Die Gartenlaube (1872)/Heft 16
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No. 16. | 1872. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Hundert Meilen zurück aus dem Weltmeer warf uns die Windsbraut,
Und zehn Tage schon waren wir nicht aus den Kleidern gekommen;
Denn wir trieben für dumm in den Nebeln der englischen Küste,
Jeglichen Augenblick auf den Strand zu laufen gewärtig.
Spät stieg eben der Mond aus den Wogen, von Wolken umzogen,
Und wir sahen ein strandendes Schiff, daneben die Küste.
Portland war’s, in die Wellen gestreckt, als wär’ es ein Eiland,
Hoch und kahl, baumlos, nur ein weiter, gewaltiger Steinbruch.
„Siehst Du?“ sagte mir Jahn, der Matrose, „da haben wir Portland.
Ist doch wahr, was man spricht, sieht aus, als wenn es ein Sarg wär’.
Wollte man alle die Menschen zusammen begraben, die hier schon
Zuviel Wasser geschluckt, kaum faßte sie alle der Sarg da!“
Also sagte zu mir Jahn Meier, der alte Matrose,
Sonst die vergnüglichste Haut und voll gutmüthiger Einfalt,
Und: „Nichts leichter, als das!“ war stets sein Wort und Gerede;
Doch jetzt war es ihm auch ein wenig bedenklich geworden.
Als ich hörte vom Sarg und den vielen ertrunkenen Menschen,
Hatt’ ich der Sache genug. Ich ging hinunter, der Wogen
Schreckliche Schlacht nicht ferner zu schau’n. Ich legte mich nieder,
Wo mein Lager bereitet mir war, dort unter die Treppe;
Aber der Raum war schmal, und nicht in gewöhnlicher Folge
Gingen die Glieder hinein, ich mußte sie einzeln verpacken:
Hoch auf standen die Knie’, doch der Kopf lag in der Vertiefung.
Da nun kroch ich hinein und versank in Betäubung. Doch bald ward
Schrecklich ich wieder geweckt. Ich hörte die Stimmen der Mannschaft
Durch das Gekrache des Schiffs und das Heulen und Klatschen der Wogen.
„Noth! Noth! Noth!“ so tönte der Ruf. Ich stoße den Kopf mir,
Daß mir die Stirn aufschwillt, und schreie nach oben: „Was giebt es?“
„Nichts, mein Junge!“ so rief mein Gönner, der obere Steu’rmann,
„Als daß schwimmen wir müssen ein wenig; drum ziehe Dich leicht an,
Nichts als Leinwand, Jung’, so knapp am Leibe wie möglich;
Brauchest ’ne Schwimmhos’ nur. Und rasch, mein Junge!“ Ich konnte
Aber nicht rasch. Mir war’s wie im Traum, wo man fertig zu werden
Nicht im Stande sich fühlt und sich ängstigt. Da hör’ ich den Bootsmann
Neben mir fluchen. Er hatte sich auch zum Schlafen begeben,
Ehrliches ruhiges Blut! als draußen der Sturm ihm zu wild ward,
Und nun konnt’ er die Schuh’ nicht finden und fluchte gewaltig:
„Du nichtswürdiger Preuße, wo hast Du die Schuhe gelassen?“
„Bootsmann, seid doch gescheidt. Mir ist wahrhaftig so wohl nicht,
Daß ich zu meinem Vergnügen Euch wegstibitzte das Schuhzeug.“
„Junge, wo hast Du die Schuhe versteckt? Wo sind sie? Wie darfst Du,
Königssclav’, wie Du bist, einem freien Bürger von Bremen
Nehmen das Seinige? Sprich! Ich will Dir die Späße vertreiben!
Wart’, ich bezahle Dich noch!“ So sprach Klaus Babbe, der Bootsmann,
Während er sucht’ nach den Schuh’n. Indeß bin ich fertig geworden
Und will eben hinauf mit der Eile des Todes. Der Bootsmann
Zieht bei’m Bein mich zurück, und ich falle herab wie vom Kirschbaum.
„Jung’, bei solcher Gelegenheit bist Du immer der Letzte.
Erst kommt Ohm und dann sein Sohn!“ So sprach er behaglich,
Und fuhr rasch in die Schuh’, die glücklich sich wiedergefunden.
Ich lag aber derweil am Boden, betäubt von dem Falle,
Rollte herüber, hinüber mit Kasten und Kleidern und Sachen,
Während des heftigen Stampfens des Schiffs. Klaus sagte vergnüglich:
„So, nun brauch’ ich doch nicht barfuß zum Teufel zu laufen!“
Und dann stieg er hinauf. Ich erhob mich, so wie ich allein war,
Und stieg eilig ihm nach, mit der Angst, die fast ich vergessen
Ueber die Affenkomödie da, die Klaus mir gespielet.
Draußen ertöne die feine und weibliche Summe des Steu’rmanns,
Welche den Sturm durchdrang so klar wie Flöten. Er schimpfte
Fürchterlich, gegen die eigene Art. Bei rauhem Geschäfte
War er ein zierlicher Mensch. Nun donnert’ er: „Schurken und Hunde!
Hat drei Masten, ich seh’s; von Amerika ist es dem Bau nach.
Sind an die offene See nur gewöhnt und bequemliches Segeln.
Hier im kleinen Gewässer verlieren sie gleich die Besinnung.
Ja, sie fürchten, die Hunde, sich hier und legen aus Feigheit
Sich in die Kojen hinein und lassen vom Winde sich treiben.
O, man sollte sie all aufhängen am obersten Raae!
Schurken und Hunde!“ So schrie mit männlichem Zorne der Steu’rmann.
Aber der Herr war ganz zum Weibe geworden und heulte,
Seiner verlassenen Braut mit Seufzen und Jammern gedenkend.
„Adelheid, Adelheid, muß mich das Unglück treffen!“ so klagt’ er.
„Was für ein Unglück?“ rief ich bestürzt. Doch mich würdigte Keiner
Auch nur Rede zu stehn. Vorn standen geschaart die Matrosen,
Lugten hinaus. Kein Stern war oben am Himmel zu sehen;
Nur vom verborgenen Mond aufsogen die Spitzen der Wellen
Ein unheimliches Licht und bildeten Schreckensgestalten.
Dort! Wird dunkler die Nacht? Was ist das? Es naht sich ein Schwarzes.
Ach, nun seh’ ich es auch! Herr Gott im Himmel, ein Schiff kommt
G’rad’, ein gewaltiges Schiff, auf uns los! Wir können nicht weichen!
Und vor der Ewigkeit stehen wir jetzt! – Von Wogen und Schaum fährt
Plötzlich dazwischen ein Berg. Nichts sahen wir mehr von dem Schiffe.
Da, Allmächtiger, kommt es von Neuem, als stieße es nach uns!
Sanft handbreit vor dem Spiegel vorbei, reißt Kreuz und Besan uns
Prasselnd mit Allem davon, und schießt in die Nacht und den Sturm fort.
Ah, wir athmeten auf, wie entgangen dem jüngsten Gerichte!
„Ich war gar nicht bang’!“ ruft plötzlich Jahn, der Matrose.
„Was? Du warst nicht bang’,“ sagt Steu’rmann ärgerlich, „Schwachkopf?
Nun die Gefahr vorüber, da bist Du muthig geworden.
Sprich, was konntest Du thun, Du Narr?“ Jahn sagte mit Ruhe:
„Mein Entschluß war gefaßt: ich sprang auf’s andere Schiff ’rauf.“
„Da war freilich auch Zeit!“ sprach lachend der obere Steu’rmann.
„Ehe wir Amen gesagt, wär’ fertig die Sache gewesen.
Jahn, Du bist nicht gescheidt. Und dann, armseliger Prahler,
Sprich, wie kannst Du denn springen, wenn eben wir unter den Kiel gehn,
Zehn Ell’n hoch auf den Bord?“ Jahn Meier erwidert’ und sagte:
„O, nichts leichter als das! So hätt’ ich ’ne Stange genommen.“
Ueber die Springstang’ lachten wir sehr und pflegten zu sagen:
„O, nichts leichter als das für Jahn: er springt mit der Stange!“
Bruno nahm diese seltsame, aus Sottisen und Complimenten gemischte Begrüßung der ihm ganz unbekannten Dame mit sichtbarer Befremdung auf. Er verneigte sich schweigend, ohne Erwiderung und näherte sich dann dem jungen Mädchen.
„Ich habe versprochen, Ihnen den Bruder frei zurückzugeben, Lucie – hier ist er!“
Franziska, die noch ziemlich entrüstet dastand ob dieser kühlen Aufnahme der Versicherung ihres Wohlwollens, fuhr jetzt plötzlich mit dem Ausdrucke grenzenlosen Erstaunens herum. Dies „Lucie“, mit dem man ihren Zögling zu tituliren wagte, und das glühende Erröthen desselben brachte sie ganz und gar aus der Fassung. Bernhard beugte sich forschend zu seiner Schwester nieder.
„Ich wußte nicht, daß ich Deinem Vorgehen allein meine Rettung danke, Lucie! Du suchtest Bruno aus und bestimmtest ihn zum Handeln, und ich ahnte kaum, daß Ihr Euch überhaupt kanntet.“
Das junge Mädchen gab keine Antwort, sie sah zu Boden, an ihrer Stelle aber nahm jetzt Bruno das Wort.
„Ich möchte Sie bitten, Herr Günther, mir noch eine Unterredung mit Ihrer Schwester allein zu gestatten. Sie brauchen den Ausgang derselben nicht zu fürchten. Lucie hat von jeher so vor mir gezittert, daß sie aufathmen wird bei der Nachricht von meiner Entfernung aus der Gegend und aus dem Lande überhaupt.“
Sie klangen wieder sehr bitter, diese letzten Worte; aber Lucie war erbleichend aufgefahren, als er von seiner „Entfernung“ sprach, und ihr Antlitz verrieth einen so tödtlichen Schrecken, eine so angstvolle Frage, daß Bernhard auch über sie nicht länger mehr im Zweifel war, als er mit einer bejahenden Bewegung ihre Hände losließ.
„Was ist denn das?“ fragte Franziska, die noch immer starr vor Staunen dastand, halblaut, während Bruno dem jungen Mädchen in’s Nebenzimmer folgte.
„Etwas, das selbst Sie mit all Ihrer Klugheit nicht herausgefunden haben!“ sagte Günther lakonisch, indem er die Thür hinter den Beiden schloß, „aber beruhigen Sie sich, Franziska, ich hatte auch keine Ahnung davon, und Lucie hat sich in der ganzen Sache von Anfang an so eigenmächtig benommen, daß ich ihr auch wohl die schließliche Entscheidung allein überlassen muß. Das ‚Kind‘, das wir Beide für so unmündig hielten, hat uns einen argen Streich gespielt. Es wußte mehr zu tragen und zu verschweigen und im gegebenen Momente richtiger zu handeln, als wir Alle zusammen. Wir wollen jetzt abwarten, ob die Unterredung drinnen wirklich nur mit einem Lebewohl endigt oder mit etwas Anderm. Ich fürchte ganz entschieden das Letztere!“ –
Bruno war inzwischen, als er die Thür geschlossen sah, rasch auf das junge Mädchen zugetreten.
„Ich habe noch eine Frage an Sie, Lucie, die Sie mir beantworten müssen, ehe ich gehe, denn noch liegt für mich ein räthselhaftes Dunkel auf Ihrem Eingreifen in das Drama, das soeben sein Ende erreicht hat. Wer wies Sie vorgestern zu mir? Sie wußten damals bereits, was alle Welt nur ahnte, daß Graf Rhaneck gemordet war, wußten, daß nur mein Zeugniß allein Ihren Bruder befreien konnte, und doch ist das Geheimniß nur einmal über meine Lippen gekommen, dem Prälaten gegenüber. Außer dem Prior und uns Beiden konnte es Niemand wissen – wer hat es Ihnen verrathen?“
Lucie hob zaghaft das Auge zu ihm empor; es lag wieder eine tiefe Blässe auf dem lieblichen Gesichte, als sie zögernd entgegnete:
„Ich wußte nichts, ich ahnte nur, und Gott sei gedankt, daß die Ahnung mich trog! Ich fürchtete ja eine andere schrecklichere Lösung – ich glaubte, Sie müßten sich selber opfern, um Bernhard zu retten.“
Bruno trat betroffen einen Schritt zurück. „Mich selbst? Das heißt also, Sie hielten mich für den Schuldigen?“
Das junge Mädchen gab keine Antwort, sondern senkte nur schuldbewußt das Haupt.
