Die Gartenlaube (1871)/Heft 2
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No. 2. | 1871. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Ich verdolmetschte diese Antworten meinem Cameraden Glauroth, der in seinen Classen so viel Französisch gelernt, um es zu verstehen, wenn er es in einem Buche deutlich gedruckt vor sich hatte, nicht aber, wenn es ein lebendiger Mund vor ihm sprach. Er war, wie ich, der Ansicht, daß der Mensch schwerlich um der Marder willen da verborgen war; an einem Tage, wie der heutige für die Schloßbewohner gewesen, dachten sie wohl nicht daran, daß ein paar Apricosen oder Birnen von ihren Spalieren verschwinden könnten.
„Ihr habt auf Franctireurs gewartet,“ sagte ich, „und wolltet ihnen den Weg in’s Schloß zeigen, um uns überfallen zu können!“
Er sah mich mit einem feindlichen, höchst tückischen Blick unter den buschigen grauen Brauen her an und sagte: „Sie irren, Monsieur – die Franctireurs sind verdammtes Gesindel, mit denen wir nichts zu schaffen haben, Wenn Sie gekommen wären, wahrhaftig,“ er wandte seinen Kopf rasch ab, dem Eingang der Allee zu, und fuhr fort mit einer Stimme, die plötzlich dreimal lauter war, als bisher – aber wieder zu mir gewandt: „Wahrhaftig, gare à vous, reculez, en arrière, allez-vous en! würde ich Ihnen zugerufen haben, die Preußen sind hier!“
„Und weshalb schreist Du das jetzt so laut, Spitzbube?“ rief Glauroth ihn an der Jacke erfassend aus.
Ich hatte das Gesicht nach derselben Richtung gewendet, wohin hin der Mensch soeben geblickt, nach dem Eingange der Allee – und täuschte ich mich oder war es Wirklichkeit? ich glaubte eine dunkle Gestalt wahrzunehmen, die sich dort aus dem Schattendunkel heranbewegte – und im nächsten Augenblick zurückfliehend in demselben verschwunden war.
„Nehmen wir den Menschen zwischen uns; er soll uns folgen und uns durch die Allee zum Flusse führen,“ sagte Glauroth.
Ich war einverstanden.
„Also vorwärts,“ rief ich unserem Gefangenen zu, „geht mit uns bis zum Flusse hinab!“
„Ich werde mich hüten,“ versetzte er mürrisch; „ich … ich habe nichts im Gehölze zu thun und will schlafen gehen!“
„Ihr geht mit uns, wie wir’s Euch befehlen …“
„Und wenn ich nicht will?!“
„Es ist offenbar, daß er seinen Wachposten hier nicht verlassen will!“ rief mein Camerad. „Es wäre gut, wenn wir …“
„Still!“ sagte ich, mich wendend, weil ich Schritte vernahm – ich sah dieselbe Gestalt, welche vorhin in’s Dunkel zurückgetreten war, herankommen; es waren leichte Schritte, die auf dem Kiesboden knirschten, begleitet von dem Rauschen von Seide, und das Nahen einer Dame ankündigten – in der That, eine junge Dame trat rasch aus der Schattenregion in das helle Mondlicht.
Wir Beide starrten sie überrascht an, diese schlanke elegante Gestalt mit, wie es schien, feinen und edeln Zügen – deutlich erkennen konnten wir nur das schöne Oval des Gesichts, um das sie ein schwarzes Spitzentuch – geknüpft trug; auch ihr Kleid war schwarz, der Mondschein rieselte hell an den Falten desselben nieder.
Sie hatte beim Herankommen den rechten Arm ein wenig erhoben, wie eine Bewegung der Beschwichtigung machend, und in langsamem, französisch accentuirtem Deutsch sagte sie:
„Lassen Sie den Mann, lassen Sie ihn … es ist unser Gärtner … was verlangen Sie von ihm?“
Die Worte waren mit einer gewissen Betonung von Entrüstung ausgesprochen.
„Verzeihung, Mademoiselle,“ sagte ich, mich verbeugend, „wir fanden ihn in einer Weise, die uns Verdacht einflößen mußte, wenigstens verbarg er sich vor uns und weigerte sich, uns zu führen.“
„Beides war sehr natürlich,“ fiel sie mit einer mich eigenthümlich berührenden metallhellen und doch weichen Stimme ein, die ein wenig wie von einer Aufregung vibrirte, „ich hatte ihm befohlen, dort zu bleiben – ich wollte, während ich im Garten spazieren ging, ihn zu meinem Schutze da wissen.“
„Dann,“ versetzte ich, „müssen wir abermals um Verzeihung wegen dieser Störung bitten; wir konnten das nicht ahnen – es that uns in der That leid, Sie hier, in Ihren Gartenanlagen – denn ich darf voraussetzen, daß ich mit der Herrin dieser schönen Besitzung rede – belästigt zu haben –“
„O, Sie verzeihen uns das gewiß,“ fiel hier der unausstehliche Glauroth mit seiner Suada ein, „Sie selbst haben sich ja von dieser schönen Mondscheinnacht herauslocken lassen – wir dürfen deshalb hoffen, daß Sie Nachsicht mit der deutschen Sentimentalität haben, die sich unwiderstehlich hinausgezogen fühlte in diese thauige und blumendufterfüllte Mondscheinnacht, in welcher wir wohl erwarten konnten, der Elfenkönigin, nicht aber der …“
Ich fühlte, daß er im Begriff stand ein tactloses Compliment vorzubringen, und darum unterbrach ich ihn rasch: „Und als ein Zeichen Ihrer Verzeihung würden wir es betrachten, Fräulein,
[22] wenn Sie uns gestatteten, Sie durch den Garten zu Ihrem Schlosse heimzugeleiten.“
Es war jedenfalls ein wenig zudringlich, auch antwortete die junge Dame nicht darauf; doch wandte sie sich zum Gehen und darin lag denn freilich eine Art Erlaubniß, sie zu begleiten.
„Sie reden von deutscher Sentimentalität,“ sagte sie dabei, „während Sie uns den Krieg und alle seine Schrecken bringen – jetzt, wo der Krieg gar keinen Zweck mehr hat. Ist das deutsches Gemüth?“
Sie sprach das Wort mit einer unendlich bittern, spöttischen Betonung, die mich sehr lebhaft erwidern ließ: „Gewiß, Fräulein; nie war ein Krieg mehr eine Gemüthssache, als just der, den wir mit Frankreich führen. Ist die brausende Begeisterung, mit der sich ganz Deutschland in diesen Krieg gestürzt hat, nicht eine Sache des Gemüths? Ist das stürmische Verlangen jedes deutschen Mannes, die alten geraubten Reichslande mit dem tüchtigen deutschen Bruderstamme, dem reinen deutschen Blute darin, wiederzuerobern, sie zu ihrem Mutterlande zurückzuführen, nicht Sache des Gemüths?“
„Und ist es nicht äußerst gemüthlich,“ unterbrach mich Glauroth, „in dieser mondbeglänzten Zaubernacht, in dieser uns fremden Welt, an der Seite einer schönen jungen Dame durch abendliche Gärten zu wandeln?
‚In dem abendlichen Garten
Wandelt des Alcaden Tochter …‘“
Sie wandte sich mit einer ausdrucksvollen, für ihn nicht sehr schmeichelhaften Kopfbewegung von ihm ab und sagte zu mir gewendet: „Sie wollen erobern, das ist’s! Ein civilisirtes Volk will nie erobern. Aus Deutschland sind immer die Eroberer gekommen – die Hunnen, die Gothen, die Franken –“
„Die Ulanen!“ fiel der Primaner lächelnd ein, „das uncivilisirteste Volk von ihnen allen!“
„Und Frankreich,“ fuhr sie, ohne auf ihn zu hören, fort, „hat immer die traurige Aufgabe gehabt, sich dieser eroberungssüchtigen Nation zu erwehren, und sein bestes Herzblut dabei vergossen. Es ist kein Jahrhundert in unserer Geschichte, in welchem wir Frieden gehabt und nicht zu schweren Kriegen gegen Deutschland gezwungen gewesen wären. Welche Zeit wäre für die Welt die Ludwig’s des Vierzehnten gewesen, wenn er sich nicht in den Kriegen mit Deutschland in seiner besten Kraft, in seinen hochfliegendsten Plänen gelähmt gesehen! Doch ich kann nicht voraussetzen, daß Sie die Geschichte Frankreichs kennen, um …“
„Ihnen folgen zu können, Fräulein? In diese Anschauung freilich nicht; die Idee, den armen Ludwig den Vierzehnten bedauern zu sollen, weil er genöthigt war, dem unruhigen eroberungssüchtigen deutschen Nachbar die Pfalz zu verheeren, die herrlichen Rheinlande zu verwüsten, unsere Schlösser und Dome niederzubrennen, uns die alte Reichsstadt Straßburg fortzunehmen – in diese Idee kann ich Ihnen nicht folgen. Bedauern Sie auch den armen Cardinal Richelieu, daß er in Deutschland den unseligen dreißigjährigen Bürgerkrieg schüren und hetzen mußte?“
„O sicherlich – er that es mit schwerem Herzen; daß er kein Freund der Protestanten, hat er bei La Rochelle gezeigt, er hat sie da schwer genug getroffen; wie schmerzlich und hart mußte es für ihn, den Mann der Kirche sein, durch die Politik, durch die ewige Drohung, welche Deutschland für uns enthielt, gezwungen zu sein, die Ketzer dort zu unterstützen! Ja, mein Herr, ich bedaure den Cardinal Richelieu, der groß genug war, eine Schuld gegen sein religiöses Gewissen auf sich zu nehmen, um seines Vaterlandes willen!“
Mein Begleiter brach hier in ein leises Lachen aus. „Es scheint,“ sagte er, „die Geschichte wird in Frankreich nach ganz eigenthümlichen Heften gelesen.“
„Möglich,“ fiel ich ein, „daß man die Geschichte überall wie ein Advocaten-Plaidoyer für die eigene Sache vorträgt. … ‚Die Weltgeschichte ist das Weltgericht‘ soll vielleicht heißen: sie ist das große Tribunal, vor welchem die Advocaten der Völker, die Geschichtsschreiber ihre Vorträge für ihre Parteien halten. Der eigentliche Richter ist die Zeit!“
„Wir sind am Hause angekommen,“ unterbrach die junge Dame unsere gelehrte Unterhaltung. „Ich danke Ihnen, meine Herren!“ Sie machte eine kurze Verbeugung und ging rasch über die Terrasse davon, um in einer, wie es schien, nur angelehnt stehenden Seitenthür zu ebener Erde zu verschwinden.
„Wahrhaftig,“ sagte Glauroth ihr nachblickend, „das scheint ein reizendes Fräulein, und unsere Begegnung mit ihr im Mondschein wäre ein hübsches Abenteuer, wenn sie nicht leider ein vollkommener Blaustrumpf wäre!“
„Woraus schließen Sie das? Aus einigen höchst paradoxen Vorstellungen von französischer Geschichte?“
„Ich bitte Sie, eine Französin, die von der Politik Richelieu’s und Ludwig’s des Vierzehnten zu sprechen weiß!“
„Vielleicht hat sie es in Alexander Dumas’ ‚Siècle de Louis quatorze‘[WS 1] gelesen.“
„Möglich freilich – nach solch einer zuverlässigen und gründlichen Quelle schmeckte es allerdings! Jedenfalls war es amüsant, die Dinge einmal so vollständig auf den Kopf gestellt zu sehen!“
„Amüsant? Mich hat es tief verstimmt; innerlich empört und zugleich traurig gemacht.“
„Ah – solcher Unsinn, solche durch und durch lächerliche Auffassungen?“
„Ich finde nichts Lächerliches daran. Ein Unrecht, das man durchaus keine Hoffnung hat gesühnt zu sehen, ein Irrthum, den es keine Möglichkeit giebt zu widerlegen, versetzt mich immer in ein Gefühl von schmerzlicher Ohnmacht, das ich nicht verwinden kann. Und dann: kommt es auf die ursprünglichen Thatsachen und die Wahrheit denn eigentlich an? In welchem Sinne, aus welchen Gründen, mit welchem Rechte Ludwig der Vierzehnte seine unheilvollen Kriege wider uns führte, das sind abgethane, zweihundert Jahre weit hinter uns liegende Dinge. Ob seine Motive gut oder abscheulich waren, was verschlägt es der Welt von heute? Die heute geltende Auffassung, die Deutung der alten Thatsachen ist das Wichtige, das Praktische dabei; wenn die Franzosen so denken wie dies Fräulein, so müssen sie in uns den Erbfeind sehen, wie wir nach unserer Auslegung der Thatsachen in ihnen den Erbfeind sehen; und wie sollen dann je zwei edle Nationen Europas wieder zu wahrhaftem Frieden kommen?“
„Ich sehe, die Aeußerungen dieses Fräuleins – Kühn nannte sie ja wohl der Geistliche? – haben Ihnen fürchterlich viel zu denken gegeben! Kommen Sie – soll die Streiterei zum Flusse hinab noch gemacht werden, oder wollen wir, was ich meinerseits vorzöge, uns der Wonne hingeben, uns einmal wieder in einem guten, warmen Bette ausstrecken zu können?“
„Ich glaube,“ sagte ich, „wir dürfen das ohne Gefahr. Wenn das Fräulein sich einer einsamen Streiferei durch das Gehölz hingeben konnte, so muß sie Gründe haben, einen Ueberfall von unseren Feinden für nicht denkbar zu halten.“
Ich ging mit ihm in den Nebenbau, um noch einmal nachzusehen, wie Pferde und Leute dort untergebracht seien, und kehrte dann zum Herrenhause zurück, wo mich in meinem Quartier mein Bursche erwartete. Ich hieß ihm seine Waffen zur Hand halten und sich im Uebrigen ruhig des gesunden Schlummers zu erfreuen, der ihn erwartete.
Mir kam der Schlummer für eine ganze Weile nicht. Ich hörte immer noch das eigenthümliche wohlklingende Organ des Fräuleins an meinem Ohre vibriren, und ich konnte die seltsame Gewißheit nicht überwinden, in welche mich das, was sie gesprochen, versetzt hatte. Ich dachte an das, was ihr von Klein auf von Leuten wie dieser Geistliche, der doch wohl großen Theil an ihrer Erziehung gehabt, und von klösterlichen Lehrerinnen eingeflößt sei, um ihre Ansichten zu bestimmen. Welche Meinungen die Priesterschaft von uns hatte und verbreitete und wie sie wider uns hetzte, wußten wir ja! Aber das nahm mir, wenn ich so sagen soll, den Stachel nicht, den das junge Mädchen mit seiner hochmüthigen Weise mir in’s Herz gedrückt. Es war vielleicht nur eine miserable jugendliche Eitelkeit, die es nicht überwinden konnte, von einem so hübschen, unter so romantischen Verhältnissen uns begegnenden Mädchen maltraitirt worden zu sein!
Die Nacht verging ziemlich ruhig. Nachdem ich am andern Tage meinen Dienstobliegenheiten genügt, die Rückkehr einer kleinen Streifpatrouille abgewartet, die Glauroth als Gefreiter mit zwei Mann ausgeführt, und vernommen hatte, daß der Oignonfluß hinter Chateau Giron keine Fähre oder prakticable Fuhrt zu besitzen scheine, daß nach den eingezogenen Erkundigungen die Franctireurs von gestern sich den Fluß abwärts nach der Richtung von Montbazon geflüchtet – als für den Tag also für mich „des Dienstes immergehende Uhr“ abgelaufen, nahm ich mir ein
[23] Herz, stieg aus meinem untern Stockwerk in das Hauptgeschoß von Chateau Giron hinauf und ließ mich von einem Mädchen, das mir begegnete, bei der Herrschaft melden. Das Mädchen sah den Ulanen, der die verwegene Idee hatte, ihrer Herrschaft einen Besuch machen zu wollen, mit verwunderten Blicken an und antwortete: „Mais Monsieur, Madame Kuhn ne reçoit pas – sie ist leidend – wenn Sie etwas Geschäftliches haben, so ist der Herr Abbé …“
„Bringen Sie immerhin meine Karte hinein, wenn nicht zu Madame Kühn, dann zu Fräulein Kühn!“
Sie ging und kam nach einer Weile zurück, um mich in einen sehr eleganten, sonnigen, auf den Garten hinausführenden Salon zu führen; im Hintergrunde war eine Portière von braunem Sammt niedergelassen; ich nahm an der Bewegung der Falten wahr, daß es soeben geschehen sein mußte – wahrscheinlich barg sie in einem Cabinete dahinter die leidende Madame – im Salon saß Fräulein Kühn in einem „Dos à Dos“, hinter ihr in demselben Möbel der Abbé, meine Karte in der Hand, die er ihr zu erklären schien – „tant bien que mal“, wie die französische Redensart heißt.
