Glück zu gefallen!“
„Etienne,“ wandte sie sich zu dem Geistlichen, „Sie müssen jetzt unserem Gast die einzelnen Abtheilungen der Bibliothek zeigen; sehen Sie, dort,“ sagte sie auf einen der großen Schränke deutend, „finden Sie die geschichtlichen Werke.“
Ich näherte mich dem bezeichneten Schranke und las den Rückentitel der darin aufgestellten Bücher. Neben dem Schranke hing ein schmaler Wandspiegel über einem halbrunden kleinen Marmortische, auf dem eine schöne Bronzebüste stand; als ich darauf hinsah, fiel mein Blick in den Spiegel und ich sah, wie der Abbé eilig dem jungen Mädchen eine leis geflüsterte Mittheilung machte, die etwas wie einen Zug von Aerger oder Verlegenheit in ihren schönen Zügen hervorrief.
Sie sahen sich eine Weile schweigend an – der Geistliche flüsterte dann rasch einige Worte, Fräulein Kühn senkte wie nachdenklich den Kopf – er sprach wieder in sie hinein, endlich nickte sie, wie einwilligend. Der Abbé verließ sie nun und kam zu mir, wie um dann wieder den Führer im Saale zu machen.
Nach einigen flüchtigen Blicken in die nächsten Schränke machte ich mich von ihm los und ging zu Fräulein Kühn zurück, die noch über ihre Mappe gebeugt stand. Sie blätterte jetzt darin und brachte ein Heft zum Vorschein, das sie aufschlug. Es enthielt eine Reihe landschaftlicher Scenerien in Farbendruck.
„Hier ist ein illustrirtes Werk, welches die am meisten malerischen Punkte der Franche Comté enthält,“ sagte sie, es mir zuschiebend. „Nicht wahr, es sind Landschaften von sehr großer Schönheit darunter?“
„Der Künstler hat jedenfalls ein großes Gefühl für Schönheit gehabt,“ versetzte ich, nachdem sie mir die ersten Blätter gezeigt, „aber doch auch wohl stark idealisirt. Ob diese Gegenden wirklich so großartig in ihren Linien und so farbenreich in ihren Einzelnheiten sind, kann ich freilich nicht beurtheilen.“
„Ah – Sie bewundern sie nicht, Sie bringen auch in diese Natur hinein Ihre deutsche Kritik,“ rief Fräulein Kühn gereizt aus. „In der That, das ist stark! Ich möchte Ihren Widerspruchsgeist beschämen, indem ich Ihnen eine dieser Partien zeigte, die wenig Kilometer von hier abwärts am Oignon liegt. Es ist diese hier,“ sie schlug in dem Hefte nach und schob das Bild, als sie es gefunden, vor mich hin. „Sie müssen gestehen, daß es ein reizender Punkt ist, und wenn wir Sie dahin führten, würden Sie sehen, daß der Künstler ihm nicht geschmeichelt, ihn nicht idealisirt hat! Was meinen Sie, Etienne?“
„Ganz gewiß, wir sollten Monsieur dahin führen,“ rief der Abbé mit einer auffallenden Lebhaftigkeit aus, „wir würden ihn da sicherlich beschämt sehen, wenn er an der Schönheit unserer Gegend zweifelt; Monsieur aber würde sich für die Mühe des Weges überreichlich belohnt sehen durch die seltenen Reize der Landschaft.“ …
Ich war ein wenig erstaunt, den geistlichen Herrn so bereitwillig auf einen solchen Plan, der etwas ganz überraschend Freundliches hatte, eingehen zu sehen. Es war mir ein leises Mißtrauen gekommen, daß er meinen Verkehr mit seiner Cousine mit mehr Widerwillen als Freude, ja vielleicht einem eifersüchtigen Gefühle ansehe. Darin, schien es jetzt, hatte ich mich gründlich getäuscht.
„Wenn der Ausflug nicht lange währt und mich nicht zu weit von meinem Posten hier entfernt,“ sagte ich zögernd und, wie ich fürchte, ein wenig roth bei dem Gedanken an solch eine kleine Partie in Gesellschaft des Schloßfräuleins werdend.
„Es ist eine Nachmittagspazierfahrt,“ fiel sie ein, „wir könnten sie gleich heute machen, wenn ich heute meine Mutter, die eine schlechte Nacht hatte, verlassen dürfte; also sei es morgen – nach dem Diner, etwa um vier Uhr …“
Ich verbeugte mich.
„Sorgen Sie für den Wagen Etienne,“ sagte sie; „und nun muß ich nach der Mutter sehen … adieu, mein Herr – bis morgen!“
Man konnte nicht graciöser und zugleich würdevoller mit einem leichten Kopfnicken grüßen, auch nicht anmuthigeren und elastischeren Schrittes dahinwandeln, wie es Fräulein Kühn that, als sie jetzt den Büchersaal verließ.
„Sie werden von Ihren Landsleuten nichts zu besorgen haben, wenn Sie sich in friedlichem Vereine mit einem Feinde in’s Land hinaus wagen?“ fragte ich, als auch ich nun ging, den Geistlichen.
„Darüber seien Sie ohne Sorgen,“ versetzte dieser mir folgend. „Unser Landvolk ist nicht sehr kriegerisch gestimmt. Die Franctireurs, welche vorgestern von Ihnen verfolgt wurden, waren, um es zu gestehen, Leute und ziemlich harmlose Leute aus unserer Gemeinde; diesen ist Fräulein Blanche eine geheiligte Person, und wer als ihr Gast kommt, ist es ebenfalls!“
„Und selbst wenn er ein Barbar aus dem Ulanenvolk von den fernen Grenzen des Dragonerlandes ist?“ sagte ich.
„Sie spotten mit Recht meiner Unwissenheit – meine Cousine hat mich aufgeklärt, wie dumm ich war! Aber wollen Sie jetzt nicht auch in unsere Fremdenzimmer hier nebenan einen Blick werfen?“ fragte der Geistliche.
„Ich danke Ihnen noch einmal für Ihre Güte – ich sagte Ihnen den Grund, weshalb ich sie ablehnen muß,“ versetzte ich.
Ich verbeugte mich und wir trennten uns.
„Du hast Recht,“ sagte ich zu Friedrich, als ich diesen wiedersah, „man will uns durchaus aus diesen Zimmern fortschaffen. Das muß uns wachsam machen. Halte Deine Tapetenthür ein wenig im Auge. Besonders morgen. Ich werde dann [39] am Nachmittage einen kleinen Ausflug mit der Herrschaft machen; verlaß unterdeß die Zimmer nicht.“
„Sie wollen einen Ausflug machen – und allein mit unseren Wirthen? Sie allein?“
„Weshalb nicht? Sind sie nicht die beste Escorte, wenn ich unter Feinde geriethe?“
„Sie müssen es wissen,“ sagte Friedrich kopfschüttelnd. „Sie sollten mich mit sich nehmen,“ setzte er nach einer Weile hinzu.
„Ich brauche Dich nöthiger hier – als Hüter, weißt Du.“
„Oder Herrn Glauroth …“
Der wäre der Letzte gewesen, den ich mitgenommen hätte.
„Nein, nein,“ sagte ich, „man hat Herrn Glauroth nicht geladen. Sprich nicht mit ihm darüber – der Ausflug ist eine Sache von ein paar Stunden und der Rede nicht werth.“
Trotzdem aber sollte ich Friedrich doch zum Begleiter auf unserem Ausfluge erhalten.
Der Geistliche machte mir am andern Morgen einen Besuch. Er kam, wie er sagte, mich daran zu erinnern, daß ich versprochen, am Nachmittage mit ihm und Fräulein Blanche eine Spazierfahrt nach dem alten Schlosse von Colomier aux Bois zu machen.
„Wie könnt’ ich eine so verheißungsvolle Fahrt vergessen haben – ich verspreche mir einen sehr großartigen Genuß davon,“ antwortete ich.
„Ich hoffe,“ sagte der Abbé lächelnd, „daß auch Fräulein Blanche den Genuß davon haben wird, Sie von ihrem Colomier ganz entzückt zu sehen.“
„Gehört es ihr?“
„Der Familie Kühn – das alte Castell und eine einträgliche Ferme am Fuße desselben.“
„Ah, desto besser,“ fiel ich ein. Diese Thatsache mußte mir mein Mißtrauen nehmen, wenn ein solches in mir über ein so außerordentlich freundliches Entgegenkommen aufgestiegen wäre. Es war so natürlich, daß man dem Fremden einen so schönen Besitz zeigen, ihm damit am Ende ein wenig imponiren wollte!
„Ich habe dabei eine Bitte,“ fuhr der geistliche Herr fort, … „wir haben ein kleines Vesperbrod mitzunehmen; um es zu hüten und zu serviren, fehlt der Bediente; der Diener von Madame Kühn ist unter die Zuaven gegangen, der Gärtner eignet sich zu solchen Diensten nicht – würden Sie Ihren Burschen nicht mitnehmen können?“
„Sehr gern!“ sagte ich bereitwillig. „Er hat mir schon den Wunsch ausgedrückt, mich begleiten zu dürfen!“
„Also um vier Uhr treten wir unsere Fahrt an?“
„Wann Sie befehlen!“
Nach einer kurzen Unterhaltung über gleichgültige Dinge empfahl sich der geistliche Herr.
„Ich soll Friedrich mit mir nehmen?“ sagte ich mir. „Merkwürdig! Was braucht man einen Diener bei einem kleinen ländlichen Vesperbrod, wie sie das nennen? Und haben sie ihren Kutscher nicht, wenn der Bediente fehlt? Es scheint, auch Friedrich soll aus diesen Zimmern fortgeschaft werden! Nun wohl, ich will dafür sorgen, daß es nichts hilft, uns überlisten zu wollen. Warum sagt dieser geistliche Herr nicht offen, was da hinten steckt? Wenn sie irgend etwas in dem Versteck da hinten aufbewahren, was sie verstecken wollen, weshalb reden sie nicht, und weshalb fürchten sie uns als Diebe und Plünderer?“
Ich ging in die Bibliothek zurück und nahm aus einem der Schränke ein Exemplar des Chevalier von Faublas, das ich vorhin gesehen. Bei unserem gemeinschaftlichen Essen sagte ich zu Glauroth:
„Mein lieber Camerad – Sie werden den Nachmittag Dienst haben.“
„Und welchen?“
„Sie werden, da ich mit Friedrich eine Recognoscirung vornehmen will, bei der Fräulein Kühn unsern Wegweiser machen wird …“
„Das Fräulein – das haben Sie als Führer requirirt … wahrhaftig, das ist stark … hüten Sie sich, daß sie Sie mir nicht verführt, oder gar entführt …“
„Eben weil das möglich ist, und damit unsere Heeressäule nicht ohne Haupt bleibe, vertraue ich Ihnen unterdeß den Oberbefehl an. Der Dienst soll aber nicht schwer für Sie sein. Sie werden sich in meinem Zimmer in einen beliebigen Lehnstuhl setzen und eine Cigarre entzünden; Sie dürfen auch die Romanze vom einsamen Zecher in Scene setzen; dürfen aber unter keiner Bedingung die Zimmer verlassen, bis ich zurückgekommen bin. Das ist meine strenge Ordre; wenn Sie sie übertreten, thu’ ich Ihnen ein Leids an oder ich lasse Sie gar vor ein Kriegsgericht stellen. Da Sie aber ein leichtsinniger Mensch sind und ich mich nicht im Geringsten auf Sie verlasse, so habe ich ein besonderes Mittel ersonnen, Sie an Ihren Posten zu fesseln. Ich habe Ihnen den Chevalier von Faublas heruntergeholt.“
„Den Chevalier von Faublas? Wer ist das? Was soll ich mit ihm? Heißt der geistliche Herr etwa so, und sollen wir einen kleinen Tempel zusammen machen?“
„Was denken Sie … ich rede von einem Buch – haben Sie nie davon gehört?“
„Nein – ich erinnere mich nicht, daß in unserem Maturitäts-Examen die Kenntniß desselben verlangt wurde.“
„Um so mehr wird es Sie freuen, den Chevalier von Faublas jetzt kennen zu lernen; er ist eine so bewundernswürdige, so glänzende Vereinigung von niederträchtiger Lüderlichkeit und lauterer Schönheit der Form, daß er einen Mann wie Sie während der Stunden, in welchen ich Sie gefesselt wissen will, sicher nicht losläßt!“
„Ah – es ist sehr schön, daß Sie so zu meiner Bildung beitragen wollen.“
„Gut,“ versetzte ich; „ich baue darauf, daß Sie die Zimmer, was auch kommen mag, nicht verlassen!“
„Das lautet ja fast geheimnißvoll!“
„Nehmen Sie an, es berge sich ein Geheimniß dahinter – Sie werden mir desto gewissenhafter diesen Dienst leisten!“
Ich stand auf, rief Friedrich, und wir rüsteten uns zur Abfahrt. Auf dem Hofe fuhr ein leichter offener Wagen vor, bespannt mit zwei ziemlich schweren Rossen, die auch wohl, wenn sie nicht zu solchen Diensten gebraucht wurden, den Ackerwagen zogen. Derselbe Mensch, mit dem wir am Abend zusammengestoßen waren, lenkte sie; er mußte eine Art Factotum im Hause sein; aber als Kutscher sollte er nicht fungiren; als Fräulein Blanche heruntergekommen und sich auf die vordere Bank des Wagens geschwungen, reichte er ihr die Zügel. Ich eilte, nicht warten zu lassen, und als ich die Treppe niederstieg, wurde ich gebeten, meinen Platz neben dem Fräulein zu nehmen; der Geistliche und Friedrich nahmen die zweite Bank ein. Die Pferde zogen an, das Fräulein lenkte mit vollkommener Sicherheit. Wir rollten durch Ackerfluren dahin, in südlicher Richtung, auf guter fester Straße; nach einer halben Stunde waren wir in einem von zur Rechten ziemlich schroff, zur Linken sanft ansteigenden Bergen eingeschlossenen Flußthal, das sich mehr und mehr verengte; zu unserer Linken schlängelte sich durch Wiesen und Weidendickicht der Oignon. Auf der ganzen von einem heitern Himmel überspannten Landschaft lag Sonnenschein und tiefer Friede.
„Es ist seltsam,“ sagte ich, „der Krieg ist’s doch allein, was mich hierher, in diese mir fremde Welt gebracht hat. Und doch ist’s mir in diesem Augenblick unmöglich, an den Krieg zu glauben. Wenn wir von verstorbenen Freunden oder Angehörigen träumen, so erscheinen sie uns stets als lebend; die Thatsache des Todes ist etwas, wofür unser Seelenleben kein Organ, sie zu fassen, hat; so ist mir jetzt die Thatsache des Krieges etwas Unfaßbares; in diese Welt gehört nicht der Krieg, die Seele stößt den Begriff von sich; Tod und Krieg sind zwei gleich absurde Dinge, dem Urmenschenwesen völlig fremd!“
„Weshalb,“ antwortete Fräulein Blanche, „bringen Sie den Krieg, das nach Ihren eigenen Worten Unmenschliche? Sie sagen: Ihr habt begonnen, Ihr habt in unser Land einbrechen wollen. Aber rechtfertigt ein Frevel, den ein Anderer beginnt, mich, wenn ich den Frevel überbiete?“
„Denken wir, um nicht darüber selbst in Krieg zu gerathen,“ entgegnete ich, „daß es ein Verhängniß sei, wie ein Sturm, ein furchtbares Wetter, das ja auch plötzlich über solch eine friedliche Welt ausbrechen kann! Von wie viel solcher Mächte und verhängnißvoller Kräfte, die als Schicksale über uns kommen, muß sich der Mensch nicht erfassen und beherrschen lassen, und kann sie nicht ändern! Erfassen uns die Leidenschaften nicht just so?“
„Nein,“ sagte sie fast heftig, „die Leidenschaften müssen wir zu beherrschen wissen!“
„Gut,“ erwiderte ich; „musterhafte Menschen können das, wenn sie die Einsicht haben, zu sehen, die Leidenschaft führt sie [40]
in’s Verderben. Aber es giebt Leidenschaften, in welchen wir nichts als die Führung zum Glück sehen. Die Liebe ist solch eine Leidenschaft.“
„Wie könnte etwas zum Glück führen, was Sie selbst mit Krieg, Sturm, Wetter und verhängnißvollen Schicksalsmächten zusammenwerfen?“
„Die Verhängnisse drücken uns nur, so lange wir uns gegen sie stemmen. Sobald wir uns ihnen unterwerfen und hingeben, können sie das Glück bringen.“
„Die Unterwerfung,“ rief Fräulein Blanche aus, „ist nicht Jedermanns Sache. Ein besonnener und starker Mensch hütet sich vor der Hingebung und führt den Zügel seines Schicksals selbst.“
„Frauen nicht immer mit dem Geschick, womit ich Sie in so fester Hand die Zügel lenken sehe!“ warf ich ein.
„Doch könnte es jede. Man muß es nur lernen wollen und man kann es!“
„Unsere Straße ist sehr glatt und eben, eine vortreffliche Vicinalstraße,“ sagte ich lächelnd; „vielleicht kommt noch eine schmale Brücke, ein Ausweichen, eine schwierige Stelle, wo ich die Genugthuung habe, Ihnen helfen zu müssen.“
„Es wäre sehr thöricht, wenn ich Ihre Hülfe erbäte, ehe ich weiß, ob Sie dann fahren können.“
„Das ist wahr, ich muß nach einer Gelegenheit suchen, um es Ihnen zu beweisen und ich wünsche nichts mehr als das!“
„Da ist Colomier aux Bois!“ sagte jetzt der Geistliche, auf eine Burgruine in der Nähe deutend.
Wir hatten längst eine Wendung gemacht und waren in ein höchst romantisches Seitenthal, das ein dem Oignon zuströmendes Gewässer bildete, eingefahren. Schroffe Felsen und pittoreske Klippenbildungen engten rechts und links die Thalsohle ein. Das Gewässer rauschte nahe unter uns in einem tief durch das Gestein gewühlten Bette – oft schoß es schäumend in heftigen Stromschnellen dahin; zuweilen zog sich unser dem Ufergestein abgewonnener Weg in steilen Erhebungen empor; dann hatten wir das tosende Gewässer in einer abgrundtiefen Schlucht unter uns und erhielten prachtvolle Ueberblicke über das romantische kleine Flußthal. Die Burgruine mit dem Belfried, die im Süden vor uns, wo das Thal vollständig abgeschlossen schien, von einem höheren Rücken herüberblickte, hatte ich längst in’s Auge gefaßt; Fräulein Blanche hatte bis jetzt nicht daran gedacht, mich auf dies unser Ziel aufmerksam zu machen. Sie war überhaupt nicht so liebenswürdig, wie sie es gestern gewesen; es war etwas Gereiztes in ihrem Wesen; sie warf wie Vorwürfe die Worte hin, die sie mir antwortete, mit dem schmollenden Aufwerfen der Lippen, durch das uns Frauen ihre Ungnade an den Tag legen. Was hatte sie? Reute sie die große Freundlichkeit, die in dieser unserer Fahrt für mich lag? Sie selbst hatte sie doch vorgeschlagen!