„Ich muß doch wohl etwas vom Mörder an mir haben!“ sagte er bitter. „Auch Graf Rhaneck hegte den gleichen Argwohn. Darum also bebten Sie so entsetzt zurück, als meine Hand es wagte, Sie zu berühren? Freilich in Ihren Augen war sie ja voll Blut!“
„O, Sie sahen so entsetzlich aus, als Sie damals in der Kirche von mir gingen!“ Luciens Stimme bebte wieder bei der Erinnerung an jene Stunden. „Ich konnte Ihren Blick, Ihren Ton nicht vergessen! und gleich darauf fiel der Graf, fiel auf Ihrem Wege, und dann – das Zusammentreffen aller Umstände, Ihr räthselhaftes Schweigen – wenn Sie gewußt hätten, was damals auf Ihrer Stirn geschrieben stand, als Sie mich verließen! Sie würden mich nicht schelten wegen eines Irrthums, den ich selbst am schwersten gebüßt habe!“
Sie grub sich auch jetzt wieder in seine Stirn, die drohende Falte, welche sie damals so erschreckt hatte. Die ganze Härte und Verschlossenheit des jungen Mannes schien zurückgekehrt, als er finster, halb abgewendet von ihr dastand, als könne er den Verdacht nicht verzeihen; aber als sich Lucie nun an seine Seite stahl und er seinen Namen zum ersten Male von ihren Lippen vernahm, als dies leise bittende „Bruno!“ sein Ohr berührte und ihre Augen zu ihm aufblickten, da löste sich jene Falte, der herbe Zug verschwand, und das ganze Antlitz verlor seinen Ausdruck düsterer Erbitterung, als habe eine Hand glättend und besänftigend darüber hingestrichen. Diese blauen Augen waren vielleicht das Einzige auf Erden, was Macht hatte über diese starre Natur, aber sie waren hier auch allmächtig.
„Das Verbrechen galt mir, Lucie!“ sagte er leise. „Ich war das auserkorene Opfer! Die dämmernde Schlucht führte die mörderische Hand irre und die Aehnlichkeit unserer Gestalt, der dunkle Mantel, den wir Beide trugen, wurden dem Grafen zum Verhängniß. Es war die Stunde und der Moment, wo ich die Kluft passiren mußte; wäre ich zur gewöhnlichen Zeit gegangen, hätte ich Ottfried überholt, nur um Minuten vielleicht, ich wäre an seiner Statt gefallen. Was mich in der Kirche zurückhielt, was mich rettete –“
„Ich weiß es!“ unterbrach ihn Lucie kaum hörbar. Sie wußte es freilich, jenes glühende leidenschaftliche Geständniß seiner Liebe, das allein ihm zur Rettung geworden, es war ja während der ganzen Zeit nicht einen Moment lang aus ihrer Erinnerung gewichen.
„Ich erreichte die Brücke in dem Momente, wo der Graf hinabgestürzt ward!“ fuhr er gepreßt fort. „Zu spät, um den Mord zu verhindern, und früh genug, um den Mörder noch zu erkennen, der sich beim Nahen meiner Schritte zur Flucht wandte. Es war keine Zeit, ihm zu folgen und ihn zur Rede zu stellen; ich rief die Nächstwohnenden herbei, um mit ihnen in die Schlucht einzudringen. Die Hülfe kam zu spät, ich wußte es, aber sie mußte doch wenigstens versucht werden, und ihr mußte alles Andere nachstehen. Am nächsten Tage erfuhr der Prälat aus meinem Munde, was ihm kein Geheimniß mehr sein konnte, denn ich war auch nicht einen Augenblick im Zweifel darüber gewesen, wer statt seines Neffen gemeint war. Er befahl mir zu schweigen mit dem Hinweis darauf, daß hier doch nichts mehr zu retten sei; noch einmal, zum letzten Male, schlug er mich in die Fesseln des blinden Gehorsams, und ich gehorchte ihm bis zu dem Augenblicke, wo ich durch Sie erfuhr, was auf dem Spiele stand.“
Bruno athmete tief auf und sein Antlitz verdüsterte sich wieder, während das junge Mädchen in athemloser Spannung seinen Worten zuhörte.
„Man wollte mich auch jetzt noch zum Schweigen zwingen!“ sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Hören Sie, Lucie? auch jetzt noch! Und mit dieser schmachvollen Zumuthung riß denn endlich das letzte Band entzwei, mit dem mich Gewohnheit und Erziehung an Jene dort knüpften. Wir sind fertig mit einander! Sie werden mir den Wortbrüchigen, den Meineidigen [255] nachschleudern mein ganzes Leben lang – ich habe lange genug gezittert vor dem Schreckbilde dieses Wortes, jetzt will ich ihm einmal in’s Auge sehen!“
Lucie hob mit einer raschen Bewegung das Haupt empor. „Sie wollen sich lossagen? Auch von Ihrer Kirche?“
„Ich muß! Mir bleibt keine andere Wahl, will ich nicht künftig rechtlos dastehen im Leben. Die katholische Kirche erkennt meine Lossagung nie an, giebt den einmal Geweihten niemals frei, ihr bleibe ich ewig der entflohene, der verfehmte Mönch, welche Stellung in der Welt ich mir auch erobern mag. Es giebt für mich nun einmal keine Freiheit in diesem Glauben und jeder halbe Schritt wird mir zum Verderben. Ich kehre in das Bekenntniß zurück, in dem ich geboren und getauft bin; mögen es die verantworten, die mich ihm ohne mein Wissen entrissen, die mich blind machten mit ihrer Sclavenerziehung, bis ich selbst der Fessel die Hand bot – ich weiß jetzt, wohin ich gehöre – und wo allein meine Zukunft liegt!“
Lucie hatte keine Erwiderung auf diesen mit vollster Energie kundgegebenen Entschluß, aber sie widerstrebte auch nicht mehr, als er jetzt ihre Hand ergriff und sie leidenschaftlich zu sich zog.
„Lucie! In Deinem Glauben bricht mit all den anderen Ketten auch die Fessel, die mich bisher von jedem Glücke schied. Du hast vor mir gezittert, von dem ersten Augenblicke an, wo ich Dir entgegentrat, Du hast mich gemieden und geflohen, hast mich des Furchtbarsten für fähig gehalten, und doch weiß ich’s seit jener Stunde gestern im Gebirge, daß es nicht Haß war, der Dich von mir entfernte, daß ich nicht hoffnungslos liebte. Kannst Du einem Manne vertrauen, der sein neues Leben mit einem Wortbruche anfängt, anfangen muß, wenn er überhaupt noch eine Zukunft haben will? Kannst Du ein Schicksal theilen, das vielleicht emporführt, und vielleicht auch zum Untergange? Du mußt Dein frohes, sonniges Kinderglück, die sichere Heimath, den Bruder, mußt Alles aufgeben, um mir zu folgen und ich kann Dich nur mit hineinreißen in Kampf und Streit. Sie werden mich ihren Haß fühlen lassen, bei jedem Schritte auf der neuen Bahn, jeden Fuß breit werde ich mir erst erkämpfen müssen, ich hab’s nun einmal gewagt und nehme die ganze Last und die ganze Verantwortung auf mich allein; aber Du, Lucie? Wirst Du nicht zittern an meiner Seite vor einem solchen Loose und vielleicht auch wieder – vor mir?“
Sein Ton war furchtbar ernst geworden bei den letzten Worten, und sie hatten wenig von den beglückenden Verheißungen eines Liebenden, diese Zukunft, wie er sie dem jungen Mädchen ausmalte, dessen Leben bisher in so ganz anderen Bahnen dahingeflossen war. Die düstere, fast dämonische Natur dieses Mannes verleugnete sich selbst in dem Momente nicht, da er um seine Braut warb, aber er warb auch nicht um das Kind mehr, das einst in kindischer Furcht vor dem finsteren Mönche geflohen war. Jene Stunde am Altar, da sein wahres Wesen sich ihr zum ersten Male in seiner ganzen Tiefe enthüllte, hatte auch in ihr das Weib wachgerufen, und die Todesangst der letzten Tage das einmal Erweckte schneller gereift, als es Jahre ruhigen Dahinlebens vermocht hätten. Es war die ganze liebende und unerschütterliche Hingebung des Weibes, mit der Lucie jetzt zu ihm emporblickte und lächelte, während doch zugleich ein paar heiße Thränen in ihren Augen standen.
„Ich hielt Dich gestern noch für schuldig, Bruno! Ich hatte fast die Gewißheit, daß der Graf von Deiner Hand gefallen sei, und mit dem vollen Bewußtsein davon habe ich damals den Kopf an Deine Brust gelegt und nicht gezittert, als Du mich in den Armen hieltest. Willst Du noch eine andere Bürgschaft? Ich glaube doch, meine Liebe zu Dir hat in jenem Augenblick die schwerste Probe bestanden!“
Mit einer leidenschaftlichen Bewegung zog er sie fester in seine Arme, während seine Lippen zum ersten Male die ihrigen berührten. Sie hatte Recht, die Probe war bestanden, und mit der stürmischen, nie gekannten Glückseligkeit, die jetzt schrankenlos aus dem ganzen Wesen Bruno’s hervorbrach, bebte wohl noch etwas Anderes durch seine Seele bei diesem ersten Kuß. Er fühlte jetzt erst, daß die Schranke niedergerissen war, die den Mönch, den römischen Priester von den heiligsten und süßesten Banden schied, die die Menschen auf Erden aneinander fesseln, von Weib und Heimath und Familie!
Die nächsten drei Jahre waren so rasch dahingerollt, waren so inhaltsvoll und thatenreich gewesen, wie es die Jahre in unserer Zeit eben zu sein pflegen, wo all die gährenden Elemente empordrängen, um sich im Kampfe, sei’s nach innen oder nach außen, Luft und Klärung zu schaffen. Das Drama, welches sich an das einst so hochgeehrte Stift und dessen Bewohner knüpfte, hatte sich doch nicht so schnell verwischen und in Vergessenheit bringen lassen, als man es dort vielleicht gehofft. Hätte es in niederen Kreisen gespielt, es wäre vielleicht möglich gewesen, aber der Name und die Bedeutung des Grafen Rhaneck, die Stellung des Prälaten und dunkle Gerüchte von den wahren Beziehungen des jungen Pater Benedict zu dem Rhaneck’schen Hause brachten die Angelegenheit vor das Forum der Residenz und des Hofes, von dort fand es einen Wiederhall im ganzen Lande, und der Umstand, daß der mit so großer Spannung erwartete Proceß in der That nicht stattfand, erbitterte die schon aufgereizten Gemüther auf’s Höchste. Die Voraussetzung, daß der Orden dem Lande um keinen Preis der Welt ein Schauspiel gönnen werde, das in jetziger Zeit geradezu vernichtend für ihn wirken mußte, erwies sich als richtig. Man hatte nicht gezögert, dem Abte die formelle Genugthuung zu geben, und den Prior bei der nächsten Vernehmung jedes Wort, das er gesprochen, feierlichst widerrufen zu lassen, aber nur die Wenigsten ließen sich jetzt noch dadurch täuschen, und als der Schuldige in der Nacht, bevor er den Gerichten übergeben wurde, wirklich dem Klostergewahrsam entfloh, als sich jede Nachforschung nach ihm als vergeblich erwies und er verschwunden war und blieb, wahrscheinlich längst in dem Schutze irgend eines fernen Klosters geborgen, da richtete sich der Sturm des allgemeinen Unwillens gegen den Prälaten. Es war unmöglich, ihn der furchtbar erregten öffentlichen Meinung gegenüber zu halten, obgleich der Versuch dazu gemacht wurde. Das Ansehen, ja die Existenz des Stiftes, an dessen Spitze er stand, wurde dadurch auf’s Spiel gesetzt, und so entschloß man sich denn endlich widerstrebend, ihn zu entfernen, selbstverständlich nur zu einem anderen Amte, das seinem Range und seinen Verdiensten entsprach. Rom hatte der hohen Kirchenstellungen genug für einen Priester, der sich in seinem Dienste geopfert, und man war dort keineswegs gewillt, auf die fernere Thätigkeit eines Mannes zu verzichten, dessen Geist und Charakter sich von jeher als eine der festesten Stützen der Kirche erwiesen hatten. Er ward all den „gehässigen Angriffen“ entzogen, um an der Tiber einen neuen Wirkungskreis zu finden, da sich ihm der Bischofsstuhl des Landes, für den man ihn schon früher in Aussicht genommen, nach den letzten Ereignissen doch wohl für immer verschloß.