Er erhob sich, um mich zu bewillkommnen; das Fräulein wies auf einen in ihrer Nähe stehenden Sessel.
Ich muß gestehen, daß ich ein wenig verwirrt war. Ich hatte zu thun, mich in die Erscheinung der jungen Dame zu finden, welche mir gestern im Mondschein einen ganz andern Eindruck gemacht hatte – und doch war es dieselbe schlanke Gestalt mit den schön abfallenden Schulterlinien und dem edlen Oval des Kopfes, die gestern vom Mondlicht und einem eigenthümlichen Zauber umflossen vor mich getreten. Es war dasselbe sonor vibrirende Organ, das in meinem Ohre wiedergeklungen; und als sie die Arbeit, über welche sie gebückt saß, von sich schob und den Oberkörper zurückwarf, sah ich, daß sie auch ganz so groß war, wie sie mir gestern erschienen. Nur ihre Züge, die mir gestern bleich, ernst, strenge vorgekommen, waren anders. Sie hatten freilich nicht viel Farbe, aber eine ganz gesunde, wie von einem leichten bräunlichen Ton überhauchte Frische; sie hatten nicht viel vom französischen Typus, sie waren einfach und edel geschnitten; aber ein Ausdruck von Schelmerei, der aus ihren großen braunen Augen leuchten und um den scharfgezeichneten Mund zucken konnte, hatte nichts gar zu Strenges.
Ich bemerkte, daß, als sie ihre Stickerei von sich geworfen und nun ein Paar Halbhandschuhe, die vor ihr lagen, anzog, ihre Hände ein wenig zitterten; ich schloß daraus, daß sie eine impressionable Natur sei; das Entgegentreten eines „Feindes“, wie ich war, mußte sie ganz ebenso bewegen, wie mich die Erfüllung dieser meiner Höflichkeitspflicht gegen meine unfreiwilligen Gastfreunde.
„Ich hoffe, Sie gestatten mir,“ begann ich, ein wenig stotternd und unsicher, „persönlich Ihnen die Belästigung abzubitten, die wir gezwungen sind …“
„Ah,“ unterbrach sie mich, „wie könnten wir Belästigung zu fürchten haben von Leuten, die nur auf moralische Eroberungen ausgehen – mein Vetter, der Abbé hier, hat mir von seiner Unterhaltung mit Ihnen erzählt und hat meine Mutter und mich sehr beruhigt; meine arme Mutter ist leidend; sie konnte nicht reisen; so mußten wir denn hier auf unserem Gute bleiben und Stand halten …“
„Was ich als ein großes Glück für uns betrachte,“ fiel ich ein. „Was aber die moralischen Eroberungen angeht, so war das ein zuversichtliches Wort, das ich nicht mehr gesprochen hätte, wenn ich vorher Gelegenheit gehabt hätte, Ihnen zu begegnen, mein Fräulein, wie es erst nachher im Garten geschah, wo ich einsah, daß ich vielmehr Gefahr laufe, moralisch erobert zu werden.“
Sie schlug das Auge zu mir auf; es lag etwas von entrüsteter Verwunderung in dem Blicke, den sie auf mich heftete.
Ich fühlte, daß ich etwas gesagt, was sie gründlich mißverstand, und erröthete deshalb. In Deutschland wäre keine Dame auf den Gedanken gekommen, daß ein wildfremder junger Mensch, eine feindliche Einquartierung, sich einfallen lassen könne, so sofort mit einer Art Liebeserklärung zu beginnen. Sie, die Französin, hatte mir offenbar diese Fadheit zugetraut, und geärgert dadurch, setzte ich rasch und scharf hinzu: „Denn wenn Sie mit solcher Beredsamkeit fortfahren, alle meine Voraussetzungen über den Haufen zu werfen und mir zu zeigen, welch’ böse Hunnen oder Gothen wir sind, in das arme friedfertige Frankreich einzubrechen und es zu hindern, als das große Weltlicht die Strahlen der Gesittung auszuströmen und über die Völker der Erde zu ergießen, so muß ich mich wohl entwaffnen und zu Ihnen hinüberziehen lassen …“
Ihr Gesicht erhellte sich, sie sagte, ohne sich durch meine Ironie gereizt zu zeigen, lächelnd: „Es scheint doch, meine Behauptungen haben Sie ein wenig erregt, und so müssen sie doch wahr sein, denn nur die Wahrheit macht Eindruck auf uns!“
„Wollen Sie mir nicht böse werden, Fräulein,“ sagte ich, „wenn ich widerspreche? Nicht die Wahrheit macht in Frankreich Eindruck, sondern nur der Schein. Wir Deutsche mit unserm einfach nüchternen Verstande stehen hier betroffen, völlig erstarrt darf ich sagen, vor dem psychologischen Räthel: ‚wie ist es möglich, daß eine ganze gebildete und edle Nation so durchaus blind für die Wahrheit sein kann!‘“
„In der That, und welche ist diese Wahrheit?“ fragte sie ein wenig spöttisch.
„Die, daß Frankreich geschlagen ist und nicht einsieht, wie sehr es wohl thäte, das Schauspiel, wie es fortwährend geschlagen wird, durch einen raschen Frieden zu enden; daß es so hartnäckig darauf besteht, diese Tragödie seines Unterliegens in’s Endlose zu verlängern – das ist eine Politik, ob der uns der Verstand stille steht!“
„Und Sie haben keine Erklärung dafür in unseren Hoffnungen, daß das Blatt sich wende?“ fiel jetzt der Geistliche ein.
„Diese Hoffnungen beruhen eben auf der Verkennung der Wahrheit, die uns so räthselhaft ist. Doch,“ fuhr ich fort, „würde ich eine Erklärung dafür wagen, wenn ich nicht fürchtete, bei Ihnen zu sehr als Ketzer in Mißcredit zu kommen.“
„O bitte, reden Sie immerhin,“ sagte der Geistliche mit einem nachsichtigen Lächeln.
„Frankreich ist in dem Dogma aufgezogen, es sei ein unbesiegliches und alle Nationen übertreffendes Volk, ganz so wie in dem Dogma von der Unfehlbarkeit seiner Kirche; solche Dogmen bilden seine Staatsreligion. Wo aber das Dogma herrscht, da ist die Frage nach dem Was, Wie und Warum Sünde; der Glaube ist das Gute, der Zweifel das Böse; auf dem Katheder der Kritik ist der Teufel Professor. Wenn man liest, wie die Kirche ihre Geschichte darstellt, so hat die Kirche immer die Wahrheit; wenn man hört – ich habe es von Ihnen gehört, Fräulein – wie Frankreich seine Geschichte darstellt, so hat Frankreich immer Recht und – den Sieg! Nur die Gottlosen und die Verräther zweifeln daran! An dieser kirchlichen und politischen Orthodoxie, an diesem Dogma des Besserseins als andere Kirchen und Völker geht Frankreich unter.“
Das Fräulein sah mich höchst verwundert an; was ich sagte, machte sie offenbar betroffen. Dann rief sie lebhaft aus: „Ich kann Ihnen auf dies Alles nicht so antworten, wie ich es möchte, ich bin nicht gelehrt genug dazu – Sie müssen das thun, Etienne,“ wandte sie sich zu dem Geistlichen.
Dieser hatte still mit seinen unterschlächtigen Blicken mich beobachtend gesessen; das blasse ascetische Gesicht mit dem über die Mitte des Kopfes laufenden Scheitel zeigte dabei ein ziemlich lebendiges Mienenspiel.
„Mein Gott, was kann ich darauf antworten!“ sagte er; „diese Herren, scheint es, wollen Frankreich seine Kirche nehmen, wie sie ihm den Kaiser genommen haben, und wir müssen geduldig abwarten, wie sie bei diesem Unternehmen fahren werden.“
„Es ist nicht so schlimm gemeint, hochwürdiger Herr – wir sind weit davon entfernt, so böse Absichten zu hegen – wir gehen, wie ich Ihnen sagte, blos auf moralische Eroberungen, nicht auf dogmatische aus!“
„Haben Sie Michelet’s Geschichte von Frankreich gelesen?“ fragte das Fräulein mich.
„Nein,“ versetzte ich.
„Ich möchte wissen, was Sie darüber sagen.“
„Ah, wie können Sie ein so abscheuliches Buch empfehlen?“ rief der Geistliche mit einem strahlenden Blick auf Fräulein Kühn.
„Ich empfehle es nicht – ich möchte nur wissen, was dieser Herr darüber sagt. Mich entzückt das Buch an vielen Stellen, wenn es auch an andern mich abstößt. Sie möchten es verbannt wissen. Ist es nicht natürlich, daß ich Jemand darüber reden hören möchte, der ganz anders denkt, als ich, und ganz anders, als Sie?“
Er zuckte die Achseln, und ich äußerte mein Verlangen, ein [24] Buch zu lesen, das Fräulein Kühn so interessirte. Sie besaß es und wollte es mir in mein Zimmer senden. Wir sprachen dann – ich benützte die Anknüpfung, um auf ein harmloses neutrales Gebiet zu kommen – von anderen Werken. Sie kannte manches deutsche Werk, doch nur ältere; die meisten Dramen Schiller’s, Callot-Hoffmann natürlich, Töpfer, den Genfer – bei einer Reise, die sie mit ihrem Vater nach Süddeutschland gemacht, hatte sie einige deutsche Schauspiele kennen lernen; über alles das sprach sie sich lebhaft aus, frisch und originell, oft sehr paradox und wunderlich freilich – aber mit einer innerlichen Theilnahme und liebenswürdigen Wärme, die zeigte, wie sehr solche Dinge ihr Interesse erregten; es war gar nicht möglich, davon nicht angesteckt, nicht auch warm zu werden, in einen heiligen Eifer zu gerathen, die paradoxen Ideen zu berichtigen, die Sachen in das rechte Licht zu rücken – und so kam es, daß das Gespräch sich gerade so verlängerte, wie es sich erwärmt hatte. Der Geistliche, der einsilbig zuhörte, schien dabei innerlich immer aufgeregter zu werden, er mochte weniger durch meine Ketzereien als durch den Gedanken geärgert sein, daß Fräulein Kühn das Alles nicht allein anhöre, sondern auch in sich aufnehme und in sich verarbeite, so daß er eine entsetzliche Last bekommen werde, ihr das Alles wieder zu nehmen und ihre Seele von diesem Gräuel zu reinigen! Zuweilen lag in dem unwilligen Ausdruck, mit dem sein Auge auf ihr haftete, etwas von leidenschaftlichem Aufflammen – zuweilen, und dann öffnete sich weit und ganz sein Auge, sah er sie mit einem träumerischen Blicke, fast wie schmachtend an – wie nur ihre Erscheinung in sich saugend, ohne zu hören, was sie sagte, ohne Anderes zu vernehmen, als den Klang ihrer wohltönenden Stimme. Mir kam der Gedanke, daß der arme Abbé eine Leidenschaft für seine schöne Cousine, oder was sie war, gefaßt habe!
Ich mußte mich, so umstrickt ich auch war und so wenig das Fräulein von unserer Debatte ermüdet schien, losreißen; ich ging und hatte die Genugthuung, daß man mir erlaubte, am andern Morgen zu kommen, um den Faust, den ich immer im Felleisen bei mir führte, als Revanche für den in Aussicht gestellten Michelet zu bringen.
In der gehobensten Stimmung, es war mir zu Muthe als habe ich mich in eine Art von Rausch hineingesprochen, kam ich in mein Zimmer und nahm den Faust zur Hand. Ich blätterte darin mit dem Gedanken an all die Anknüpfungen zu hundert Versprechungen, die dies wunderbare Buch bieten, an all die Aufklärungen und Erläuterungen, die das Fräulein, wenn sie nur mit ein wenig Ernst die Lecture beginne, von mir werde verlangen müssen. Gleich darauf trat mein Bursche ein.
„Wir müssen den Leuten hier in diesen Zimmern sehr störsam sein, Herr Wachtmeister,“ sagte er … „vorhin kam ein recht sauberes Dienstmädchen, das ein wenig Deutsch spricht, zu mir und meinte, sie hätten oben im ersten Stock noch viel schönere Fremdenzimmer, die sollten wir doch beziehen. Ich sagte, daran wär’ nicht zu denken, Sie müßten unten bleiben, denn wenn es einen Alarm gäbe, müßten Sie zur Hand sein und ich auch, und wir wollten auch die Herrschaft da oben und die kranke Madame nicht stören, und da meinte sie, die würde sich nicht stören lassen, und wenn ich hinaufziehen wolle, solle es mein Schaden nicht sein, ich solle ein gutes pour boire haben; die Herrschaft sehe nicht gern, daß diese Zimmer bewohnt würden, es schlafe immer der Herr Bischof von Autun darin, wenn er zum Besuche komme …“
„Und darum,“ fiel ich lachend ein, „dürften keine Ketzer darin schlafen?“
„Ich glaub’ nicht, daß es das ist,“ entgegnete Friedrich kopfschüttelnd, mit einem leiseren Tone. „Sie haben irgend etwas da hinten in der letzten Stube …“
„In welcher Stube?“
„In der letzten hinter meiner Kammer. Eine Tapetenthür führt hinein. Aber die ist verschlossen mit einem großen und schweren Vorhängeschloß; und als ich heute Morgen aufgewacht war und noch ein wenig in den guten warmen Kissen liegen blieb und dabei so recht träge und lässig meine Augen auf Alles richtete, was in meiner Kammer war, da sah ich auch auf den Boden und nahm den Schmutz von Fußstapfen wahr, die von Ihrem Zimmer her durch meine Kammer auf die Tapetenthür zu geschritten sein mußten, es mußten recht schmutzige Füße gewesen sein, die da hergeschritten waren; und das mußte gestern Abend gewesen sein, unmittelbar bevor wir in diesen Zimmern Quartier nahmen, denn sonst wären sie wohl weggefegt gewesen – es ist ja sonst Alles so sauber hier im Hause, und Dienstvolk ist genug da! Sagen Sie nicht, ich selber sei der Schmutzfink gewesen; das kann nicht sein, wir haben ja gestern den Tag über die Stiefel im Steigbügel gehabt, und eh’ ich in die Zimmer ging, hab’ ich mir die Sohlen an der Kratzbürste draußen im Flur jedesmal gewissenhaft gereinigt; also, wer kann gestern Abend noch mit diesem schmutzigen, lehmigen Schuhwerk hier gewesen und in die Stube hinter der Tapetenthür mit dem Vorhängeschloß gegangen sein? Haben Knechte da Etwas hineinzuschleppen gehabt, oder sind es gar die Franctireurs gewesen, die, was sie auf ihrem Wagen hatten, hineingerettet?“
Friedrich legte mit diesen Folgerungen seine scharfe Beobachtungsgabe und den ganzen durch diesen Krieg bei unseren Leuten geweckten Spürsinn an den Tag, und daß er zu combiniren verstand, zeigte er dadurch, daß er hinzufügte: „ich habe anfangs nicht weiter viel daran gedacht – als mir aber das hübsche Zöflein mit so freundlichem Lächeln und ihr Köpfchen drehend just wie ein junger Kreuzschnabel im Nest, den Vorschlag machte, wir sollten die Zimmer räumen … Sie wissen, Herr Wachtmeister, uns so freundlich zuerst anzureden, pflegt die Sorte sonst nicht … da dämmerte mir Etwas!“
„Es ist möglich,“ sagte ich, „daß sie da Etwas verwahrt haben, dessen Entdeckung durch uns sie nicht wünschen. Wer weiß, welche Schätze! Vielleicht ihren Wein – ihr Silber. Was geht es uns an? So lange Du das große Vorhängeschloß dort hängen siehst, kannst Du sicher und ruhig sein, daß wenigstens Nichts aus diesem Versteck hervorbrechen wird, was Dir etwas anhaben könnte!“
„Ich habe schon daran gedacht, ob die verfluchten Franctireurs vielleicht ihre Waffen dahinein geborgen!“
„Wenn das wäre, könnten wir uns ja damit zufrieden geben, daß sie dann unter Verschluß liegen.“
Damit endete die Unterredung. Als ich eine Weile nachher über den Hof zu den Pferden ging, warf ich einen Blick auf die Fensterreihe der von mir und Friedrich bezogenen Zimmer; ich sah, daß nach dem Fenster der Kammer, in welche ich meinen Putzcameraden logirt, noch ein Fenster, das letzte der Reihe, kam, und daß dieses vergittert war. Es war also ein Eckcabinet und mußte schon früher entweder zu etwas wie einer Schatzkammer oder einem Gefängniß für einen Verrückten gedient haben.