Mich, ich muß es gestehen, beunruhigte es. Ich war von Fräulein Blanche nach jener ersten abendlichen Unterhaltung schon bezaubert – aber auf dieser Fahrt verliebte ich mich in sie. Es sah so edel, so schön, so stolz und vornehm aus, dies Profil des vorwärts gerichteten, in die Ferne blickenden Kopfes, das ich neben mir hatte. Ihr dunkles Auge hatte einen so seelenvollen Blick; es sprach so fesselnd von der räthselvollen Gemüthstiefe, die der Deutsche in den Augen sucht, in die er sich verliebt; es hatte so gar nichts von dem Wechsel von trügerischem Sanftmuthsschlummer und leidenschaftlichem Feuer der Südländerinnen; in all ihrem einfachen natürlichen Wesen sprach sich eine solche Klarheit eines starken, sich selbst bewußten und tüchtigen Charakters aus; und ich, ich war vollständig von dieser schönen und fesselnden Erscheinung befangen … ich hätte so im leichten Gefährt neben ihr immer weiter rollen mögen in diese schöne sonnige Gotteswelt hinein, ohne Ziel, ohne Ende – in ihren Händen die Zügel unseres Fahrzeuges!
Wir kamen an einen kleinen Weiler; die Bergwände traten an einer Stelle unseres Weges zurück; der offene Raum war dazu benutzt, eine Mühle zu erbauen, in deren Räder sich ein dünnes, über blank gewaschenes Gestein niederrauschendes Gewässer stürzte; umher standen kleine auf Wohlhabenheit deutende Häuser mit Blumengärtchen nach der Straße hin. Die Reihe dieser Häuser zog sich, zwischen Bergwand und Chaussee liegend, unsern Weg entlang. Als unser Wagen an diesen Wohnungen vorüberrollte, stürzten aus mehreren derselben die Einwohner heraus; auf ihren Schwellen stehend, starrten sie die preußischen Uniformen an, stießen auch Rufe aus, die ich nicht verstand. Ein Paar Bursche, die uns entgegenkamen, blieben inmitten des Weges stehen, als ob sie Lust hätten, unser Gefährt aufzuhalten. Es war nicht unmöglich, daß sie auf den Gedanken geriethen, Fräulein Kühn werde eben von diesen Deutschen entführt … war das der Fall, so wurden sie bald beschwichtigt, denn das Fräulein rief ihnen einige Worte entgegen, worauf sie grüßend die Mütze zogen und bei Seite traten, um uns doch mit sehr zornigen und haßerfüllten Blicken nachzuschauen.
„Gepackt, gesiegelt! Nun geh’ hin,
Erfreue meinen Herzensjungen!
Wär’ ich so jung wie alt ich bin,
Ich wär’ der Feldpost nachgesprungen,
Hätt’ ihm dies Päcklein selbst gebracht.
Denn Alles, was ich denk’ und thu’
Vom Morgen- bis zum Abendsegen,
Eilt meinem Sohn, dem einz’gen zu,
Und was ich für ihn thu’ und sinn’,
Das steckt in diesem Päcklein drin.
Die Jacke und die warmen Socken,
Die strickt’ ich selbst beim Lampenlicht.
Die Augenlust vergess’ ich nicht.
Jetz siegl’ ich bei demselben Schein
Dem Kriegsmann seine Gabe ein.
Ein Päckchen Tabak, und dazu
O wenn er das erblickt! Im Nu
Wird ihm die Freud’ im Auge strahlen –
Gewiß, im Geiste sitzt er hier
Am trauten Tische neben mir.
Wird seinen Blick zum Wandschrank wenden,
Wo schon der Vater aufbewahrt,
Was er erschwang mit harten Händen.
Jetzt ist’s der Wittwe karger Lohn,
Und ganz zu unterst, fast versteckt,
Liegt, was die Liebste ihm geschrieben.
Warum? Daß er es erst entdeckt,
Wenn er erkannt, daß meine Liebe
Wenn’s anders wär’, das thät’ mir weh!“
So hat das Mütterlein bewegt
Ihr Werk vollbracht in stillem Sehnen.
Ob auch der Mutterstolz sich regt,
Und zitternd preßt das Herz die Hand:
Du forderst viel, o Vaterland!
Sobald der französische Intendant in Erfurt, Vismes, von der Affaire Nachricht erhalten hatte, war auf alle Sachen meines Sohnes Beschlag gelegt worden, Lehrherren und Bekannte vor Gericht gefordert. Die Freunde Walter und Zerrenner wurden besonders scharf inquirirt, befragt, ob sie Geistesverwirrung an Fritz bemerkt hätten? Um ihn zu retten, bejahten sie es, ohne daran zu glauben.
Herrn Rothstein wurden die Fragen vorgelegt: Ob sie einen Sieur Staps kennten? Ob er sich viel mit Politik beschäftigt, Haß gegen Napoleon gezeigt habe? Mit welchen Personen er umgegangen sei? Ob er eine Liebschaft gehabt? Ob er Paß und Reisegeld gehabt? Ob er überspannte Ideen geäußert? etc. –
Zerrenner benachrichtigte uns, daß die Post in Erfurt Befehl habe, alle Briefe an die Eltern des Staps der französischen Polizei zu übergeben; durch ihn hatten wir auch zuerst erfahren, daß Friedrich in Wien arretirt sei, man hoffe aber, daß ihm das Leben geschenkt würde. Welch schwärmerische Liebe dieser Zerrenner für meinen Sohn empfand, beweist ein Stammbuchsblatt; es war ihm um keinen Preis feil, denn Friedrich hatte einige Zeilen darauf geschrieben.
Er selbst hatte hinzugefügt:
Himmlischer, göttlicher Jüngling!
Du, der Unschuld Blüthe und Kraft,
Du, der Eltern Freude und Wonne!
Warum strebte Dein Geist zu höheren Thaten,
Als die menschliche Kraft zu tragen im Stande?
Warum folgtest Du nicht,
Als Du den schrecklichen Plan
Theueren Freunden vertrautest,
Und sie mit freundlichem Wort
Dich zurückzogen vom Abgrund?!
Warum eiltest Du dennoch
Sie so schmerzlich zu täuschen?
Heimlich gingst Du dahin
ohn’ alles zum Unterhalt Nöthige,
Vergaßest Eltern, Freunde und – Dein Glück!
Dachtest nicht daran, obwohl Dir’s wohlbewußt,
Welchen Kummer, Schmerz, Angst Du ihnen bereitest.
Und Dein Plan – ach, er scheiterte im Nu,
Und Du warst unglücklich!
Deutscher, der Du dies liesest,
Weihe dem edeln Jüngling eine Thräne!
Ach, er sank dahin im edelsten Streben,
Nur des Vaterlandes Schmerz hatte sein Glück zerstört!
Im Jahre 1810 bekam ich einen Brief aus Dresden des Inhalts, der Kaiser Napoleon habe befohlen, den Eltern des Friedrich Staps eine Unterstützung zukommen zu lassen; wir möchten uns deshalb an Duroc wenden. Ich that es, ich bat nicht um Geld, nur um ein beglaubigtes Attest über den Tod meines Sohnes. Auch hier erfolgte keine Antwort. Die Sache soll sich jedoch folgendermaßen verhalten haben. Als Bonaparte nach geschlossenem Frieden 1809 über München nach Paris zurückkehrte, soll er gegen den König von Baiern geäußert haben, er sei gesonnen, dem Vater des Staps ein Geschenk zu geben, und er frug den König von Baiern, ob er nicht Jemand wisse, durch dessen Hand dieses gehen könne. Der König schlug den Schreiber des Briefes vor. Bonaparte sagte, Duroc solle Alles vermitteln. Der König von Baiern theilte dies dem Schreiber des Briefes mit, welcher in Folge dessen an mich schrieb. Duroc war jedoch schon, dem König unbewußt, nach Paris abgereist, und Napoleon folgte ihm denselben Abend. So wurde Napoleon’s Absicht vergessen. Aber der arme Jüngling mußte doch einen Stachel in dem Gewissen des Welteroberers zurückgelassen haben!
Darüber war uns nun Gewißheit geworden: Friedrich war in Schönbrunn erschossen. – Er hatte sein Versprechen erfüllt: „Lächelnd will ich dem Tode entgegengehen.“ Doch noch immer wußten wir nichts Bestimmtes über seine letzten Stunden.
So war das Jahr 1813 genaht. Nach der Schlacht bei Lützen brachte man viele Verwundete, besonders Russen und Preußen, nach Naumburg. Sie wurden theils bei den Einwohnern einquartiert, theils, da es an Raum fehlte, in den Kirchen untergebracht. Auch die St. Othmarskirche wurde Lazareth. Ich nahm mich der Leidenden thätig an; oft hielt ich Betstunde in der Kirche, und that alles, was in meinen Kräften stand, das unsagbare Elend zu lindern. Unter den schwer Leidenden erregte ein junger Mann aus Berlin meine besondere Theilnahme. Ich brachte ihn in eine Familie, wo er wie ein Kind des Hauses gepflegt wurde. Sein Vater, welcher ihn oft besuchte, brachte uns eine Nummer des russisch-deutschen Volksblattes mit (herausgegeben von Kotzebue, Nr. 26. Berlin, den 19. Mai 1813). Wir fanden darin die erste gedruckte Nachricht über unsern Sohn und zwar in einem Artikel, den das Blatt unter dem Titel: „Ein moderner Brutus“ brachte und den ich hier wörtlich mittheile. Er lautete:
Schon oft hat man sich folgende Geschichte – von Friedrich Staps, eines Predigers Sohn aus Naumburg — hie und da in die Ohren gezischelt, sie ist jedoch nie recht laut geworden, viel weniger erinnern wir uns, sie gedruckt gelesen zu haben. Wir liefern sie hier aus authentischen Quellen. Man beurtheile sie, wie man wolle, so wird doch Niemand leugnen können, daß der Name des Jünglings, der die Hauptrolle darin spielt, der Nachwelt aufbehalten zu werden verdient, und der Einsender hat wohl Recht, vorauszusetzen, daß den Eltern die öffentliche Meinung nicht unangenehm sein kann, da bei vielen die herzlichste Theilnahme, bei Allen aufrichtiges Mitleid dadurch erweckt wird, Empfindungen, die den Unglücklichen stets wohl thun.
Als Napoleon in dem Kriege von 1809 das Schloß Schönbrunn unweit Wien bewohnte und in dem geräumigen Vorhof fast täglich seine Truppen musterte, drängte sich einst an einem Freitage ein junger Mensch mit auffallender Geflissenheit nahe an ihn heran. Wenn auf der einen Seite der General Rapp den Jüngling zurückwies und auf dessen Vorgeben, daß er dem Kaiser eine Bittschrift übergeben wolle, ihn bedeutete, daß hier der Ort nicht dazu sei, so zeigte er sich sogleich wieder auf der andern Seite. Alle Zurückweisungen halfen nichts. Man schöpfte endlich Verdacht. General Rapp ließ den Zudringlichen verhaften, in die Wachstube führen und durchsuchen. Außer einigen unbedeutenden Papieren und dem Bilde eines Frauenzimmers fand man – auch einen Dolch bei ihm.
Der Vorfall schien so wichtig, daß er dem Kaiser berichtet werden mußte. General Rapp erhielt den Auftrag, den Gefangenen zu verhören. Aber der Jüngling erklärte sehr bestimmt, daß er Niemandem Rede und Antwort geben werde als dem Kaiser selbst. Napoleon ließ ihn vor sich führen, umgeben von seinen Generalen und den Großen des Hofs. Der Gefangene maß den Kaiser vom Scheitel bis zur Sohle und sagte dann mit der kältesten Unerschrockenheit, daß er ihn habe umbringen wollen; daß er schon einmal in dieser Absicht mit einem Stockdegen zur Parade gekommen sei und daß er ihn ein anderes Mal auf der Treppe erwartet habe, die er gewöhnlich hinabzusteigen pflege. Indessen habe diese Waffe ihm unbequem geschienen und er sich deshalb jetzt mit einem Dolche versehen. Zufälliger Weise sei der Kaiser gerade an diesem Tage auf der andern Seite der Treppe herabgestiegen. Er habe deshalb seinen Vorsatz nicht ausführen können und sich unter das Volk gemischt, wo er entdeckt und verhaftet worden sei.
Man that noch andere Fragen an den Gefangenen, die er mit einer Dreistigkeit beantwortete, über welche die Zuhörer nicht blos erstaunten, sondern auch in Verlegenheit geriethen. Auf des Kaisers Frage, warum er ihm nach dem Leben getrachtet habe, antwortete er ihm: weil er ihn für eine Geißel der Menschheit halte.
Auf die Frage, ob er schon früher diesen Vorsatz gefaßt habe, antwortete er: „Nein, denn lange hielt ich Sie für einen großen Mann, der das Glück der Menschheit beabsichtige. Jetzt aber bin ich überzeugt, daß Sie ein gemeiner Mensch sind, daß Sie aus Selbstsucht, Ehrgeiz, Raubsucht nur Krieg und immer Krieg suchen, und darum habe ich die Welt von einem solchen Ungeheuer befreien wollen.“
Man gab ihm zu bedenken, welches Schicksal nach solchen Aeußerungen seiner warte. Man suchte auch seine Zärtlichkeit für den geliebten Gegenstand, dessen Bild er bei sich trug, rege zu machen; aber sein Muth blieb unerschütterlich, und er antwortete gelassen: „Den Tod fürchte ich nicht; vielmehr habe ich erwartet,
[43] niedergehauen zu werden. Allerdings wird meine Geliebte sich um mich grämen; doch wenn sie erfährt, mit welcher Standhaftigkeit ich gestorben bin, so wird sie sich wiederum zufrieden geben.“
Napoleon ließ ihn Gnade hoffen und fragte, was er thun werde, wenn ihm das Leben geschenkt sei.
Er antwortete: „Dann werde ich Alles anwenden, um mein Vorhaben in Zukunft auszuführen.“
Diese Antwort setzte den Kaiser in sichtliche Verlegenheit, indem er nicht wußte, wie er sich benehmen solle. Auf einmal faßte er sich und fragte, ob er die Geschichte des Brutus kenne, ob vielleicht diese ihn in eine solche Ueberspannung versetzt hätte.
Allein der Gefangene war in der Geschichte des Alterthums nicht bewandert.
Napoleon fragte hierauf, was er zuletzt gelesen.
„Schiller’s Werke,“ war die Antwort.
„Ob er jemals krank gewesen sei?“
„Ich habe mich jederzeit wohl befunden,“ erwiderte der Gefangene, „sowie mir auch jetzt nicht das Mindeste fehlt.“
Der Leibarzt erhielt den Befehl, dem Jüngling den Puls zu fühlen; er ging ruhig und regelmäßig. – –
So weit die Nachricht des russisch-deutschen Volksblattes. Später ist mir von glaubwürdigen Personen versichert worden: Der Kaiser hätte einigemal seinen Adjutanten zu dem Gefangenen geschickt, mit der Frage: ob er den Kaiser nicht lieben wolle! – Dann sollte ihm das Leben geschenkt werden. Er ist aber bei seinem Entschlusse fest geblieben. –
Unter den vielen Berichten, welche wir später kennen lernten, führe ich nur den des General Rapp an, als den authentischsten, weil er unter der Umgebung Napoleon’s derjenige war, der am besten Deutsch verstand. Er bestand in folgender Mittheilung:
Die Friedensverhandlungen zwischen Frankreich und Oesterreich rückten nur langsam vorwärts. Deutschland litt sehr darunter, deshalb beschloß ein junger Deutscher, entbrannt von Vaterlandsliebe, die Ursache dieses Leidens, Napoleon, aus dem Wege zu räumen. Am 23. October 1809 kam er nach Schönbrunn zur Parade. Ich hatte an dem Tage Dienst. Napoleon stand zwischen mir und Berthier. Der junge Staps trat an den Kaiser heran. Berthier, in der Meinung, er wolle eine Bittschrift überreichen, weist ihn an mich; er antwortet jedoch, er habe mit Napoleon selbst zu sprechen. Nochmals wird er an mich gewiesen, doch entfernt er sich mit der wiederholten Aeußerung, Napoleon selbst sprechen zu müssen.
Er nähert sich diesem; ich trete ihm entgegen, indem ich ihm in deutscher Sprache zu verstehen gebe, er müsse sich entfernen; der Kaiser sei erst nach der Parade zu sprechen. Er hatte eine Hand unter dem Ueberrock, in der andern ein Papier, wovon ein Stück hervorragte. Da mir sein entschlossenes Wesen verdächtig schien, ließ ich ihn durch einen Gensd’armen verhaften. Da die Aufmerksamkeit auf die Parade gerichtet ist, wird dieser Zwischenfall nicht bemerkt. Doch bald meldet man mir, man habe bei Staps ein langes Küchenmesser vorgefunden. Ich erzählte es Duroc. Wir begaben uns zu Staps, welchen wir auf seinem Bette sitzend fanden. Neben ihm lag das Bild einer jungen Dame und eine Börse mit einigen Goldstücken. Ich frage ihn, wie er heiße.
„Das kann ich nur Napoleon sagen.“
„Was wollten Sie mit dem Messer thun?“
„Das kann ich nur Napoleon sagen.“
„Gedachten Sie sein Leben anzutasten?“
„Ja, mein Herr.“
„Und weshalb?“
„Das kann ich nur Napoleon sagen!“
Ich theilte Napoleon das Ereigniß mit, und dieser befahl, den Jüngling in sein Cabinet zu führen. Napoleon stand zwischen Bernadotte, Berthier, Savary und Duroc. Staps wurde von zwei Gensd’armen, die Hände auf den Rücken gebunden, hereingeführt. Er war ruhig, Napoleon’s Gegenwart machte auf ihn nicht den geringsten Eindruck; er grüßte mit Ehrerbietigkeit.
Der Kaiser fragte ihn, ob er Französisch spreche.
„Nein,“ versicherte er.