Im Stifte selbst wurde Pater Eusebius durch die Wahl der Mönche zum Abte erhoben, aber es zeigte sich bald genug, was selbst hier in dem streng geregelten Convent die Persönlichkeit eines Einzelnen vermocht hatte. Mit dem Prälaten war auch jener mächtige und trotz alledem großartige Geist gewichen, der es verstanden hatte, dem Kloster ein halbes Menschenalter hindurch die unbedingteste Verehrung zu sichern und es über alle Klippen hinweg siegreich im Kampfe gegen die Neuzeit anzuführen. Der neue Abt, ein mäßig begabter und der römischen Kirche treu ergebener Priester, hatte gleichwohl nicht einen Hauch von der Energie und dem Herrschertalent seines Vorgängers in sich, und war jedenfalls nicht der Mann, die tiefe Wunde zu heilen, welche jene Vorgänge dem Ansehen und der Ehre des Stiftes geschlagen hatten. Der Riß erweiterte sich unmerklich, aber unaufhörlich, das Kloster bestand noch, aber es war vorbei mit der alten Macht und der alten Herrschaft über die Gemüther; verstand es der jetzige Prälat doch kaum, seine eigenen Mönche zu beherrschen, die, wohl fühlend, daß sie der gewohnten festen Leitung entbehrten, sich allerlei persönliche Uebergriffe erlaubten, die sie früher nie hätten wagen dürfen und die man ihnen jetzt stillschweigend hingehen ließ, sobald sie nur ihr Verhältniß zur Kirche nicht berührten.
Auch Schloß Rhaneck lag jetzt einsam und verödet und selbst in den Sommermonaten, die ihm sonst stets den glänzenden gräflichen Haushalt zuführten, wurde es nicht mehr bewohnt. Vielleicht war es das tragische Geschick seines Sohnes oder die Entfernung seines Bruders, vielleicht auch das furchtbare Aufsehen, welches Beides in der Umgegend gemacht, was den Grafen bestimmte, sein Stammschloß fortan zu meiden, er hatte es noch nicht wieder betreten. Der Tod Ottfried’s hatte das rein äußerliche Band, [256] das zwischen ihm und seiner Gemahlin bestand, noch mehr gelockert. Die Gräfin, fast immer kränklich, lebte meistentheils ihrer Gesundheit wegen auf den anderen Gütern, der Graf nach wie vor in der Residenz, sie sahen sich oft wochen- und monatelang nicht, und wenn es wirklich geschah, so fehlte diesen flüchtigen kalten Begegnungen auch die leiseste Spur einer Zuneigung, die freilich niemals in Wirklichkeit bestanden, deren Anschein man aber doch der Welt gegenüber aufrecht erhalten hatte, so lange der Sohn und Erbe Beiden wenigstens noch ein gemeinschaftliches Interesse gab.
Jetzt zum ersten Male nach drei Jahren sah Schloß Rhaneck seinen Herrn wieder. Der Graf war unerwartet, allein und nur von einem Diener begleitet, dort eingetroffen, und hatte Befehl gegeben, seine Anwesenheit möglichst zu verschweigen, da er während der kurzen Zeit seines Aufenthaltes keine der Beziehungen zu der Nachbarschaft wieder aufzunehmen gedenke. Was ihn nach so langer Zeit wieder hergeführt, das wußte Niemand.
Rhaneck saß in seinem Arbeitszimmer vor dem Schreibtische, einen geöffneten Brief in der Hand, der soeben aus Rom eingetroffen war. Der Graf hatte sehr gealtert in diesen letzten Jahren, das Haar war grau geworden, das Antlitz tief gefaltet und auch in dem Auge sprühte nicht mehr das alte Feuer, es lag ein bitterer, tief schmerzlicher Zug darin, der einst nicht dagewesen, und er verschwand auch nicht beim Lesen des Briefes. Es waren die festen kraftvollen Schriftzüge des Prälaten, auf denen sein Blick haftete, aber er überflog schnell die Eingangsworte, um desto länger auf einer Stelle zu verweilen, die ihn augenscheinlich am meisten interessirte:
„Ich würde mich über Dein langes Schweigen beklagen, wüßte ich nicht längst, daß eine Entfremdung zwischen uns eingetreten ist, die die Zeit nicht heilen wird. Du hättest mir Alles verziehen, selbst den Tod Ottfried’s, den ich unwissentlich verschuldete. Daß ich die Hand an Deinen Bruno legen wollte, verzeihst Du mir nie. Sei’s drum! Jenes unselige Wagniß hat mich mehr gekostet als nur die Liebe meines Bruders!
Was ich von dem Stifte höre, überrascht mich nicht, wenn es mir auch bitter ist, eine Schöpfung verfallen zu sehen, an die ich dreißig Jahre lang die beste Kraft meines Lebens gesetzt habe. Unter Eusebius’ Regiment war nichts Anderes zu erwarten, und von all den Uebrigen ist Keiner im Stande, Besseres zu leisten. Du weißt, wen ich mir zum Nachfolger ausersehen hatte, wenn ich früher oder später den Bischofsstuhl bestieg. Den Mönchen imponiren und die Zügel der Herrschaft mit einer Hand festhalten, wie die meine war, konnte nur Einer, und der ist jetzt drüben im Lager unserer Feinde! Du wirfst mir mit Unrecht Haß gegen ihn vor, ich habe ihn nie gehaßt, selbst da nicht, als ich ihn opfern wollte, und in diesen letzten drei Jahren habe ich ihn fast bewundern gelernt. Was ist von unserer Seite nicht versucht worden, ihm die Bahn zu kreuzen, den Weg zu hindern und in der Dunkelheit und Vergessenheit die Gefahr zu begraben, die für uns in diesem Kopfe lag – er wußte Allem die Stirn zu bieten, Alles niederzutreten, was ihm im Wege stand, und jetzt hat er sich zu einer Bedeutung aufgeschwungen, die jeden Versuch, sie ihm noch ferner abzustreifen, thöricht erscheinen läßt. Die –sche Universität war uns von jeher ein Pfahl im Fleische; daß man ihn dorthin berufen, ihn mit solcher Acclamation dort empfangen konnte, beweist am besten, wie ohnmächtig wir geworden sind in einem Lande, wo sonst Alles in unseren Händen lag. Man konnte uns nicht offener den Krieg erklären, als indem man diesen Mann auf’s Schild hob. Ich weiß am besten, was sie an ihm besitzen, denn ich habe diese Kraft wachsen sehen und kann es noch heute nicht verschmerzen, daß sie uns verloren ging. Ottfried war der schwächliche, verweichlichte Sproß seiner unbedeutenden Mutter, Bruno war unser Blut, und wenn er zehnmal in stolzem Trotze den Namen zurückweist, er hat es gezeigt, daß er ein Rhaneck ist!
Wie ich höre, stehst Du im Begriff, nach unserem Stammschlosse aufzubrechen; ich ahne, was Dich dorthin führt, grade in dem Augenblick, wo Bruno das Siegel auf seinen Abfall drückt und Günther’s Schwester zum Altar führt. Aber nimm Dich in Acht vor Deinem Sohne, Ottfried, wenn Du etwa versuchen wolltest, den zärtlichen Vater zu spielen. Ich sage Dir, er kann seine Mutter nicht vergessen, und er wird Dir ihr Andenken wieder ebenso vernichtend in’s Antlitz schleudern, wie damals, wo Du zum ersten Male die Arme nach ihm ausstrecktest. Weichherzigkeit war nie der Fehler unseres Geschlechtes! Du wirfst mir in Deinem letzten Briefe vor, daß ich es war, der im Grunde das Ganze verschuldete; nun, so solltest Du auch bedenken, daß die Folgen mich am schwersten trafen. Ich entriß den Knaben seiner Heimath und seinem Glauben, um ihn zur Ehre der Kirche und unseres Klosters zu erziehen, und dieser Knabe stürzte mich, vernichtete die Macht des Stiftes und steht jetzt an der Spitze unserer Gegner, bereit, uns den Kampf auf Leben und Tod zu bieten. Ich dachte den angeerbten trotzigen Ketzergeist zu bändigen mit der Priestererziehung, und vergaß, daß ihm der Freiheitsdrang im Blute liegt. Das war mein Mißgriff und wurde mein Verhängniß.
Von meinem römischen Aufenthalt kann ich Dir nichts Neues berichten; auch hier wächst und drängt die Bewegung mit jedem Tage, und mit jedem Tage reißt sie uns ein Stück von dem Boden weg, auf dem wir stehen. Wir stemmen uns dagegen mit der ganzen geschlossenen Macht, die Jahrhunderte lang allen Stürmen getrotzt und die Reformation überdauert hat, aber – ich habe es stets für Schwäche gehalten, sich die Wahrheit zu verhehlen, selbst wenn sie vernichtet – ich fürchte, unsere Zeit ist vorbei! Im Einzelnen mögen wir noch die Gewalt behaupten, die Weltmacht geht uns verloren – und Dein Bruno ist auch Einer von denen, die sich einst rühmen können, sie uns entrissen zu haben!“ –
Der Graf überflog noch rasch die Schlußworte des Briefes, dann faltete er ihn zusammen und schob ihn von sich. Die Art, wie dies geschah, zeigte zur Genüge, daß die Versöhnung zwischen den beiden Brüdern nur eine äußerliche gewesen war, und daß Rhaneck wenigstens nie das tiefe Grauen überwunden hatte, das er seit jener Zeit vor dem Prälaten empfand. Er stand auf und trat an’s Fenster; es war so einsam in dem Schlosse, so gespenstig öde in all diesen düsteren Räumen und hallenden Gängen, und es war so kalt und leer in den weiten Sälen und Gemächern des gräflichen Palais in der Residenz, das der alternde Mann jetzt ganz allein bewohnte. Der schmerzlich bittere Zug in seinem Antlitz trat schärfer hervor, als er nach Dobra hinüberblickte, wo jetzt das Einzige weilte, was er auf Erden noch liebte – vielleicht hatte der Prälat dennoch Recht gehabt mit seiner Vermuthung. –
Sehen wir uns die Bilder an den Wänden des Arbeitszimmers näher an. Sie stellen meist militärische Gegenstände und Persönlichkeiten dar, Friedrich den Großen mit seinen Generälen, nach den Zeichnungen von Menzel, Revuen, Scenen aus dem Feldzug von 1866, die erste und die zweite Krönung in Königsberg etc. Daneben begegnen wir aber auch in verschiedenen kleinen und größeren Kupferstichen den Nachbildungen idealer Frauengestalten der Düsseldorfer Schule; an einem Kaminschirm ist ein prächtiger moderner englischer Kupferstich in einfachen goldenen Rahmen eingefaßt, derselbe stellt die Herzogin von Wellington dar, eine der schönsten Frauen Englands. An die Lehne eines Sessels ist eine Kreidezeichnung der Großherzogin von Baden angelehnt; vor dem Schreibtische am Fenster ruht auf einer Staffelei ein großes, in goldenen Rahmen gefaßtes Bild der Kaiserin, eine Kreidezeichnung des verstorbenen Hofmalers Lauchert. Vor den Fenstern der Westseite steht der Schreibtisch des Kaisers, eine lange Tafel aus polirtem, mit blauem Sammt überzogenen Ahornholz; nach drei Seiten hin ist derselbe ganz frei, nur rechts ist ein kleiner etagèrenförmiger Aufbau gemacht, in dessen verschiedenen Fächern eine Menge jener kleinen, graziösen
[257] und kostbaren Dinge stehen, die als Geschenke so oft zum Merkzeichen von glücklichen oder bedeutungsvollen Stunden unseres Lebens werden. Das große massive Schreibzeug auf der Tischplatte ist aus Gußeisen, dahinter stehen kleine Aquarell-Bilder, Abbildungen des Palais in Berlin und des Schlosses Babelsberg, und hinter demselben die etwa einen Fuß hohe Alabaster-Figur eines Engels, der die Friedenspalme in seinen Armen hält. Derselbe ist ein Geschenk der Kaiserin am Jahrestage der Schlacht von Königsgrätz. Rechts der Schreibmappe sind Schreibutensilien, wie Federn, Siegellack, Messer, Scheeren, Petschafte aufgelegt; außerdem liegen
auf dem Tische noch die letzten Nummern des Deutschen Reichs-Anzeigers, die neueste, vier Finger dicke Rang- und Quartierliste der preußischen Armee, mehrere Bücher über den letzten Feldzug und ein in schwarzes Leder gebundenes Gesangbuch, auf das ein goldenes Kreuz gedruckt ist.