Es ist schon über sechs Jahre her, im zwölften Bande S. 437 hat die Gartenlaube ihre Leser von Theodor Pixis in München nach Betzingen führen lassen, um einen schönen deutschen Menschenschlag in wohlkleidender schwäbischer Tracht aus der Kirche kommen zu sehen. Ein getreuer Autor hat damals nicht ermangelt, denselben über absonderliche Sitten und Gebräuche des vielheimgesuchten Völkleins kaum noch eine Frage übrig zu lassen. Nur das „Vielheimgesucht“ verspricht uns eine neue Ausbeute, denn das bezieht sich auf die vielen Gäste, welche der Künstlerwelt angehören und die mich sogar zu der Kühnheit verführt haben, Betzingen – eine Malerheimath zu nennen, trotzdem hier nicht etwa die Maler, sondern allein die prächtigen Modelle heimathberechtigt sind, um derenwillen wir Herren mit den großen Mappen haufenweise hier unseren Aufenthalt nehmen.
Im schönen Schwabenlande, an der raschen fleißigen Gebirgstochter,
der Echaz, welche in kaum dreistündigem Laufe über hundert
Fabriken und Mühlen treibt, liegt die Perle der Trachtendörfer,
Betzingen, dessen Bewohnern und Bewohnerinnen weder die Nähe
der nüchternen fleißigen alten Reichsstadt Reutlingen, noch das
viel weiter entfernte studentenreiche Tübingen das Mindeste in
Tracht und althergebrachter Gewohnheit anhaben konnten; ja selbst
die drei im Dorfe liegenden Fabriken und die sonst Alles gleichmachende
[26] Eisenbahn, welche hier eine Haltstelle hat, konnten dem Grundwesen dieser originellen und in ihrer Tracht so eigenthümlich schönen Dorfbewohner eine Aenderung nicht abringen, und so lohnt sich heute noch wie vor Jahrzehnten ein Besuch bei diesem prächtigen Menschenschlage.
Bei einem Gange durch das Dorf nach beiden Seiten die im farbigen Sonntagsstaat eben von der Kirche kommenden Mädchen und Buben musternd, an der wohlgewählten farbigen Tracht der Mieder und der die kräftigen Figuren lustig umflatternden Bänder das Auge erfreuend, ladet ein Schild an einem freundlichen bescheidenen Hause uns ein, auch dem Magen zu geben, was des Magens ist. Wir stehen vor der „Rose“, dem ersten Wirthshause des Dorfes; drinnen schaltet und waltet außer den ab und zu hin- und herfliegenden Sommerzugvögeln der Maler und Malerinnen aus aller Herren Länder ein Geschwistertrio, Bruder und Schwestern in den mittleren Jahren, er ebenso still und fleißig die Landwirthschaft besorgend, wie das sittige Schwesterpaar den Wünschen der Gäste mit immer gleicher Ruhe und Willigkeit nachkommend. Beim guten Schoppen treffen wir ein Paar bärtige Gestalten mit dem breitkrämpigen Hute und dem unvermeidlichen Plaid über der Schulter; es sind Düsseldorfer Maler mit einem schwäbischen Genossen, der durch häufigen Studienaufenthalt im Dorfe völlig zu Hause und den Berufscameraden seine Modelle eben zu zeigen im Begriff ist.
Vom Malervolk leicht die Erlaubniß zum Mitgehen erhaltend, treten wir nach wenigen Schritten in die kleine Stube eines einstöckigen Häuschens; heute ruht der Schusterhammer des sonst rastlos fleißigen Vaters, dagegen sind alle acht Töchter zu Hause mit den dunkelbraunen sonnverbrannten Gesichtern und den blitzenden Augen. In freundlicher Vertraulichkeit werden die Herren gegrüßt, denn das Malen ist den Mädchen nichts Neues mehr und das Kommen zur Sitzung in die Rose auf den folgenden Tag wird bereitwillig zugesagt.
Zwei Häuser weiter und wir treffen beim Bruder des Schuhmachers wieder acht Mädchen und nur einen noch unerwachsenen Buben; auf die erstaunte an eine der Dunkelblondinen gerichtete Frage: „Aber Mädchen, wo kriegt Ihr Alle denn einst Männer her?“ antwortet dieselbe rasch: „’S gibt Buabe gnuag, ’s gibt für Jede Oin.“ Auch sie wird um eine Malsitzung gebeten und sagt es gerne zu, da der Ertrag zu einem Paar neuen seidenen Bändern an die Sonntagsschürze reicht.
Nun geht’s quer über die Straße; im Begriff, die wie an den meisten Häusern außen hinaufführende Treppe zu ersteigen, springt über die ausgetretenen ächzenden Stufen derselben Bärbel herab, ein Musterbild von draller Kraft und Rundung. Auch sie sagt zu, und wir gehen, um auch hier das holzgetäfelte Innere mit dem Kachelofen zu sehen, die Treppe hinauf. Beim Eintreten finden wir die Hausmutter, eine kräftige Frau und Mutter von wieder acht Mädchen und fünf Buben, die Letzteren baumlange Gardisten, eben an der harten Arbeit, die sich sträubenden Naturlocken ihres jüngsten dreijährigen Sprößlings glatt zu kämmen und sie in zwei kleine stumpige Zöpflein mit eingeflochtenen Bändern zu verwandeln, denn so will es am Sonntag der gewaltige Alleinherrscher in Betzingen, der Brauch.
Ist somit die Berechtigung, Betzingen eine Malerheimath zu nennen, wenigstens heiter angedeutet, so verräth unser Bild, daß den Malern auch das Heiligthum des Hauses bei hohen Familienfesten nicht verschlossen ist, denn sonst wäre Meister Hornemann nicht im Stande gewesen, uns einer Kindtaufe in so zahlreicher Verwandtschaft beiwohnen zu lassen. Der geweihte Mittelpunkt dieses Bildes ist die junge Mutter, und so hoch hebt die Mutterwürde das Weib, daß vor ihr der Werth der Trachten verschwindet und wir vor diesem Anblick Alles gern mit in den Kauf nehmen, was absonderlich Betzingerisches dabei zum Vorschein kommt.
Ganz Artenay war in ein Lazareth verwandelt worden. Von allen Seiten wurden die Verwundeten vom Schlachtfelde des gestrigen Tages hereingebracht, die Mehrzahl Franzosen, in allen Winkeln, in den Höfen der Häuser, in den Schuppen, auf dem Kirchhofe lagen die todten Franzosen reihenweise, Jünglinge von siebenzehn Jahren, Männer bis zu vierzig bis fünfundvierzig Jahren, Alle steif gefroren; der Regen hatte in der Nacht aufgehört und war einem starken Froste gewichen; es wehte vom Walde herüber scharf und kalt, und man mußte erst Feuer auf dem Boden anmachen, um Gräber graben zu können – auch für zwei preußische Officiere. Mit dem Mantel und dem Helme bedeckt, wurden die Bahren nach dem neuen Kirchhofe gebracht, wo bereits ein preußisches Soldatengrab aufgeworfen war. Ich und mehrere Bekannte, wir folgten dem stillen Leichenzuge. Der eine der Gefallenen war Hauptmann, wenn ich nicht irre, im fünfundachtzigsten Regiment, der älteste Sohn eines hochbetagten Vaters, der andere Reserveofficier in demselben Regiment, ein Holsteiner, Wirthschaftsbeamter, Gatte und Vater von vier Kindern. So sagte der Officier, der den Trauerconduct leitete; ein stilles Gebet, drei Hand voll Erde, eine im Namen des Vaterlandes und die anderen für den Vater, für die Gattin und Waisen, und im Gedanken an die blutenden Wunden des Herzens, welche diese Gräber reißen und welche vielleicht niemals heilen werden. Gott möge sich der Verlassenen erbarmen!
Heute hatten wir den „richtigen Wind“; heute hörte man den Kanonendonner und das Kleingewehrfeuer ganz deutlich und gar nicht aus zu weiter Ferne. Aber im Laufe der kommenden Stunden entrückte der Schall unserm Ohre immer weiter; ein Beweis, daß die Unseren im Vorrücken waren. Gegen Nachmittag bekam das Hauptquartier den Befehl zum Abrücken; es war gegen drei Uhr, als die Colonne sich in Bewegung setzte. Aber so breit die von Paris nach dem Süden führende Heerstraße war, so schwer war das Durchkommen. Gleichzeitig mit uns rückten auch Theile des neunten Armeecorps vor; Infanterie, Cavallerie und Artillerie. Kaum hatte die Colonne ein kurzes Träbchen angeschlagen – da stand sie auch schon wieder, wie festgerammt.
„Verfluchte Sch......ei!“ schreit unser Wagenlenker aus dem Spreewalde. „Da bleibt man noch heute auf der Straße liegen. Ick seh’ es der Jeschichte schon an, et wird woll so ’n Bivouäkchen wer’n bei achte Réammur. Schockschwernoth, wie der Wind pfeift! Aujust, hest de kenen vor de Binde? Na, et is nur jut, daß wir in dem Lande sind, wo der Cognac wächst. Aujust, jieb sie her de Pulle!“
Der Fahrer hinter unserem Wagen reicht freundschaftlichst seinem Collegen eine Feldflasche, unser Fahrer trinkt, und giebt die Flasche zurück. „Det is besser wie een halb Dutzend Leibbinden übereinander. Na, Aujust, wo hast denn den her – oller Junge?“
„Et war noch so’n Resteken in dem Keller, wo wir im Quartier lagen. Die Leute waren ausjerückt, also mußten wir schon alleene eenen Spaziergang durch die unbewohnten Jemächer des Hauses machen. Wenn jar nischt mehr da is, ick finde immer noch wat, und wenn es ooch nur die Photojraphie einer jeflohen seienden französischen Köchin is. Na, nu jeht’s ja weiter!“
Die Sonne geht blutroth unter; heut hätte man sagen können, der Himmel sei mit dem Blute des Tages gemalt. Es mußte vorne heiß hergehen, gegen Abend war das Feuern in erneuter Heftigkeit zu vernehmen. Ueber die Ebene, die mit dem Plateau von Mars la Tour und Gravelotte einige Aehnlichkeit hat, wehte ein schneidender Wind, und man zog den Pelzkragen des Mantels höher. Die Soldaten auf den Pferden nahmen ihre weißen Wollendecken hervor und banden sie wie Mäntel um; in der Dämmergluth des Abends boten sie einen höchst malerischem Anblick; man glaubte einen Zug von Beduinen aus der Wüste zu sehen. Rechts von der Chaussee sah man eine Windmühle, deren Flügel still standen, sie waren ganz zerschossen. Dort war einer der entscheidenden [27] Momente des gestrigen Tages. Die Franzosen hatten Artenay geräumt, sich dort aber festgesetzt und gaben auf die Avantgarde des neunten Corps (von Manstein) Kreuzfeuer. Die sechsunddreißigste Brigadedivision (Freiherr von Wrangel), unter dem Commando des Oberst Freiherrn von Falkenhausen, wurde vorgeschickt.
„Sie müssen raus,“ hatte der wackere, energische Mansteiner befohlen.
„Sie müssen raus!“ widerhallte es in den Reihen des fünfundachtzigsten Regiments, und das zweite Bataillon avancirte. Die Mühle war von den Franzosen zu einer Festung umgewandelt worden, hinter den Mauern derselben lagen sie in guter Deckung; aus jeder Oeffnung, jeder Ritze blitzte, knallte und krachte es, die Holsteiner wurden mit Blei überschüttet – aber „sie müssen raus!“ hatte der General befohlen, und sie stürmten mit schlagendem Tambour unter Hurrah auf das Bollwerk zu los – als machten die da drinnen und droben mit ihren Flinten nur einen kleinen Spaß, den man mit Schnellfeuer und mit dem blanken Bajonnet erwidern müsse. Mancher Sohn aus den Marschen wird freilich nicht wieder heimkehren, von Manchem wird Weihnachten umsonst ein Brief erwartet werden, und anstatt eines Briefes wird die Zeitung den Namen bringen, mit dem Vermerke: „Gefallen bei Moulin d’Anvillers“ – aber es hatte gar nicht lange gedauert, und sie waren „raus“.
Aber was ist das? Was kommt uns dort entgegen? Kanonen – bespannt, von Franzosen gefahren, mit Franzosen als Bedienungsmannschaft – eins, zwei, drei – sechs, eine ganze Batterie – auch Officiere der Franzosen sind dabei. Was soll das bedeuten? Wäre etwas geschehen? Mein Gott! O nicht doch – es sind ja braune preußische Husaren dabei, welche die ganze Batterie mit Munitionswagen und allem Zubehör in ihre sichernde Mitte genommen haben.
„Wo kommen Sie denn her?“ frug ich den Führer der Husaren.
„Da vorn von dem Dorfe Cercoltes, da haben wir die Batterie attaquirt und mit Pferd und Mann, wie sie dastand, gleich mitgenommen.“
„Gratulire zum eisernen Kreuz!“
„Na, wenn das wahr wäre! Das wäre schon unter der Kanone!“
„Wie sieht es denn vorn aus? Halten die Franzosen Stand? Gehen die Unsrigen vorwärts?“
„Nu, und wie! Hol’ auch der Teufel! Der General von Blumenthal hat das Dorf Cercoltes genommen, und nun geht’s immer voran – hast du nicht gesehen.“
„Cercoltes ist in der Mitte des Waldes von Orleans gelegen; wer das Dorf hat, hat auch den Wald, und der Besitz des Waldes ist auch der Besitz der Stadt.“
„O, nicht doch,“ wurde mir von Seiten eines Fachmanns erwidert. „Der Besitz der Stadt wird noch harten Kampf kosten. Die Franzosen haben sich dort tüchtig verschanzt und Marinegeschütze aufgefahren. Es wird wohl noch der morgende Tag vergehen, ehe wir in Orleans einrücken können.“
„Dann bin ich nur begierig, wo wir unser müdes Haupt heute niederlegen werden. Dessen bin ich gewiß, daß sich’s in einem Berliner oder sonstigen Hôtel besser schlafen wird als da, wo wir heute bleiben werden.“
Die Nacht war schon hereingebrochen, am wolkenlosen Himmel stand der Mond, aber es hätte seines Lichtes nicht bedurft, ringsum wurde die Nacht durch aufsteigende Feuergarben erhellt, es waren die Bivouacsfeuer der Reservetruppen – es waren auch brennende Dörfer.
„Colonne Halt! Nun wieder einmal! Was ist denn los?“
„Cercoltes! Hier macht das Hauptquartier Halt. Quartiere giebt es hier nicht; wer aber eins findet, darf von großem Glücke sagen.“
Man war von dem Sitzen im Wagen ganz steif gefroren; die einzige Möglichkeit, wieder ein Gefühl von Wärme zu bekommen, war die, im Trabe neben dem Wagen herzutrotten; man tröstete sich im Gedanken an eine warme Stube, und nun –
Recht angenehme Mittheilung! Ein neues Artenay! O, noch weit schlimmer als das. Artenay war ein Paris gegen das Dorf Cercoltes. Viele von den Dorfhäusern waren zerschossen, und die schwarzen noch rauchenden Ruinen starrten gespenstisch in den Nachthimmel hinein. In denen jedoch, die noch unversehrt, waren die Fenster erleuchtet, also jedenfalls noch Einwohner vorhanden. Ein Blick durch die Fenster – Soldaten saßen am Kaminfeuer und kochten, und wie im ersten, so im zweiten Hause, so in allen, die wir einer Untersuchung unterwarfen. Die Soldaten auffordern, die Häuser zu räumen? Niemals! Eher unter freiem Himmel übernachten und sich die Knochen zu Stein frieren lassen. Wer weiß, nach wie viel kalten Bivouacnächten dieses das erste erträgliche Quartier für sie war, während Unsereiner immer in guten Ställen gelegen hatte – es wird sich schon noch eine Scheune finden. Dort biegt eine Querstraße von der großen Dorfstraße ab – dort sind einigermaßen stattliche Häuser. Versuchen wir dort unser Glück!