Napoleon befahl mir, folgende Fragen an ihn zu richten:
„Woher sind Sie?“
„Aus Naumburg an der Saale.“
„Wer ist Ihr Vater?“
„Ein evangelischer Geistlicher.“
„Wie alt sind Sie?“
„Achtzehn Jahre.“
„Was hatten Sie mit diesem Messer vor?“
„Ich wollte Sie damit tödten.“
„Sie sind wahnsinnig; – ein Illuminat!“
„Ich bin nicht wahnsinnig; ich weiß nicht, was ein Illuminat ist.“
„Sind Sie krank?“
„Nein, ich bin ganz gesund.“
„Weshalb wollten Sie mich tödten?“
„Weil Sie mein Vaterland unglücklich machen.“
„Sind Sie auch unglücklich geworden?“
„Gleich allen Deutschen.“
„Wer hat Sie zu diesem Verbrechen aufgereizt?“
„Niemand, meine Ueberzeugung gab mir die Waffe in die Hand. Sie sagte mir, daß ich meinem Vaterlande, daß ich Europa diesen Dienst leisten müsse.“
„Sahen Sie mich zum ersten Male?“
„Nein, ich habe Sie schon beim Congreß in Erfurt gesehen.“
„Hatten Sie schon damals die Absicht, mich zu tödten?“
„Nein, ich bewunderte Sie damals, ich glaubte, Sie würden Deutschland den Frieden geben.“
„Wie lange sind Sie in Wien?“
„Zehn Tage.“
„Weshalb haben Sie die Ausführung Ihres Planes so lange aufgeschoben?“
„Ich kam vor acht Tagen nach Schönbrunn, als die Parade fast zu Ende war, deshalb verschob ich die Ausführung bis heute.“
„Sie müssen krank oder wahnsinnig sein.“
„Keins von Beidem.“
Napoleon ließ nun Corvisart rufen; Staps fragte: „wer ist Corvisart?“
„Ein Arzt.“
„Den brauche ich nicht.“
Wir schwiegen bis zu dessen Ankunft. Napoleon befahl ihm, den Puls des jungen Mannes zu untersuchen.
„Nicht wahr, mein Herr, ich bin gesund?“
Corvisart wandte sich zu Napoleon: „Er ist vollkommen gesund,“ worauf Staps mit einer Art Freude ausrief:
„Sehen Sie, hab’ ich’s nicht vorher gesagt?“
Diese Ruhe machte Napoleon verlegen, doch setzte er das Verhör fort.
„Sie sind ein Hitzkopf und richten die Ihrigen zu Grunde. Ich will Ihnen das Leben schenken, wenn Sie Ihr Verbrechen bereuen und um Gnade bitten.“
„Ich will keine Gnade, und bereue Nichts, als daß mein Vorhaben mißlungen ist.“
„Teufel, ein Verbrechen scheint Ihnen etwas Leichtes!“
„Es ist kein Verbrechen, Sie zu tödten, es ist eine Pflicht.“
„Wessen Bildniß ist es, das man bei Ihnen gefunden?“
„Das Bild meiner Geliebten.“
„Wird Ihr Unternehmen sie nicht unglücklich machen?“
„Nur sein Mißlingen. Sie haßt Sie ebenso sehr wie ich.“
„Würden Sie mir dankbar sein, wenn ich Sie begnadige?“
„Nein, ich würde Sie dennoch zu tödten suchen.“ – –
Napoleon war entsetzt, und ließ ihn hinwegführen, Er sprach viel über diesen Vorfall, besonders über die Illuminaten. Gegen Abend ließ er mich rufen und sagte zu mir:
„Wissen Sie, lieber Rapp, der Eindruck dieses Ereignisses ist außerordentlich. Dies sind Umtriebe aus Berlin und Weimar.“
Ich widersprach seinem Argwohn.
„Die Weiber sind zu Allem fähig!“
„An beiden Höfen würden weder Männer noch Frauen ein solch abscheuliches Vorhaben billigen.“
„Denken Sie nur an Schill!“
„Was hat diese Sache mit dem Verbrechen gemeint?“
„Sie haben gut reden, mein Herr General, man liebt mich weder in Berlin noch in Weimar.“
„Muß man Sie deshalb tödten wollen?“
Auf Napoleon’s Befehl mußte ich dem General Lauer den Auftrag geben, Staps nochmals zu verhören. Er beharrte darauf, ohne fremden Einfluß, aus eigenem Entschluß zu dem Verbrechen getrieben zu sein.
Am 27. October wollten wir von Schönbrunn abreisen. Napoleon stand um fünf Uhr Morgens auf, und ließ mich rufen. [44] Die Garden marschirten, auf ihrem Rückzuge nach Frankreich begriffen, an uns vorüber. Als wir allein waren, sprach Napoleon wieder von Staps: „Es ist unerhört, daß ein so junger Mensch von seiner Bildung, ein Deutscher, ein Protestant, solch ein Verbrechen habe begehen wollen! Benachrichtigen Sie mich, wie er gestorben ist.“
Ich befragte den General Lauer über Staps’ Tod, er sagte mir, die Hinrichtung sei am 27. October um sieben Uhr Morgens vor sich gegangen. Staps hätte seit dem Vierundzwanzigsten Nichts genossen. Als man ihm zu essen anbot, habe er geantwortet, er habe Kraft genug, um in den Tod zu gehen. Bei der Nachricht, daß Friede geschlossen sei, bebte er zusammen. Seine letzten Worte waren: „Es lebe die Freiheit, es lebe Deutschland. Tod den Tyrannen!“ –
Ich theilte dies Napoleon mit, und er trug mir auf, das Messer an mich zu nehmen; ich besitze es noch.
„Das ist Alles,“ schließt der Vater seinen Bericht, „was ich über mein Kind erfahren konnte. Weder die Stätte, wo er erschossen wurde und den letzten Athemzug aushauchte, noch das kleine Stückchen Erde, worin man die sterbliche Hülle des Armen einscharrte, ist mir bekannt geworden; alle meine Nachforschungen sind vergebens geblieben und ich werde, was mein Herz so heiß zu wissen wünscht, wohl auch niemals erfahren.“
Quer durch den Park von St. Cloud geht eine breite Landstraße, welche sich in einem tiefen Hohlwege mit der Eisenbahnlinie Paris-Versailles kreuzt. Selbstverständlich ist beiden Straßen im System der Vertheidigungsstellungen eine wichtige Rolle zugewiesen. Wenn Straßen im Frieden dazu gemacht sind, Orte in der möglichst bequemen Weise untereinander zu verbinden, so haben die militärischen Wegebaumeister, denen gegenwärtig deren Umarbeitung obliegt, vor Allem den Zweck im Auge, solche Verbindungen möglichst abzuschneiden, oder doch zu erschweren. Die Mittel, diesen Zweck zu erreichen, sind sehr verschieden. Besonders willkommene Handhaben dafür bieten bei der Chaussee, wie bei der Eisenbahn die Tunnel. Nicht weniger als dreien derselben begegnet man im Park, dem großen und kleinen Eisenbahntunnel und dem Chausseetunnel. Unausgesetzt ist daran gearbeitet worden, dieselben für die Posten, die man in sie verlegte, zu starken Stellungen im Falle eines Angriffs zu machen. Aber gleichzeitig hat man sich gezwungen gesehen, diese Localitäten in Rücksicht auf ihre Bestimmung als Wohnsitz für Officiere und Mannschaften während der Tage und Nächte ihres dortigen Vorpostendienstes nach Kräften wohnlich zu machen und auszustatten.
Schwierig bleibt diese Aufgabe in jedem Falle. In Spätherbst- und Winternächten zumal bietet der Aufenthalt in solchen kellerartigen, an beiden Enden offenen, von eisigem Luftzuge frei durchwehten, feuchten Tunnelgewölben etwas zu viel der Romantik. Es gehört eben auch hier das praktisch-erfinderische Talent des Soldaten und der eigenthümliche Künstlersinn ihrer Herren Officiere, vereint mit einem gewissen verwegenen Humor dazu, um das Gegebene so zu gestalten und soweit erträglich zu machen, als es ihnen in der That gelungen ist. Unvergeßlich bleibt mir der wahrhaft phantastisch-komische Eindruck, den ich an jenem trüben Novembernachmittag empfing, als mich meine Parkwanderung zum ersten Male in den dortigen Chausseetunnel führte. Aus der tiefen, rauchigen Dämmerung des Raumes, der sein Licht nur noch durch schmale offen gelassene Eingänge an beiden Seiten empfing, entwickelten sich dem Auge erst allmählich die Gestalten und Gruppen der Soldaten, die dort theils auf ihren Matratzen, Strohsäcken, Decken am Boden lagerten, theils ihre draußen an den Feuern gekochten Fleisch- und Erbswurst-Portionen aus den Kochgeschirren löffelnd beisammen saßen. Die Flintenpyramiden standen in Reihen zusammengestellt, die Helme hingen daran, das Stimmengewirre hallte als undeutliches elementarisches Brausen durch den düstern Raum. Wenn man das Soldatenlager passirt hat, trifft man zur Rechten des Durchgangs auf einen anderen davon abgezweigten Raum, den eigentlichen Salon dieses originellen Quartiers. Nach der Straße hin bilden die aufrecht gestellten Glasfenster ehemaliger Treibhäuser seine Wände. Gegen den Luftzug vom Tunnel-Ein- und Ausgang müssen ihn ein paar kühn aufgestemmte Wandschirme, aus Stroh geflochtene Glashausdecken, ein paar dicke Velourteppiche und was sonst in diesem Genre von den umliegenden Villen geliefert oder zu retten war, schützen. Diese drei Seiten bilden zugleich mit der Tunnelmauer einen den Umständen nach ganz gemüthlichen, in jedem Falle höchst malerischen Aufenthalt; dennoch aber gerathen diese Herren, welche uns mit der liebenswürdigsten Gastlichkeit einladen, näher zu treten, in gelinde Wuth, wenn man ihnen die besondere Herrlichkeit ihrer Wohnung zu rühmen versucht. Man solle es, rufen sie, nur einmal probiren und ein paar Novembertage, oder gar Novembernächte diesen traulichen Salon an ihrer Statt bewohnen!
Für die Nächte mögen sie Recht haben. Aber während der Tage verstehen es die Officiere vortrefflich, den Unbilden der Localität, des Wetters, Regens und Windes die Spitze abzubrechen. Eiserne Oefen hat ein neulich im verlassenen Montretout glücklich entdecktes und gerettetes Lager solcher Heizmaschinen geliefert. Möbel von der schönsten und kostbarsten Art gaben und geben noch immer die Schlösser und Villen der Umgegend her. Um Spiegel, Bilder, Stutzuhren hat man hier nie verlegen zu sein. Musikkundigen Männern wären gute Pianinos sogar jederzeit gewiß. Es bedürfte nur der Träger, um sie herzubringen. Den Wein liefert der nach drei Monaten der Belagerung und der Erdarbeiten an solchen Schätzen noch immer reichlich ergiebige Boden in der Nachbarschaft zur Genüge. An allem Uebrigen aber lassen es weder Intendantur noch liebevoll sorgende Herzen in der Heimat mangeln, und so ist es ganz erfreulich, hier bei diesen tapfern Männern auf Pferdedecken, Wollenmatratzen, türkischen Teppichen und Prachtfauteuils bei immer vollen Krystallgläsern, aus denen noch vor Kurzem der Kaiser und sein Hofstaat getrunken haben, eine wahrhaft orientalische Gastfreundschaft zu genießen.
Nicht weit davon, in eines andern Hohlwegs Tiefe, liegt der Eisenbahntunnel. Der Aufenthalt war damals wenigstens (jetzt soll er durch sinnreiche Veranstaltungen wesentlich erträglicher gemacht worden sein) viel unheimlicher, als in dem eben geschilderten; die Finsterniß größer, die Kälte und feuchte Kellerluft durchdringender, bei seiner soviel größern Länge. Die Officiere hatten daher auf kräftigere Schutzwehren denken müssen, und unter Anderem statt des offenen, immer etwas luftigen Salons ihrer Cameraden im Chausseetunnel ein paar Bahnwärterhäuschen aus der Nachbarschaft requirirt, diese nicht weit vom Eingange aufgestellt, und in diesen freilich engen Hütten sich, so gut es ging, ihr warmes und behagliches Heimwesen eingerichtet. Natürlich fehlte es auch dem weder an Möbelpracht, noch an Kellerinhalt, während gleichzeitig die trauliche Enge des verfügbaren Raumes auf Gastfreundschaft und Liebenswürdigkeit keinen mindernden Einfluß zu üben vermochte.
Weiter aufwärts die Chaussee hin gehend, trifft man nach etwa zehn Minuten Wegs auf eine außerordentlich thätige Gesellschaft, der zu munteren Sitzungen wie denen im Tunnel keine Zeit und Muße gelassen ist. Dort sind Pionniere und zur „Arbeit“ commandirte Infanteriemannschaften eben beschäftigt, die am „Stern“ begonnene dritte Vertheidigungslinie, die sie bereits durch den Wald bis hierher geführt haben, über die Straße und durch die jenseitige nördliche Waldpartie zu ziehen. In einer wohl sechszig bis achtzig Fuß breiten Straße sind die Bäume dort bereits unter der Axt gefallen. Ein tiefer Graben durchschneidet, vom Walde sich fortsetzend, die ganze Chaussee. Die aufgeworfene Erde mit den [45] Stämmen, mit dem Strauchwerk und den daraus geflochtenen Schanzkörben wird zu immer festeren Schutzwällen gegen die Angriffsfront gefugt.
Etwas weniger den französischen Geschossen ausgesetzt als ihre schanzenden Cameraden vorn an der Parkmauer, sind diese Schaufler, Gräber, Holzfäller, Schmiede und Zimmerer dennoch niemals ganz sicher vor den weitreichenden Würfen des Onkel Valérien. Und wenn auch die anstrengende körperliche Arbeit erwärmt, so ist doch in diesen November- und Decembertagen, wo der launische französische Himmel immer zwischen Schnee, Eis, sechs bis zehn Grad Kälte, und wieder strömendem Regen und nebelfeuchter, unnatürlicher, fieberbrütender Frühlingswärme hin- und herschwankt, das Commando hier draußen kein angenehmes. Der Theil der Extraerquickungen, der auf diese Leute fällt, ist dazu ein ziemlich mäßiger. Nie kann die Verpflegung der Vorposten so unbedingt geregelt werden, daß jeder Mann jeder Zeit davor bewahrt bliebe, die hohen Tugenden des Entbehrens und Entsagens, mehr als ihm selbst wünschenswerth ist, üben zu müssen. Der französische Marketender, der die Leute dort mit seinem mit Cognac, Brod, Käse beladenen Karren aufsucht, versteht es vortrefflich, aus ihrem Bedürfen und Verlangen für sich die Quelle eines gaunerischen Profits zu machen und ihnen für die wenigen verfügbaren Sous ein recht schlechtes Gebräu und Gebäck zu verkaufen.
Das früh hereinbrechende Abenddunkel bringt den Arbeitscompagnien im Walde Ruhe, den Posten Ablösung und die Abgelösten mit ihren Officieren rücken wieder in ihre Nachtquartiere in Ville d’Avray und Marnes ein. Es ist kein Mangel an solchen. Die Mehrzahl aller Häuser bilden Villen, kleinere und größere Schlösser reicher Pariser, darunter viele in ganz Europa bekannte und genannte Größen der hohen Finanz, der Kunst und Wissenschaft, der Diplomatie und Verwaltung. Auch an solchen coquetten Asylen fehlt es nicht, welche sich galante Schönheiten des modernen Babel von den überreichen Opfern ihrer Verehrer hier in stiller weltverborgener Park- und Garteneinsamkeit gegründet haben. Die sie einst bewohnten, sind längst entwichen, ehe der erste Schuß in diesen reizenden Thälern widerhallte.
Alles Kostbare und in der Eile Transportirbare haben sie mit fortgenommen. Aber außer dem Wein, den sie vergruben, mußten sie auch zum größten Theil die Möbel, die Billards, die Spiegel und jene Masse von kostbarem Porcellan und Fayence in ihren Räumen zurücklassen, welche im Haushalt und in der Schätzung der französischen Reichen einen Platz einnimmt, wovon wir in Deutschland uns schwer eine Vorstellung machen. In manchen dieser Villen haben frühere Einquartierungen, haben auch, da man sich um den Verschluß nicht viel Sorge machen kann, die Plünderungen der eingeborenen Marodeurs, in anderen sogar die Granaten des Mont Valérien ihre unverkennbaren Spuren gelassen. Da sieht es oft wüst und traurig aus, und die ehemalige feine Harmonie ihres Innern, die Nettigkeit und Sauberkeit, der Glanz und Schimmer haben sich längst in ihr schlimmstes widriges Gegentheil gewandelt. Ueber anderen aber hat ein gnädigeres Geschick gewaltet. Jene Schlösser und Villen zum Beispiel, an welchen abwechselnd eine Woche um die andere der Stab und die Officiere des ersten Bataillons des dritten Posenschen Infanterieregiments Nr. 58 ihr Quartier haben, denen ich das Glück hatte in diesem Feldzuge wiederholt persönlich näher getreten zu sein, erfreuten sich dauernd der Fürsorge dieser militärische Gäste in solchem Maße, daß sie heute noch ihren etwa rückkehrenden Besitzern nichts von dem Schrecken und Entsetzen einflößen würden, welches die Eigenthümer so manches andern reizenden Landsitzes nach dem Frieden dereinst erwartet. Unverwüstet prangt in den Treibhäusern noch immer die ganz prächtige Fülle ausländischer Gewächse, welche die hochentwickelte Gartencultur Frankreichs zur herrlichsten Entfaltung brachte; in den Gärten spürt man vor der Menge der mannigfaltigen Nadelhölzer und immergrünen südlichen Gesträuche bei der linden frühlingsgleichen Luft kaum den Winter und bei den wohlgehaltenen Wegen und Beeten kaum den Krieg.