Auch Photographien in Etuis sind aufgestellt, die der Kaiserin, der Großherzogin von Baden als jungen Mädchens, der verstorbenen Kaiserin von Rußland und des Kaisers Nicolaus, der Großfürstin Helene und der Königin Victoria von England und des Prinzen Albert. Vor Allem aber ist ein kleines Bild dazu angethan, unser historisches Interesse anzuregen, ein vortreffliches Miniaturbild Friedrich’s des Großen, gemalt von seinem Hofmaler Pesne. Der große König hatte dieses Bild an den Herzog von Braunschweig-Bevern geschenkt, es war ein Versöhnungsgeschenk für den Herzog, der durch die Capitulation bei Breslau die Gnade des Königs verscherzt hatte. Nach dem Tode des Königs kam es in eine Stettiner Familie und diese hatte es in der Mitte der dreißiger Jahre dem jetzigen Kaiser, so besagte wenigstens die Schrift auf der Rückseite des Bildes, zum Geschenk gemacht.
Unterdeß hat der Leibjäger die dicke Ledermappe in das Zimmer gebracht, der Kaiser zieht einen Schlüssel, öffnet dieselbe, knöpft sich den Rock auf, setzt sich in den geschnitzten Schreibstuhl an den Schreibtisch und macht sich an die Arbeit.
Von dem Arbeitszimmer führen einige Stufen abwärts in das anstoßende Schlafzimmer des Kaisers. In die Thür ist ein in Wasserfarben, von Professor Heyden in Berlin gemaltes Bild des Kronprinzen eingelassen; dasselbe stellt den Heerführer in Campagneuniform mit der Feldmütze dar; es ist nach dem Feldzuge von 1866 gemalt und eines der schönsten Bilder, die von dem Kronprinzen existiren. Zu gleicher Zeit hat der König den General v. Steinmetz von demselben Künstler malen lassen und dem Bilde einen Platz dem Kronprinzen gegenüber angewiesen. In dem Raume selbst fesseln unsere Aufmerksamkeit noch zwei plastische Bildwerke; das eine ist eine von der Kronprinzessin modellirte Gypsbüste der Kaiserin, das andere ein Abguß der Todtenmaske der Königin Louise, aus dem Mausoleum zu Charlottenburg. Im Uebrigen ist in dem Gemache nicht viel zu bemerken, als etwa der einfache schlichte Sinn des Mannes, der hier seine Ruhe hält. An der Wand, den Fenstern gegenüber steht ein schmales niedriges Bett, zu dessen Häupten ein Kissen von Rehleder herausschaut und das mit einem schwarz- und weißcarrirten Plaid bedeckt ist. Am Fußende ist in einer Art Bildstöckchen ein kleines Crucifix aus Gußeisen angebracht. Die Gardinen des Bettes und der Fenster sind von weiß- und grüngeblümtem [258] Kattun, die Möbel selbst von polirtem Ahornholz. Unter denselben befindet sich eine Art Gartenstuhl, eine Arbeit des Kronprinzen.
Bekanntlich hat von den Söhnen Friedrich Wilhelm’s des Dritten jeder ein Handwerk lernen müssen, auch bei dem Enkel ist diese löbliche Sitte festgehalten worden, und der Sohn hat einen Stuhl hergestellt, weit, fest und solide, damit sein Vater auf demselben so recht behaglich sich ausruhen könne. Auf einem anderen Stuhle liegt ein altes Kissen in Tapisserie, es ist eine Arbeit der Königin Louise, daneben auf einem Tische ein kleiner Strauß von künstlichen Kornblumen, der dem Kaiser von einer armen Wittwe[WS 1] bei irgend einer Gelegenheit verehrt wurde und schon seit Jahren an dieser Stelle liegt.
Draußen fängt es an dunkel zu werden; der Kaiser erhebt sich, nachdem er etwa zwei Stunden gearbeitet hat, knöpft den Rock wieder zu, nimmt die Militärmütze und schreitet die Treppe hinab. Auf einem Absatz derselben ist in einem runden Gestelle eine Sammlung von Stöcken der mannigfaltigsten Art, dünne und dicke, kunstvoll geschnitzte und ganz schmucklose. Der Kaiser nimmt sich den einfachsten, ein Weichselrohr, das er schon seit dreiunddreißig Jahren benützt und das er sich mit eigener Hand in seinem Parke geschnitten hat; es hat weder Krücke noch einen Knopf, es ist der einfache Stock, wie er von der Wurzel geschnitten ist. Damit beginnt nun der Kaiser seinen Abendspaziergang durch den Park. Manchmal nimmt er sich den Flügeladjutanten vom Dienst zur Begleitung, diesmal ist er allein, rüstig schreitet er vorwärts, die Höhe hinter dem Schlosse hinan. Zwischen den runden Wipfeln des Laubholzes beginnen schon die schlanken Kiefern emporzusteigen, dann kommt eine Strecke, wo der Park aufhört und der Kiefernwald anfängt; aber wie frisch, wie kräftigend ist der Harzduft, den die Palme des Nordens ausströmt! Der Kaiser ist auf dem höchsten Punkte von Babelsberg angelangt, er hält still, um Auge und Herz an dem prachtvollen Landschaftsbild, das sich vor seinen Augen aufthut, zu laben. Zu seinen Füßen liegen die Zinnen und Thürme des Schlosses, vor ihm nach allen Seiten breiten sich die weiten seeartigen Buchten der Havel aus, über die sich in kühnem Bogen die Brücke von Glienicke wölbt. Die ganze Fläche ist vom Abendsonnenlicht beleuchtet und in der rosenrothen Fluth baden sich die Schwäne, die diese Wasserstrecke zu Tausenden bevölkern.
Rechts aus dichten grünen Wipfeln schauen Schinkel’s edle, classische Gebilde aus Stein, die Schloßgebäude von Glienicke; links auf einer der Anhöhen von Babelsberg hebt sich in glühender Beleuchtung die schlanke granitne Siegessäule aus grünem Laubmeer empor. Weiter unten verschwimmen im Dufte des Abends die Thürme und Kuppeln der Stadt, und weiterhin rings nach allen Seiten fällt der Blick auf sanft gewellte Hügel, auf dunkles und lichtes Grün und dazwischen auf einen silbernen Wasserstreifen, und überall ruht der Segen der Natur, ein wunderbarer Friede, der Wald und Flur und das Herz des Menschen erfüllt. Das ist einer der größten Reize dieses Besitzes, daß fast jedes Fenster des Schlosses einen andern Aussichtspunkt bietet, aber hier oben ist der schönste von allen.
Nach einer Weile setzt der Kaiser seinen Spaziergang fort; es begegnen ihm die Leute, die in dem Parke arbeiten; er kennt sie und geht freundlich grüßend an ihnen vorüber, bleibt wohl hier und da bei Einem stehen, nach Diesem und Jenem fragend, und setzt dann seinen Weg nach dem nördlichen Ende des Besitzthums, nach dem Portierhause, fort, das den Eingang von Glienicke her behütet; er überschreitet den breiten Fahrweg und geht eine Reihe von steinernen Stufen hinab nach dem Maschinenhause, das die Bewässerungsanlagen speist und das an einer der Buchten der Havel liegt. Er wendet sich links den Pfad an der Havel entlang und biegt in einen gar anmuthigen Weg ein; rechts ist das Wasser, links die ansteigende Höhe und das Ganze ein dichter Laubgang. Nach etwa zwanzig Minuten tritt der Spaziergänger aus demselben in eine offene lichte Stelle hinaus, in einen halbrunden Ausbau, hart am Wasser. Hier steht ein aus Stein gehauener altersgrauer Bildstock, wie man deren in katholischen Gegenden Süddeutschlands sehr häufig im freien Felde sieht. Der Kaiser bleibt einen Augenblick vor der Steinsäule stehen.
Im Jahre 1849 im Feldzuge gegen die Insurgenten in Baden, am 29. Juni, hielt der damalige Prinz von Preußen an demselben Bildstocke. Damals stand dieser auf dem Felde zwischen Bischweiher und Muggensturm, und die Kugeln der Insurgenten bestrichen das Bildwerk unaufhörlich; aber das hinderte den Prinzen nicht, das Denkmal alter Zeiten aufmerksam zu beobachten und zu seinem Adjutanten, dem Grafen Pückler, zu äußern, daß er vor seiner Abreise etwas Aehnliches für den Park von Babelsberg bestellt habe. Der Großherzog von Baden hatte das erfahren, in die Krone des Bildstockes das Eiserne Kreuz und Inschrift und Jahreszahl des betreffenden Tages als Erinnerung anbringen und dem Prinzen als Geschenk anbieten lassen. So fand das Bildstöckchen aus dem Süden hier an der Havel eine Stelle.
In der Fortsetzung seines Spazierganges kommt der Kaiser an einem Hause vorüber, das etwa hundert Schritte vom Wasser zurückliegt. Es ist in demselben Stile wie die Schlossgebäude gehalten, elegant und geschmackvoll; aber durchaus einfach von Ausdehnung sieht es wie das Landhaus eines wohlhabenden Privatmannes aus. Es war in den beiden ersten der vierziger Jahre erbaut; die jetzige Kaiserin hatte selbst den Plan dazu gezeichnet; es sollte ein Haus für ihre Hofdamen werden, aber dann bekam es eine andere Bestimmung.
Bis zu Ende des vierten Jahrzehnts konnte man in den Gartenanlagen und in den Spielplätzen, die das Haus umgeben, jeden Sonntag eine fröhliche, kecke, muthwillige Knabenschaar sich tummeln sehen; ihr Mittelpunkt und ihr Anführer war ein Altersgenosse, schlank, blondhaarig, blauäugig, der jetzige Kronprinz des deutschen Reiches, der hier mit seinem Gouverneur den größten Theil seiner Jugendzeit verlebte. So bieten sich überall dem promenirenden Herrn Erinnerungen und Beziehungen aus seinem Leben dar, überall Marksteine desselben. Nicht weit vom Hause führt ein Weg wieder bergan, diesen schlägt der Kaiser ein, er gelangt nach etwa zehn Minuten in eine Obstplantage. Die edlen Fruchtbäume sind nach französischem Muster an terrassenförmig aufsteigenden Mauern aufgezogen. Der Kaiser schreitet die Spaliere ab, er trifft auf einen jungen Mann, der einigen Gärtnerburschen, welche die Obstcordons überdecken, Anweisungen giebt, es ist der Hofgärtner Kindermann. Derselbe begleitet den Kaiser weiter durch die Obstplantage, zeigt ihm die Ansätze zu den Früchten und die Aussichten für die Ernte, auch einige neue Exemplare, die kürzlich angekommen sind, dann reicht ihm der Kaiser die Hand, sagt ihm „Gute Nacht“ und tritt seinen Rückweg nach dem Schlosse an. Die Nacht ist fast herein gebrochen und die Pfade sind dunkel geworden, nur ab und zu leuchten durch das Laub die Laternen des Schlosses. In diesem angekommen, nimmt der Kaiser in Gesellschaft des Flügel-Adjutanten ein einfaches Abendbrod ein, und zwischen zehn und elf Uhr begiebt er sich zur Ruhe. Aus all den blühenden Jasmin- und Rosenbüschen im Parke aber tönt der Gesang der Nachtigallen und ihre entzückenden Töne schallen unter dem Rauschen der Fontainen in die grüne, sternenbeglänzte Sommernacht hinaus.