Ich schloß mich dem Armeepostmeister Bock, seinem Secretair Nienow und dem Ingenieurgeographen Hammer an, demselben, der unserer Armee die Wege durch Frankreich vorgezeichnet hat. Das war eine gute Adresse, der wird wohl auch in Cercoltes einen Weg zu einem Nachtquartier finden. Wir kamen vor das erste Haus, klopfen an, es wird uns aufgethan, wir bringen unsere Frage nach einem Zimmer im elegantesten Französisch vor, als Antwort bekommen wir das Wort „Ambulance“ und einen Hinweis auf das rothe Kreuz an der Thür. Dieses hatten wir im Eifer unserer Hoffnungen nicht gesehen. So weiter im nächsten Hause, so im dritten; dann gaben wir unsere Nachforschungen auf. Es war kein Zweifel, das Dorf lag nicht nur voll Soldaten, sondern auch voll Verwundeter. Es war gestern, es war heute den ganzen Tag gekämpft worden, und wo zwei so erbitterte Feinde aufeinanderstoßen, da giebt es Blut und Wunden.
Weiter vor lag noch ein kleines Haus im Dunkel der Nacht. Dasselbe war nicht wie die bisherigen erleuchtet; es schien noch nicht belegt, es schien auch keine Ambulance zu sein – es ist ein Winken der Hoffnung. Darauf hin wird angeklopft. Wer tritt uns entgegen? Der erste Kammerdiener des Generalfeldmarschalls, der biedere Bock. Seine blasse Erscheinung ist ein „lasciate ogni speranza“.
„Bedaure, meine Herren; dieses Häuschen ist für Seine Königliche Hoheit und den Herrn General von Stiehle reservirt; mit Mühe und Noth haben wir hier zwei Stübchen entdeckt, wenn die Herren überhaupt hier übernachten und nicht vielleicht bei den Truppen bleiben werden.“
In demselben Augenblicke wurde vom Eingange der Querstraße her Pferdegetrappel vernehmbar.
„Hier scheint unser gnädigster Herr zu kommen. Verzeihen Sie – –“
Es war Prinz Friedrich Karl mit seinem Stabe. Der Feldherr hatte mit demselben in der Mitte der Truppen an einem Bivouacfeuer bis in die Nacht verweilt; erst als General von Treskow, der Commandeur der siebenzehnten Division, die Meldung schickte, daß er diese Nacht Orleans noch nehmen werde, erst als der Erfolg des Tages gesichert war, beschloß der Feldmarschall, in Cercoltes sein Hauptquartier zu beziehen.
Wir Armen suchten fast noch eine Stunde nach Quartier und ohne Erfolg. Ich weiß nicht, wem der Gedanke kam, uns in der Kirche des Dorfes einzuquartieren; aber er schien uns als letztes Rettungsmittel vor den Unbilden einer sehr kalten Decembernacht äußerst plausibel. Da man Wirthshäuser und Kirchen überall am leichtesten findet, so sahen wir denn auch bald einen ganz stattlichen Kirchenbau vor uns, aber auch zugleich erleuchtete Fenster, und von innen hörten wir lauten Gesang von Männerstimmen erschallen. Was war das? Jedenfalls keine Hoffnung auf ein Nachtquartier. Aber sehen wollten wir dennoch, was da drinnen vorging; denn nach dem Rhythmus der Töne zu schließen, schien der Gesang eben kein kirchlicher zu sein.
„Halt! Wer da?“
Ein Doppelposten hielt uns an. Auf unsere Frage, wer denn in der Kirche sei, ward uns die Antwort: „französische Gefangene,“ und auf unsere Legitimation deutscher Sprache hin die Erlaubniß zum Eintritt. Die ganze Kirche war von gefangenen Franzosen angefüllt. Linientruppen und Mobilgarde, Infanteristen, Cavalleristen und Artilleristen, Weiße und Schwarze – Alles durcheinander. An der Orgel saß ein Zuave und spielte auf.
„Nun genug für Euch – nun möchten wir auch einmal was gespielt haben,“ sagte einer der Soldaten, die Gewehr in Arm die Wache in der Kirche hatten. „Sag’, Franzos’,“ radebrechte er [28] auf Französisch, „kannst Du das spielen?“ Und dabei gab ihm der Soldat die Melodie des „Heil dir im Siegerkranz“ an.
„Ei, wo werd’ ich denn das nit könne?“
„Was, Franzosenzuav’, Du kannst Deutsch?“
„Ich bin aus dem Elsaß, mein Vater ist in einem Dorf bei Hagenau Schulmeister.“
„Na, nun ist’s gut, nun spiel’ mal drauf los.“
Mit den ersten Orgeltönen des Volksliedes vermischte sich die kräftige sonore Stimme des wachhabenden Soldaten, erst sang er allein, dann fielen seine Cameraden ein und bald brauste das Lied in vollem, mächtigem Chor durch die hohe Kirchenhalle.
„Aber den Gedanken an Dach und Fach müssen wir für diese Nacht schon aufgeben,“ sagte ich beim Zurückgehen aus der Kirche. Wir kamen auf unserem Wege des Umherirrens ohne Zweck und Ziel an einem kleinen vierstöckigen Hause vorüber, aus dem uns ein Feuerschein entgegenleuchtete. Der Wunsch nach einem Unterkommen war in uns durch die vielen mißlungenen Versuche bereits Instinct geworden, und dieser ließ uns einen Blick in das Innere der Hütte werfen. Wir sahen einen Mann in einer blauen Blouse und eine Frau mit einem splitternackten Kinde von etwa acht Wochen am Kamine sitzen. Das Haus war nicht belegt. Wir traten ein. An das Zimmer mit dem Kamin stieß noch ein anderes, in dem sich Niemand befand. Das war über alles Erwarten, gefunden war – gefunden, was wir so lange und trotz der heißen Sehnsucht unseres Herzens vor Kälte schlotternd gesucht hatten. Den Leuten ward der Standpunkt bald klar gemacht; in dem anstoßenden Zimmer war noch ein Bett, darauf verzichteten wir, das sollten sie in die Stube mit dem Kamine bringen, auf diesem sollten sie schlafen, wir wollten uns in dem anderen ein Strohlager machen.
„Aber meine Kinder – wo sollen denn die schlafen?“ jammerte der Mann.
„Ihre Kinder? Sie haben ja doch nur eines.“
„O nein,“ war die Antwort des Mannes, indem er auf das Bette deutete. In demselben lagen noch vier Stück nebeneinander wie die Orgelpfeifen.
Aber es konnte nichts helfen; die Kinder wurden in das Bett in die andere Stube gepackt, das letztere selbst getheilt, so daß die ganze Familie die Nacht noch ganz passabel zubrachte. Ich wurde der Expedition zugetheilt, die beauftragt war, Stroh zu holen. Dessen war einige hundert Schritt vom Hause noch ein ganzer Haufen vorhanden. Jeder bepackte sich mit einem tüchtigen Bund, und als ich ein solches eben fassen wollte, fuhr meine Hand vor einer Berührung mit einer Bewegung des Entsetzens zurück – ich blickte nach der Stelle, dort lag ein französischer Soldat todt – ich hatte ihm in’s Gesicht gegriffen.
Während der Nacht fing von den Kindern, die in der Nebenstube schliefen, eines nach dem andern eine liebliche Musik in allen Tonarten des Weinens an, von dem Bivouacfeuer in dem gegenüberliegenden Hofe tönte die ganze Nacht Gesang und Gelächter herüber – zwei Decken und ein Mantel waren kaum ausreichend, um uns vor Kälte zu schützen; aber dennoch fühlte man sich doch glücklich gebettet, wenn man an die Verwundeten dachte, die draußen auf freiem Felde vielleicht nach Hülfe riefen, nach einem Tropfen Wasser schmachteten; wenn man am andern Morgen sah, wie die höchstgestellten älteren Herren aus den Wagen, aus den Scheunen, von den Heuböden hervorkamen, wo sie die Nacht zugebracht hatten. Die Nacht wurde zu einem köstlichen Tage durch die Nachricht: „Orleans ist vom Großherzog von Mecklenburg-Schwerin, vom neunten und dritten Corps in der Nacht genommen worden – das Hauptquartier wird um elf Uhr nach Orleans verlegt. Hurrah!“
„Auf nach der Stadt der Jungfrau – auf nach Orleans!“
Was aber wird der Herr Abbé in Pithiviers bei der Nachricht sagen?
Als im Jahre 1809 Napoleon auf der Höhe seines Glanzes stand und seinen tyrannischen Arm über ganz Deutschland ausstreckte, unternahm es ein deutscher Jüngling, Namens Friedrich Staps, durch einen Mordversuch auf den gefürchteten Kaiser das Vaterland von der Fremdherrschaft zu befreien. Obwohl dieses Factum und das Schicksal des jungen Menschen allbekannt sind, so verbreiten doch die nachstehenden Mittheilungen neues Licht über diesen patriotischen Märtyrer, dessen verwerfliche Absicht, obwohl der Vaterlandsliebe entsprungen, dadurch jedoch keineswegs nur im Geringsten gerechtfertigt werden soll.
Diese Notizen über Friedrich Staps sind Aufzeichnungen von der Hand seines Vaters entnommen. Sie athmen innige Liebe und tiefen Schmerz um einen Sohn, welcher ein Muster kindlicher Liebe, reiner Sitte und des Fleißes war, der seine Eltern nie betrübt hatte, als durch seine letzte That.
Die Aufzeichnungen sind mit einer dem alten Manne und der damaligen Zeit verzeihlichen Breite geschrieben; es ist hier Wesentliches hervorgehoben, allzu Umständliches zusammengefaßt, doch der Ton des Vaters beibehalten, welcher dem Ganzen eine warme, gemüthvolle Färbung verleiht. –
Die Predigerstelle in dem Dorfe Schönburg bei Naumburg an der Saale war seit mehreren Generationen erblich geworden in der Familie Wislicenus. Eine Tochter des letzten Pastors daselbst – Justus Jacobus Wislicenus – wurde die Mutter des unglücklichen Jünglings. Ein viel jüngerer, den Eltern noch spät geborener Sohn, nachmals Prediger zu Badaune bei Leipzig, wurde der Vater des früheren Predigers Gustav Wislicenus (jetzt in Zürich), des tapfern Kämpfers in der evangelischen Kirche – allgemein bekannt durch sein Werk über die Bibel, der Verfasser freisinniger religiöser Schriften und Opfer seiner Ueberzeugung!
Die Mutter des jungen Staps war in erster Ehe an den Wirth des Gasthofs „zum Scheffel“ in Naumburg an der Saale verheirathet. Eines Tages sangen die Schüler des dortigen Domgymnasiums vor ihrem Hause, wie das damals Sitte war. Die hübsche junge Frau hörte dem Gesange zu. Einer der Sänger, der Schüler Staps, Sohn eines Landmannes aus der Umgegend, rief bei ihrem Anblick aus: „Wenn ich mir einst ein Weib nehme, eine solche Frau muß es sein, am liebsten diese selbst!“
Friedrich Gottlieb Staps wurde später Prediger an St. Othmar in Naumburg, und die geborene Wislicenus, deren Mann indessen gestorben war, reichte nun wirklich dem etwas jüngeren Manne ihre Hand in zweiter Ehe.
Lassen wir den Vater nun selbst weiter erzählen:
Im März 1792 wurde unser Sohn geboren und Friedrich Gottlieb genannt. Welche Freude für mich, welch noch innigeres Glück für seine Mutter, die zuvor siebenzehn Jahre in kinderloser Ehe gelebt hatte. Friedrich wuchs auf, gesund, frisch, ein lernbegieriges Kind. Schon früh zeigte er Neigung zum Stande seines Vaters, und setzte seine Zuhörer durch den Vortrag seiner kindlichen Predigten in Verwunderung. Später erwachte in ihm die Neigung zum Kaufmannsstande, welcher ich nicht entgegen war, und ihm nur lehrte, was er für seine neue Laufbahn brauchte. Friedrich betrieb mit Vorliebe das kaufmännische Rechnen, neue Sprachen – bald konnte er seinen Telemach übersetzen, sowie deutsche Briefe in fremde Sprachen. Vor allen hörte er die Religionsvorträge mit wahrer Ehrfurcht an und prägte sich ihre Lehren tief in sein jugendliches Herz. Kein Tag fing an ohne Gebet aus dem eigenen Schatze seines Herzens, und mit innigem Danke gegen Gott legte er sich auf sein Lager. Er hat es bis an sein Ende fortgesetzt. Er war ordentlich, fleißig und ausdauernd, führte unverbrüchlich aus, was er sich vorgesetzt. Im neunten Jahre machte er sich einen Stundenplan – durch Nichts, am wenigsten durch ein Vergnügen, ließ er sich davon abbringen. Lust und Ehrgeiz trieben ihn zum Lernen, er wollte vorwärts kommen, um seinen Eltern einst eine Stütze zu werden. „Mutter,“ hatte er eines Tages gesagt, „wenn ich einst meinen eigenen Heerd habe, nehme ich Dich zu mir, dann will ich Dir all’ Deine Liebe vergelten.“
Braucht man es wohl auszusprechen, wie sehr uns dieser Sohn beglückte, wie hoch er besonders im Mutterherzen stand? Doch wurde diese häufig durch einen Traum seinetwegen beunruhigt.
[29] Ihr träumte, sie sei mit ihren beiden Söhnen im Garten zu Schulpforta bei Naumburg; im Ueberschreiten des schmalen Steges, der hier über einen Arm der Saale geht, fällt ihr geliebter Fritz plötzlich in’s Wasser. Sie strengt alle Kräfte an, ihn zu retten, umsonst – er versinkt und entschwindet ihren Augen für immer. Wie oft beängstigte dieser Traum ihr mütterliches Herz, vergebens erinnerte ich sie daran, daß Träume nur Spiele der Phantasie seien.
Friedrich hatte sich einen reichen Schatz von Kenntnissen gesammelt, auch trieb er Musik und zeichnete nicht ohne Talent, ja, er beschäftigte sich mit dichterischen Versuchen und bearbeitete nach der Lectüre von Gumal und Lina einen Theil davon als Schauspiel.
Im Jahre 1806 fand sich Gelegenheit zu seiner weiteren kaufmännischen Ausbildung, indem er als Lehrling in die Fabrik von Rothstein und Lentin nach Erfurt kam. Auch hier erwarb sich unser Sohn durch Fleiß und Treue die Liebe seines Principals. Er hatte sich das Ziel gesetzt, einst Correspondent oder Reisender eines großen Hauses zu werden, nicht ein Krämer, sein Sinn stand nach größeren Verhältnissen.
Friedrich’s häufige Briefe aus jener Zeit athmen stets liebevoll kindlichen Sinn, zu Geburtstagen und Festlichkeiten erfreute er uns mit Geschenken von seinem ersparten Taschengelde, für mich war es meist eine correkte Zeichnung, ein französischer Brief, die Uebersetzung eines Lustspiels, wovon er wußte, daß es mir werth sei. Mit dem Jahre 1809 wurden seine Briefe noch inhaltreicher, er beschrieb die Festlichkeiten, herbeigeführt durch die Zusammenkunft der Kaiser und Könige in Erfurt. Nicht eine Spur gehässiger Empfindung gegen Napoleon klang daraus hervor. Wahrscheinlich hat er ihn damals ebenso bewundert, wie er ihn später haßte. Napoleon heuchelte ja auch eine Sehnsucht nach Frieden und die Beglückung der Welt nach Deutschlands Wiedergeburt. Wäre meines Sohnes unglückseliger Entschluß schon damals gefaßt gewesen, wie viel leichter konnte er ihn in Erfurt ausführen, als später in Schönbrunnen! Zum Beweise dafür theile ich hier einen seiner Briefe mit, es ist der einzige, welchen ich noch besitze. Im Jahre 1809 wurden sämmtliche Briefe von dem französischen Intendanten von Erfurt uns streng abgefordert. In unserer Angst schickten wir sie ein, hoffend, das Leben des geliebten Sohnes dadurch zu retten. Ach, wir ahnten nicht, daß er schon nicht mehr war!