Drinnen im Salle à manger stehen die Büffets, Speisetische und geschnitzten Stühle; im weiten Salon die breiten schwellenden Divans, Causeusen und Lehnsessel; die Vasen auf dem Marmorsims der Kamine, die Spieltische unzerbrochen an ihrem alten Platz. In den Schränken der Bibliothek die langen Reihen der schönen Bände vollständig auf ihren Brettern, das Billard unzerrissen in der Mitte des Raumes, die guten alten Stiche an den Wänden, die Menge der Schlaf- und Fremdenzimmer in den höheren Stockwerken, alles das kommt heute den Officieren, Fähnrichen, Aerzten und den selten fehlenden Gästen vortrefflich zu statten. Für ein tüchtiges Feuer in den Kaminen sorgt der nahe Wald. Fehlt es an Betten hinter den bald prächtig damastnen, bald duftigen Mousselin-Vorhängen, so ist auch ohne sie in den schönen, soliden, breiten französischen Bettstellen durch die praktisch geübten und geschickten Burschen aus Decken, Teppichen, Matratzen ein mehr als nur erträgliches Lager leicht hergestellt. Im Salon oder Speisesaal unten versammelt sich (wir haben Alle in Frankreich bereits die höchst vernünftige französische Zeiteintheilung angenommen) die durch das ganze Chateau verstreute Gesellschaft um die abendliche Dinerstunde. Arbeitleiten und Vorpostencommandiren im winterlichen Walde hat einen Wolfsappetit gegeben. Die Tischwäsche wird weniger vermißt, wenn alle Stücke des Tafelgeschirrs so edlen Materials (Porcellan) und so hohen oder allerhöchsten Ursprungs, und die darin servirten Gerichte von so solider Vortrefflichkeit sind, wie hier in den meisten Fällen – Dank den Lieferungen und Dank besonders der über alles Lob erhabenen Kochkunst mancher Officierburschen. Zu allem Ueberfluß erhielten diese Mahlzeiten seit Anfang November durch unsere lieben und anstelligen baierischen Bundesgenossen eine besonders erwünschte Würze. Sie haben in Sèvres eine Brauerei etablirt, die von ihren des Bieres wie seiner Bereitung gleich kundigen Mannschaften mit gutem Erfolg betrieben wird, und ein Getränk zur Vorpostenquartierstafel liefert, welches eine der schätzenswerthesten Abwechslungen in die etwas einförmige Folge der französischen und spanischen Weine bringt, die „der Boden“ hier ringsum fast ausschließlich liefert.
Während dieser abendlichen Mittagstafel tritt der Unterofficier „zur Meldung“ ein und liest unter allgemeinem Schweigen dem Bataillonschef den „Corpsbefehl“ des Tages vor. Die speciellen dienstlichen Anweisungen und Anordnungen für morgen, die er enthält, werden durch allgemeiner interessirende Mittheilungen eingeleitet, wie sie eben von den verschiedenen Kriegsschauplätzen eingelaufen sind. General v. X. hat bei A. den Feind geschlagen, so und so viel hundert Gefangene, so und so viel Kanonen genommen, Festung B. hat gestern capitulirt etc. Kaum ein Tag, der nicht etwas dem Aehnliches bringt. Aber fast ebenso stehend ist die Nachricht, daß der Feind an dem und dem Tage einen Ausfall aus Paris beabsichtigt. Die Truppen haben auf mehrere Tage Rationen geliefert erhalten. „Laßt sie kommen; und kämen sie nur einmal auf uns hier, statt immer gegen Baiern und sechstes Corps, auch wir wollten sie richtig empfangen!“ Das ist der Haupteindruck, den diese Nachricht gemeiniglich hervorruft. Auf der Feldpost des fünften Corps sind eben die Briefe und die längst ersehnten Pakete angelangt, ein ganzes Lager der kleinen mit Leinewand überzogenen Kistchen wird auf den Tisch des Salons gesetzt. Sie haben manche Wochen gebraucht, hierher zu gelangen. Man fällt darüber her; die Zeitungen, die Briefe wird man später lesen, um zuerst den realern Inhalt der Pakete zu mustern. Welch buntes Allerlei: Der zeigt triumphirend eine große Köstlichkeit, eine Braunschweiger Cervelatwurst, Der ein Töpfchen Butter, Jener gar – Gänseschmalz. Der Eine breitet mit Behagen ein Paar wollene und noch dazu prächtig rothe Unterhosen aus, und der Andere wickelt aus ihrer papiernen Umhüllung gar ein Paar lackirte Stulpstiefel, die so innig erwünschten. Wie viel treusorgende Mutter-, Schwester-, Gattenliebe, wie viel herzliches Sehnen, Bangen und Verlangen, wie viel wehmüthige Freude bei denen, die all das sendeten, spricht, auch ohne daß man in die Begleitbriefe blickte, beredt und verständlich aus diesen Sendungen, selbst schon aus der Art ihrer Verpackung! Man meint die liebende Hand zu erkennen, welche diese Enveloppen faltete, das schmerzlich zuckende Gesicht zu sehen, das sich dort darüber beugte. Aber hinweg mit der Wehmuth; hier ist weder Zeit noch Ort, sich weich zu machen mit heimwärts schweifenden Gedanken. Draußen zischt durch die Abendstille wieder ein Granatwurf nahe über den schweigenden Garten hin; vielleicht ist’s eine Visitenkarte Trochu’s, eine Anmeldung für morgen. Also lieber die Gläser von Neuem gefüllt – „und trifft es uns morgen, so lasset uns heut noch schlürfen die Neige der köstlichen Zeit!“
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Der Platz du Martroi ist eine der wenigen Herrlichkeiten, welche die in baulicher Hinsicht gerade nicht sehr hervorragende Stadt Orleans aufzuweisen vermag. Derselbe bildet ein Oval, das von stattlichen Gebäuden umgeben ist. Unter ihnen nimmt die ehemalige Chancellerie des Hauses Orleans den ersten Platz ein; hier war der Sitz der Administration der Familiengüter, hier war ihr Archiv niedergelegt. Der Mittelpunkt, der Glanz und die Zierde des Platzes ist jedoch die kolossale Reiterstatue der Jungfrau von Orleans; die Stadtgemeinde hat dieselbe auf ihre eigenen Kosten errichten lassen, am 8. Mai 1858 war sie enthüllt worden. Die Jungfrau, deren Glieder in rauhes Eisen gekleidet sind, ist in dem Augenblicke dargestellt, wo sie dem Herrn der Heerschaaren den Dank dafür darbringt, daß er sie so Großes hat vollenden lassen. Ihr Haupt ist himmelwärts erhoben, mit der rechten Hand senkt sie das Schwert vor dem, der es in ihre Hand gegeben hat. Die Statue imponirt weniger durch die Kunst ihres Schöpfers, als durch die dargestellte Persönlichkeit und durch ihre Erzmassen; die Figur mit dem Pferde ist etwa vierundeinenhalben Meter, also fast sieben rheinische Ellen hoch und demnach von gleicher Höhe wie das Piedestal aus Granit, auf dem sie sich erhebt. Ein weites eisernes Gitter umgiebt dieselbe. Sie ist das Wahrzeichen, das Palladium der Stadt und in den angstvollen Tagen des dritten und vierten Decembers, als draußen von dem Wald von Orleans herein die Kanonen mit ihrem dumpfen Gebrüll fast den Erdboden erschütterten, als das Dröhnen derselben der Stadt immer näher kam und einen unheilvollen Ausgang anzukündigen schien, da war dieses Gitter von knieenden, betenden, weinenden Frauen umgeben, die ihre Thränen, ihre Seufzer, ihre Gebete und Gelöbnisse zur Heiligen der Stadt emporschickten und Kränze zu ihren Füßen niederlegten, auf denen ihres Herzens Angst und Gebet in den Worten zu lesen war: „Rette Frankreich – schütze die Armee!“ Es folgte dem vierten December für die Einwohner von Orleans eine gar angstvolle Nacht. Bis in den späten Abend hatte der Kampf gedauert. Welches war der Ausgang? wird die Armee des französischen Volkes die Hoffnungen, die man auf sie setzte, erfüllen, wird sie die „Prussiens“ zwingen, einen ebenso plötzlichen Abzug zu nehmen, wie an diesen Ufern vor mehr als einem Jahrtausend Attila und vor Jahrhunderten die Engländer gethan? Keine Nachricht – wie manches bangklopfende Herz mag da in die Nacht hinausgehorcht haben – um ein Zeichen, um eine Hoffnung, eine Beruhigung, und dann bekümmert und sorgenvoll das Lager gesucht haben mit dem wiederholten Gebete: „Rette Frankreich – schütze die Armee!“
Am Morgen des nächsten Tages, den fünften December, ging es wie Reveille durch die Stadt – die Trommeln wirbelten, die Pfeifen schwirrten und die Colonnen marschirten. Aber die langen anhaltenden Wirbel kamen nicht von französischen Trommeln; die Töne derselben sind kürzer, schneller, das war auch keine französische Marschmusik – und so marschiren auch die heimischen Rothhosen nicht – das ist ein wuchtiger, trotziger, markiger Schritt. Ja, es sind wirklich die Prussiens! Auf dem Platze der Jungfrau erglänzen im Scheine der Wintersonne die Helme und Bajonnete, in dichten Massen stehen sie da gesammelt und die eherne Jungfrau steigt nicht vom Pferde und hebt nicht ihr Zauberschwert, um die verhaßten Feinde zu vertreiben. Sie läßt den Frevel ihrer Anwesenheit geschehen. Die Prussiens ziehen nach den verschiedenen Straßen ab, die von dem Platze ausstrahlen, sie suchen sich Quartier und ihnen nach rücken andere, neue, größere Massen – Pferdegetrappel läßt sich hören – dort wird Cavallerie sichtbar – o, die furchtbaren Ulanen! und so viele! Gott sei Dank, nun sind sie alle – nun kommen keine mehr. Neuer Trommelschlag – neue Marschmusik! das sind bekannte Töne, die in den Straßen von Orleans schon gehört worden waren – wenn es auch nicht französische Militärmusik war, richtig, es sind die Baiern! Man hatte über ihren Abzug Anfangs November so sehr gejubelt – nun sind sie doch wieder da. Werden sie Vergeltung üben? Auch die Baiern nehmen auf der Place Martroi Aufstellung, dicht unter den Augen der heiligen Jungfrau. Nicht genug – es kommt wieder ein neues Regiment, aber nicht mit Raupen auf den Helmen, wie die Baiern, sondern Spitzen, wie die Preußen, wenn auch nicht mit dem Adler vorn, sondern mit dem springenden Löwen. Diese bleiben nicht auf dem Platze, sie ziehen die Rue Royale hinab – doch nicht über die Loirebrücke? Kein Feind vom Norden hat diese je überschritten. Und doch – doch! Sie überschreiten die Loire. Wird die Brücke nicht in die Luft fliegen? Ein Pfeiler war von den Franzosen schon angebohrt. Nein, sie marschiren ganz wacker hinüber – und kein Widerstand hält sie auf.
Der französische Stolz, daß kein Feind vom Norden oder Osten je über die Loire gedrungen sei, ist gebrochen durch ein hessisches Bataillon, von der Avantgarde des neunten Armeecorps, von den braven, tapferen Mansteinern. Die Deutschen haben den Uebergang gemacht, und das war am 5. December 1870.
Den Erinnerungen an die Jungfrau von Orleans oder die „Pucelle“, wie sie von den Franzosen bezeichnet wird, begegnet man in der Stadt allerwärts, aber merkwürdiger Weise ist Gestalt und Gegenständliches von ihr nicht mehr vorhanden, kein Waffenstück, keine Reliquie kann man von ihr aufzeigen, und so existirt auch kein Bild von ihr, das heißt, kein gleichzeitiges; man zeigt deren wohl, alte Steinbilder, Reliefs, die eine Figur zu Pferde darstellen, aber diese können ebenso gut den heiligen Georg oder den unheiligen Karl den Siebenten von Frankreich darstellen, Beglaubigtes ist nicht mehr vorhanden. Das älteste Bild, welches durch die Unterschrift besagt, daß es die Pucelle d’Orleans darstellen soll, ist aus dem neunzehnten Jahrhundert. Johanne ist auf demselben als ein sehr corpulentes Mädchen abgebildet, hat einen Federhut auf dem Kopfe, in der rechten Hand einen Floretdegen und in der linken ein feingesticktes Schnupftuch.
So ungefähr mögen unsere Ureltermütter sie auf einem Maskenballe vorgestellt haben, aber daß sie dadurch dem Ideale entspräche, das Schiller’s Genius für ewige Zeiten geschaffen hat, das möchte ich nicht behaupten. Fast scheint es, als könnte nur der visionäre Geist des Dichters ein Wesen, wie das ihrige, in Fleisch und Blut wieder neu schaffen, nicht der Pinsel, nicht die Hand des Bildhauers. Vielleicht aber vermochte es doch auch die künstlerische Hand eines Mädchens, dessen Wiege in einem Königsschlosse stand und in dessen Herzen selbst ein Funke der Flamme glühte, welche die Seele des Hirtenmädchens von Domremy erfüllte. Prinzessin und Hirtenmädchen! Welcher Contrast des äußeren Lebens, an Rang, Gewöhnung, Sitte und Zeit, und doch wie nahe haben sich diese Gegensätze berührt, wie innig sich vereinigt in einer Statue vor der Mairie in Orleans – da steht sie, die Jeanne d’Arc, das eigene Abbild derjenigen, die sie schuf, Marie von Orleans, dieser erhabenen Künstlerseele, die nebenbei eine Königstochter war.
Was in der Jungfrau wohnt, Heiliges und Großes, Tiefes und Begeistertes, Gedanken- und Ahnungsvolles, was von Glück und Schmerz, von Zeitlichem und Ewigem in einem Bilde liegen kann, das liegt in dieser Gestalt ausgedrückt. Die Jungfrau ist in stehender Figur; ihren Oberkörper bedeckt eine Rüstung; die Arme und über der Brust gekreuzt und halten das von Gott verliehene Schwert fest an das Herz gedrückt; das Haupt ist in Gedanken geneigt, und auf den Zügen des Antlitzes liegt eine unendliche Traurigkeit und Resignation, vermischt mit einem Strahle des Lichtes aus der Glorie der Märtyrer und Heiligen. Das ist keine Heroine wie die Figur der Reiterstatue auf dem Platze Martroi; das ist das einfache Mädchen, das Kind des Volkes, der keusche Busen einer Jungfrau, eingeschlossen in das enge ungewohnte eiserne Kleid. Ich verweile gern bei diesem edlen Werke; es überkommt mich dabei im fremden Lande ein Hauch der Erinnerung aus der deutschen Heimath; in früheren Tagen hatte ich oft mit derselben Bewunderung, mit derselben künstlerischen Erfüllung wie jetzt, vor jener kleinen Gypsstatue gestanden, nach welcher die Prinzessin die Marmorstatue in der Galerie von Versailles gearbeitet hat; nach der letzteren aber ist erst diese hier in Erz gebildet und nach dem Tode der Künstlerin vom Könige Ludwig Philipp der Stadt Orleans geschenkt worden. Der erwähnte erste Entwurf in Gyps befindet sich in Schloß Fantaisie bei Baireuth, dem Eigenthume des Herzogs Alexander von Württemberg, des Gemahles der 1838 verstorbenen Prinzessin. Dorthin wurden nach ihrem Tode alle Kunstgegenstände [47] gebracht. Sie füllen eine kleine Galerie und darunter befindet sich auch ein Bild Ary Scheffer’s, des Lehrers der Prinzessin, welches dieselbe in ihrem Atelier darstellt, ein kleines Meisterstück. Vielleicht, daß diese Erinnerungen an die Jugend bei der Betrachtung dieses Kunstwerkes mitsprechen; doch hat es auch Anderen und Größeren denselben Genuß gewährt.
Das Stadthaus von Orleans ist ein in vieler Hinsicht merkwürdiges Gebäude – ein Gedächtniß an die Zeit, wo die Lehre Luther’s und die Richtung Calvin’s in Frankreich mächtige Wurzeln geschlagen hatten und fast ein Sechstheil der Stadt sich zu der neuen oder vielmehr der gereinigten Lehre bekannte. Der Voigt der Mutter Heinrich’s des Vierten, Jacques Grostot, das Haupt der neuen Secte, hat es gebaut; nüchtern, ernst und streng wie die Doctrin Calvin’s wurde auch das Haus, das er zum Sammelplatze seiner Partei machte. Neuester Zeit wollte man dem finstern Hause ein neues Gewand anziehen: man hat dem Dache elegante Galerien von Eisen im Style der Renaissance angefügt; man hat einen graciösen Glockenturm darauf gesetzt, Nischen ausgehauen und Statuen in dieselben gesetzt zum Andenken an Personen, die sich um Orleans verdient gemacht haben; man hat vor dem Hauptgebäude eine gebrochene Freitreppe mit reicher Ornamentirung angebracht; aber es sind dieselben steifen Giebel, dieselben rothen Backsteinmauern, die ursprünglichen nüchternen Linien geblieben, und in jedem Fenster glaubt man trotz des neuen coquetten Anputzes den alten finsteren Hugenottenchef zu erblicken. Auch die inneren Gemächer sind im Style der Renaissance prächtig mit großartigem Geschmacke decorirt. Ich zweifle, daß irgend eine Stadtgemeinde einen Sitzungssaal habe, der eleganter und imposanter wäre als der im Stadthause von Orleans. Styl und Geschmack kommen sich gegenseitig zu Hülfe.
In der Mairie war der Municipalrath während der letzten Tage der zweiten Occupation in ununterbrochener Thätigkeit. Die Orleanaiser haben sich nämlich eine Zeitrechnung nach einer ersten und zweiten Occupation zurecht gemacht. Die erstere geschah durch die Baiern; von dem was zwischen beiden liegt, nämlich vom Zwischenreich der französischen Loirearmee, sprechen sie nicht; die Freude war auch hier zu kurz. In den Räumen der Mairie drängten sich die Quartiermacher für das Obercommando, für die Generalcommandos der einzelnen Armeecorps, für die einzelnen Truppentheile. Für den Generalfeldmarschall waren die Prachträume der früheren kaiserlichen Präfectur eingeräumt worden; General von Alvensleben, der Commandeur des dritten Corps, wurde zum Bischof Dupanloup in’s Quartier gelegt.
„Monsieur – logement – compagnie!“ das war die stehende Redensart jedes neu eintretenden Quartiermachers, und um die Zahl zu markiren, streckt er die Finger aus, was deutlicher als das beste Französisch sein soll.
„Aber wir haben ja schon die ganze Armee im Quartier,“ replicirt ein Municipalrath, dem der Angstschweiß auf der Stirn steht, in französischer Sprache.
„Das hört ja gar nicht auf!“ wendet sich ein junger Mann in deutscher Zunge redend zu dem Quartiermacher.
„Ach so! Sie parliren Deutsch, Camerad?“
„Ja, ich bin der von der Mairie bestellte Dolmetscher.“
„Ja, da haben Sie Recht, dat hört bei uns nich uf!“
„Wieviel kommen denn noch Regimenter?“
„Wieviel? Bis in die Puppen!“
„Combien?“ fragt der Municipalrath dazwischen.