„Ach, wäre ich doch Geheimerath geworden!“ pflegte Friedrich der Große zu sagen, wenn in früher Morgenstunde der Kammerdiener ihn weckte und er noch etwa Lust zum Schlafen hatte. So mag auch manchmal der Kaiser denken, nach solch einem wonnigen Juniabend, wenn des anderen Morgens früh der Wagen vor dem Schlosse hält, der ihn nach dem Stationshäuschen von Nowawes zurückbringen soll. Dort steigt der Kaiser in den von Potsdam kommenden Zug ein, der ihn aus dem idyllischen Frieden von Babelsberg nach Berlin in den Drang der Geschäfte zurückbringt.
[259]
Die ostfriesische Insel Borkum, zwischen der Wester- und Osterems gelegen, dehnt sich in einer Länge von drei Stunden und einer Breite von dreiviertel Stunden aus, und ist von fünfhundert Einwohnern, welche sich mit Fischerei, Viehzucht und Schifffahrt beschäftigen, bewohnt.
Von ihrer höchsten Düne, der Königsdüne, aus gesehen bietet die Insel eins der anmuthigsten Bilder unseres Nordseestrandes, denn mit Ausnahme der in weiter Ferne liegenden kleinen Vogelinsel Rottum, deren ganzer Strand zur Brütezeit mit Tausenden brütender Vögel bedeckt ist, sieht man die Insel von den hochschäumenden Meereswogen umrahmt, die mit ihrem tief grollenden Getöse einen jeden Beschauer mit Bewunderung erfüllen. Am fernen Horizonte tauchen die Masten großer Schiffe auf, und nähern sich so dem Strande, daß man mit unbewaffnetem Auge ihre verschiedenen Segel erkennen kann, dazwischen wirbeln die Dampfwolken der Dampfschiffe empor, und an den Segelschiffen vorübereilend, scheint Alles in einem Wettkampf begriffen, um auf der dahin führenden Fahrstraße von England die reiche holländische Küste zu erreichen. Aber gleich einer Oase in dem großen Sandmeere liegt, von den weißgekräuselten Wellen umzogen, die Insel mit ihren saftig grünen Wiesen, auf denen Herden schöner Kühe und Schafe weiden und die schmucken Häuser, von dem hohen Leuchtthurm überragt, freundlich hervorblicken; nur an der Nordwestseite der Insel steigen zwei thurmähnliche, eine Viertelstunde von einander stehende hohe Mauerwerke unheimlich in die Höhe, welche von einem liegenden schwarzen eisernen Kreuze gekrönt sind – es sind dies die beiden Caps, den vorüberfahrenden Schiffern ein Warnungszeichen, daß zwischen ihnen das so manchem Schiff Verderben bringende „Borkumer Riff“ liegt.
Der Morgen des 22. September vorigen Jahres versprach einer jener schönen Herbsttage zu werden, die mit ihrer sonnenklaren Luft die Erinnerung an den erfrischenden Morgen des entschwundenen Sommers wach rufen.
Die Sonne schien wohlthuend warm hernieder, ein weicher Luftzug wehte mild von der mit leichten Wellen bewegten See, die Segel der vorüberziehenden Schiffe, deren Wimpel lustig in der Luft flatterten, blähten sich stolz bei der kleinen Brise, in den Wellen tauchte ein großer Zug Delphine auf und nieder, die Möven und Seeschwalben schaukelten sich auf dem grünen Meereselement, und längs des Strandes und in den Dünen wanderten Fremde aus allen Gegenden, um bei dem lieblichen Wetter die stärkende Seeluft wie den großartigen Eindruck des vom blauen Himmel begrenzten Meeres zu genießen.
Gegen Mittag stiegen einzelne kleine weiße Wölkchen an dem bis dahin gleichmäßig blauen Himmel auf, und mit ihnen stellte sich eine kräftigere Brise ein, die die Wellen mit der inzwischen eingetretenen Fluth in rascherer Folge am Strande sich brechen ließ. Bald folgten diesen kleinen, noch von den Sonnenstrahlen hellerleuchteten Wölkchen dunklere, die in raschem Fluge dahinzogen, und so wild und schnell an einander vorüberjagten, daß in kurzer Zeit die Alles erfreuenden Sonnenstrahlen verschwunden und der Himmel in ein düsteres Grau gehüllt war.
Aber auch auf der ruhigen See hatte sich inzwischen das Bild in gleicher Weise geändert. Der Wind war in einen heftigen Sturm übergegangen, die Wogen des Meeres thürmten sich gigantisch in die Höhe, und schleuderten, am Strande sich brechend, den weißen Schaum weit in die Dünen hinein, die Möven jagten schreiend durch die brausenden Lüfte, während die auf der See befindlichen Schiffe kahl, mit eingerefften Segeln zwischen den hohen Wellen auf und niedertauchten.
Am Strande selbst war der Sturm so fürchterlich, daß ein Stehenbleiben unmöglich war, dabei wirbelte er den feinen Sand vom Meeresstrand und den Dünen mit einer solchen Gewalt umher, daß man nicht sorgsam und schnell genug das Gesicht gegen diese wie mit scharfen Schloßen gefüllte Luft zu schützen vermochte, und die das großartige Bild des eingetretenen Seesturms bewundernden Gruppen der Badegäste sich zu einer raschen Flucht in ihre Wohnungen gezwungen sahen.
In den Dünen, und besonders auf der Königsdüne hatten sich aber andere Gruppen gesammelt. Dort lagen in der geschützten Vertiefung ausgestreckt, den getheerten Schiffshut fest um den Kopf gebunden, das lange Fernrohr am Auge, die kräftigen wettergebräunten Gestalten der Rettungsstation, mit prüfendem Blick die auftauchenden Schiffe verfolgend, um sofort rettend zur Hand zu sein, wenn ein Schiff in Gefahr kommen sollte.
Plötzlich tritt in der still beobachtenden Gruppe eine Bewegung ein, alle Gläser sind auf das eine Schiff gerichtet, bis der unter ihnen befindliche Capitän mit Bestimmtheit erklärt: „Die Brigg ist verloren, sie muß auf dem Riff festfahren!“ – Die Brigg, ein Zweimaster, ragt mit ihren beiden Masten unverändert aus den Meereswogen empor, ohne daß sich irgend welches Zeichen einer Bewegung an ihr wahrnehmen ließe. Dagegen wird der eine Mast nach seiner Spitze zu sichtbar stärker, und man erkennt durch das Fernrohr, daß dies die sich rettende Mannschaft ist.
Die Kunde von der Strandung eines Schiffes hatte sich rasch im Dorfe verbreitet, und bald sah man Frauen und Kinder trotz des fürchterlichen Sturmwindes sich durch die Dünen drücken, um sich selbst von dem Unglück zu überzeugen. Dort hinter ihren Versorgern niedergekauert, horchen die Frauen ängstlich auf deren Beobachtungen und Kundgebungen, die alle darin übereinstimmen: das Schiff sitzt vollständig fest, eine Rettung ist nicht mehr möglich; und schon sieht man das stets bereitliegende Lootsenschiff seinen Cours nach dem gestrandeten Schiff nehmen. Der Capitän am Lande hat nochmals das gestrandete Schiff geprüft und sich überzeugt, daß schnelle Hülfe nöthig ist, auf sein Zeichen erheben sich die Gestalten aus ihrem Dünensandlager, schreiten, dem Sturmwind trotzend, hinab nach dem Rettungsstationshaus, um ihren mit einer Korkwand umzogenen Rettungskahn herauszuziehen, und ihr Leben für die Rettung der Gescheiterten zu wagen. Mit sorgenvollem Blick folgen die Augen der Frauen dem scheidenden Ernährer ihrer Familie, indessen die rothwangigen Kinder die Gefahren nicht kennend mit Freuden dem Vater nachschauen, der im kleinen Rettungsboot seinen Sitz eingenommen. Da wälzt sich eine mächtige Woge nach dem Rettungsboot, und hebt es in die Höhe, zu gleicher Zeit schlagen aber auch die Ruder der zwölf Mann kräftig in die Fluth, der Capitän hat das Steuer fest gefaßt, und muthig bricht sich das Boot Bahn in die stürmende See. Bald ist es zwischen den hohen schäumenden Meereswogen verschwunden, in weiter Ferne sieht man es wieder auf dem Rücken einer mächtigen Woge getragen, bis es im andern Augenblick abermals den ihm mit banger Sorge folgenden Blicken entschwunden ist.
Während dem ist der schnellsegelnde Lootsenkutter bereits in der Nähe des gestrandeten Schiffes angekommen, umfährt es in einem weiten Bogen und entfernt sich in der Richtung nach dem Rettungsboot, ohne angelegt zu haben. Zwei lange, lange Stunden vergehen, da sehen die zurückgebliebenen Frauen das Rettungsboot im Schlepptau des Lootsenschiffs wieder auflaufen, nicht mehr weit vom rettenden Strande läßt es sein Tau, und von Woge zu Woge getragen, legt es unversehrt an seinem Stationsort an. Alles eilt ihm entgegen, um Kunde von den Geretteten zu haben, aber nur die Mannschaft steigt aus dem rettungverheißenden Boot und bringt die traurige Nachricht, daß vier Mann noch in dem einen Mast sich befinden, aber bei der fürchterlichen Brandung am Riff und den wilden Wogen sei ein Anlegen und eine Rettung unmöglich gewesen.
So mußten die armen vier Unglücklichen, an den schwankenden Mast geklammert, von den unter ihnen sich brechenden zerstörenden Wellen umtost, die ihnen so nahe geglaubte Rettung wieder verschwinden sehen.
Der Abend brach herein, immer furchtbarer heulte der Sturmwind mit dem tiefen Getose der sich brechenden Meereswellen, der Leuchtthurm warf sein Licht weit hinaus in die finstere Nacht, verkündete den armen Unglücklichen den rettungbringenden nahen Strand und gab ihnen dadurch Muth, trotz des schrecklichen Sturmes und des unter ihnen gähnenden Grabes die lange schauervolle Nacht auszuharren, bis mit dem sehnlichst erwarteten Morgen der Sturm sich gelegt und Hülfe und Erlösung ihnen gebracht werden könnte.
[260] Der Morgen brach heran, der Sturm hatte etwas nachgelassen, als auch schon die Rettungsmannschaft wieder versammelt war, um von Neuem ihr Rettungswerk zu beginnen, denn noch sah man die Unglücklichen im Maste hängen. Am Strande selbst war das abgerissene Rettungsboot des gestrandeten Schiffes wie mannigfache andere Schiffstheile angetrieben worden, darunter auch ein Bund Schiffspapiere, aus denen ersichtlich wurde, daß das gestrandete Schiff „Gretjelina“ benannt war und einem ostfriesischen Rheder gehörte, der das Schiff selbst führte.
Im Schlepptau des Lootsenschiffes fuhr das Rettungsboot mit dem sehnlichsten Wunsche ab, daß es die Unglücklichen nunmehr befreien würde. Nach vier Stunden kehrte es aber mit der erschütternden Nachricht zurück, daß, als es kaum eine Viertelstunde vom gestrandeten Schiff entfernt gewesen, der letzte Mann von einer hohen Welle herabgespült worden sei und gleich den Anderen sein Grab auf dem tiefen Meeresgrunde gefunden habe.