Sein französischer Brief lautet:
Mit vielem Vergnügen und den aufrichtigsten Gefühlen der Dankbarkeit habe ich Ihren Brief gelesen und das Kästchen, welches Sie die Güte gehabt haben, mir zu schicken, geöffnet. In Wahrheit, ich weiß nicht, wie ich die Empfindungen meines Herzens für Ihre väterlichen Wünsche, wie für Ihre Geschenke aussprechen soll. Nur durch Liebe und Gehorsam werde ich mich beeifern, Ihrer Güte mich werth zu machen. Sie fragen mich, wann ich Sie besuchen darf. Das weiß ich wirklich selbst noch nicht. Zu Ostern schwerlich, denn wir haben viele Geschäfte und noch keinen neuen Gehülfen. Bitten Sie Herrn Rothstein selbst, wenn er nach Leipzig zur Messe fährt. Ich wiederhole meine Danksagungen mit der Versicherung, daß ich nie aufhören werde zu sein
Im Anfang August 1809 erfreute uns Fritz durch einen achttägigen Besuch. Es wurde gerade das Kirschfest in Naumburg gefeiert, zum Andenken an den Hussitenkrieg. Fröhlich und unbefangen vergnügte er sich mit Alt und Jung, wie nur irgend ein Jüngling, dem die Welt entgegenlacht. Er hatte sich an Körper und Geist entwickelt, war groß und blühend geworden, sein heiteres und einnehmendes Wesen gewann ihm Aller Herzen. Wie lustig tanzte er auf der Wiese, wie freudig nahm er an allen Festlichkeiten Theil! Hätte wohl Jemand ahnen können, daß ein so düsterer, verhängnißvoller Entschluß in dieser kindlich unbefangenen Seele reifen könne, wie er ihn mit nur zu großer Energie zur Ausführung brachte?
Auch beim Abschiede verrieth er sich mit keiner Miene, er war zärtlich wie immer, doch ohne ungewöhnliche Rührung, ohne daß ein besonderer Ernst auf seinen Zügen lagerte. Es ist das letzte Mal gewesen, daß Vater und Mutter ihren Sohn gesehen haben!
Nach dieser Zeit studirte Fritz mit verdoppeltem Eifer die Zeitungen, er theilte mir Alles mit, was er über den französisch-österreichischen Krieg erfahren konnte. Mit großer Begeisterung schrieb er von den Siegen des Erzherzogs Karl. Der Tagesbefehl desselben nach der Schlacht bei Aspern vom 23. Mai 1809 wurde von ihm abgeschrieben und mir überschickt. Er meldete ja den glänzenden Sieg über Napoleon! Dieser Nachricht fügte er noch Gerüchte hinzu, welche durch die Wünsche der gebeugten Erfurter erzeugt wurden: Rußland und Preußen machen eine Armee gegen die Gallier mobil – Napoleon sei gefährlich verwundet und auf der Flucht etc.
„Was ich höre, theurer Vater,“ schrieb er, „theile ich Ihnen mit, melden auch Sie mir, was Ihnen zu Ohren kommt, trotz der umherschleichenden französischen Polizei, denn wir müssen Alles erfahren. Die Oesterreicher werden ihnen bald das Handwerk legen, ich hoffe mit Sehnsucht darauf.“
Friedrich bat mich stets, seine Briefe zu vernichten. Welcher Psycholog hätte daraus wohl seinen späteren Entschluß errathen können! Mein Sohn war kein Söldling, kriechend und heuchlerisch wie damals so viele Deutsche, aber seines Vaterlandes Geschick ging ihm tief zu Herzen. Schiller war sein Lieblingsschriftsteller; vor Ausführung seiner That soll die Jungfrau von Orleans seine letzte Lectüre gewesen sein.
Fritz hatte zwei treue Freunde in Erfurt; der eine, Zerrenner, Commis in einer dortigen Buchhandlung, ist später in französischer Gefangenschaft am Hungertode gestorben; der andere, Walter, war Commis in einem Tuchgeschäft. Diesem hatte er sich, wie ich später erfuhr, anvertraut. Eines Abends, als sie bei einer Bowle Punsch zusammensitzen, theilt er ihnen mit, daß er die Absicht habe, Napoleon zu ermorden, daß er sein Vaterland von diesem Ungeheuer befreien und sich selbst zum Opfer bringen wolle, denn daß er sterben würde, wisse er. Die Freunde, starr vor Schrecken, drohen ihm, seinen unheilvollen Plan sogleich seinem Vater zu berichten, wenn er ihnen nicht heilig verspräche, sogleich davon abzulassen. Er thut es, weiß sie zu überzeugen, daß es nur ein Scherz gewesen ist, und trinkt mit ihnen in heiterster Laune seinen Punsch, so daß die Freunde nicht anders glauben können, als daß es nur eine flüchtige Idee gewesen sei. Deshalb schweigen sie gegen mich; ich erfahre nichts davon, nichts Näheres darüber, wie Fritz diesen schrecklichen Gedanken fassen konnte und was ihn endlich zur Ausführung trieb. Leidenschaftlich war er nie; Tausende haßten, wie er, Napoleon, ohne sich gegen sein Leben [30] zu verschwören. Was muß es ihn gekostet haben, seinen Plan so tief in seine Brust zu verschließen, daß weder Eltern noch Lehrherr etwas davon merkten, ihn, der bis dahin die Offenheit selbst war! –
Als am 23. September 1809 Herr Rothstein nach Leipzig zur Messe abgereist war, bestellt Fritz sich Wagen und Pferd und nimmt einen Platz nach Naumburg. Am 24. September, nachdem er elf Friedrichsd’or zu sich gesteckt hat, fährt er heimlich bis Ilmenau. Hier verkauft er Wagen und Pferd und geht mit der Post bis Wien. Obwohl es anfing kalt zu werden, hatte er wenig Kleidung und Wäsche mitgenommen. Die Vorstellung mochte ihn dabei leiten, daß Mutter Erde nun bald umsonst ihren Mantel über ihn decken werde. Die Uhr, welche ihm als Geschenk seines Vaters sehr theuer war, hatte er wohl bei sich, um sie im Nothfall zu verkaufen. Nicht eine Ahnung hatten wir Eltern von dieser Reise.
Am 27. September erhielten wir von dem Handlungsdiener der Fabrik Rothstein folgenden Brief aus Erfurt:
„Ein Vorfall, für Sie höchst wichtig, veranlaßt mein heutiges Schreiben. Ihr Sohn Fritz hat uns gestern verlassen, ohne weder die nöthige Erlaubniß erbeten, noch irgend Jemand Erklärung darüber gegeben zu haben. Er ist bis jetzt nicht zurückgekehrt. Aus dem Inhalt eines zurückgelassenen Blattes schließen wir, daß er die Idee hat, Soldat zu werden. Er hat sein Vorhaben in tiefer Stille betrieben, so daß wir ihn nicht daran verhindern konnten. Aeußerungen von ihm, die darauf hindeuteten, hielten wir für mehr muthwillig und scherzhaft als ernst gemeint und konnten sie nur lächerlich machen. In der Hoffnung, bald Kunde von ihm zu erhalten, Ihr etc.“
An Freund Walter hatte er ein Blatt zurückgelassen, des Inhalts: man solle ihn nicht suchen, nur todt auf dem Schlachtfelde würde man ihn wiederfinden.
Den Eindruck dieses Briefes kann nur der begreifen, welcher selbst Vater ist! Von dem Schrecken der Mutter schweige ich.
Nach einer Stunde fuhr sie mit ihrem ältesten Sohne mit Extrapost nach Erfurt. In dem Dorfe Hassenhausen, zwischen Kösen und Auerstädt, lebten uns Verwandte. Dort hielt sie an. Doch ehe sie dem Schwager erzählen konnte, was sie nach Erfurt trieb, übergiebt dieser ihr nachstehenden Brief ihres Sohnes. Fritz hatte ihn an den Onkel adressirt, damit dieser die Eltern vorbereiten solle. Das Original desselben ist nicht mehr in unseren Händen; der französische Intendant zu Erfurt ließ es, nebst allen Briefen Fritzens, durch eigene Staffette abfordern.
Dennoch wurde damals in der Eile Abschrift genommen. Hier ist sie:
Theuerste Eltern!
Diesen Brief wird Ihnen der gute Onkel in Hassenhausen überreichen, nachdem er Ihnen beigebracht hat, daß Sie mich nie wiedersehen. – Ach, könnte ich Ihnen fühlbar machen, wie schwer es mir wird, Ihnen dieses zu schreiben, und doch muß ich es! Ja, ich muß fort, fort, um zu vollbringen, was Gott mir geheißen hat; was ich ihm fürchterlich heilig gelobt habe, zu vollbringen; fort muß ich, um Tausende vom Tode, vom Verderben zu erretten und dann selbst zu sterben. – Was und wie ich es thue, darf ich Ihnen nicht entdecken. Schon vor einigen Wochen kam ich auf den Gedanken, es zu thun, doch überall fand ich Hindernisse. Als ich zwei Tage darauf bei einer unangenehmen Nachricht Gott bat, mir Mittel zu geben, mein Vorhaben auszuführen, da wurde es mir so hell vor den Augen; mir war, als sähe ich Gott in seiner Majestät, der mit donnerähnlichen Worten zu mir sprach: ‚Gehe hin und thue, was Du Dir vorgenommen hast; ich will Dich leiten und Dir behülflich sein; Du wirst Deinen Zweck erreichen, Dein Leben aber zum Opfer bringen müssen, aber dann bei mir ewig froh und selig sein.‘ Da hob ich meine Hände zu ihm auf und schwor fürchterlich und heilig, ihm zu gehorchen bis in den Tod; ich verlangte hier keine frohe Stunde und dort ewige Verdammniß, wenn ich meinen Schwur brechen würde. Und schon damals hätte ich gehen sollen; aber ich war zu wankelmüthig, bereute oft, was ich geschworen hatte. Doch mein Gewissen wacht jetzt auf und sagt mir: ‚Gehe, eile fort, noch ist Zeit, aber auch die höchste Zeit, darum eile!‘ Es reißt mich fort mit Riesengewalt nach meinem Schicksal hin, dessen Laufbahn bald geendet sein wird. Dann erwartet mich jene Seligkeit, jene ewige Herrlichkeit, die Gott mir verheißen hat! Ja, liebe Eltern, trauern Sie nicht um mich, freuen Sie sich, einen Sohn zu haben, der dieses unvollkommene Leben bald mit einem schöneren vertauscht. Ihnen nur verdanke ich es, Ihren guten Lehren, daß ich standhaft und Gott getreu bin bis in den Tod. Sie lehrten es mich, für das Glück, für das Leben meines Nächsten nicht den Tod zu scheuen. Ja, ich kann ruhig, freudig ihm entgegengehen; wie die Apostel thaten, will ich lächelnd sterben! Dort sehen wir verklärt uns wieder; dort wird nichts uns trennen, unsere Freude stören! Dort finde ich auch die Geliebte wieder, die ich verlassen muß, denn Gott verlangt ein großes Opfer!
So sage ich Ihnen, liebe Eltern, Dir, lieber Vater, und allen Freunden das letzte Lebewohl und meinen Dank für Alles, was Sie von Kindheit an für mich gethan, für die Sorgen und Mühen, die Sie für mich hatten, für die guten Lehren und Alles, was Sie mir gaben.
Zu der Reise, die ich antreten muß, habe ich verschiedenes Nöthige geborgt, auch etwas Geld; ich bitte, dieses Letzte noch für mich zu bezahlen.
So sei denn Gott mit Ihnen, wie er mit mir sein wird, denn mit mächtiger Hand wird er leiten
Ach, ich kann nicht schließen! Haben Sie nochmals für Alles Dank! Verzeihen Sie mir meine Fehler und das, womit ich Sie beleidigt habe; so auch, daß ich Sie jetzt nicht um Rath fragte. Tausendmal habe ich zu Gott gebetet: ‚Himmlischer Vater, muß es sein, muß ich gehen, wie soll ich’s möglich machen?‘ ‚Du mußt fort!‘ donnerte mir jene Stimme zu, ‚ich begleite, ich führe Dich, was brauchst Du mehr? Sei unverzagt und gehe!‘ Würde ich jetzt noch bleiben, so könnte ich keinem ehrlichen Menschen in’s Gesicht sehen, ohne als ein Meineidiger zu erröthen. Ein kalter fürchterlicher Schauer würde mich überfallen, wenn ich an jenes Leben dächte, wo dann nur Qualen meiner warteten. So denke ich jetzt mit Freude daran, denn ich weiß, Gott wird mich aufnehmen in seine Herrlichkeit.
Am Sonntag besuchte ich die Kirche, es wurde vom Sterben gepredigt. Dieses hat mich nun ganz standhaft gemacht. Ich fühle die letzten Worte der Predigt in ihrem ganzen Umfange, sie heißen: ‚Erhaben über Staub, unsterblich ist des Menschen Geist!‘“ –
Die bange Mutter setzte die Reise nach Erfurt fort.
Der Brief gab kein volles Licht über Friedrich’s eigentliches Vorhaben; nur die nächsten Freunde erriethen, daß Wien sein Ziel sei. Man rüstete schnell einen verständigen Mann mit allem Nöthigen aus und schickte ihn Friedrich nach mit der Weisung, diesen aufzuhalten, wo er ihn fände, nötigenfalls durch obrigkeitliche Gewalt. Dieser Mann, statt schnell und mit Energie den Auftrag auszuführen, geht erst nach Leipzig, reist in Sachsen herum, erkundigt sich auf allen Cantonnirungen, umsonst! Nach Oesterreich wagt er sich nicht. So geht die rettende Zeit verloren. Ich ließ in alle Zeitungen Aufrufe ergehen, mit der Bitte, den Sohn anzuhalten, ihn mit allem Nöthigen zu versehen, vor Allem aber seinen Eltern schleunigst Nachricht zu geben. Umsonst!
Statt dessen verbreiteten sich verwirrte böswillige Gerüchte: unser Sohn sei gefallen, sei todt, habe die Casse bestohlen etc. – Die Angelegenheit wurde ernsthafter. Von München und Weimar kamen. Nachfragen an das Naumburger Gericht: Wer die Eltern von F. Staps seien? Wie ihr Charakter sei? Ob sie Vermögen besäßen? Wie alt sie seien? Ich mußte zwei solcher Verhöre aushalten, ohne daß man mich fragte: Warum? Dann wurden die Briefe abgefordert. Wir ahnten nun das Schlimmste. Da es unendlich peinlich für uns war, über das Schicksal des Sohnes nichts erfahren zu können, entschloß ich mich, an Duroc zu schreiben; es erfolgte keine Antwort. Ich bat einen andern hochgestellten Mann schriftlich dringend um Auskunft. Es kam die Weisung: man möge ihn nie wieder mit Anfragen in dieser Angelegenheit behelligen. Nur ein Brief aus Hamburg sprach deutlich vom Tode unseres Sohnes. Es hieß zum Schluß: „Nun ist wieder ein Deutscher weniger!“ Dieser Brief war an einen Bekannten adressirt, mit der Bitte, ihn uns mitzutheilen. Der Bekannte überlieferte ihn einem andern Bekannten, dieser erst überschickte ihn an uns durch die dritte Hand. Nur mit Mühe ließ sich ein Kaufmann aus Leipzig erbitten, einige offene Zeilen mit der Frage: Ist Friedrich Staps todt oder transportirt? in einen Brief nach Wien [31] einzuschließen. Unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit erhielten wir endlich mündlich (nie erfuhren wir auf welchem Wege) die niederschlagende Nachricht: Er ist erschossen worden. Ein Kaufmann aus Wien, den wir dringend um Auskunft über unseren Sohn baten, entschuldigte sich mit Krankheit, er könne selbst nicht schreiben. In einigen Zeilen von der Hand seiner Frau hieß es: das traurige Loos des Erschießens habe allerdings einen jungen Mann aus Erfurt getroffen, doch sein Name sei unbekannt. Ich wandte mich an den Gesandten v. Bourgoing in Dresden, mit inständiger Bitte um ein Attest über den Tod meines Sohnes. Der Gesandte versprach es mir, hat aber nicht Wort gehalten. Ich richtete ein Gesuch an den damaligen sächsischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten. Nach langem Warten erhielt ich den Bescheid: es sei am rathsamsten für beide Theile, die Sache ganz ruhen zu lassen, da man nicht gerne davon spräche. So groß war damals die Furcht, und nicht ohne Grund, vor Napoleon dem Ersten und seiner Rache!