„Wat sagt der Herr Stadtrath mit’s weiße Halstuch?“
„Wieviel noch kommen? fragt er.“
„Na, ick habe es Ihnen doch schonst jesagt, bis in die Puppen.“
„Was heißt das?“
„Wat? Dat wissen Sie nich und wollen Tollpatsch sind? Sie wissen nich, wat ‚in die Puppen‘ uf Französch heißt? Dat heißt: immer mang die Franzosen. Nu vertollpatschen Sie’s mal!“
„Toujours – toujours!“
Die Quartiermacher sind die Schrecken der Stadtbeamten, die mit der dornenvollen Aufgabe betraut sind, Quartier zu machen, Quartier für fast zehntausend Mann.
„Es geht nicht mehr, es ist nicht mehr möglich!“ stöhnte am Abend des 5. December der betreffende Beamte, in seinen Fauteuil müde zurücksinkend. „Wir haben kein Quartier, wir haben gar nichts mehr – nichts, nichts.“
„Für zwei Batterien bitte ich,“ erwiderte der Unterofficier, der vor ihm stand und dem er diesen Bescheid gegeben hatte.
„Batterie“ – wiederholte der Beamte wie elektrisirt von seinem Sitze aufschnellend. „Vous – vous êtes Batterie?“
„Artillerie,“ versetzte der Unterofficier.
„Hier – hier haben Sie Ihr Billet! Nehmen – nehmen Sie, Monsieur!“
Zur Erklärung muß hier beigefügt werden, daß die Einwohner von Orleans in den ersten Tagen der zweiten Occupation in beständiger Angst lebten, die Stadt möchte bombardirt werden. Sie hatten kein gutes Gewissen von der ersten Occupation her; Deutsche waren von ihnen ohne alle Veranlassung zu Gefangenen gemacht worden, und dann war es ausgemacht, daß sie mit der Regierung von Tours in Verbindung standen und dieser über die Armeeabtheilung des Generals von der Tann Nachrichten zukommen ließen.
Der große Vorhof vor der Mairie wurde des Tages über nicht mehr leer. Soldaten aller Waffengattungen, aller deutschen Stämme, Franzosen in Civil, Männer in blauen Blousen, Frauen, Kinder, Alles drängte sich bunt und wirr durcheinander; jeder von ihnen hatte eine Frage, ein Anliegen, eine Klage, eine Remonstration an die Mairie, die Menschen hatten sich in dichten Massen die Freitreppe hinauf bis an den Eingang gedrängt, so daß die Behörde sich genöthigt sah, Queue machen zu lassen. Die Herren in Civil trugen im Gesicht Knebelbärte und im Knopfloch ein rothes Band, sie standen in Gruppen beieinander, gedämpft, wenn auch mit lebhaften Gesten sprechend, lauter waren schon die Blaukittel, die zur Bekräftigung ihrer Worte noch mit den Holzschuhen klapperten, die Frauen weinten und nur ab und zu hörte man die Worte „Brod! Brod!“ heraus, dazwischen riefen die Kinder Cognac, Aepfel, Wurst und Käse aus. Ein Gemeinsames ließ sich für diese französische Gruppe als Behauptung aufstellen: Alle beklagten sich, daß sie zu viel Einquartierung hätten, Keiner, daß man ihm zu wenig Soldaten gegeben habe.
Eine Frau zeigte mir einen kleinen schmutzigen Wisch Papier; den habe ihr ein „Bavarois“ gegeben, der sich mit seinen Cameraden Wein aus den Kellern geholt habe. Ob das Papier Gültigkeit habe? Auf dem Papiere stand Folgendes: „Unterzeichneter bezeugt, aus dem Keller dieser Madame ein Faß Wein geholt zu haben. Der Bismarck bezahlt Alles. (Unterschrift.)“
In der Nähe der Mairie liegt die Kathedrale – ein imposanter gothischer Bau voll Würde und Majestät. Derselbe ist erst in neuerer Zeit vollendet worden, nachdem er unter Heinrich dem Vierten begonnen worden war. Die Erbauung dieser Kirche war der Preis, um den vom Papste der große Bann von ihm genommen wurde; bekanntlich hatte sich der König von Navarra zur neuen Lehre bekannt und diese dann erst wieder verlassen, als er den französischen Thron bestieg. Heinrich der Vierte war eine leichtblütige Natur und nahm die Sache mit seiner Rückkehr in den Schooß der alleinseligmachenden Kirche nicht sehr genau. „Paris ist wohl eine Messe werth,“ war sein Wort, und die Franzosen, denen es in allen Dingen mehr um ein Schlagwort, als um ernste Untersuchung zu thun war, freuten sich über diesen Witz und ließen sich von ihm regieren. Den Orleanaisern trug seine Rückkehr in die Messe eine imposante Domkirche ein, wenngleich Heinrich der Vierte das großartige Bauwerk nicht vollendet hat. Von dem Gründer der Dynastie der Bourbons an bauten alle bis zum letzten Bourbon an der Domkirche „zum heiligen Kreuz“, unter Ludwig dem Sechszehnten wurden die Thürme beendet, unter Karl dem Zehnten das große Portal, und merkwürdigerweise – vierzehn Monate darauf war es in Frankreich auch mit der Dynastie zu Ende.
Die Länge der Kirche beträgt hundertdreiundvierzig Meter, die Breite sechsundsechszig Meter, die Höhe des Schiffes bis zu dem Gewölbe dreiunddreißig Meter, die Höhe der Thürme sechsundachtzig Meter. Wenn sich überhaupt eine Annäherungssumme für die Kosten der Erbauung annehmen läßt, da nach den verschiedenen Perioden des Baues der Werth des Geldes ein anderer war, so möchte die Summe von zweiundzwanzig Millionen Franken nicht zu hoch gegriffen sein – die Thürme allein erforderten einen Kostenaufwand von sieben Millionen.
Diese majestätisch in den Himmel aufsteigenden Thürme mit ihrer steinernen durchbrochenen Arbeit, ihren durchsichtigen Treppen und luftigen Säulenstellungen, diese tausend und aber tausend in Stein gehauenen Blumen und Blätter, diese eleganten Strebepfeiler,
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WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [50] diese Fenster mit ihrem kunstvollen Glaswerk, diese durchbrochenen Galerien, diese vertieften Karniese – welche Fülle, welche Pracht, welche Herrlichkeit! Wie macht diese grandiose Außenseite auf das Innere dieses wunderschönen Gotteshauses[WS 1] begierig! Und in welchem Zustande mußte ich dasselbe sehen!
Es befanden sich Tausende von französischen Kriegsgefangenen in der Kathedrale. Man hatte anfangs das Bahnhofsgebäude dazu benutzt, dieselben unterzubringen, als aber dieses gefüllt war, und die Zahl der Tausende mit jeder Stunde zunahm, fühlte man sich endlich zu der Nothwendigkeit gedrängt, die große Kirche öffnen zu lassen. Es gab zwar noch andere Kirchen in der Stadt, um die hungernden, frierenden Franzosen unterbringen zu können, aber dieselben waren zu klein, und man konnte nicht so viel Mannschaften entbehren, als zur Bewachung der Kriegsgefangenen in kleineren Räumlichkeiten nothwendig gewesen wären. Sollte man sie bivouakiren lassen – bei acht bis zehn Grad Kälte? Dagegen sprach die Menschlichkeit, und gegen die Benutzung der Kathedrale sprach der Bischof; aber es gab unter diesen Umständen keinen andern Ausweg.
Der ganze grandiose Raum war von Rauch erfüllt, daß man fast keine der architektonischen Linien mehr zu erkennen vermochte; die Franzosen hatten sich im Hauptschiffe und den Seitenschiffen große Feuer gemacht und saßen im Kreise um dieselben, hielten die Hände an das Feuer, schlenkerten mit den Füßen, einer erzählte etwas und sämmtlich waren sie guter Dinge; wenn das Feuer ausgehen wollte, wurden die mit Stroh geflochtenen Kirchenstühle genommen, zertrümmert und in die Gluth geworfen, die brannten gut. Dabei waren die Fliesen des Erdbodens mit Nässe und Schmutz bedeckt und ein furchtbarer Geruch durchdrang das Gebäude. Im hohen Chor befindet sich der Thron des Bischofs, der mit rothen Sammetvorhängen bekleidet und mit einem dichten Teppich bedeckt ist. In diesem Raume lagen die Zuaven, die Turcos, wie Stücke Vieh einer über dem andern, die Sammetvorhänge waren herabgerissen und zu Couvertdecken für ihre Lagerstätten benutzt worden, auf dem Throne machte ein Zuave ganz ungenirt Toilette und auf dem Betpulte des Bischofs schrieb Einer auf das Eifrigste einen Brief, dessen Ueberschrift war: „Ma bien-aimée Naëmi!“ Sie schliefen in den Beichtstühlen, sie lagen auf den Treppen des Hochaltars, der Kanzel, in den Chorstühlen, überall, und dabei war ein Summen, ein Geschwirre, ein Lärmen, das in den gewölbten Räumen tausendfach widerhallte. Nun ließen sich auch noch Orgeltöne vernehmen, und als ich näher trat, sah ich, daß eine dichte Gruppe das Orgelpult umgab, einer saß vor dem Griffbrett und intonirte eine religiöse Melodie, im nämlichen Augenblick riß ihn aber ein Anderer weg, intonirte einen Walzer, ein Zuave ergriff den ihm zunächststehenden Cameraden, drehte sich mit ihm im Tanze und bald tanzte die ganze Gesellschaft im hohen Chor.
Mit dieser Empörung über eine solche Entweihung ging ich hinweg, ich war fest entschlossen, davon Meldung zu machen; es war aber unnöthig, denn gleich darauf geschahen von der Militärbehörde, die schon davon gehört[WS 2] hatte, die entsprechenden energischen Schritte, um die Wiederkehr derartiger Excesse zu verhindern und die Franzosen zur Ordnung zu bringen. Wie aber, fragte ich mich beim Weggehen, muß es um die Herzens- und Gemüthsbildung eines Volkes bestellt sein, auf dessen religiöse Erziehung doch so viel verwendet wird, daß es so wenig das Heiligthum respectirt, das sie an die weihevollsten Momente ihres Lebens erinnert? Würden unsere Soldaten, gleichviel ob evangelische oder katholische oder Juden, so in einer Kirche gehaust haben? Nie, selbst wenn das physische Bedürfniß, wenn Hunger und Kälte sie gequält hätten, und dieses war es hier nicht allein, hier war es ein Kitzel, ein Taumel, der zu Ausartungen der letztgeschilderten Art verleitet hat, es war der Cancan im Gotteshause!
Beim braunen Caesar.
Ich führe den Leser mit diesen Zeilen in ein Wunderland, in ein Land voll eigenthümlicher Gebräuche, in eine jener noch kaum bekannten und noch unerforschten Gegenden unseres Weltkörpers, welche auf unseren Karten als die „Region der fernsten Nebelflecke“ zu betrachten sind. Dort ist es, wo das Königreich der Mombuttu liegt, hundertsechszig gute Wegstunden vom letzten Ausschiffungsplatze am Gazellenflusse entfernt und bereits jenseits des dritten Breitengrades. Meine Erlebnisse in diesem seltsamen Lande sind der abenteuerlichsten Art, doch will ich zunächst nur meinen Einzug in die Residenz des Königs, meinen Empfang und die ersten Eindrücke daselbst mittheilen, da diese doch die bleibendsten sind.
Es war einer jener schönen Märztage, an welchen bei uns der Juli so reich ist, die senkrechten Sonnenstrahlen brannten vom Himmel, als unsere Karawane, über dreihundert Köpfe stark, durch die endlosen Bananenpflanzungen dahinzog, welche, vermischt mit bezaubernden Hainen von Oelpalmen, das ganze Land zu einem ununterbrochenen Garten, einem wahren Eden gestalteten. Eine Woche bereits schwelgte ich im Genuß dieser verbotenen Früchte, die Niemand anrühren durfte, ohne dafür zu zahlen, da wir mit den Bewohnern auf freundschaftlichem Fuße standen und jeden Grund zur Klage vermeiden mußten. Wir waren in der Frühe von dem gestern überschifften großen Uëlleflusse aufgebrochen, so wird hier der obere Schari, welcher dem blauen Nil bei Chartum gleichkommt, genannt; nach fünfstündigem Marsche gelangten wir zu einer breiten Thalsenkung, in deren Mitte, weit und breit von Pflanzungen umgürtet und von Riesenbäumen, den geschonten Zeugen früherer Wildniß, beschattet, ein spiegelklarer Bach murmelnd sich mäandrisch dahinschlängelte. Uns gegenüber zeigte sich ein weitgedehnter grasfreier Abhang, auf welchem die dunkelrothe Erde, wohlgesäubert, mit vielen Reihen der zierlichsten Hütten, theils in Dachbau, theils in Kegelform errichtet, bedeckt war, von einzelnen Prachtbäumen überschattet. Auf der einen Seite erhoben sich, alles Uebrige überragend, bahnhofähnliche Gebäude in einer Höhe und Größe, wie ich sie seit Cairo nicht gesehen, und verriethen mir sofort den Wohnsitz des Königs Munsa.
Es wurde nun Halt commandirt, und unsere Träger, ihren täglichen Obliegenheiten nachgehend, sprangen mit Beilen und Messern in die Dschungel (Dickichte) am Bach, um das für die Errichtung von Hütten nöthige Material herbeizuschaffen. So war, wie gewöhnlich, in einer Stunde unser großes Feldlager aufgeschlagen im Angesicht der afrikanischen Königsstadt und der sie umgebenden lieblichen Landschaft, im Genusse des Fernblicks auf abwechselnde Grasflächen und Bananenpflanzungen, stolze Palmengruppen und riesige Baumgalerien an den Ufern der Bäche. Mitten unter diesem wirren Knäuel grüner Grashütten leuchtete mein Reisezelt hervor, allerdings nicht mehr, wie ehedem in der saubern Steinwüste, durch blendende Weiße, – es trug vielmehr die Spuren anhaltenden Lagerlebens nur zu deutlich an sich, – aber im Schmucke der Tricolore, welche heute zum ersten Male, zur Feier unserer Ankunft in der Residenz eines so mächtigen Fürsten, stolz von seiner Spitze wehte.
Es währte natürlich nicht lange, und von allen Seiten strömten Schaaren schaulustiger Eingeborenen herbei. Ich entzog mich diesmal im geschlossenen Zelte dieser Zudringlichkeit, denn ich war an diese längst auf meiner Reise gewöhnt worden und war müde, im versammelten Volke meine Kopfbedeckung zu lüften, um zu zeigen, daß das schlichte Haar wirklich mein eigenes sei, und in einer Positur wie Wallenstein bei seiner Ermordung, meine Brust zu entblößen, um ihre blendende Weiße bewundern zu lassen. Ich brauchte noch Kraft genug für den folgenden Tag, um vor Munsa selbst das Wunder meiner Existenz an den Tag zu legen. Die Aeußerungen der Mombuttu über meine Person gelangten wegen Mangel einer directen Verdolmetschung selten zu meinen Ohren; indeß unter den Niam-Niam, deren Anschauungsweise wohl eine ähnliche sein dürfte, hieß es gewöhnlich: „Nein, dieser Mensch! Wo kommt er her? ist er vom Himmel herabgefallen?“ Am meisten Erstaunen, weit mehr als meine helle Hautfarbe, erregte stets mein Haar, und ich hörte folgende Urtheile der Niam-Niam-Naturforscher: „Nein, das ist kein Mensch; es ist eine andere Art, er hat Haare wie ein Ziegenbock, wie ein Pavian etc.“ Ich hatte mein Haar, um von den Nubiern recht abzustechen, absichtlich [51] lang wachsen lassen. Bei den Mombuttu, welche, wie alle Bewohner des tropischen Afrika, von den Bischarin am rothen Meere bis zu den Negern des Gabun am Golf von Guinea, alle Eitelkeit in der Pflege ihres Haares concentriren, war das natürlich noch weit mehr der Fall. Die Haartracht der Mombuttu ist übrigens an eine feste Norm gebunden; weder Mode noch individueller Geschmack darf da platzgreifen. Männer und Frauen thürmen ihr (im Gegensatz zu den Völkern der sogenannten echten Negerrace) langes, krauses Haar zu einem hohen Chignon auf, welcher am Hinterkopf seinen Ursprung nimmt und unter schwacher Krümmung nach abwärts in die Lüfte hinausstarrt, zum besseren Halt innen von einem aus Rotang geflochtenen, äußerst eleganten und unseren Haarkünstlern zur Nachahmung zu empfehlenden Rohrkorbe getragen. Doch die Sitten führen mich von meiner Erzählung ab. Ich komme zur Audienz.
Am folgenden Tage rückte der Mittag bereits heran, als mir Mohammed Abu Ssamat, der Führer unserer Karawane, sagen ließ, Munsa sei jetzt zu sprechen. Ich warf mich also in ein feierliches Schwarz, raffte die auserwählten Geschenke (bestehend aus schwarzem Tuch, einem Fernrohr, einem silbernen Teller, Porcellangeschirr, Elfenbeinschnitzwerk, einem Buche mit Goldschnitt, einem Doppelspiegel etc.; dann außer großen indischen Glasperlen dreißig Halsschnüren der feinsten venetianischen Sorten, aus je dreißig verschiedenen Arten zusammengesetzt) zusammen und stieg, gefolgt von meinen Knappen, die mir nach Landessitte den Stuhl nachtrugen, unter Trommelschlag und Trompetenschall seitens der schwarzen Soldaten Abu Ssamat’s, zum Bache hinab, wo zu Ehren meines Besuchs Baumstämme gelegt waren, um trockenen Fußes die sumpfigen Ufer passiren zu können. Bei den Hütten angelangt, wandten wir uns der zweitgrößten der prächtigen Palasthallen zu, an deren Eingange ich von einer Art Ceremonienmeister bei der rechten Hand ergriffen und in’s Innere geführt wurde. Er geleitete mich durch die Reihen Hunderter von Trabanten, welche in vollem Waffenschmuck auf ihren zierlichen Bänken dasaßen, in Reihe und Glied geordnet wie in einem Concertsaale. Am andern Ende der Halle, wo ein freier Platz gelassen war, stand Munsa’s Bank, nur durch einen Mattenteppich und eine kolossale mit Kupfer beschlagene zweiarmige Lehne ausgezeichnet, welche letztere gesondert auf drei Beinen hinter der Bank stand. Ein paar Schritte zur Seite der letzteren ließ ich meinen Stuhl stellen und nahm Platz. Ich erfuhr später, daß Munsa bei meiner Ankunft sich in seinem gewöhnlichen Costüm zurückgezogen und erst lange nachher in feierlichem Schmuck aus seiner Privatwohnung hervorgekommen sei. Ich saß also, und konnte warten. Was konnte ich mehr verlangen, als daß der König mir zu Ehren Toilette machte!