Die dunklen Wolken hatten sich gelichtet, einzelne Sonnenstrahlen beleuchteten die grünen Meereswellen, aber an dem sonst so belebten Strande war es still und öde geworden, aus dem Meere ragten die nackten Masten des verlassenen Schiffes, und das Unglück der untergegangenen Mannschaft betrauernd, war Alles in seine Wohnung zurückgekehrt, nur die Schwärme wilder Enten und Gänse zogen, von den schreienden Möven unterbrochen, am Strande auf und nieder.
Auf den bang verlebten Tag sollte aber eine noch schauervollere Nacht folgen.
Gegen Mitternacht weckte ein furchtbarer Nordweststurm alle Bewohner der Insel, der Sturmwind tobte heulend um die kleinen Häuser, das Herabstürzen vieler Schlöte erfüllte Alles mit Besorgniß, und öfters war es, als ob der Boden der Häuser erzitterte; dazwischen hallten hohl und dumpf die Schläge der hochbrandenden Meereswogen, und von trüber Ahnung erfüllt, sah Jedes dem grauenden Morgen entgegen.
Welch ein Bild bot sich hier dem Beschauer dar! Von dem breiten schönen Strande war nichts zu entdecken. Die hohen Meereswellen schlugen brandend an den Dünen empor, daß der weiße Meeresschaum wie Schneeflocken darüber jagte. Die aufgestellten schweren Badekarren lagen zertrümmert an der Dünenwand, und die von den Dünen nach dem Strande festgerammte lange Brücke war in die Höhe gehoben und zerrissen. Auf dem Meere selbst sah man verschiedene Schiffe in den wilden Wogen kämpfen; besonders war Aller Aufmerksamkeit auf einen großen Dreimaster, ein sogenanntes Vollschiff, gerichtet, das mehr und mehr dem Riffe zugetrieben wurde. Schon glaubte man ein Stillstehen des Schiffes und somit ein Festsitzen auf dem Riffe wahrzunehmen, als am Horizonte die dunklen Rauchwolken eines Dampfschiffes sichtbar wurden, welches die Gefahr des Dreimasters bemerkte, ihn in sein Schlepptau nahm und aus drohendem Untergange rettete.
Da hörte man wieder den Ruf: „Seht dort die Brigg! Die Segel sind zerrissen, sie treibt unaufhaltsam nach dem Riffe! Seht, seht, sie sitzt bereits fest, die Mannschaft hat sich in die Masten gerettet!“
In gleicher Linie mit dem vor zwei Tagen gestrandeten Schiffe blickte Hülfe flehend von den schaurig schwarzen Masten, an denen der dunkle Fetzen eines zerrissenen Segels vom Sturme gepeitscht wurde, die Bemannung nach dem Rettung bietenden Strande. Aber heute, wenn auch die See wild aufgeregt war, galt bei der Rettungsmannschaft kein langes Besinnen. Rasch wurde das Rettungsboot aus dem Stationshause gezogen, und ebenso rasch lag es in den stürmenden Wellen, dem freudigen und ebenso bangen Blicke der am Strande Stehenden entzogen.
Das Lootsenschiff hatte schon früher die Gefahr der Brigg bemerkt und war auf sie zugesteuert. Bald hatte es deren gefahrvollen Platz erreicht, das Schiff vollständig umfahren und wendete nach dem Rettungsboote.
Zu gleicher Zeit wurde die Nothflagge sichtbar, als Zeichen, daß Hülfe dringend nöthig, und so kehrte das Lootsenschiff, das Rettungsboot im Schlepptau, nach dem gestrandeten Schiffe zurück, und beide legten in nächster Nähe an. Nach Verlauf einer Stunde sah man beide Boote sich wieder vom Schiffe entfernen, zwischen den hohen Wogen verschwinden, und mit beklommenem Herzen wurde ihrem Kommen entgegengesehen, in der Hoffnung, daß noch zeitig die Rettungsmannschaft zur guten Hülfe eingetroffen.
Die Dämmerung brach bereits herein, da sah man nicht mehr weit vom Strande, von Welle zu Welle getragen, das Rettungsboot sich Bahn durch die schäumende See erkämpfen, und im Boote flatterte zu Aller Freude die Rettungsflagge, ein rothes Kreuz in weißem Felde mit schwarzem Rande, zum Zeichen, daß die Rettung gelungen. Von Mund zu Mund verbreitete sich längs des Strandes die frohe Kunde: „Die Mannschaft ist gerettet!“ Und die Taschentücher an Stöcken und über den Köpfen schwenkend, eilte Alles dem rasch sich nähernden Boote entgegen, um, nicht achtend einiger tückischen Wellen, welche den zu kühn Vordringenden noch über die Füße flutheten, die Ersten beim Willkommsgruß zu sein.
Von einer leichten Welle getragen, mit einem kräftigen Ruderschlage unterstützt, fährt das ersehnte Boot mit seinen Geretteten auf dem Strande auf. Rasch springt die Rettungsmannschaft aus dem Boote, Jeder einen Geretteten auf dem Rücken, und fünf Mann werden auf dem Strande niedergesetzt. Von allen Seiten werden die Geretteten umdrängt und mit Fragen bestürmt; aber vor Erschöpfung und Kälte an allen Gliedern zitternd, vermögen die nur englisch sprechenden Matrosen wenig zu antworten, und erst im Gasthause angekommen, mit trockenen Kleidern umhüllt, nach einer wärmendem Suppe und kräftigem Beefsteak, ihre thönernen Pfeifen anzündend und schmauchend, erzählten sie ihre Erlebnisse:
„Unser Schiff, die ‚Asia‘ war mit zweihundertachtzig Lasten Kohlen für die holländische Insel Texel beladen und hatte mit unserm Capitain eine Bemannung von neun Mann.
Am 22. September fuhren wir von der englischen Küste ab. Ein heftiger Sturm zerriß unsere Segel, trieb uns von unserm Course ab, und nachdem am zweiten Tage unser Schiff ein Leck bekommen, so daß wir stets an den Pumpen stehen mußten, sahen wir uns mit dem grauenden Morgen dem Borkumer Riff zugetrieben.
So erschreckend jedem Schiffe diese Wahrnehmung sein muß, so klammerten wir uns dennoch an die Hoffnung, daß unser Schiff noch so lange sich auf dem Riff halten würde, bis unsere Gefahr bemerkt und wir gerettet werden könnten; mit dieser Hoffnung setzten wir unsere Pumpversuche fort. Jetzt erkannten wir an der scharfen Brandung, daß wir in nächster Nähe des Riffs waren. Alle drängten sich nach dem hintern Mast zur Rettung, das Pumpen aufgebend, als unser Schiff auch schon am Riff auffuhr.
Rasch hatten wir den Mast erstiegen – da wälzten sich die fürchterlichsten Wogen über das Verdeck, sofort alle Bretterverschläge mit sich fortreißend, so daß das Schiff auf dem Riff auf- und niedergeschaukelt wurde – und späheten in dieser schreckvollen Lage nach der so schnellen Rettungsmannschaft der Borkumer Insel aus.
Wohl kaum eine Stunde war vergangen, da sahen wir auch schon den Lootsenkutter auf uns zusteuern. Mit freudig gehobener Brust sahen wir die tobende Fluth scharf von seinem Kiel durchschnitten, und mit der einen Hand den von den Wogen hin- und herschwankenden Mast umklammert haltend, winkten wir ihm freudig zu. Unsere Nothzeichen wurden durch Aufziehen der Nothflagge beantwortet, er steuerte aber, uns in einem weiten Bogen umfahrend, zu unserer Besorgniß in nordwestlicher Richtung ab. Doch unsere Sorge sollte nicht lange dauern, denn bald wendete er wieder auf uns zu, und in seinem Schlepptau folgte ihm das Rettungsboot. Jetzt konnten wir endlich mit Gewißheit unsere Erlösung erwarten, als zwei mächtige Wogen sich über unser Fahrzeug stürzten, die erste zertrümmerte unsere Seitenwand, die zweite erfaßte unseren Rettungsmast, mit einem fürchterlichen Krach brach er in der Mitte zusammen, und wir wurden mit ihm in die brandende See geschleudert. Wir Fünf stürzten in die wild umher hängende Takelage, hielten uns darin fest und arbeiteten uns trotz der hohen uns überfluthenden Wogen nach dem andern Mastbaume, an dem wir noch einen kurzen Halt fanden. Der Capitain mit zwei Matrosen verschwand in der See, und ein Matrose tauchte, an den gebrochenen Mastbaum geklammert, der von einzelnen Tauen am Schiff gehalten wurde, bei jeder Welle auf und nieder.
Inzwischen war das Rettungsboot angekommen, warf uns das Rettungsseil zu, und so ließen wir uns durch die schäumenden Wellen hinüberziehen, nur der auf dem Mastbaume aus den [261] Wellen auf- und niedertauchende Matrose vermochte das Rettungsseil nicht zu fassen, seine Rettung mußte aufgegeben werden.“
So schloß der Bericht des geretteten Steuermanns. – Die fürchterlichen Seestürme hatten aber alle Badegäste so erschreckt, daß mit dem ersten schönen Tag das Dampfschiff mit den letzten Badegästen nach Emden abfuhr, wo uns die freudige Nachricht mitgetheilt wurde, daß von dem holländischen Lootsenkutter der auf dem Mastbaume zurückgelassene Matrose am andern Tage gerettet worden, was bei einer vollkommenen Ausrüstung des deutschen Rettungsbootes am Tage des Schiffbruchs gewiß hätte geschehen können.
Es ist nämlich die gesammte Lootseneinrichtung an der Nordsee von einer Privatgesellschaft gegründet, welche ihren Sitz in Emden hat. Dank dieser Gesellschaft ist auf Borkum eine Rettungsstation eingerichtet, welche das Rettungsboot liefert und einem jeden Schiffer im Rettungsboot zwei Thaler für eine Ausfahrt, und für jeden geretteten Mann fünf Thaler zahlt. Diese jedenfalls sehr gering angesetzte Rettungsprämie genügt, um bei dem innewohnenden edlen Trieb der Insulaner Schiffbrüchige mit Aufopferung ihres eigenen Lebens zu retten; nicht aber entspricht das Rettungsboot selbst den Anforderungen. Zwar ist es leicht und fest gebaut, doch gegen eine überstürzende Welle so wenig geschützt, daß die Einlegung eines doppelten Bodens erforderlich wäre, damit das Boot sich selbst wieder entleeren kann und die Mannschaft nicht gezwungen ist, bei einem solchen Unfall ihre Ruderarbeit für Ausschöpfen des Bootes einzustellen. Mit einer solch bewährten Einrichtung würde die Mannschaft auch kühner vorgehen können.
Ferner möchte es unbedingt nöthig sein, nach einem so gefahrvollen Orte, wie die Insel Borkum mit ihrem gefürchteten Riff ist, während der Aequinoctialstürme bewährte Beamte zu versetzen, damit diese selbstständig handeln können, um bei sehr stürmischer See theils höhere Prämien zu bestimmen, theils auch von der Hauptstation durch den Telegraphen den Abgang eines Dampfbootes zu ermöglichen. Wäre ein solches an den beiden Tagen zur Stelle gewesen und hätte man die bewährten Rettungsraketen zur Hand gehabt, so wären möglicher Weise auch die oben angeführten Opfer nicht zu beklagen gewesen.
Hoffentlich wird diesem Mangel durch eine zweckentsprechende Einrichtung abgeholfen werden; am durchgreifendsten dürfte dieselbe nur dann erzielt werden, wenn das Ganze Staatsinstitut geworden und die deutschen Küsten vom deutschen Reich ihren vollen Schutz genießen.