Wir wurden in dieser Periode von Bekannten und Freunden geflohen, als sei unsere Wohnung ein Pesthaus. Unsere Lage war so schlimm, daß wir nicht einmal unserem Schmerz uns hingeben konnten, sondern nur auf unsere eigene Sicherheit bedacht sein mußten. Meine Frau hielt immer das Nöthigste gepackt, für den Fall, daß unvermuthet ein neues Gewitter über unseren Häuptern zusammenschlagen solle. Ja, Arzt und Beichtvater stellten uns Zeugnisse aus, daß in unserer Familie bisweilen Anfälle von Geisteszerrüttung und Tollheit vorkämen. Wir wagten nicht um den Sohn zu trauern; dem Bruder wurde es auf das Bestimmteste untersagt; und dies nicht von Franzosen – es waren die damals so ängstlichen, furchtsamen Deutschen!
Von der Wiege des preußischen Liberalismus.
Von den sonnigen Rheinlanden hatte mich das Schicksal nach Ostpreußen verschlagen, wo mein Vater in der Nähe von Rastenburg sich ein Gütchen gekauft hatte.
Welch ein Gegensatz gegen das glänzende Panorama von Mainz, mit dem breiten, prächtigen Rheinstrome, über den die Dampfer zogen, an der langen Reihe der Schiffsmühlen vorbeilavirend, mit den duftigen Bergen des Taunus und der lockenden Perspective des Rheingaus – dies bescheidene stille Landstädtchen, zwischen seinen einfachen Getreidehügeln, ohne den krystallenen Reiz von Strom oder Fluß, mit keiner andern Perspective, als derjenigen, welche die schläfrige Pappelchaussee nach Bartenstein gewährt!
Bekanntlich sind es die besten Frauen, von denen man am wenigsten spricht – und so sind wohl auch die Städte am glücklichsten, die auf keinen Weltruhm Anspruch machen. Unberühmter als Rastenburg kann beim besten Willen kein Städtchen sein. Nicht einmal eine heilige Linde und einen großen Jahrmarkt hat es aufzuweisen, wie das benachbarte kleinere Rössel, das im südlichen katholischen Ermeland gelegen ist; keine weltgeschichtliche Schlacht ist hier geschlagen worden, wie bei den kleinen ostpreußischen Städten Preußisch-Eylau und Friedland, auf deren Feldern der Geist des Schlachtenkaisers seine nächtige Heerschau hält und wo man im Schneesturm noch die Gespenster der Russen und Franzosen in den flockigen Wirbeln kreisen sieht; nicht einmal ein ganz kleines Vorposten- oder Arrièregardengefecht knüpft sich an den Namen Rastenburg! Eine Stadt, die keine Bluttaufe erhalten hat, ist für die Unsterblichkeit verloren. Vielleicht würden die alten Ordensritter, die hier eine Burg zur Unterwerfung der Preußen und zum Schutz gegen die feindlichen Polen begründet hatten, bessere Auskunft geben und von diesem Fleckchen Erde die Schmach abwenden können, daß hier gar kein rühmliches Blut in der männermordenden Feldschlacht vergossen worden ist. Doch die alten Ordensritter schlafen mit ihren Chroniken – und wer blättert nach Scharmützeln und Gefechten in einer Zeit, in welcher man über Schlachten mit einigen Tausend Todten gleichgültig hinweggeht?!
Auch keine Fabrikschornsteine ragen über das hügelansteigende Städtchen hervor; Ostpreußen ist keine industrielle Provinz; es hat keine Fabrikbevölkerung und wird niemals einen Bebel oder Mende in den Reichstag wählen. Nichts als Felder um Rastenburg – man baut Weizen, wo es geht, Roggen, Gerste, Hafer, Kartoffeln, durchaus aber keine merkwürdigen Futterkräuter oder sonstige Producte landwirthschaftlicher Versuchsstationen; alles Ueberraschende wird grundsätzlich vermieden. Wohl aber sieht es auf den Wochenmärkten schon ganz „masurisch“ aus. „Masuren“ ist für Ostpreußen, was die sogenannte „Wasserpolakei“ für Schlesien ist – ein Land mit etwas verdünntem Polenthum, dessen Eigenschaften aber gerade, wie bei den homöopathischen Arzneien, durch die Verdünnung um so wirksamer hervortreten. Man braucht von Rastenburg nicht weit südwärts zu pilgern, um in dies steinige Arabien zu gelangen, wo es nichts giebt als Wasser, Steine und Wälder – alles so unmalerisch wie möglich gruppirt. Der polnische Faust Twardowski, der bekanntlich zwischen Himmel und Erde in der Luft schwebt, weil er gerade auf dem Wege in die Hölle durch ein geistliches Lied die Macht des Teufels brach, würde aus Langerweile und Verzweiflung das Gleichgewicht verlieren und in einen der riesigen Wassertümpel Masurens herabfallen, wenn er verurtheilt wäre, fortwährend auf diese reizlose Naturwildniß herabzublicken.
Rastenburg hat übrigens ein Landrathsamt und ein Gymnasium, und gerade dies letztere versammelt die hoffnungsvolle Jugend der benachbarten masurischen Kreise und macht die Stadt zu einem Mittelpunkte der Intelligenz, dessen Licht ausstrahlt bis an die waldigen Ufer des Spirdingsees und bis zur jungen Festung Lötzen, die neuerdings als Strafstation für die „Vaterlandslosen“ sich einen Namen gemacht hat. Und auch für mich verknüpft sich die Erinnerung an Rastenburg mit derjenigen an Horaz, Cicero und Sophokles und an alle Studien der Prima, an Differenzial- und Integralrechnung, und an die Kant’schen Kategorieen, in deren Geheimnisse uns der brave Director Heinicke einweihte. Doch auch über die Gymnasialbildung hinaus erstreckte sich die „Cultur, die alle Welt beleckt“! Mit Eifer lasen wir die neuesten Gedichte von Karl Beck, der gerade damals sporenklirrend in die Arena unserer Lyrik getreten war, und sprachen mit den jungen Damen über Nicolaus Lenau, an träumerischen Abenden, wenn der Mond über dem einzigen Kirchthurme des Städtchens, um mit Alfred de Musset zu sprechen, wie ein Tüppelchen über dem i stand.
In Rastenburg fand ich auch meinen ersten Brockhaus und Cotta. Schon auf dem Mainzer Gymnasium hatte ich mich dem Cultus der Musen ergeben und den „Kainstempel der Dichtung“ auf meine sehr jugendliche Stirn gedrückt. In jeder Classe hatte ich meine fünfactigen Römer, einen Gajus Gracchus und Catilina vom Stapel laufen lassen, zwei große Phantasietrauerspiele: „Cerigo“ und „Die Doppelgänger“ im Grabbe’schen Styl gedichtet, ungeheuerliche Ausgeburten der Phantasie mit wilder Nordlandsscenerie und blasphemistischen Helden, Vater- und Brudermörder wider Willen, Stücke, in denen die guten Freunde ein kolossales Genie, die besseren aber die Unreife und Ueberreife einer durch unbegrenzte Lectüre erhitzten, überschwenglichen Knabenphantasie erkannten. Auch ein endloses Epos, Ferdinand Cortez, in vierundzwanzig Gesängen hatte ich gedichtet, gegen welche Wieland’s „Oberon“ ein wahres Kinderspiel war und in welchem ich nicht nur die mexicanischen Götter, wie Vitzliputzli, sondern auch die unscandirbarsten Berge, wie den Popocatepetl und Itzichatuotl in den Oberonstanzen glücklich unterbrachte.
Doch abgesehen von einigen Scenen aus „Cerigo“ und kleineren Aufsätzen, die in den Mainzer Unterhaltungsblättern zum Abdruck gekommen waren, hatte ich bisher jede Berührung mit der Druckerschwärze glücklich vermieden. Als indeß in der Einsamkeit der Kreisstadt Rastenburg die Schatten der alten Preußenhelden in meiner Phantasie lebendig wurden, als ich den frommen Dienst [32] des Perkunos in den heiligen Eichen Romove’s belauschte, als sie vor meiner Seele aufstiegen, die Ordensritter mit dem schwarzen Kreuz auf weißem Mantel, die Hochmeister und Gebieter der Marienburg – da konnte ich nicht anders, ich mußte diese Schatten das Blut der Dichtung trinken lassen, daß sie lebendig wurden, wie die Schatten des Homerischen Orkus; ich mußte ein Trauerspiel dichten: „Herkus Monte, der Preußen Heerfürst“, und was schlimmer ist, ich mußte es drucken lassen; denn ich hatte eine unbezwingliche Sehnsucht darnacht, berühmt zu werden. Ah! erst viel später sollte ich einsehen, daß sich der Ruhm nicht im Flug
erreichen läßt, daß er oft der Arbeit eines ganzes Lebens spottet, daß es wohl Glückskinder giebt, deren Ruhm über Nacht aufschießt, wie ein Pilz nach dem Regen, daß aber solcher Ruhm auch plötzlich wie ein Bovist wieder zerplatzt und zerstiebt. Noch weniger aber wußte ich damals in meiner Unschuld, daß der Ruhm sich künstlich erzeugen läßt und daß viele seiner Kränze, wie Schiller singt, auf der gemeinen Stirn entweiht werden.
Der Director des Gymnasiums begnügte sich, mir die Schattenseiten einer so frühen Autorschaft wahrheitsgemäß auseinanderzusetzen; er suchte mir Furcht einzujagen vor der „zerfleischenden“ Kritik. Doch vergebens! Es wurden Subscribenten gesammelt in der Nähe und Ferne, das preußische Officiercorps in Mainz stellte ein bedeutendes Contingent. Herr Haberland, Inhaber einer Druckerei und Leihbibliothek und Verleger des Rastenburger Kreisblattes, half mich von meinem ersten literarischen Kindlein entbinden. Da lag es denn vor mir, auf echtem Kreisblattpapier, in einem unsäglichen Format, das jeder buchhändlerischen Bezeichnung spottete! Welchen classischen Eindruck machte doch das gedruckte Wort! Immer wieder las ich die Reden des Preußenfürsten durch, in denen das bernsteinreiche Meer, die Küsten Samlands und die Haine Romove’s eine große Rolle spielten, oder die Liebesanträge des deutschen Ritters, die er an Monte’s Schwester auf der Braunsberger Thurmzinne richtet und die nur den Fehler hatten, an „Ivanhoe“ und den „Templer und die Jüdin“ allzunachweisbar zu erinnern.
Wenn ich in dem kleinen Zimmer des Buchhändlers saß, neben den aufgehäuften Exemplaren, die eine in’s Gewicht fallende Masse bildeten, kam ich mir wie ein Gnom vor, welcher seine Schätze zu hüten hatte, und wenn die frische, freundliche Gattin des würdigen Kreisblattverlegers sich durch diese Barricaden von Trauerspielen siegreich hindurchschlug, mochten auch immer einige „Herkus Monte“ bei der Berührung mit ihrer Kleiderschleppe das Gleichgewicht verlieren,
[33][34] wenn sie mich mit ihrer gewohnten Liebenswürdigkeit anlächelte – so glaubte ich, mich grüße irgend eine Muse des heitern Hellas mit vielverheißendem sonnigem Lächeln, und der Strickstrumpf in ihrer Hand verwandelte sich plötzlich in einen Lorbeerkranz!
Bald kam aber nach dem ersten Naschen von den Süßigkeiten des Ruhmes der bittere Nachgeschmack, als der Königsberger „Freimüthige“, ein Blatt, das ein ehemaliger Danziger Oberlehrer, Namens Pflug, redigirte, und welches alle liberalen Bestrebungen mit souverainem Hohne verfolgte, eine Kritik des „Herkus Monte“ brachte, deren bescheidenes Lob in der Wendung gipfelte, daß der Verfasser nicht ganz ohne Talent sei. Sonst wurde Einzelnes im Stücke mit überlegener Satire verspottet.
„Der Freimüthige“ brachte in unsere idyllische Einsamkeit dann auch die ersten Nachrichten von dem Umschwung der Dinge, der sich draußen in der Welt vollzogen hatte. Es war im Jahre 1840; die Thronbesteigung des Königs Friedrich Wilhelm des Vierten hatte eine neue Aera der preußischen Politik eingeleitet. In Ostpreußen, wo Herr von Schoen, die rechte Hand Stein’s und ein Vorkämpfer der längst verheißenen preußischen Verfassung, Oberpräsident war, hatten bei der Huldigung die Stände die Gewährung einer reichsständischen Verfassung verlangt. Es gährte in Folge dessen gerade in Ostpreußen lebhaft in den Gemüthern, und die preußische Zukunftspartei hatte hier ihr Hauptlager. Die geistreiche Persönlichkeit des jungen Monarchen machte außerdem viel von sich reden; seit Friedrich dem Großen hatte Preußen keinen witzigen König besessen; jetzt prasselten Witzraketen um den Thron, und ein Füllhorn von Anekdoten schüttete die Fama aus. Ein solcher Monarch mußte rasch begeisterte Anhänger finden.
Einen derselben lernten wir im Jahre 1841 kennen; es war der Schulrath Lucas, der bei unserem Abiturientenexamen den Vorsitz führte. Er hatte kurz vorher in Marienburg, in dem romantischen Ordensritterschloß an den Ufern der Nogat, dessen Restitution der kunstsinnige König mit Eifer betrieb, ein begeistertes Hoch auf den Monarchen ausgebracht. Wir sahen jetzt diesen Neuromantiker vor uns, ein Bändchen aus den Befreiungskriegen im Knopfloch, frisch und fromm zugleich, beweglich, vielseitig, aller Pedanterie fremd. Mit großer Liebenswürdigkeit half er uns über die Klippen des Examens hinweg und lud Diejenigen, die am besten bestanden hatten, darunter auch mich, nach Königsberg in sein Haus ein.
Wie glänzend lag die Welt jetzt vor uns! Die Fesseln der Schule waren abgestreift; das freie Studentenleben winkte uns! Mit welchem Neid hatten wir auf einen oder den andern der tapfern „Masuren“ gesehen, welche, mit dem breiten Bande und dem stattlichen Vollbarte geschmückt, von den Ufern des Pregels zum Ferienbesuche an ihre heimathlichen Seen zurückkehrten; wie hatten wir ihre Heldenthaten bewundert, von denen sie beim schäumenden Biere erzählten! Jetzt standen wir ihnen in Allem gleich, und wem bei der frohen Aussicht, in die Hauptstadt der Provinz zu gelangen, an den Heerd des politischen und geistigen Lebens, der Himmel nicht voll Geigen hing, der hatte kein Talent für die Musik der höheren Sphären.