Mittlerweile schallte die geräumige Halle (diese hatte hundert Fuß Länge, vierzig Fuß Höhe und fünfzig Fuß Breite, die andere war aber noch größer) vom endlosen Klange der Pauken und dem Gebrüll der Hörner. Ich hatte Zeit, mich umzusehen und bei der respectvollen Entfernung des Publicums meine Notizen niederzuschreiben. Mit unsern Baumaterialien, es sei denn, man hätte Fischbein angewendet, wäre man nicht im Stande gewesen, etwas Aehnliches von gleicher Leichtigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen das Toben der tropischen Elemente hinzustellen wie die Königshallen Munsa’s. Das einzige verwendete Material außer den hohen schlanken Säulen, welche das Dach trugen und aus Baumstämmen von dem geraden Wuchse der Fichte bestanden, besteht aus den Blattstielen der Weinpalme (Rhaphia). Diese bilden sowohl die Rippen des Dachstuhls als das Netzwerk seiner Bedeckung. Auch die schönen Bänke der Mombuttu werden aus diesen prächtigen klafterlangen glänzendbraunen Stäben hergestellt. Der Fußboden bestand aus dunkelrothem Eisenthon, fest und wohlgeglättet wie Asphalt. Eine niedrige Mauer von gleichem Material bildete die Einfassung, indem sie unter dem gewölbten Dache einen Raum freiließ, welcher Licht und Luft in die Halle hineinließ.
In das Anschauen dieser[WS 3] Herrlichkeiten vertieft, hatte ich wohl eine Stunde auf meinem Sitze ausgeharrt, als endlich lauterer Hörnerklang, Volksgeschrei und verdoppelter Donner der Pauken das Nahen des Herrschers verkündeten. Zu gleicher Zeit fand am Eingange der Halle eine großartige Ausstellung von Prunkwaffen statt, indem viele Hunderte ganz aus Kupfer geschmiedete riesige Lanzen von den verschiedensten Formen an ein improvisirtes Gerüst gelehnt wurden, eine wahrhaft königliche Pracht und in Centralafrika Schätze von unberechenbarem Werthe! Doch still – da kommt der König! Den Blick gleichgültig vor sich hin gerichtet, nahte derben Schritts, von Mohammed, seinem alten Freunde, der das Land zuerst erschloß, gefolgt, der rothbraune Cäsar, wild, phantastisch, malerisch. Er setzte sich, ohne mich eines Blickes zu würdigen, auf seine Bank und betrachtete seine Füße[WS 4]. Nicht so ich. Meine Augen konnten sich nicht satt sehen an diesem wilden seltsamen Gesellen, der jeden Tag Menschenfleisch ißt (eine auch unter den Niam-Niam allgemein verbreitete Sitte). Strahlend in rother Kupferpracht, wie eine saubere Küche, mit Ringen und fremdartig geformtem Schmuck an Arm und Bein, an Hals und Brust, auf der Stirn einen Halbmond, Alles aus purem lauterm Kupfer, auf dem Haupte ein hoher Strohcylinder, dicht mit kostbaren rothen Schwanzfedern des grauen Papageis besetzt und auch oben von riesigen Federbüscheln derselben Art beschattet, saß er da, am ganzen Leibe mit der landesüblichen Schminke aus Farbholz eingerieben, welche seinem ursprünglich hellrothbraunen Körper jene Modefarbe von 1862 verlieh, welche so häufig im Hintergrunde antik sein sollender Hallen wiederzufinden ist und eigentlich dem Aussehen einer angeschnittenen frischen Leber gleicht. Seine Kleidung, gleichfalls durch Nichts von der allgemeinen Mode des Landes abweichend und nur von ausgesuchter Feinheit, bestand aus einem großen Stücke gleichfalls mit Brasilienholz gefärbter Rocco-(Feigen-)Rinde. Diese wird so sorgfältig behandelt, daß sie das Ansehen eines ungewöhnlich starken moiré antique erhält. Aus dem einen sauber gesäumten Stück war Kniehose und Leibrock zugleich gebildet und der halbe Körper nur durch den äußerst kunstvoll gelegten Faltenwurf verdeckt, welcher von den massiven mit Kupferbuckeln als Beschlag gezierten Lendenschnüren aus Büffelhaut seinen Ursprung nahm. In der Rechten schwang er einen jener hier gebräuchlichen sichelförmigen, ebenfalls aus Kupfer geschmiedeten Säbel, und rechts und links wurden zur Seite seiner Bank kleine wohlgeschnitzte Schemel hingestellt, die, mit Servietten von Feigenrinde verdeckt, das beständige Naschbedürfniß des Königs bargen.
Das war also Munsa, so recht ein wilder König, ohne eine Spur europäischen oder orientalischen Schmuckes, nichts Unechtes oder Erborgtes an ihm zu finden.
Eine geraume Zeit verstrich, bis zwanglose Blicke vom Könige zu mir herüberstrahlten; und doch bewunderte er mich sicher in noch höherem Grade als ich ihn. Nach und nach begannen einige Fragen, welche sein der Niam-Niam-Sprache kundiger Dragoman einem unserer Leute übermittelte, der dieselben mir arabisch wiedergab. Indeß waren sie gleichgültiger Natur, denn Munsa hielt ebenfalls auf den Grundsatz der Türken und Slaven, „nil admirari“, sich durch Nichts aus der Fassung bringen zu lassen. Nun wurden auch die Geschenke ausgelegt, die er aufmerksam betrachtete, ohne indeß viel dabei zu sagen; desto mehr ließen sich aus der nächsten Nähe halbunterdrückte Laute des Staunens vernehmen, wo sich unterdeß Munsa’s Frauen, einige fünfzig an Zahl, hinter dem Sitze des Königs auf ihren netten Schemeln in Reihen geordnet hatten und nun im Anblick der tausenderlei verschiedenen Perlen vor Seligkeit vergehen wollten. Diese Weiber unterschieden sich ebenfalls nur durch Eleganz von den übrigen des Volks; es scheint das Land der hergebrachten unumstößlichen Mode zu sein. Den prächtigen Chignon tragen sie ohne Hut, vielfach durchbohrt von fußlangen Haarnadeln aus Kupfer und Elfenbein. Während die Männer nie anders als sorgfältig bekleidet gesehen werden, halten die Weiber dies für ihre Reize höchst unangemessen; sie könnten ja dann nicht einmal mit der mühsamen Bemalung des Körpers coquettiren. Eine schwarze Farbe ziert, für viele Tage unauslöschlich, den meist hellbraunen, oft gelblichen Teint in den gesuchtesten Mustern. Bald sind es Blumen und Sternchen, Malteserkreuze und Bienen, runde Flecke und Tigertüpfel, schachbrettartige Carrirung oder Streifung, welche das Muster bilden. Von Schmuck gewahrt man wenig, da Glasperlen noch ziemlich unbekannt sind und die Männer das Kupfer für sich behalten. Kurz, diese Damen verdienen im besondern Maße Eva’s Töchter genannt zu werden, des Eifers wegen, mit dem sie ihrer Stammmutter in der Tracht des Urzustandes nachstreben.
Nachdem Munsa so seine Blicke einigermaßen an die fremde Erscheinung gewöhnt, nahmen die Vorstellungen zur Unterhaltung und Belustigung ihren Anfang. Zunächst producirten sich ein paar Posaunenbläser, die auf Hörnern, aus einem großem Elephantenzahn geschnitzt, welche die Virtuosen kaum zu halten vermochten, [52] durchdringend heftige Brülltöne hervorstießen. Darauf folgte der Hofnarr, ein kleiner kugelrunder Brummkreisel, welcher, unermüdlich in Späßen und Albernheiten, einen so komischen Eindruck machte, daß ich – zur größten Befriedigung des Königs – in herzhaftes Lachen ausbrechen mußte. Munsa hatte auch seine Eunuchen; ein solcher diente gleichfalls als Zielscheibe des Witzes; er trug – wie verächtlich für die nubischen Gäste! – einen rothen Fez. Auch fehlte es nicht an Solotänzern, welche über und über mit Katzen- und Civettenschwänzen, an Armen und Beinen mit Schweinsschwänzen der buschigen Art behängt waren, sie bemühten sich mit bestem Erfolge, in ihren Bewegungen und Geberden die Wildheit grunzender Paviane nachzuahmen.
Das Beste hatte Munsa zum Schluß aufgespart: er hielt eine Rede. Während das Volk in unerschütterlicher Ruhe auf seinen Schemeln und Bänken verharrte (kein Mombuttu sitzt am Boden), erhob sich mit einem Satze Munsa, räusperte sich und begann „das lautschallende Wort“. Ich verstand nichts davon, hörte aber so viel, daß er seine Worte wählte und mit Kunst zu sprechen bemüht war. Auch fehlte es nicht an Kraftpausen, in welche der Jubel des Volkes mit wildem I, I, tschupi, tschupi einfiel und Hörner und Pauken einen Höllenlärm machten. Gleichsam zur weiteren Ermunterung dieses Tobens ließ der König ein schnarrendes Brr hören, daß man die Palmenstäbe des Dachstuhls vibriren sah. Die Pauken, von den Hörnern rhythmisch begleitet, schlugen einen seltsamen Tact an, und Munsa, zu einem neuen Instrumente greifend, einer gestielten Korbkugel mit Muscheln gefüllt, einer bei uns gebräuchlichen Kinderklapper gleichend, dirigirte mit dem Ernste eines Capellmeisters das Höllenconcert.
Die Rede dauerte eine volle halbe Stunde und gewährte mir ausreichende Muße, von dem redenden Könige eine detaillirte Skizze zu entwerfen. Der Hunger zwang mich zuletzt, aufzubrechen und den König König sein zu lassen. Zum Abschiede sprach derselbe noch zu mir: „Ich weiß nicht, was ich Dir für Deine vielen Gaben bieten soll; ich bin recht betrübt, daß ich nichts habe.“
Entzückt über diese Bescheidenheit und in der Erwartung um so größerer Geschenke erwiderte ich: „Was es auch sei, ich bin deshalb nicht gekommen, ich brauche kein Elfenbein, das kauft man sich bei uns selbst; die Türken holen es; ich bitte nur um zwei Dinge: um ein Schwein (der seltenen, gepinselten Art) und um einen Ranja-Affen.“
„Daran soll es nicht fehlen!“ erwiderte Munsa.
Allein ich war der Getäuschte. Munsa hatte leider zuerst die Wahrheit gesprochen, und von Schwein und Gorilla sah man nie eine Spur, trotz meiner täglichen Mahnungen.
Das war mein Besuch bei Munsa. Ich blieb noch zwanzig Tage am Platze. Von meinen Begegnungen mit untergeordneten Häuptlingen der Niam-Niam schweige ich, wie von dem landreichen Uando (demselben, der uns später feindlich angriff), welcher uns als Gastgeschenk einen großen Topf mit angebranntem, räucherigen Ragout von Kaldaunen eines hundertjährigen Elephanten, sehr zähe und mit sehr viel haut-goût, darbot; wenigstens sagten mir das meine Leute, denen ich diese Delicatesse unberührt überließ. Ich könnte Bände voll schreiben, wollte ich über alles das so ausführlich berichten, wie über den ersten Tag bei Munsa. Es gab dort noch große Feste, wo dieser König in feierlichstem Putz von Fellen und Federn, öffentlich vor versammeltem Volke, seinen Weibern und Trabanten tanzte, wie ein besessener Derwisch. Vieles davon ist in großen Zeichnungen verewigt. Kurz – ich habe Völker kennen gelernt, die, noch völlig unberührt von dem Einflusse unserer Cultur, eine eigene, aus sich selbst entwickelte zur Schau trugen, so seltsam und fremdartig bis in die kleinste Einzelheit, daß man unter ihnen sich in eine neue Welt versetzt glaubte.
Ein Jesuitenzögling.
Gewisse Blätter erzählen, daß in Folge der letzten großen Ereignisse dem Papste der Aufenthalt an den Ufern der Tiber unbehaglich geworden sei und daß er darum seinen künftigen Wohnsitz in Fulda zu nehmen gedenke, wo der heilige Bonifaz begraben liegt, und wo gegenwärtig einer der eifrigsten Dunkelmänner den bischöflichen Krummstab führt. Wir werden es unter solchen Umständen gewiß erleben, daß die alte Bischofsstadt in Hessen zum Mittelpunkt für die Umtriebe der Jesuiten wird, welche den Papst, wie bekannt, völlig beherrschen, und welche von diesem sicher in zahlreichen Schaaren mit über die Alpen herübergeführt werden. Dann aber mag die nachfolgende Geschichte eines Jesuitenzöglings doppelt lehrreich und geschickt sein, Aufklärungen über jene verderblichen Triebe und Keime zu geben, welche die Schüler Loyola’s in die ihnen anvertrauten jungen Seelen legen.
Manche Leser dieser Blätter haben wohl in ihrer Jugend eine oder die andere der anspruchslosen, doch aus wirklicher Anschauung entsprungenen Fischeridyllen von Bronner wenigstens aus einer Mustersammlung kennen gelernt. Doch wenn die Poesien dieses Dichters schon halb verschollen sind, so ist er selbst es ganz; und trotzdem ist seine (1795 in drei Bänden) selbstverfaßte Lebensbeschreibung ein sehr interessantes Buch, namentlich durch seine Schilderungen des Klosterlebens, das der zum Priesterstande bestimmte Bronner aus eigenen vieljährigen Erfahrungen schildert; mit Recht nennt Gervinus diese treuen Berichte interessanter als alle Klosterromane jener Zeit. Bronner riß sich aus den Fesseln, die ihm unerträglich wurden, los, kehrte dann noch einmal reuig zurück und entfloh endlich zum zweiten Male dem Kloster für immer. Seine ruhige und schonende Darstellung gewährt belehrende Einblicke nicht blos in die Jesuitenschulen und Klöster, sondern auch in die geistigen Zustände des katholischen Deutschlands in seiner Zeit überhaupt und ist ein nicht unwichtiger Beitrag zur Culturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts.
Franz von Bronner wurde als Sohn eines blutarmen Ziegelknechts 1758 zu Höchstädt geboren, und seine Eltern sahen es als unschätzbares Glück an, daß er 1769 in der Jesuitenschule (dem sogenannten Studentenseminar) zu Dillingen kostenfreie Aufnahme fand. Schon im folgenden Jahre hatte der noch nicht zwölfjährige Knabe außer seinen Studien, die wesentlich im Lateinlernen nach der von den Jesuiten hergebrachten Methode bestanden, auch an geistlichen Uebungen Theil zu nehmen. Aus den kleinen „Studenten“ der drei untersten Classen wurde eine sogenannte „Schutzengelbrüderschaft“ gebildet, der von einem der Lehrer an Sonn- und Feiertagen das Leben des heiligen Aloysius, eines großen Büßers, unablässig zur Nachahmung empfohlen wurde. Wöchentlich mußte jedes Mitglied einen Zettel mit der Aufschrift „bona opera“ auf den Brüderschaftsaltar legen, auf welchem die Bußwerke, Kasteiungen, Almosen etc., zu denen er sich erbot, verzeichnet waren. Die armen Kinder wurden durch Zuspruch und öffentliche Auszeichnungen angefeuert, sich wetteifernd auf’s Schauerlichste zu martern. So ward zum Beispiel ein Studentchen sehr gelobt, weil er kleine Steinchen in seine Schuhe geworfen hatte und darauf spazieren gegangen war. Um ihn zu überbieten, schlug sich Bronner eiserne Nägel in die Absätze seiner Schuhe und ließ die Spitzen einwärts hervorragen. Und so wurden überhaupt die jungen Seelen unnatürlich früh mit krankhafter religiöser Schwärmerei erfüllt. Die Erzählung von den Wundern der heiligen Stanislaus und Aloysius, die beim Genuß des Abendmahls drei Schuh hoch in die Höhe gehoben wurden, erregte in Bronner die Hoffnung, er könne durch gesteigerte Andacht derselben Gnade theilhaft werden; oft, wenn er sich nach der Communion über den Stuhl bückte, stützte er sich auf die Ellenbogen und hob sich bei den Knieen in die Höhe, um zu versuchen, ob ihn die Luft noch nicht tragen wolle. Aber ebenso früh fraß sich das schlimmste Gift der jesuitischen Lehre in die Kinderherzen ein.
„Weil man uns,“ fährt Bronner fort, „von der ‚guten Meinung‘ so oft und eindringlich vorpredigte, so machte ich zu allen meinen Handlungen eine gute Meinung, das heißt ich sagte in Gedanken: ‚Herr! Dir zu Liebe thue ich das und das‘ etc. Hiermit glaubte ich dem gehörten Unterrichte gemäß jedes Werk zu heiligen. Wenn ich nun etwas vorhatte, das ich für Sünde hielt, so wußte ich mir durch den Satz, daß die gute Meinung alle Werke heilige, gar bald aus dem Gedränge zu helfen: ich log, zankte, überhaupt – sündigte zur größeren Ehre Gottes.“
Durch die Lecture von Legenden und Wundergeschichten wurde [53] den Knaben der Kopf noch mehr verrückt, und durch eine drei Tage lang bei verschlossenen Läden im Dämmerlicht gehaltene Bußpredigt eines Missionärs ihre Zerknirschung bis fast zum religiösen Wahnsinn gesteigert.
„Während dieser Zeit sah man in unserm Seminar kein Bild an der Wand, vor dem nicht ein Studentchen kniete, entweder auf einem schneidenden Scheit, oder mit einem Stachelgürtel (Cilicium) um den Leib, ober mit einer Geißel in der Hand. Ich lag Nachts auf kleinen Scheiten, trug am Tage das Cilicium, geißelte mich auch, ehe ich zu Bette ging, mit Stricklein und wollte ein ebenso großer Büßer werden wie der heilige Aloysius.
Der Bußgeist war mit solcher Heftigkeit in mich und andere kleine Knaben meines Alters gefahren, daß wir insgeheim fromme Zusammenkünfte hielten, von heiligen Einsiedlern und Büßern schwatzten und einander auf den entblößten Rücken geißelten. In die Länge ward mir dies Bußethun zu sauer, denn einige hieben ganz unbarmherzig darein. Um also die Strenge der Geißler zu mildern, bestachen wir sie mit Darreichung eines Kreuzers oder eines erübrigten Theils vom Mittagessen. Endlich mischten sich die Lehrer ein und verboten uns das Zusammenkommen in was immer für Winkeln. Sie mochten eine ganz andere, der Keuschheit nicht gemäße Ursache unserer Zusammenkunft argwohnen. Allein wir hatten gar keinen anderen Gedanken als Bußethun und Heiligwerden.“
Daß übrigens der Argwohn der frommen Väter nicht ohne Grund war, erfuhr Bronner nur zu bald bei Aufführung einer geistlichen Oper durch die Schüler, wo sich hinter den Coulissen Dinge ereigneten, deren Entdeckung zur schimpflichen Ausweisung von sieben Schülern führte.