Erst einmal seit dem Bestehen des amerikanischen Freistaates war es einem Ausländer gelungen, eine ähnliche Stellung unter den Staatsmännern der jenseitigen Republik einzunehmen, wie sie Karl Schurz, der kühne Befreier Gottfried Kinkel’s aus dem Zuchthause zu Spandau, sich erkämpft hat. Jener war ein Genfer, Albert Gallatin, welcher als neunzehnjähriger Jüngling nach Amerika ging, um an dem Unabhängigkeitskampfe der Colonien gegen das englische Mutterland Theil zu nehmen, und welcher dann unter der Präsidentschaft von Jefferson und jener von Madison mit der Leitung des Finanzministeriums beauftragt war, und zuletzt als einer der Bevollmächtigten seines Adoptivvaterlandes beim Abschluß des Friedensvertrages von Gent mitwirkte. Wir sagen, eine ähnliche Stellung, denn Karl Schurz hat eine höhere Stufe erklommen, die höchste, welche ein Ausländer erreichen kann, indem er Mitglied des Senates geworden ist, einer Körperschaft, welche mit dem Volks-Hause des Congresses die gesetzgebende, und mit dem Präsidenten wichtige Attribute der vollziehenden Gewalt theilt.
Karl Schurz war, wie Albert Gallatin, noch sehr jung, als er 1852 nach den Vereinigten Staaten kam, etwa dreiundzwanzig[WS 2] Jahre. Gallatin hatte der Freiheitsdrang getrieben; er wollte einem um seine Unabhängigkeit ringenden Volke Hülfe leisten; Karl Schurz hatte für die Freiheit und Einheit des eigenen Vaterlandes gekämpft und sein Lohn war Verbannung. Doch das Loos seines Freundes und Lehrers, des deutschen Dichters Gottfried Kinkel, war ein noch viel grausameres. Ihn umschlossen die düsteren Kerkermauern. In der Zuchthausjacke büßte der deutsche Dichter am Spinnrocken in einsamer Zelle zu Spandau das Verbrechen, sein Vaterland geliebt zu haben. Der Heimath Lebewohl zu sagen, in welcher der Freund und Kampfgenosse unwürdige Behandlung erduldete, dies vermochte Karl Schurz nicht; selbst durch eine kühne Flucht aus Rastatt den Standrechtskugeln entronnen, entwarf er den noch viel kühneren Plan zur Befreiung Kinkel’s und mit eigener Gefahr für Leben und Freiheit rettete er sich den Freund, der Welt den Sänger. Und als der Mann mit dem festen Charakter und der männlichen Entschlossenheit, mit den markirten Zügen, den klug blitzenden braunen Augen und dem dunkelblonden Haar, wie ihn Moritz Wiggers in der „Gartenlaube“ von 1863 (Nr. 7) gezeichnet hat, glücklich vollbracht, was zu vollbringen er sich vorgesetzt, schied er, bitteres Wehe im Herzen, von dem heimischen Boden, um sich nach kurzem Aufenthalt in London jenseits des Meeres ein neues Vaterland zu suchen.
Karl Schurz widmete die ersten Jahre seines Aufenthaltes in Amerika ernsten Studien. In einem kleinen Städtchen Wisconsin’s lebte er zurückgezogen. Dort machte er sich mit der Sprache, den Gesetzen und der Geschichte des Landes vertraut. Der im Jahre 1854 durch die Douglas’sche Truglehre von der Volkssouveränetät, vermittelst welcher die Negersclaverei in die noch nicht unter die Staaten aufgenommenen Gebietstheile eingeschmuggelt werden sollte, neu entzündete Kampf der freien Staaten des Nordens gegen die Negersclaverei rief Karl Schurz zum ersten Male auf die politische Bühne. Mit Erstaunen und Begeisterung berichteten anglo-amerikanische Blätter von einem jungen Deutschen, der in herrlicher Rede, in schönem und classischem Englisch die Sache der Freiheit zu vertheidigen gekommen sei. Der Name Karl Schurz flog zuerst im Nordwesten von Mund zu Munde, er sollte sich bald über alle Theile des Landes verbreiten, gefeiert werden unter den Republikanern, gefürchtet von den Demokraten, die bis dahin gewohnt waren, auf die Stimmen der eingewanderten Deutschen zu rechnen. Stephen Douglas, der berühmte Senator von Illinois, der Führer des nördlichen Flügels der Demokraten, fand in dem kühnen Fremdlinge einen ebenbürtigen – einen überlegenen Gegner. Schurz’ „Anklageact“, wie er seine Hauptrede gegen Douglas nannte, trug nicht wenig dazu bei, die Deutschen massenhaft aus dem demokratischen sclavereifreundlich gesinnten Lager in das freiheitliche der Republikaner zu führen und die Präsidentenwahl im Jahre 1860 zu Gunsten der Letzteren zu entscheiden.
Abraham Lincoln belohnte die Dienste, welche der deutsche Demosthenes der Sache der Freiheit geleistet, mit dem Gesandtschaftsposten in Spanien. Allein kaum war Karl Schurz an dem Hofe der tugendsamen Isabella erschienen, als auch schon die Kriegstrompete in den Vereinigten Staaten erschallte. Konnte er, während die von ihm mit den Waffen des Verstandes und aus vollem Herzen vertheidigte Sache die Bluttaufe erhielt, müßig an dem Hofe der steifen Etiquette in dem Dufte der Unschuldsrose rasten? Wer hätte dies von Karl Schurz denken dürfen? Er trat als Brigadegeneral in die Armee, wurde bald zum Generalmajor befördert und befehligte in der unglücklichen Schlacht von Chancellorsville eine aus lauter deutschen Regimentern bestehende Division des elften Armeecorps. Dem Ungestüm, der überlegenen Strategie Stonewall Jackson’s, der mit Uebermacht aus schützendem Walde hervorbrach, konnte er nicht Stand halten.
Nach beendigtem Kriege finden wir Karl Schurz als Redacteur einer in englischer Sprache gedruckten republikanischen Zeitung in Detroit, im Staate Michigan; allein die journalistische Laufbahn konnte ihn nicht befriedigen, und – offen gestanden, die Journalistik war auch kein Feld für ihn, außer zur Vorbereitung für die Carriere des Staatsmannes, in welcher Alle, die ihn mit Aufmerksamkeit und mit mehr als oberflächlichem Blicke beobachtet hatten, seinen wahren Beruf erkannten.
Aber in Amerika genügt Talent und staatsmännische Befähigung [262] nicht; es muß die Gelegenheit gefunden werden, die öffentliche Bühne zu betreten, und dazu gehört politischer Einfluß. Die Senatoren müssen aus den Einwohnern des betreffenden Staates gewählt werden, und so mußte Karl Schurz, wenn er Aussicht haben wollte, Mitglied dieser wichtigen Körperschaft zu werden, sich in einem Staate niederlassen, in welchem das deutsche Element seinen Einfluß geltend machen konnte. Nur in einem solchen Staate durfte man hoffen, daß die Amerikaner bewogen werden könnten, einen Deutschen, und wären seine Verdienste auch noch so groß und seine Talente auch noch so hervorragend, in die Versammlung zu wählen, in welcher Männer wie Daniel Webster, Henry Clay, Stephen Douglas, Thomas Benton und Andere unsterblichen Ruhm sich erworben hatten. Ein solcher Staat ist Missouri, mit seiner weit verzweigten deutschen Bevölkerung.
Die Stadt St. Louis, eine der bedeutendsten Städte, enthält ein deutsches Element, gewichtig nicht blos durch Zahl, sondern ebenso auch und vielleicht noch in höherem Grade durch seine Bildung und Intelligenz. Das Deutschthum von St. Louis nimmt wohl den ersten Rang unter allen Städten in den Vereinigten Staaten ein, in welchen eine namhafte deutsche Bevölkerung gefunden wird. Dort war der geeignete Platz für Karl Schurz, um unter seinen Landsleuten die ihm gebührende Anerkennung und dadurch unter den Amerikanern den erforderlichen Einfluß zu erlangen. Es bot sich ihm eine günstige Gelegenheit, einen Antheil an der „Westlichen Post“, einer bedeutenden und einflußreichen deutschen Zeitung in St. Louis, zu erwerben und in deren Redaction einzutreten, letzteres wohl nur nominell, denn er scheint nicht, daß Karl Schurz selbst viele journalistische Thätigkeit in dem Blatte entwickelt. Diese Stellung als Vertreter der Presse, welche in den Vereinigten Staaten von Amerika allerdings eine Großmacht ist, trug ohne Zweifel viel dazu bei, daß die gesetzgebende Versammlung des Staates Missouri bei erster Gelegenheit den ersten deutschen Senator erwählte.
So trat also Karl Schurz in jene Hallen, in welchen die größten Staatsmänner, welche der amerikanische Freistaat hervorgebracht, das Wohl des Vaterlandes berathen hatten, in jene Körperschaft, welche in früheren Zeiten unter einem Washington, Jefferson, Madison, Monroe, Jackson der Stolz des Landes gewesen, welche aber in neuester Zeit viel von ihrem Glanze verloren hatte. Immerhin zählt der Senat der Vereinigten Staaten auch heute noch Leute von staatsmännischer Bedeutung, einen Trumbull, Charles Sumner, General Logan, aber die Männer aus dem Süden, welche, was auch immer ihre Vorurtheile in Bezug auf das „besondere Institut“ der Negersclaverei gewesen sein mögen, doch immerhin durch große politische Befähigung hervorragten, sie sind heute ersetzt, oder vielmehr ihre Sitze sind eingenommen durch verdorbene nördliche Politiker, welche im Süden nach Aemtern jagen, die sie in ihren eigenen Staaten nicht erhalten konnten, oder durch Persönlichkeiten, welche ihrer schwarzen Hautfarbe, die sie früher zu Parias der Gesellschaft gestempelt hatte, heute den Eintritt in den Senat verdanken.
Man kann zugeben, daß Karl Schurz weder in seiner diplomatischen, noch in seiner kriegerischen, noch in seiner journalistischen Laufbahn besonders Ausgezeichnetes geleistet hat; in den Hallen des amerikanischen Senates aber hat er Gelegenheit gefunden, sich als einen bedeutenden Redner, als einen Staatsmann ersten Ranges und als einen ehrlichen Politiker von wahrhaft freisinnigen Grundsätzen zu bewähren. In dieser Beziehung ist er ein echter Deutscher, der die Freiheit um der Freiheit willen liebt, die Grundsätze, die er für richtig und wahr erkannt hat, muthig und furchtlos und unbekümmert um persönlich nachtheilige Folgen vertritt und politische Corruption aus tiefster Seele haßt und mit aller Kraft verfolgt. Daß ein solcher Mann unter seinen Landsleuten in Amerika Liebe und Verehrung und unter den Eingebornen Achtung und Bewunderung finden mußte, ist natürlich. Karl Schurz ist heute der populärste Mann unter den Deutschen in den Vereinigten Staaten, bewundert und geschätzt von den ehrlichen Amerikanern und gefürchtet und gehaßt von allen corrumpirten Politikern.