Bald war ich denn in Königsberg, der Stadt am Pregelstrande, diesem etwas unordentlich durcheinandergeworfen Häuserhaufen, der seine Eigenthümlichkeit bis heute trotz aller Fortschritte der Jahrzehnte bewahrt hat. Ich konnte mit Muße die neuen Eindrücke in mich aufnehmen. Königsberg gehört nicht zu den blendenden Schönheiten; aber es ist eine interessante Häßlichkeit mit einzelnen Zügen von Bedeutung. Die Börsenbrücke mit dem Blick auf die zahlreichen Schiffsmasten und die hohläugigen Speicherviertel der Lastadie hat bei abendlicher Beleuchtung malerischen Reiz und zugleich großstädtisches Leben. Hanseatisch respectvoll gemahnt auch die Kneiphöf’sche Langgasse mit den patriarchalischen Vorbauten vor den Häusern, wo man bisweilen ein Stück Familienleben auf der lärmenden Straße belauschen konnte. Der Dom und die alte Universität, etwas schlottrigen Angedenkens, wie der abgetragene Frack eines alten Magisters, hatten eine geistliche und gelehrte Würde. Wenn man aber über den zweiten brückenreichen Pregelarm sich in die engen Gassen der Altstadt begab, da geriet man in die eigentliche Hügelstadt, auf welche das Schloß des Böhmenkönigs Ottokar hochgethürmt herabsieht. Da geht es steil bergan, als befände man sich in Orvieto oder einer andern italienischen Burgstadt, obgleich die Appenninen des Pregels nur aus schüchternen Hügeln bestehen. Das Schloß selbst bildet ein stolzes Viereck und zeichnet sich durch die Vielseitigkeit seines einen Flügels aus, wo über einem bureaukratischen Weinkeller, dem „Blutgericht“, dessen Name an die Schrecknisse der Vorzeit mahnt, sich die Schloßkirche befindet, in der ein sehr frommer Generalsuperintendent, Sartorius mit Namen, damals zum Herzen der Gläubigen sprach, über dieser aber wiederum der Moskowitersaal, der große Tanzsaal der ostpreußischen Hauptstadt, wo am Abend ihre stattlichen und wenig nervösen Schönheiten Kraftstudien in Walzer und Masurka ausführten.
Der dritte alte Stadttheil aber, der Löbenicht, gemahnte mit seinen hochgiebeligen Häusern wie das Innere einer flandrischen Stadt – Bierbrauereien und Bierschenken dicht nebeneinander. Das war der Kern der Stadt! Von hier aus erstreckten sich nach allen Seiten strahlenförmige Straßen, die Vorstadt mit der jüdischen Geldaristokratie nach dem öden, dorfähnlichen Haberberg, dessen hoher Kirchthurm weit sichtbar in die Lande schaut, der Roßgarten, die Königsstraße, der Steindamm, der nach den „Hufen“, der Königsberger Villenstadt, hinausführt, die drei Tragheime – Alles sehr naturwüchsige Straßen, wo die Häuser klein und groß durcheinanderstehen, wie es dem Zufall gefällt, ohne jede militärische Uniformirung, ohne das Lineal, wie es der Seinepräfect an die neuen Boulevards der französischen Hauptstadt anlegte. Das landschaftliche Juwel von Königsberg aber ist der Schloßteich, eine reizende Gartenidylle, ein krystallener Wasserspiegel, schattige Baumgruppen, artige Häuserfronten mit der Magie abendlicher Beleuchtung, wenn die Lampen des Börsen- und Logengartens mit dem Mondschein wetteifern, die grünen Laubengänge in ein feenhaftes Licht zu tauchen.
Das war der erste Eindruck von Königsberg! Damals war die Stadt noch keine Festung mit mächtigen Wällen und gothischen Thoren, welche jetzt dies Conglomerat von Häusern, Feldern, Flußarmen und Teichen umschließen; es war eine harmlose Stadt, in welche der Moskowiter gelegentlich mit klingendem Spiel ungestört einziehen konnte. Erst viele Jahre später wurde gebaut und geschanzt, und oft begleitete ich den Ingenieurofficier Rüstow zu den Festungsarbeiten. Es ist derselbe, der später aus der Festung Posen entfloh, mit Garibaldi vor Capua focht, als Schweizer Obrist und als scharfkritischer Militärschriftsteller sich einen Namen machte. Die Bastionen von Königsberg gehören mit zu seinen Verdiensten. Jetzt ist die Stadt ein strategisch wichtiger Punkt und hat Aussicht, so berühmt zu werden wie Straßburg, Metz und Paris und die gleichen Annehmlichkeiten eines opferlustigen Heroismus zu genießen.
Kaum war ich immatriculirt, als bereits der Strudel der oppositionellen Bewegung mich in seine Kreise zog; ich muß bekennen, daß ich aus dem ersten Collegium, das ich besuchte, gleich wieder hinausgelaufen bin; doch dient zu meiner Rechtfertigung, daß ich es mit hundert Anderen in Gemeinschaft that. Das Cultusministerium Eichhorn, welches die orthodoxe Richtung begünstigte, hatte einen Theologen Hävernick an die Königsberger Universität berufen, der als extremer Parteimann den Studenten mißliebig war. Die ganze Studentenschaft strömte in sein Antrittscollegium; wie ein Triumphator stand der Professor auf dem Katheder, sich seiner glänzenden Popularität erfreuend. Doch kaum hatte er von seinem theologischen Werg die ersten Sätze gesponnen – da entleerte sich der Saal mit lawinenartiger Geschwindigkeit; die Studirenden aller Facultäten polterten die Treppe hinunter, und nicht zwei mildherzige Seelen blieben zurück, um ein Collegium bilden zu helfen; nur die leeren Bänke starrten gespenstisch auf den verdutzten Professor, der eben erst sein blühend Glück überschaut hatte. Doch das Unglück schreitet schnell! Es war dies eine „Demonstration“. Man lebte damals in der Zeit der „Demonstrationen“; sie hatten den großen Vorzug, daß sie nicht blos Heldenthaten der guten Gesinnung, sondern auch amüsant waren!
[35]
Auf der Etappe vor Paris.
„… Nach einer Schlacht werden dann Massen von Verwundeten, Kranken, Maroden und auch Marodeurs in die Etappen-Hauptorte zurückströmen. Diesen schließen sich in glücklichem Falle Gefangenentransporte an. Dazu kommen reparaturbedürftige Geschütze und Wagen, kranke Pferde, Beute-Gegenstände etc. und endlich Anforderungen an Uebersendung von Proviant für die auf kleinem und verwüstetem Fleck concentrirte Armee, von Lazareth-Materialien aller Art, von Vorspann zum Rücktransport der Verwundeten etc. …“
So lautet wörtlich § 3 der „Organisation des Etappenwesens im Kriege für die deutschen Heere, Berlin 1867“, und ein schlagenderes Bild einer Etappe läßt sich mit weniger Worten kaum geben. Aber es ist glücklicherweise nicht alle Tage Schlacht, und die paar Pinselstriche, die demnach zur Ausführung des Gemäldes noch fehlen, will ich in der Kürze hinzufügen.
Es ist Nachts elf Uhr. Im verschwenderischen Kamin des Etappenbureaus prasselt ein enormes Feuer, Wärme und Beleuchtung gleichzeitig spendend. Das Etappenpersonal hat sich, von der Tagesarbeit erschöpft, zur Ruhe begeben; nur der Adjutant in jugendlicher Uniform und ältlichem Gesichte sitzt noch rauchend und sinnend am Feuer. Er gehört zu den Vielen, die der Krieg aus fernen Zonen nach der Heimath zurücktrieb; ich kenne seine Geschichte ganz genau und wenn das Glück gut ist, bin ich der Adjutant, von dem ich spreche, am Ende selber. Die fünf Grad Kälte draußen und der bleiche Winterhimmel mit den matt leuchtenden Sternen des Nordens contrastiren seltsam mit den fünfundzwanzig Grad Hitze und der funkelnden Sternenpracht der Tropenwelt, die er nur eben verließ. Ein Glas heißen Grogs scheint nothwendig, so schroffen Uebergang in etwas zu vermitteln; dasselbe dampft auch bereits auf dem Kaminsimse und die heißen Dämpfe gruppiren sich zu Nebelbildern längst vergangener Scenen. Dem Feuer nahe kauert ein weißer Pudel, seines Herrn harrend, der nur vor wenigen Tagen die Etappe hier passirte, um zu seinem Regimente zu stoßen. Das arme Thier mochte den schmucken Garde-Ulanenofficier mit dem hübschen, blutjungen Gesicht wohl beim Gedränge und Durcheinander der Abfahrt des Zuges verloren haben. Manchmal richtet es den feinen Kopf empor und die klugen Augen schielen wie fragend nach mir herüber. Armer Pudel!
Nebenan, nur durch eine Glasthür getrennt, ist das Telegraphenbureau; eben jetzt klappert es dort mit einer Heftigkeit, die nichts Gutes für die Nachtruhe weissagt. Richtig! Der Telegraphist kommt schon mit der copirten Depesche.
„Einige dreißig Wagen mit Belagerungsgeschütz werden in einigen Stunden hier eintreffen und die Mannschaft hofft auf Kaffee.“
„Kaffee? – also Sachsen!“ dachte ich und bestelle den Kaffee mit heimathlichem Eifer. Ich kostete ihn auch und fand ihn probemäßig: reines Blümchen!
Neues Klappern drüben, neue Depesche: „Belagerungspark soll ohne Aufenthalt durch und vor nach seinem Bestimmungsorte fahren, daselbst sofort ausladen und Locomotive nebst leeren Wagen zurücksenden.“
„Na nu, armes Blümchen! Ich kann dich doch unmöglich allein austrinken, denn du warst ja für dreihundertfünfzig Mann bestimmt, und die Geschirre brauchen wir morgen früh für die Kranken; es kann mithin nichts helfen und wir müssen dich schon den Göttern opfern.“
Draußen hört man deutlich den Kanonendonner der Forts Rogent und Rosny herübergrollen; dazu heult der weiße Pudel in kläglichen Tönen. Was heult der Pudel so? Hunde sollen Gespenster sehen, wie man sagt; hat er vielleicht den Geist seines schmucken jungen Herrn gesehen mit der klaffenden Todeswunde in der Brust?
Ich glaube, der Adjutant wird schläfrig. Ein Wunder wäre es eben nicht, denn des Tages Last war nicht gerade klein. Die Kaminhitze, welche die müßigen Nummern der Post vor dem Gewehre zu schüren nie verfehlen, wirkt auch mehr einschläfernd als ermunternd, und durch die Nebelbilder am Kamin ziehen Palmenhaine und Mangowälder in immer wachsenden Dimensionen. Vor dem lauten Hufschlag und Säbelgerassel draußen zerfließen sie indeß wieder in die kalte Wirklichkeit einer nördlichen Winterlandschaft. Eine Ulanenpatrouille mit hungrigen und müden Pferden verlangt Unterkommen und Futter für die Nacht! Unterkommen! Auch eine kühne Idee! Die Leute hier nennen unser Etablissement das Hotel zur „dürren Henne“, denn außer einem Wartesaal, der als Verbandsstation dient und in dem diese Nacht bereits sechszig Kranke wie die Häringe auf- und nebeneinander liegen, haben wir nur einen alten Kohlenthurm zur Verfügung, der das Wasserreservoir für die Locomotive trägt und worin unser Marketender mit zwei Frauenzimmern wie in einer Tropfsteinhöhle sitzen. Die Ulanen werden wohl auch bivouakiren müssen, wie so viele Tausend Andere, falls sie nicht noch bis in die nächste Ortschaft reiten wollen.
Neues Klappern drüben auf der Telegraphenstation: „Anfrage, bis wann zweiundvierzig Achsen verfügbar seien, um in Rheims Munition abzuholen? Drahtantwort sofort erwartet.“
„Nun also,“ sagt der aus dem Schlummer geweckte Etappencommandant, „nur erst die Sache klar geschnitten! Zweiundvierzig Achsen? Gut! Munition fassen? Schön! In Rheims? Natürlich! Bis wann Waggons verfügbar? Frage! Nur Klarheit in die Sache! Werden müssen den Bahnhofsinspector kommen lassen.“
Und der Bahnhofsinspector kommt; aber die ersehnte Klarheit kommt doch noch nicht mit ihm, und der schwitzende Telegraphist, der eben anklopft, bringt sie auch nicht, denn er meldet nur, daß die Communication stockt und er keine Antwort mehr auf seine Anfrage erhalte.
„Also muß der Gensd’arm satteln,“ resolvirt die Commandantur, „muß die Bahn mit einer Patrouille abreiten, um zu sehen, worin die Störung liegt, denn wir müssen die Sache vor allen Dingen klar schneiden.“
Es ist zwei Uhr Nachts geworden mittlerweile; der arme Gensd’arm wird auch Mühe haben, die Sache „klar zu schneiden“ bei der dunklen Winternacht.
Ruhe scheint doch endlich eingezogen auf der Etappe; nur der einförmige Schritt der Schildwache draußen und das Schnarchen der Kranken in der Verbandsstation unterbricht die nächtliche Stille; aber man kann der Ruhe nie recht trauen und der Schlaf ist nur ein leichter und fieberhafter auf der Etappe. Für nervöse Naturen ist hier kein Aufenthalt. – Endlich graut der Morgen, und der Frühzug, der heimwärts geht, macht sich zur Abfahrt fertig. Commandirte, Beurlaubte, Reconvalescenten aller Grade und Waffen und von den verschiedensten Parteien kommen dutzendweise theils zu Fuß, theils zu Wagen und melden sich um Requisitionsscheine zur freien Fahrt nach den verschiedenen Zwischenstationen. Marketender und Marketenderinnen, Lieferanten, Fuhrspannleute, häufig genug auch bloße Speculanten, suchen unter den mannigfachsten, oftmals wahrhaft sinnreichen Vorwänden um ähnliche Vergünstigung nach. Die Frauen sind in der Regel hierbei meist die ungestümsten, und um so dringender, je weniger Berechtigung sie aufzuweisen haben; selbst ein Heiliger möchte mitunter die Geduld hierbei verlieren. Endlich ist der Postzug weg, Gott sei Dank! bis zwei Uhr Nachmittags, da die nächste Post geht, hat es wenigstens damit Ruhe. Aber jetzt kommt auch schon der Zug, der von hinten her anlangt mit Ersatzmannschaften, aus heimatlichen Lazarethen Entlassener, von Urlaub Eintreffender etc., die alle nach den Cantonnementsquartieren ihrer nach vorn zu stehenden Truppentheile fragen und mit Abfertigungsscheinen dahin versehen sein wollen. Dazu kommen Stöße von Briefen und Paketen mit oftmals dunklen und orakelartigen Adressen, die „klarzuschneiden“ häufig seine Schwierigkeiten hat und dem Etappen-Commandeur manche Nuß zu knacken geben.
Auch dieses wird indeß gesichtet, und unter Abfertigung von zahlreichen verschiedenen persönlichen Anliegen von Freund und Feind, Empfangen von gelegentlichen Besuchen aus umliegenden Ortschaften, Erledigung zahlloser Anfragen und Gesuche, Ausschreiben von Verpflegungsliquidationen für hier stationirte Militärs, Beamte und Bahnarbeiter verfliegt die Zeit bis zum Abgange des Krankentransportes. Die Krankenverzeichnisse sind auch endlich fertig, die Kranken in die Waggons eingeladen und mit Stroh, Decken und Laternen versehen. Weg braust der Zug, das rothe Kreuz grell von der kalten Wintersonne beschienen. – Nun wird wohl Ruhe sein bis zwei Uhr Nachmittags, der Abfahrtszeit des Postzugs. Nein! Die Kanonen der Forts Rogent und Rosny hatten vorgestern und gestern nicht umsonst gedonnert, der weiße Pudel nicht vergebens geheult. Man hatte geschlagen! Eine zweitägige blutige Schlacht und die Worte des § 3 der Organisation des Etappenwesens im Kriege, Berlin 1867, werden jetzt zur Wirklichkeit und in erschütternder Weise entrollt sich nunmehr das ernste Bild einer bewegten Etappe.
In langen Wagenzügen kommen die Verwundeten an, um auf die schon bereit gehaltenen Krankenwaggons der Eisenbahn umgeladen zu werden. Die freiwilligen Krankenpfleger und Sanitätssoldaten haben alle Hände voll zu thun. In allen nur denkbaren Positionen, je nach Art der Verwundung, sind die Schwergetroffenen placirt. Manche liegen auf dem Bauche, andere auf der Seite, auf dem Rücken, noch andere sind wie die Schmetterlinge ausgespannt. Im Bureau sind wir eben dabei, die eingereichten Verzeichnisse der Verwundeten zusammenzustellen, als ein Garde-Ulan sich meldet: „commandirt, die Leiche seines Herrn nach der Heimath und in’s väterliche Hans zu geleiten.“ Der weiße Pudel springt laut bellend und freudig mit dem Schweife wedelnd an ihm in die Höhe. Armer Pudel! Dein schmucker junger Herr mit dem frischen blühenden Gesichte ward vorgestern mitten durchs Herz geschossen, und liegt in der schwarzen Kiste dort, für deren unentgeltlichen Transport in die Heimath ich soeben den Requisitionsschein ausschreibe!