Selbst die Beichten wurden für die Phantasie der heranwachsenden Knaben gefahrvoll. Der Beichtvater, dem fast alle kleinen Studenten beichteten, fragte sie so scharf aus, forschte so lange, ob sie nicht so oder so gesündigt hätten, bis sie mit Vergehungen vertraut waren, von denen sie vorher nichts geahnt hatten. Ueberdies konnten sie der Versuchung nicht widerstehen, in casuistischen Büchern die für ihre Neugier anzüglichsten Stellen aufzusuchen und mit dem Lexikon in der Hand sich über Dinge zu unterrichten, die ihnen sicher unbekannt geblieben wären.
Als begabter und fleißiger Schüler rückte Bronner schnell von Classe zu Classe auf, lernte auch mit Hülfe eines Buchbinders, der Bücher aus der Fremde verschrieb, die besten damaligen deutschen Dichter (Klopstock, Gellert, Uz, Hagedorn, Ramler) kennen, las daneben fleißig die lateinischen und machte seine ersten eigenen [54] poetischen Versuche. Aber im Jahre 1776 faßten die Jesuiten im ganzen pfälzischen und bairischen Gebiete den Beschluß, ihren Schülern alle deutschen Bücher wegzunehmen; Bronner mußte eine Liste der seinigen aufsetzen, während man gleichzeitig sein Pult erbrechen ließ, um sich von der Richtigkeit derselben zu überzeugen. Ihm wie allen Studenten wurden nun die gefährlichen Bücher fortgenommen, aber die jungen Literaturfreunde verschafften sich bald neue und versteckten sie jetzt nur um so heimlicher.
Als Bronner, nun ein achtzehnjähriger Jüngling, im Herbste desselben Jahres die Heimath besuchte, redete ihm erst der Stadtpfarrer von Höchstädt, dann auch seine Mutter dringend zu, in das Benedictinerkloster zu Donauwörth einzutreten. Obwohl Bronner Weltgeistlicher zu werden wünschte, konnte seine weiche Natur namentlich dem Drängen der Mutter nicht widerstehen, die ihm vorstellte, im Kloster würde er nicht blos sogleich versorgt, sondern sie selbst auch überglücklich sein, schon so bald einen geistlichen Herrn Sohn zu haben, der für sie Messe lesen könnte. So ließ er sich bewegen nach Donauwörth zu gehen und dem Prälaten seine Bitte um Aufnahme vorzutragen, immer, wie schwache Seelen pflegen, sich mit der Hoffnung beruhigend, irgend ein unvorgesehener Umstand würde das verhindern, was er durch eignen Entschluß abzuwenden nicht die Kraft hatte. Aber seine Hoffnung erfüllte sich nicht, und er sah sich nur zu bald in den Mauern des Klosters eingeschlossen.
Seine mit den ärmlichsten Möbeln ausgestattete Zelle, deren Wände von Rauch gebräunt und deren Boden von Mäusen aufgewühlt war, hatte wenigstens eine reizende Aussicht, und er faßte von Neuem die Hoffnung, mit der Regel des heiligen Benedict seine Neigung zum Studiren und den schönen Wissenschaften vereinigen zu können. Der Klosterbarbier vollzog die Tonsur an dem Klostercandidaten, er wurde in das Ehrengewand des Ordens gekleidet und so begann nun das Noviziat.
„Nach der christlich eifrigen frühen Eintrichterung des Katechismus,“ sagt Bronner, „weiß ich nichts, was den Geist mehr abzustumpfen und den geraden Menschensinn besser zu verkrüppeln taugt, als die gewöhnliche Behandlung der Novizen.“ Einen großen Theil des Tages füllte das gedankenlose Chorsingen aus, das schon um halb vier Uhr Morgens mit der Frühmette begann; die übrige Zeit wurde mit dem Lesen ascetischer Schriften, dem Abbeten eines Breviers zu Ehren der Jungfrau Maria, des Rosenkranzes oder anderer Formeln, oder mit Abfassung einer täglich dem Novizenmeister einzureichenden geistlichen Betrachtung, endlich mit Auskehren der Klosterräume und dem dadurch verdienten Genuß eines Kruges Weißbier hingebracht. An jedem Sonntag mußten die Novizen ihrem Meister die Fehler der vergangenen Woche beichten, wobei sie sich zu „prosterniren“ hatten, d. h. das Haupt mit der Kapuze bedeckt der Länge nach niederzufallen und so lange im Staube liegen zu bleiben, bis er rief: „Surgite!“ (Steht auf!) Die Bußen bestanden je nach der Größe der Fehler in Entziehung des Salats oder Weins an der Tafel, in Sitzen auf dem Boden u. dgl.
Doch Bronner erfuhr von den jungen Mönchen bald, daß man sich an die Vorschriften nicht so streng zu kehren brauche, bald ließen sie ihn an wüsten Trinkgelagen Theil nehmen und machten aus dem stillen blöden Jungen in Kurzem einen sehr lockern Novizen. Sie unterwiesen ihn auch, wie er sich den Schein eines strengen Büßers geben könne, ohne sich wehe zu thun; denn in der Fastenzeit sollte man sich mit dem Cilicium (einem Drahtnetz in Form einer handbreiten Binde mit spitzen Stacheln, die man mit einwärts gekehrten Spitzen um die nackten Hüften legte) und der Geißel (die acht in lange Kölbchen auslaufende Schnüre hatte) mindestens zwei Mal wöchentlich peinigen. Wenn dann der Novizenmeister Abends an den Zellen horchte, peitschten deren Insassen auf die Rücklehne eines Ledersessels oder auf die auf dem Bett ausgebreiteten Beinkleider.
Wie oft aber Bronner auch die Erbärmlichkeit des Klosterlebens tief empfand, immer tröstete er sich wieder leicht durch verstohlenes Lesen in der Bibliothek, durch allerlei mechanische Beschäftigungen und Spielereien; die Kraft zu einem freien Entschlusse fand er nicht, und so legte er nach Ablauf des Noviziats im October 1777 die drei klösterlichen Gelübde der Armuth, der Keuschheit und des Gehorsams ab, wählte den Klosternamen Bonifacius und wurde in Gegenwart seiner Eltern und Freunde feierlich eingekleidet. Um anzuzeigen, daß der neue Mönch von nun an der Welt völlig abgestorben sein solle, wurde ihm die Kapuze vor dem Gesicht zusammengemacht, er mußte sich an den Stufen des Altars niederwerfen, wurde mit einem Grabtuche bedeckt und bei dem Schein von Trauerkerzen wie an einer Bahre Todtengesänge neben ihm gesungen. Sobald er aufstehen durfte, empfing er von allen Mönchen der Reihe nach den Bruderkuß. Der übrige Tag sollte frommer Betrachtung in der Einsamkeit der Zelle gewidmet sein. Erst am andern Tage wurden die zusammengenähten Kapuzen wieder aufgetrennt, und dem gleichsam Neuerstandenen gestattet, wieder am Umgange mit anderen Menschen theilzunehmen. Nicht blos Bronner selbst bereute nun zu spät den unwiderruflichen Schritt, selbst seine Mutter bedauerte, ihn dazu gedrängt zu haben, als sie am Tage nach der Einkleidung Zeugin der Belustigungen wurde, die jüngere Mönche mit anwesenden Mädchen und Frauen anstellten, und die hauptsächlich in Wadenmessen und dem Suchen versteckter Schuhe unter den Stühlen der im Kreise Sitzenden bestanden.
Ueber die erste Zeit des Mönchslebens halfen Bronner philosophische und mathematische Studien hinweg, die er unter Leitung des gelehrten und verhältnißmäßig aufgeklärten Pater Beda mit großem Eifer trieb. Dabei gab es freilich fortwährende Kämpfe mit dem Prior, der den geistlichen Uebungen möglichst wenig Zeit entzogen wissen wollte und gegen alles eitle weltliche Wissen eiferte: er suchte durch zur Schau getragene Strenge die Gerüchte über Manches aus seinem frühern Leben in Vergessenheit zu bringen, wo er in einem Thurm der Stadtmauer mit andächtigen Mädchen pietistische Conventikel gehalten hatte. In den Scenen, die er von seinem Zellenfenster aus beobachten konnte, fand Bronner die Motive zu seinen Fischeridyllen, erfreute sich auch an dem Umherstreifen in den Wäldern, wenn er mit anderen jungen Mönchen auf den Jagden der Prälaten als Treiber dienen mußte. Seine physikalischen Studien führten ihn zu allerlei Thorheiten, er versuchte, ein Perpetuum mobile, eine Flugmaschine zu erfinden, und seine liebste Erholung war neben der Poesie die Musik. Daneben quälte er sich mit theologischen Zweifeln, er vermochte nicht die Ewigkeit der Höllenstrafen mit dem Begriff eines allgütigen Gottes zu vereinigen, und da er immer noch jeden wissentlichen Zweifel an der katholischen Lehre für eine Todsünde hielt, betete er inständigst zu Gott, ihn vor Ketzerei zu bewahren.
Im Jahre 1780 lernte Bronner den ersten Roman kennen: der Pater Bibliothekar hatte den damals so berühmten „Siegwart“ gekauft, weil er auf dem Titel als „Eine Klostergeschichte“ bezeichnet war. Dies Buch erschloß dem zweiundzwanzigjährigen Jünglinge eine neue Welt der Empfindung und erfüllte sein weiches Herz ganz mit tiefer Sehnsucht nach Liebe und Glück. Bald lernte er ein eben so schönes als sittsames Mädchen kennen, die als nahe Verwandte eines Mitbruders das Kloster besuchte, und zwischen ihnen entspann sich ein Verhältniß, das bei der seltenen Unschuld Beider völlig rein blieb, auch nach der Heirath der Geliebten mit Billigung ihres Mannes fortdauerte und dem guten Bronner durch sein ganzes Leben ein bittersüßes Glück gewährte.
Der Prälat, dessen Gunst Bronner namentlich durch ein zu seinem Geburtstage veranstaltetes Singspiel gewonnen hatte, schickte den jungen Mönch, nachdem er ihm zuvor das Subdiaconat ertheilt, nach Eichstädt, um ihn nach seinem Wunsch in der Mathematik ausbilden zu lassen. Hier machte Bronner aber die Bekanntschaft eines Freimaurers, der ihn bewog, sich in den Illuminatenorden aufnehmen zu lassen. Wenn auch das Possenspiel der Bedrohung mit dem Tode, falls er den Eid der Verschwiegenheit brechen würde, dem Neueingeweihten höchst lächerlich vorkam, so war der Eintritt in diesen neuen Kreis doch von entscheidendem Einflusse auf sein ganzes Leben; denn die Ansichten, die er theils aus dem Umgange der neuen Genossen, theils aus der Literatur, die er durch sie kennen lernte, in sich aufnahm, untergruben seinen schon erschütterten Glauben völlig.
Nichtsdestoweniger empfing Bronner im Jahre 1783 in Eichstädt die Priesterweihe. Die ganze Ceremonie, namentlich aber das Bestreichen der zusammengebundenen Hände mit dem heiligen Oel, das ihm eine Wunderkraft mittheilen sollte, widerte ihn an; doch beschwichtigte er sein Gewissen mit der Vorspiegelung, die Gnade Gottes werde ihm vielleicht künftig durch ein Wunder den Glauben verleihen, den er jetzt nicht habe. Bei seiner ersten Messe (Primiz) empfing die (bereits vermählte) Geliebte von ihm das Abendmahl, [55] und er wählte, nach der Sitte, wonach der Primiziant als „geistlicher Hochzeiter“ gilt, sie als „Braut“.
Nach der Rückkehr aus weltlichen und aufgeklärten Umgebungen fand Bronner die Gewöhnung an die mönchische Lebensart doppelt schwer; besonders lästig war ihm der Chorgesang. Wie in allen Klöstern standen sich zwei Parteien, die der Alten und der Jungen, feindlich gegenüber. Die Ersteren hielten auf langsames Tempo, die Anderen auf schnelleres, täglich suchten beide Theile in einer Art von Stimmenkampf einander zu überschreien, und in den Zwischenpausen der Psalmenverse hörte man Verwünschungen ausstoßen. Eine Vormittagsstunde war für Anhören oder Lesen einer Messe bestimmt. Oft wurden Bronner von armen Leuten sauer ersparte kleine Summen geboten, um Messen für sie zu lesen; erbot er sich, es umsonst zu thun, so hatte das nur die Folge, daß die Leute ihr Geld einem andern Priester zutrugen. Von seinen neuen priesterlichen Obliegenheiten gelang ihm das Predigen zu seiner Zufriedenheit, das Beichtsitzen aber ermüdete ihn und ekelte ihn bald an.
Trotzalledem würde er dies Leben vermuthlich noch lange ertragen haben, wäre er nicht durch äußere Umstände zu einem Entschluß gedrängt worden. Der Prälat, dessen Hauptfehler Verschwendung und Spielsucht war, hatte sich in Schulden gestürzt; ein dem Kloster zugefallenes Vermächtniß hatte er wahrscheinlich schon angegriffen, um sie zu bezahlen; er verlangte nun, daß das Kloster diese Gelder als unkündbares Capital übernehmen und mit vier Procent verzinsen sollte. Bronner protestirte, da das Kloster hinreichende Einkünfte habe und der Zinsfuß zu hoch sei; der damals übliche war drei Procent. Dieser Protest bewog die Mehrheit, gegen den Vorschlag zu stimmen, aber Bronner war selbstverständlich fortan in erklärter Ungnade des Prälaten, und seine Stellung zu den übrigen Mönchen mit einem Schlage verändert. „Denn in Klöstern geht es beinahe wie an Höfen; wer in Ungnade fällt, ist der Ball jedes Buben und ein Scheusal für jede kriechende Seele. Trieben Neid und Scheelsucht bisher nur hinter meinem Rücken ihr Spiel, so wagten sie jetzt dreist, mir unter das Angesicht Hohn zu sprechen.“ Der Prior behandelte ihn äußerst strenge, die Mönche verspotteten, neckten und verketzerten ihn; sein Zustand wurde unleidlich, und als ein Mißverständniß ihn glauben machte, seine Geliebte sei seiner unwürdig, führte er in einer Art Verzweiflung den Entschluß aus, dem ihm nun ganz verhaßt gewordenen Kloster zu entfliehen.
Die späteren Lebensschicksale Bronner’s mögen hier wenigstens eine kurze Erwähnung finden. Er floh im Jahr 1785 nach Zürich, wo er sich durch Notensetzen in der Orelli’schen Druckerei das Leben fristete. Bald machte er die Bekanntschaft des von ihm hochverehrten Idyllendichters Salomo Geßner, der ihm viel Theilnahme bewies und ihn zum Dichten ermunterte. Doch sein Prälat ließ ihm die lockendsten Versprechungen machen, wenn er zurückkehre: er solle völlig straflos bleiben, vom Mönchthum dispensirt werden etc.; und der schwache Mann ließ sich durch die Aussicht auf eine Pfründe zur Rückkehr bewegen. Aber in Augsburg, wo ihm sein Aufenthalt angewiesen wurde, hielt man ihn hin und gab ihm endlich 1789 eine kärgliche Stelle als Registrator bei einer geistlichen Kanzlei. Er überzeugte sich zuletzt, daß er vergebens hoffe, und entfloh zum zweiten Mal 1793. Wieder wandte er sich nach der Schweiz, gab in Zürich seine Fischergedichte heraus, und versuchte dann in der französischen Republik eine Anstellung als Geistlicher zu finden; bald aber überzeugte er sich in Colmar, daß unter der Herrschaft des Terrorismus und des Cultus der Vernunft für die Verwirklichung seiner Ideale kein Raum war. Er war froh, sich nach der Schweiz zurückretten zu können, wo er mit Ausnahme der Jahre von 1810 bis 1817, die er als Professor in Kasan verlebte, sein übriges Leben als Lehrer zubrachte, und hochbetagt (erst im Jahre 1850) zu Aarau beschloß.
Alexander Dumas, der berühmte Dichter der „drei Musketiere“ und des „Grafen von Monte-Christo“ hat das Leben in aller Stille verlassen. Die Nachricht von seinem Hinscheiden lief nur als flüchtige Notiz durch die Zeitungen, dann war sie auch schon von dem gewaltigen Kanonendonner der Schlachten an den Ufern der Loire und von dem Lärm der Kämpfe unter den Mauern von Paris übertönt. In einer Dorfkirche, nahe bei Dieppe, am Strande des Meeres, wohin der Dichter vor den Riesenstürmen der Zeit geflüchtet, war er ohne allen Prunk begraben worden, er, der Glanz, Herrlichkeit und Aufsehen so sehr geliebt und gewiß gehofft hatte, noch ein letztes Mal durch ein prunkvolles Leichenbegängniß mitten durch die breiten, volkgefüllten Straßen der „heiligen Stadt“ die Aufmerksamkeit von Paris, die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu lenken.
Die Erfüllung dieses Wunsches blieb ihm versagt, und gewiß, es liegt ein eigenthümliches Geschick darin, daß derjenige, der als ein Hauptförderer der Verkommenheit der französischen Gesellschaft so hochberühmt, gefeiert und den glänzendsten Namen angereiht war, gerade jetzt, da diese ganze französische Wirthschaft und Gesellschaft krachend und berstend in sich zusammenbricht, still, unbeachtet und halbvergessen von hinnen gehen muß.
Doch – „von den Todten nur Gutes!“ Nun, ich möchte nichts „Böses“ von dem Todten sagen. Er war gut, sehr gut; ich denke, nie ist ein Freund in der Noth zu ihm gekommen, ohne daß ihm geholfen worden wäre, wenn eben Geld oder sonst das Nöthige vorräthig war. Aber – einmal trat ein Mann, mit hohem Namen angemeldet, bei Alexander Dumas ein; und als sie Beide sich gegenüberstanden, sagte Dumas, halb lustigen Blickes, halb verdutzt: „Ah, das sind Sie, Herr So und so?“ Es war sein Schneider. Er hatte zehnmal angefragt, immer war Dumas nicht zu sprechen gewesen. So hatte der Schneider sich zu der kleinen Lüge verstiegen, sich als Marquis de Poussignac anmelden zu lassen. Das hatte geholfen. –
„Sie wollen Geld haben,“ sagte Dumas, „aber ich habe jetzt keines.“
„O, bei Leibe nicht, lieber Herr Dumas; „aber ich weiß, daß Sie nie Geld für Unsereins haben. Aber ich bitte Sie, geben Sie mir eine Anweisung auf Ihren Buchhändler, auf eine Zeitung, oder einen Wechsel, ich muß so Etwas haben, denn ich bin in der größten Verlegenheit.“
„Einen Wechsel?“ frug Dumas lächelnd. „Was wollen Sie damit?“
„Ich kann ihn in Zahlung geben.“
„So! Das hätte ich nicht gedacht. Aber der Curiosität wegen werde ich Ihnen einen Wechsel geben.“
Er nahm ein Blatt Papier, fing an zu schreiben, der Schneider sah ihm über die Schulter und sagte: „Herr Dumas, ein Wechsel von zweitausend Franken muß auf einem Stempelbogen von zwei Franken stehen –“
„Stempelpapier habe ich nicht,“ sagte Dumas.