Der Sohn eines Landmanns. (Mit Abbildung.) Dem Führer
des zweiten bairischen Armeecorps ist das seltsame Geschick beschieden,
im rüstigen Greisenalter und auf der Höhe einer ehrenreichen Laufbahn, in dem nämlichen Lande sich den Ruhm eines tüchtigen Heerführers erwerben zu dürfen, in welchem er einst als junger Lieutenant
nach den ersten militärischen Lorbeern mit Erfolg gerungen – diesmal
allerdings im Dienste derjenigen Waffen, die er damals bekämpft hatte, im
Dienste der deutschen. Der gegenwärtige Commandant des zweiten bairischen
Armeeeorps, Jakob von Hartmann, 1795 in der Nähe von Edenkoben
geboren, trat nämlich kaum zehn Jahre alt schon als Soldat in die Reihen
der französischen Armee, der er fahnenpflichtig war, nachdem die jetzt
bairische Rheinpfalz damals zu Frankreich gehörte. Als der Sohn eines
einfachen Ackermanns eröffnete er sich damit eine Carrière, welche ihm alle
jene Auszeichnungen einbringen sollte, zu denen ihn sein persönlicher Muth,
sein umfassendes Wissen, seine bewährte Tüchtigkeit und sein ritterlicher
Sinn berechtigten. Es ist bekannt, wie sich unter seiner Führung gleich
bei Beginn des Krieges das zweite bairische Armeecorps auf den Höhen
von Weißenburg so brav und tüchtig schlug, daß der Kronprinz den General
von Hartmann nach der Schlacht vor der Front umarmte und ihn sofort
zum Ritter des Eisernen Kreuzes vorschlug. Der König von Baiern selbst
belohnte ihn erst in den jüngsten Tagen aus Anlaß der Führung seines
Corps im Gefechte von Plessis-Piquet und Moulin de la Tour vor Paris
mit der Ernennung zum Großkreuz des Militär-Max-Joseph-Ordens –
werthvoller aber als alle diese äußeren Zeichen einer bevorzugten Stellung
mag dem General das Bewußtsein sein, durch eigene Kraft sich den Weg
gebahnt zu haben, welche ihn aus der niedrigen Hütte des Ackermanns bis
an die Spitze einer deutschen Armee führte.
[36] Eine Taufe im Urwalde. Nach Jahr und Tag einer glücklichen Ehe ward in Washington unser erstes Kind geboren. Die üblichen Debatten über den Namen des kleinen Weltbürgers waren überflüssig, denn in der sicheren Voraussetzung, daß es ein Knabe sein würde, hatte er schon lange vor der Geburt den Namen Titus erhalten, zur Erinnerung an den Verfasser eines „hohen Liedes“. Unsere Freunde gratulirten und erwarteten bald die Einladung zu einer grandiosen Taufe, besonders da wir keine Gelegenheit vorübergehen ließen, ein Familienfest nach guter deutscher Sitte mit einer Bowle zu feiern. In diesem Falle aber wurden sie doch getäuscht. Eine Taufe, wie sie in Deutschland üblich ist, wäre mit unseren Ansichten nicht vereinbar gewesen; trotzdem aber durfte doch ein so wichtiges Ereignis wie die Geburt unseres Titus unmöglich mit Stillschweigen übergangen werden. Wie konnte er gedeihen, wenn nicht auf sein Wohl ein Glas geleert wurde? Wie sollte er sich geistig entwickeln, wenn er nicht durch eine gedankenschwere Rede mit dem Zwecke des Daseins bekannt gemacht ward? Ein Taufact sollte also doch stattfinden. Der Täufling war auch vorhanden; aber der rechte Johannes Baptista fehlte, und wir mußten deshalb in Geduld warten, bis der Zufall uns einmal einen solchen entgegenführen würde. So wuchs der kleine Republikaner nun ungetauft heran, war groß und dick und unternahm in meiner Obhut seine erste Reise, über Newyork nach Pennsylvanien, wo wir während der große Hitze übersommern wollten. Das Ziel war Bowers Station, ein kleiner Flecken an der Bahn zwischen Allentown und Reading. Wir hatten diesen Platz gewählt, weil ein Freund meines Mannes, Herr R.)[1], der als Gesandter der Vereinigten Staaten eben von Central-Amerika zurückgekehrt war, gleichfalls dort mit seiner Familie die heiße Jahreszeit zubringen wollte. Der Ort selbst, nur aus etwa einem Dutzend Häusern bestehend, bot uns nichts dar als gesunde Luft, einen klaren Bach zum Baden, prächtigen Wald in nächster Nähe mit der Fernsicht auf die blauen Alleghanies und gewährte somit die große Annehmlichkeit, sich überall natürlich gehen lassen zu können, ohne der Convenienz das geringste Opfer bringen zu müssen. Hinsichtlich des „Vergnügens“ waren wir freilich vollständig auf uns selbst angewiesen. Unsere Gesellschaft bestand aus einigen zwanzig Personen, sämmtlich gebildete Deutsche. Froh, der Hitze in den Städten entronnen zu sein, befanden sich Alle in der besten Stimmung; Ueberschuß an Humor war vorhanden, und so wurde schnell für Unterhaltungen gesorgt, die zuerst in Musik und kleinen Aufführungen bestanden. Doch bald begann die dramatische Kunst zu blühen, und uns gebührt der Ruhm, das deutsche Lustspiel in die pennsylvanische Wildniß verpflanzt zu haben, indem wir der erstaunten Bevölkerung unter großem Jubel kleine Stücke zum Besten gaben.
Ich bemerkte oben, daß es bis dahin an einem Täufer nach unserm Sinne gefehlt hatte. Als ich aber Herrn R. näher kennen gelernt, flößte mir sein trefflicher Charakter, sein liebenswürdiges Wesen verbundenen mit radicaler Gesinnung, eine solche Hochachtung ein, daß ich eines Tages die Bitte an ihn richtete, meinen lieben Kinde die Weihe eines freien Mannes zu geben, und er war mit Freuden dazu bereit. Als Gesandter hatte er in Costa Rica nicht lange zuvor seine eigene Tochter getraut.
Der nächste Sonntag wurde zu dem Tauffeste bestimmt, welches Nachmittags in dem nahen Gehölze stattfinden sollte. Es schien, als hätte der Wald an jenem Tage sein Feierkleid angelegt. Schweigend bereiteten die alten Eichen ihre knorrigen Arme über uns, ein dichtes Laubdach bildend, durch das nur hie und da ein glänzender Sonnenstrahl schlüpfte, um goldene Arabesken in den weichen Rasenteppich zu weben. Um zwei Uhr zogen wir hinaus. Alle waren festlich geschmückt. Clara R., die Pathin, und zwei kleinere Ehrenjungfrauen mit Eichenlaub bekränzt, eröffneten den Zug; dann folgte ich mit dem zehn Monate alten Täufling, der schon ganz verständig in die Welt hineinschaute und sich über den schönen Kranz von Hopfenblüthen, der das blonde Köpfchen krönte, so freute, daß ich schon fürchtete, sein Jubel würde die Feierlichkeit stören. Nach uns kam Herr R. mit sämmtlichen Sommergästen und einigen Auserwählten der eingeborenen Bevölkerung. Im Walde war schon am frühen Morgen ein passender Ort mit Laubguirlanden, Bänken und Stühlen zum Festplatz eingerichtet worden. In der Mitte stand ein Katheder, dessen sich die Methodisten, die dort kurz zuvor ein camp meeting gehalten, als Kanzel bedient hatten. Vor demselben befand sich der Sessel für Täufling und Pathin. Zur Seite des Platzes loderte ein mächtiges Feuer und drei von Rauch umhüllte weibliche Gestalten rührten emsig in einem großen Kessel; gegenüber dieser Gruppe waren Andere beschäftigt im Waldesgrün eine Bowle zu brauen. Nachdem sich die Damen im Halbrund niedergesetzt, schlossen die Uebrigen den Kreis und auf ein gegebenes Zeichen begann der Chor das Lied: „Wer hat Dich, Du schöner Wald etc.“ und mit den deutschen Tönen unter alten Eichen trat die liebe Heimath vor unsere Seelen, wir vergaßen, daß wir einem fernen Welttheile angehörten, wir fühlten uns „Deutsche“ auf „freiem Boden“. Als der Gesang verstummte, bestieg Herr R. die Kanzel und begann an den Täufling die Anrede, deren Sinn ich kurz wiederzugeben versuche:
„Heil Dir, Du deutsches Kind! denn Dir ist es vergönnt, von zwei Welttheilen ein Erbtheil zu empfangen – von Deiner geistigen Heimath die Schätze der Gedankenwelt, von Deiner leiblichen das stolze Bewußtsein der Freiheit! Dir ist damit ein großes Vorrecht geworden – lerne auch die Pflichten begreifen, die Du dagegen einst zu erfüllen hast. Vorurtheilsfrei wirst Du erzogen werden, auf daß Du einst Vorurtheile ausrotten mögest, wo immer sie wuchern; in die Natur wird man Dich führen, damit die Erkenntnis ihrer Gesetze Dich vor Aberglauben bewahre; die Gebilde der Kunst wird man Dir zeigen, auf daß Du die Schönheit begreifest und selbst strebest Schönes zu schaffen. Du sollst lernen die Lüge hassen, um einst für die Wahrheit zu streiten – und Dich selbst streng zu richten, um der Gerechtigkeit willen. Der edle Stolz leuchte auf Deiner Stirn und in Deiner Brust glühe die Menschenliebe! So taufe ich Dich denn im Namen der Freiheit, der Wahrheit, der Gerechtigkeit, und weihe Dich zu einem Zukunftshelden, der für diese heilige Dreieinigkeit kämpfen und siegen möge! Sei mit dem Namen Titus in den Bund der freien Menschheit aufgenommen und suche diesem Bunde Ehre zu machen, damit ein späterer Tacitus auch von Dir einst sagen möge – wie vom römischen Titus –: amor et deliciae generis humani!“
So schloß die Rede, und in den Häuptern der Eichen rauschte gewaltig ein feierliches „Amen“!
Und wieder hub der Chor ein Lied an, das auf mich einen überwältigenden Eindruck machte, weil mein verstorbener Großvater dasselbe einst in froher Stunde gedichtet: „Vom hoh’n Olymp herab ward uns die Freude“ etc. mit dem Refrain: „Feierlich schallet der Jubelgesang fröhlicher Brüder beim Becherklang!“ – Da aber brach ich in Thränen aus und mir war, als schwebte der Geist des Urgroßvaters um das Kind – seinem ersten Urenkel! – So schloß die seltsame Taufe. – Der Kessel spendete nun seinen braunen Inhalt: Chocolade; die Bowle wurde geleert und fröhliche Toaste auf das Kind schlossen sich an, auf die deutschen Brüder, das Gedeihen deutscher Sitten auf amerikanischem Boden.
Ich aber zog mich zurück und wiegte mich mit stolzen Plänen und Hoffnungen für des Kindes Zukunft. Ob sie erfüllt werden? Ja! denn es taucht auch hier über dem Ocean eine Morgenröthe auf, die den Tag verkündet, an welchem Deutschlands Söhne die Früchte der Arbeit, der Wissenschaften, der Künste im Sonnenlichte der Freiheit ernten werden! –
Ein stilles Hauptquartier kann, in gewissen Beziehungen wenigstens, das des Kronprinzen Albert von Sachsen in Margency genannt werden. Zwar fehlen auch hier die Ordonnanzen nicht, welche Tag und Nacht mit Meldungen kommen, mit Ordres gehen; ringsherum macht sich das geräuschvolle Treiben geltend, dem das Hauptquartier einer jeden Armee zum Mittelpunkte dienen muß, und zu jeder Stunde mag man hier, wie den Herzschlag eines Organismus, die ruhelose, nie pausirende Thätigkeit zu beobachten, welche einen ganzen großen Körper belebt, beherrscht und jedem einzelnen Gliede seine Functionen anweist. Aber in Margency fehlt der Glanz von Versailles, wo der Oberfeldherr der deutschen Armee wohnt, wo die Minister zu finden sind, wo sich die Militärbevollmächtigten fremder Staaten, wo sich die Gesandten aufhalten, und wohin alle die anderen hochgeborenen „Amateurs“ folgen, deren Anwesenheit und buntes Treiben dem ausgedehnte Gastfreundschaft übenden Hauptquartiere ein immer wechselndes Bild verleihen. Anders ist es, wie gesagt, in Margency, einem auf der Nordseite von Paris gelegenen Städtchen. Hier wohnt der Kronprinz von Sachsen, allein umgeben von den Officieren seines Generalstabes, mit denen er tagüber arbeitet, mit denen er sich in die Erfüllung angestrengter Pflichten theilt, und die auch seine einzige Tischgesellschaft bilden.
Jeden Morgen verläßt er seine nahe bei Margency, in waldiger Umgebung gelegene Villa, um, nur begleitet von einzelnen Officieren und Cavalieren und gefolgt von einer Escorte Garde-Kürassieren, einen ausgedehnten Spazierritt zu machen, mit welchem in der Regel irgend ein militärisches Interesse, wie die Recognition nach den Forts hin oder dergleichen, verbunden ist. Unser Feldmaler F. W. Heine hat einen solchen Moment zur Darstellung des Hauptquartiers der IV. Armee gewählt; im Gefolge des Kronprinzen befinden sich der Johanniterofficier Prinz Reuß, der dem Ersteren zur Linken reitet, der Fürst von Schönburg, der Generalmaior v. Schlottheim und die beiden Majore v. Schweinsel und Freiherr v. Welck. Die längs des Weges vor dem vorüberreitenden Kronprinzen Front machenden Officiere sind die Hauptleute v. Wurmb und Edler v. d. Planitz, der Major Schurig und der Secondelieutenant Graf Arnim. Den Dienst in der unmittelbaren Umgebung des Kronprinzen versah an jenem Tage, an dem die Skizze aufgenommen wurde, das Füsilierbataillon vom Regiment Nr. 93 (Anhaltiner).
„Der Arzt der Seele“. Wir haben diesen vortrefflichen Roman unsrer geehrten Mitarbeiterin, Frau Wilhelmine von Hillern, jetzt gerade vor einem Jahre in ausführlicher und auszeichnender Weise besprochen und stellen uns, an dieser Stelle mitheilen zu können, daß das genannte Buch unter dem Titel: „Only a girl“ seinen Weg nunmehr auch nach Amerika mit solchem Glücke gefunden hat, daß es dortselbst unlängst in fünfter Auflage erschienen ist. Wir zweifeln nicht, daß unsere damalige Aufforderung viele unserer Leser veranlaßt hat, nach dem geistvollen Buche zu greifen, und daß es sie darum interessiren wird, auch eine Stimme aus der amerikanischen Presse über „den Arzt der Seele“ zu vernehmen; der „Pittsburg Dispatch“ sagt: „Dies ist ein prächtiges Buch, vorzüglich geschrieben und Niemand, der es liest, wird es weglegen, ohne von dem hohen Talent der begabten Verfasserin einen mächtigen Eindruck empfangen zu haben. Als ein Werk voll Phantasie kann es nach Styl und Stoff den besten Werken unserer tüchtigsten Schriftsteller füglich gleichgestellt werden, während es in der Reinheit seines Tones und in der gesunden Moral, die es lehrt, den meisten Werken, die uns in dieser Art seit Jahren zur Kenntniß gekommen sind, ebenbürtig, wenn nicht überlegen ist.“ Uebrigens ist auch von dem jüngst in unserm Blatte zum Abschluß gekommenen Roman „Aus eigener Kraft“ bereits eine englische und holländische Uebersetzung in Vorbereitung, während eine der ersten amerikanischen Behandlungen eine Gesammtausgabe der Werke der Frau von Hillern in englischer Sprache in Aussicht genommen hat.
Berichtigung. Der Schreiber des Briefes aus Villiers in Nr. 1 unseres Blattes, Rudolf Krauße, ist nicht Unterofficier, wie wir aus Versehen angaben, sondern Einjährig-Freiwilliger.
X. in Dresden. Bereits früher haben wir in der Gartenlaube erklärt, daß die Quittung über eingegangene Schmucksachen später erfolgen werde – wir müssen also auch Sie um Geduld ersuchen. Die Tuchnadel ist eingegangen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ gemeint ist: Louis XIV et son siècle.