„Hab’s mir gedacht,“ erwiderte der kluge, vorsichtige Schneider, „und hab’ deswegen welches mitgebracht.“
Mit Grazie überreicht er das Blatt dem Dichter, der es lachend hinnahm. Dann dictirte der Schneider die Form des Wechsels, und Dumas schrieb’s, wie jener es wünschte.
Der Schneider mußte doch wohl sicher sein, den Wechsel in Zahlung geben zu können, weil er so fröhlich war, als er denselben in seinen Händen hatte; Dumas aber sagte lächelnd, als er das Blatt hingab, das unter Umständen für ihn doch verhängnißvoll werden konnte:
„So, das Papier war zwei Franken werth, so lange es unbeschrieben war. Jetzt ist’s Nichts mehr werth! Bon jour, mon ami.“
Der Zufall wollte, daß ich eines Tages in Paris in einer quasiliterarischen Gesellschaft eine Dame traf, die, auffallend gekleidet, einst schön gewesen sein mochte, jetzt sich nur noch durch ihre kecke und laute Sprache und ein ziemlich ausgesprochenes, dem Blicke preisgegebenes Embonpoint auszeichnete. Geist hatte sie nicht, aber ein gewisses Gehenlassen, das ihr jung einen Reiz gegeben haben mochte, das sie jetzt als vollkommen geschmacklos erscheinen ließ. Es war Madame X., vor ein paar Tagen noch war sie Madame Dumas gewesen. Sie hatte eine Art restitutio – natürlich nicht in integrum – über sich müssen ergehen lassen. Dumas hatte sie in Gnaden entlassen, sie war Madame Dumas auf Wartegeld, Madame Dumas außer Diensten, wie man bei alten Generalen sagt.
Gegen Mitternacht, als nur ein kleinerer Kreis noch übrig war, wurde sie gesprächig; sie erzählte von Alexander. Aber ich mußte stets an den guten Gottfried Börne’s denken, dem ich einmal begegnete, als er nach Börne’s Tode Bedienter bei Meyer-Beer war, und den ich ausfragen wollte, um etwas Charakteristisches von Börne zu hören. Aber er wußte Nichts zu sagen, als daß Börne viel besser gewesen sei als Meyer-Beer, da Letzterer viel strenger fordere, daß kein Stäubchen auf dem Rock und die Schuhe und Stiefel wie Spiegel glänzen müßten.
„O, da war Herr Börne doch viel guter!“ seufzte schließlich der gute Gottfried, der eine so große Rolle in Börne’s Pariser Briefen spielte.
Und so ging es Madame Dumas außer Diensten. Sie konnte nicht genug erzählen, was er für ein „guter“ Mann gewesen, ihr Alexander. Er habe ihr nie den geringsten Kummer gemacht, was sie gewünscht, habe sie bekommen, und noch jetzt bekomme sie, was sie wünsche, von ihm.
„Aber wie kommt es denn, daß er Sie verlassen hat?“ sagte ein vorwitziger Blaustrumpf.
„Verlassen? Er hat mich nicht verlassen. Er hat mich nur ausgemiethet, mir eine prachtvolle Wohnung herrichten lassen, und mich gebeten, sie zu beziehen.“
Wir lachten; der wißbegierige Blaustrumpf aber wollte genau wissen, weswegen denn Alexander Mad–, fast hätte ich den Namen genannt, doch nomina sunt odiosa – also Madame Dumas außer Dienst und auf Wartegeld gesetzt habe. „Gründe, Gründe!“ frug sie wie Falstaff.
„Gründe hatte er keine,“ antwortete Madame, „aber ich vermuthe, ich war ihm – zu fett geworden. – Lachen Sie nicht,“ setzte sie hinzu. „Sie haben Madame X. gekannt, die jetzt in Italien lebt, und Madame Y., die in den Pyrenäenbädern heute eine Rolle spielt, Beide wurden fett, und – dann hat Alexander sie entlassen.“
Es ist nicht zweifelhaft, die moralische Fäulniß unter dem Kaiserscepter Napoleon’s des Dritten ist die Ursache, daß Frankreich so schauerlich zusammenbrechen konnte. Aber das Kaiserthum Napoleon’s des Dritten ist in dieser Beziehung doch nur der Erbe des Julikönigthums, oder besser der Fäulniß, die unter diesem überall gehegt wurde und dann Alles so untergrub, daß in ihr auch Napoleon den Boden für seine Schöpfung fand.
[56] Alexander Dumas hat durch seine Schauspiele, seine Tragödien, seine Romane die liederliche Sittenlosigkeit, die großthuende Patzigkeit, das Maulheldenthum – das zuletzt das ganze Heer des Kaiserthums angesteckt hatte, in alle Schichten des Volkes übergetragen. Sein Talent war groß, die Müßigen zu fesseln, die Nervenschwachen zu kitzeln, die Launengeplagten zu unterhalten. Man las und ließ sich gehen. Aber wer diese bodenlose, gewissenlose, grundsatzlose, sittenlose und in Wahrheit auch muth- und ehrlose Aufschneiderei nicht am Ende mit Ekel aus der Hand warf, der nahm ein Giftkorn in sich auf, das Wurzel faßte, und ihn schließlich selbst zum ehr- und sittenlosen Großsprecher machte.
Ehre dem Ehre gebührt, vor Allem – der Wahrheit! Diese Alexander Dumas und Genossen haben die französische, die Pariser Gesellschaft zu Dem gemacht, was sie unter dem Kaiserthum war, zur „Demi-monde“.
Zu Anfang des Julikönigthums hatte man in Paris – wo immer Zuchtlosigkeit genug im Zwielicht des Halbgeheimnisses herumschlich, – noch keine Ahnung von dieser in Gold und Prunk umherfahrenden frechen Zuchtlosigkeit, die die ganze französische Gesellschaft nach und nach durchdrang. Sie wurzelt in den Kreisen, in der Literatur, in dem Gedankenfluge, aus denen die Dumas’schen Schriften hervorgingen; – vielleicht, daß sie unter den Trümmern des Jahres 1870 mit dem „Vater“ Dumas, dem glänzendsten Typus der geistreichen Verkommenheit, der prunkenden und prahlenden Fäulniß des Kaiserthums, begraben wird. Zum Heile Frankreichs! Zum Heile der Menschheit!Unsere Marine auf der Loire. (Mit Abbildung.) Unserer norddeutschen Flotte war in diesem Kriege kein freundliches Loos gefallen. Von Kampflust beseelt, von der Unruhe beständig in Athem gehalten und dennoch zur Unthätigkeit verdammt, mußte sie mit Neid auf die Landarmee blicken, der bis zur Stunde an keinem Tage die blutige Aufgabe gefehlt hatte und an keinem Abend der Sieg. Zwar dann und wann wohl zeigten sich Abtheilungen der feindlichen Flotte, und es braucht kaum hervorgehoben zu werden, daß das jedesmalige Erscheinen derselben einen wahren Jubel auf deutscher Seite hervorrief; aber die Hoffnungen auf Kampf wurden stets auf’s Neue getäuscht – die feindlichen Schiffe ließen es immer wieder zu keinem ernsten Angriff kommen und beschränkten sich darauf, Seekaperei zu üben und friedliche Handelsschiffe hinwegzunehmen. Nur ein einziges Mal rollte der Donner der Kanonen über die Wogen des Meeres hin, zum Zeichen, daß Kriegsdampfer der beiden sich befehenden Nationen aufeinander gestoßen seien – das war aber im fernen Ocean gewesen, an den grünen Küsten der Havana, und die lebendigste Freude über den glänzenden Sieg, den der wackere „Meteor“ errungen, war bei der Marine unserer Küstenländer auch diesmal nicht frei von einer kleinen Dosis herben Beigeschmacks, welcher der Eifersucht auf’s Haar glich.
So hatte man denn schon allen Glauben daran fahren lassen, selbst noch in dem Feldzuge werkthätig zu sein, als plötzlich die Ordre kam, sofort hundertzwanzig Mann Marine sammt Officieren marschbereit zu machen, nach Orleans zu befördern und mit ihnen zum Schutze der deutschen Brückenübergänge die auf der Loire eroberten vier französischen Kanonenboote zu besetzen. Mit ausgelassener Freude wurde diese Nachricht aufgenommen, Jeder drängte sich zur freiwilligen Anmeldung vor, doch, wie immer, traf nur Wenige das Loos der Auserwählten. Diese aber hatten sich vor Allem einer völlig neuen Equipirung oder Ausrüstung zu unterziehen, da es darauf ankam, sie nunmehr zu Wasser wie zu Land kampffähig zu machen.
Es interessirt unsere Leser wohl, bei dieser Gelegenheit überhaupt Etwas über das Aussehen unserer Matrosen zu erfahren das ja – von Süd- und Mitteldeutschland ganz abgesehen – selbst in den von den Küsten entfernter und mehr landeinwärts gelegenen Strichen Norddeutschlands ein so gut wie unbekanntes ist.
Der deutsche Matrose trägt für gewöhnlich ein dunkelblaues, wollenes Hemd mit breitem, liegendem Kragen und freier Brust, dunkelblaue Beinkleider von Tuch, eine ebensolche Mütze ohne Schirm, aber mit wehenden Bändern und vorn auf der Mütze mit Goldbuchstaben den Namen des Schiffes, auf welchem er dient. Derjenige Matrose, der keinem bestimmten Schiffe zugetheilt ist, führt auf der Mütze statt den Namen des Schiffes die Benennung „Königliche Marine“. Als Ausrüstung trägt der Matrose, der auf dienstgestellten Schiffen auch den Dienst der Artillerie bei den Geschützen versieht, ein Zündnadelgewehr nebst Pite, die gleichzeitig als Ladestock verwendet werden kann, und eine Patrontasche. Kommt es im Kampf zum Entern, wobei also das Feuern der Batterien aufhören muß, so gebraucht der Matrose das an seiner Seite hängende Entermesser, welches mit einem kolossalen schwarzen Eisenkorb versehen ist, um dem an Deck kletternden Feinde die Hände abzuschlagen, während mit der Zündnadelbüchse der Feind vom Mastkorb aus beschossen wird.
Anders sieht der Matrose in Gala aus: auf dem Kopfe der schwarzlackirte Hut, weit hinten im Nacken sitzend, daß das Haar vorn an der Stirn drei Finger breit zu sehen ist, über dem weißen Hemd eine kurze blaue Jacke mit goldenen Knöpfen, über den Kragen der Jacke einen hellblauen Leinenhemdkragen mit weißen Streifen ausgeschlagen und unter diesem ein flatterndes Halstuch von schwarzer Seide. Auf dem Aermel des linken Armes sind die Abzeichen der verschiedenen Grade aufgenäht. Die Einjährig-Freiwilligen der norddeutschen Flotte haben als Abzeichen, ähnlich der Landarmee, eine schwarz-weiße Litze auf dem linken Aermel und zwar in Form eines nach oben offenen Dreiecks.
Etwas anders geartet nun, aber wo möglich noch malerischer ist die Ausrüstung der nach Orleans, an die Ufer der Loire beorderten Mannschaft: auf der kecken Stirn der breitgeränderte Hut, der kräftige Körper von der dunkelblauen Penjacke und dem gleichen Beinkleid in hohen Stiefeln umschlossen, um den Leib am gelben Gurt ein langes Entermesser nebst zwei Patrontaschen, auf dem Rücken ein schwarzlackirter Tornister, auf der rechten Seite Brodbeutel und Feldflasche und in der nervigen Faust die Zündnadelbüchse.
Sämmtliche Unterofficiere, bei der Marine Maate genannt, tragen statt der Büchse vorn am Gurt einen sechsläufigen Revolver nebst Kugeltasche, in der sich sechszig Kugeln befinden. Ebenso die Officiere, zu deren langem, dunkelblauem Gehrock mit goldenen Knöpfen noch ein Mantel mit Kragen und eine um den Hals geschlagene graue Kapuze kommt.
So ausgerüstet stand die etwa hundertzwanzig Mann starke Schaar Mitte December zu Kiel vor dem Admiral Held, der sie mit der eindringlichen Mahnung entließ, sich der Landarmee an Muth und Entschlossenheit ebenbürtig zu zeigen. Ein stürmisches Hurrah war die Antwort, und schon am nächsten Tage traten die deutschen Marinesoldaten den Weg nach Orleans an, um dort den Dienst auf den französischen Kanonenbooten zu übernehmen. Beim Anblick der letztern werden sie freilich verdutzt genug gewesen sein; denn nach neueren Nachrichten ist solch eine Nußschale von französischem „Kanonenboot“ kaum halb so lang als ein normaler Apfelkahn auf der Spree.
Dreihunderttausend mehr. Als in dem letzten, furchtbaren amerikanischen Kriege die Südstaaten eine letzte verzweifelte Anstrengung machten, da rief Abraham Lincoln auch den Norden zu erneuten Kämpfen auf. Sechshunderttausend Mann waren schon vorangeschickt und hatten blutige Schlachten, besonders bei Richmond, geschlagen. Abraham Lincoln forderte dreihunderttausend mehr, und der Feind wurde, während die Bürger des Nordens von allen Seiten herbeiströmten, vernichtet.
General Moltke fordert ebenso jetzt, wie wir lesen „dreihunderttausend mehr“.
Von allen Seiten strömen unsere Leute zu den Waffen, sie verlassen Haus und Heerd, in die glorreichen Spuren der schon Vorausgegangenen zu treten und den so herrlich begonnenen Kampf gleich herrlich zu Ende zu führen. Jeder kennt das Opfer, das er bringt; Jeder kennt aber auch den Preis, um den gerungen wird und der Deutschland zufallen muß.
Diese Einmüthigkeit des Wollens und der Opferfreudigkeit ruft mir ein Gedicht in Erinnerung, welches bei dem obenerwähnten Aufruf Lincoln’s von einem Amerikaner gedichtet wurde. Es paßt so sehr auf unsere gegenwärtigen Verhältnisse, daß ich mir nicht versagen kann, es in nachfolgender Uebersetzung wiederzugeben. Dreihunderttausend mehr.
Wir kommen, Vater Abraham, dreihunderttausend mehr,
Von Mississippis wildem Strom und von Neu-England her.
Wir ließen Pflug und Arbeit stehn und Weib und Kind zurück,
Mit Herzen voll zum Springen, doch – die Thrän’ im Aug’ zerdrückt.
Wir dürfen auch zurück nicht schau’n – vor uns liegt Pflicht und Ehr’ –
Wir kommen Vater Abraham, Dreihunderttausend mehr.
Und wenn Du auf die Hügel blickst, die dort im Norden steh’n,
So kannst du lange, staub’ge Reih’n, die sich bewegen, seh’n,
Und scheucht der Wind den Schleier fort, der auf dem Zuge liegt,
Mit Sternen und mit Streifen hoch das theure Banner fliegt.
Und Bajonnete blitzen drein, im Arme das Gewehr,
So kommen, Vater Abraham, Dreihunderttausend mehr.
Und siehst Du weit das Thal hinauf, das sonst der Pflug durchzieht,
Da treten uns’re Burschen schon in Reihe und in Glied,
Und Kinder klein und ungeschickt, die lernen draus im Feld
Die Arbeit, die für’s Vaterland den Ackergrund bestellt.
Und überall stehn Gruppen, ach, der Abschied war so schwer!
Wir kommen, Vater Abraham, Dreihunderttausend mehr.
Du riefst uns, und für Vaterland und Freiheit gutgewillt,
So zogen wir zum Kampf herbei, zu Richmonds Blutgefild
Und muß es sein – zum Tod! Doch giebt uns Gott der Herr den Sieg,
So brechen wir des Feindes Trotz in diesem blut’gen Krieg.
Sechshunderttausend Herzen brav marschirten vor uns her –
Wir kommen, Vater Abraham, Dreihunderttausend mehr.
Aus der dreitägigen Königsschlacht bei Metz, in welcher erst Steinmetz bei Pange, dann Prinz Friedrich Karl bei Mars la Tour und zuletzt der König von Preußen selbst bei Gravelotte das Heer Bazaine’s in gewaltigem Ringen nieder- und in die Festung zurückwarf, die es nur mehr gefangen verlassen sollte, haben wir bereits den bedeutungsvollen Schlußpunkt, wie der König Abends im Bivouac bei Rezonville dem Bundeskanzler das siegkündende Telegramm an die Königin dictirt, in Illustration gebracht. Wir lassen heute eine andere Skizze folgen, welche von der Meisterhand Sell’s das preußische Gardecorps bei der Erstürmung des Dorfes St. Privat darstellt. Diese Erstürmung erfolgte bekanntlich in den Nachmittagsstunden des letzten Schlachttages, des 18. August, nach einem geradezu mörderischen Kampfe, an welchem sich auch die Sachsen betheiligten. Die Opfer auf deutscher Seite waren dabei um so blutiger, als vor dem mit einer Mauer umgebenen und deshalb trefflich zur Vertheidigung geeigneten Dorfe eine Ebene lag, die unter dem Regen feindlicher Granaten passirt werden mußte, während aus dem unmittelbar an’s Dorf stoßenden Kirchhof von den Franzosen eine kleine Festung gemacht worden war. Die Bravour unserer heldenhaften Truppen blieb auch solchen Aufgaben gegenüber unerschüttert; gegen Abend hatten sie das brennende Dorf, das von dem Feinde mit gleichem Heldenmuthe vertheidigt wurde, mit stürmender Hand genommen. Wir können uns heute um so mehr auf diese Andeutungen beschränken, als wir schon demnächst von einem Officier, der auch bei St. Privat gekämpft hat und dessen Brust heute das eiserne Kreuz schmückt, eine Schilderung jener Schlacht bringen werden, und bemerken nur noch, daß auf unserem Bilde die Kirche von St. Privat im Hintergrunde sichtbar ist, während die rechts durch Bäume gekennzeichnete Chaussee von St. Privat nach St. Marie aux Chênes führt.