Es waren hauptsächlich vier Vorkommnisse, bei denen Karl Schurz sich als scharfblickender Staatsmann bewährt hat. Zuerst zog er die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, als er im Senate den von der Regierung abgeschlossenen Kaufvertrag über die Insel St. Domingo bekämpfte. Seiner Beredsamkeit und seinen scharfsinnigen Auseinandersetzungen hauptsächlich verdankte die Regierung die erlittene Niederlage, die ihm Präsident Grant auch nie vergessen hat. Die sofortige Absetzung eines Verwandten von Karl Schurz von einem einträglichen Staatsamte war die kleinliche Rache dafür. Ein Antrag auf Untersuchung großartiger Betrügereien im Zollhause in New-York, an dessen Spitze ein intimer Freund des Präsidenten stand, gab Karl Schurz Gelegenheit, seine Grundsätze über die in der Regierung und allen ihren Zweigen nothwendige Ehrlichkeit und Reinheit zu entwickeln, und sein Auftreten in der Frage über den Verkauf von Waffen aus den Regierungsarsenalen an das Gambetta’sche Frankreich, in der zweiten Periode des Krieges mit Deutschland, bewies, daß Karl Schurz, während er die Liebe zum Heimathlande treu im Herzen bewahrt, vor Allem für die Ehre der Nation einsteht, deren Glied er geworden ist. Wird diese Ehre durch freveln Bruch der Neutralitätspflichten gegenüber einem befreundeten Staate, oder durch niedrigen Schacher von Dienern des Volkes verletzt, so ist es die Pflicht des wahren Patrioten, durch offene Verdammung der schuldigen Einzelnen den gefährdeten Ruf des Ganzen zu retten. Karl Schurz hat diese Pflicht muthig erfüllt, und wohl konnte Präsident Grant ausrufen: „Das ist Tell’s Geschoß!“
Bei der Amnestiefrage trennte sich Karl Schurz von seinem Freunde, dem Senator Sumner von Massachusetts, und ging mit der Regierung. Die hochherzigen Gesinnungen des deutschen Senators gegenüber dem besiegten politischen Feinde waren in zu großem Abstande von dem engherzigen Fanatismus des Puritaners von Neu-England. Während dieser die Theilnehmer an dem Rebellionskriege immer noch von dem Vollgenusse der politischen Rechte ausschließen will, ist der deutsche Senator bereit, den Frieden zwischen Norden und Süden durch Versöhnung und Vergessen zu bekräftigen. Schon in Missouri hat er einer solchen Politik des Entgegenkommens zum Siege verholfen. Durch die dortige, noch während des Krieges zu Stande gekommene, nach dem Urheber der gehässigen, rechtsverkümmernden Bestimmungen die Drake-Verfassung genannte Constitution war Jeder von der Ausübung der politischen Rechte ausgeschlossen, der nicht beschwören konnte, nicht nur daß er keinen thätigen Antheil an der Rebellion der Sclavenhalter genommen, sondern daß er niemals auch nur für dieselbe Sympathie gehegt, so daß Mancher, der später für die Sache der Union geblutet, der aber vielleicht in der ersten Zeit des Bürgerkrieges auch nur ein günstiges Wort für die Südstaaten geäußert, seines Wahlrechts beraubt war.
Karl Schurz hat das Verdienst, in Verbindung mit Gratz Brown, dem jetzigen Gouverneur des Staates, und in Verbindung mit den deutschen Republikanern von St. Louis jene Drake’sche Verfassung zum Falle gebracht und durch die Abstimmung der Bürger dies unversöhnliche und gehässige, Tausende rechtlos machende Gesetz entfernt zu haben. Daß heute der ehemalige Sclavenstaat Missouri des inneren Friedens und der ruhigen Entwicklung seines Wohlstandes sich erfreut, während in Georgien und anderen südlichen Staaten noch die Wunden bluten, ist der hochherzigen von Karl Schurz vertretenen Versöhnungspolitik zu verdanken.
Daß die Deutschen in Amerika stolz sind auf ihren Landsmann, der muthig dem Unrechte gegenübertritt, wo immer und unter welcher Gestalt und Form es ihm begegnet, ist nicht zu verwundern. Seine Haltung ist so ganz dem deutschen Charakter, wie ihn Karl Schurz selbst in den Debatten über den Waffenverkauf geschildert hat, angemessen. „Die Deutschen in Amerika,“ sagte er, als ihm die Vertheidiger des Waffenschachers vorwarfen, er wolle die deutschen Stimmen in’s Lager der Demokraten führen, „die Deutschen sind Feinde der Corruption, wo immer sie sich zeigt. Sie haben dies in New-York bewiesen, als es sich darum handelte, der corrupten Stadtverwaltung ein Ende zu machen. Sie werden auf ihrem Posten sein, wenn auch in höheren Regionen die Reinigung nöthig werden sollte.“
Ja, die Deutschen sind Idealpolitiker; sie sehen und suchen im Freistaat die höchste Vervollkommnung der Rechtsidee und darum hassen sie Unehrlichkeit im öffentlichen Leben. Welch hohen Rang übrigens Karl Schurz auch bei den ehrlichen Amerikanern einnimmt, darüber wollen wir die anglo-amerikanische Presse sprechen lassen. „Karl Schurz,“ sagt eines der bedeutendsten Blätter, „hat durch seine Rede (über den Waffenverkauf) ein [263] Interesse erregt und eine Zuhörerschaft angezogen, wie dies in der neueren Geschichte der Senatsverhandlungen beinahe ohne Beispiel ist. Der Schwarm von Diplomaten, von Mitgliedern des anderen Hauses, von hohen Beamten und Würdeträgern, – die Damen nicht zu vergessen – welche die Galerien und die Halle des Senates während dieser meisterhaften Rede füllten, waren meist sowohl durch das Interesse an dem Gegenstande, als durch den Ruf herbeigezogen, den sich Karl Schurz als einer der tiefsten Denker, der kühnsten und vollendetsten Redner, dessen Stimme je in diesem Saale ertönte, erworben hat.“
Der Washingtoner Correspondent eines anderen Blattes beschreibt in anschaulichster Weise die Aufregung, die vor und während der Philippika im Saale geherrscht. Da sehen wir Kopf an Kopf in den Galerien gedrängt; wir sehen, wie der Saal sich füllt, bis auch der letzte freie Raum besetzt ist. Der Vicepräsident verläßt seinen Sessel und nimmt in der unmittelbarsten Nähe des Redners Platz; der Präsident sendet seinen Privatsecretär, den General Porter, um sofort den Inhalt der Rede und den von ihr gemachten Eindruck zu erfahren; die Gegner, welche heute ihre Antwort erhalten sollen, sind von nervöser Unruhe gepeinigt; und unterdessen sitzt der Held des Tages, ruhig in seinen Sessel zurückgelehnt, und wartet der Eröffnung der Sitzung. Es ist dasselbe Gesicht mit den markirten Zügen, mit den braunen, dunklen Augen, es ist dasselbe dunkelblonde Haar, welches uns Moritz Wiggers in der „Gartenlaube“ geschildert hat, und welches jetzt ein amerikanischer Berichterstatter zeichnet. Da sitzt er in einfachem blauen Rock und grauer Hose, eine schmale schwarze Halsbinde um den umgelegten Kragen geschlungen; doch jetzt erhebt er sich – der Vorsitzende hat dem Senator von Missouri das Wort gegeben und in tiefster Stille lauscht Jedermann den Körper vorgebeugt, dem klaren, eindringenden, scharf logisch geordneten Vortrag, der oft – eine seltene Erscheinung in den ehrwürdigen Hallen des Senates – von Beifallsbezeigungen unterbrochen wird.
„Beim Himmel!“ flüstert ein Zuhörer dem Correspondenten in das Ohr, „ist dies nicht das Ideal eines echten Mannes, der auf dem Wege zur Erreichung des höchsten Ruhms wandelt? Und wie sie ihn hassen, die Corrupten, und wie das Volk an ihm hängt! Und doch hat er auch nicht die Spur von einem Demagogen an sich!“
Nein! wenn er nur ein Demagoge wäre, würde er gewiß die Deutschen nicht täuschen. Bei diesen liegt seine Stärke nicht in seiner Beredsamkeit, sondern in seinem ehrlichen Charakter. Der feste Charakter und die männliche Entschlossenheit, welche Moritz Wiggers am Morgen des 8. November 1850 aus diesen Gesichtszügen herausgelesen, haben sich bewährt und ihn auch jetzt wieder auf die Seite des Rechtes gestellt. Möglich, daß ihm in der Zukunft der Dornenkranz des Märtyrerthums winkt. Karl Schurz weiß dies; denn er weiß, daß Republiken undankbar sind.[2]
- ↑ Mit Bezug auf unsere neuliche Notiz in Nr. 3 haben wir heute nachzutragen, daß H. Kruse noch ein drittes Drama: „Wullenwever“
geschrieben, dessen zweite Auflage vor Kurzem erschienen ist.Die Redaction.
- ↑ Pierce, der Washingtoner Correspondent der „New-Orleans-Times“, bringt eine enthusiastische Darstellung der obenerwähnten großen Rede von Karl Schurz und schließt mit folgendem Bericht über das Weib des großen Redners und Staatsmannes. Er sagt: „Ich war zufällig Zeuge einer kleinen Scene häuslichen Glücks, welche für mich äußerst rührend war. Frau Schurz, die Frau des Senators, ist eine der schönsten und gebildetsten Frauen von Washington. Ihre Erfahrungen im gesellschaftlichen Leben haben ihr liebliches deutsches Wesen, welches so zart und natürlich ist wie das eines Kindes, in keiner Weise beeinträchtigt. – Sie hatte, wie ich später erfuhr, den Angriff des Senator Conkling gegen ihren Mann gelesen, und nach Frauenart hielt sie denselben für sehr gefährlich und ganz unwiderlegbar. Am Dienstag, als der Senator Schurz seine Entgegnungsrede hielt, befand sie sich in der höchsten Aufregung und eilte endlich, unfähig sich noch länger zu beherrschen um drei Uhr nach dem Capitol. Sie glaubte, um diese Zeit würde er zu Ende und alles Gute oder Schlimme nun vorüber sein. Am ersten Eingange traf sie den Thürsteher, horchend den Kopf nach der Seite gewandt. Sie frug nach ihrem Gatten. ‚O Madame,‘ rief der Mann, ‚er hält eine so herrliche Rede! Kommen Sie herein, die Damen sind alle im Saal.‘ Sie zögerte; ein Page eilte hinein und rief den Senator Sumner heraus. ‚Bitte, treten Sie ein,‘ bat der Massachusetts-Redner, ‚und hören Sie Ihren Gemahl in dem größten Erfolg, den jemals menschliche Lippen hervorgebracht.‘ Der Einladung Folge leistend, ließ sie sich durch die Menge nach einem Winkel geleiten, wo sie ihr Gesicht in den Händen barg und der theuren Stimme lauschte – ihrer Vertheidigung und ihrem ernsten Aufrufe an das amerikanische Volk zur Gerechtigkeit gegen uns selbst und zur Reinhaltung unserer Institutionen, während das unermeßliche Auditorium durch tiefe Stille oder stürmischen Beifall antwortete. Als die Stimme schwieg und sie endlich aufblickte, waren ihre Augen feucht von Thränen. Nach Frauenart hatte sie ihr Herz durch Weinen erleichtert.“
Seit Ende des vorigen Jahrhunderts haben Aerzte und Erzieher die schädlichen Einflüsse der Schule auf die Gesundheit der Schüler vielfach warnend hervorgehoben. – Heute ist die Angelegenheit bereits so weit, daß die höchsten Schulbehörden bemüht sind, aus dem bisher aufgesammelten Material die Grundzüge für die Gesundheitspflege der Schuljugend festzustellen.
In den veröffentlichten Berichten darüber ist auf alle Schuldisciplinen und die dazu erforderlichen Räumlichkeiten und Einrichtungen Bezug genommen, mit alleiniger Ausnahme des Gesangunterrichts, der ganz unerwähnt blieb. Ob z. B. auf höheren Schulen ein Musiksaal nöthig, wo derselbe gelegen und wie er einzurichten sei, darüber fand ich nichts.
Professor Virchow in Berlin hat in einer bei Reimer daselbst erschienenen Schrift die bisherigen ärztlichen Erfahrungen über die der Gesundheit schädlichen Einflüsse der Schule auf die Jugend vom wissenschaftlichen Standpunkte aus dargestellt und zusammengefaßt. – Hiernach ist beispielsweise die Zunahme der Kurzsichtigkeit auf höheren Schulen ganz enorm. Sie beträgt nach statistischen Ermittelungen für die Sexta zwölf Procent, zeigt mit den höheren Classenzielen ein regelmäßiges Aufsteigen und erreicht in Prima die Höhe von fünfundfünfzig Procent.
Hätte Herr Dr. Virchow in den Schriften, die ihm das Material zur Beurtheilung des heutigen Standes der Angelegenheit lieferten, nur eine Bemerkung darüber gefunden, daß durch widernatürliche Behandlung des Schulgesanges nicht nur vielfach Heiserkeit und Stumpfheit des Stimmorgans für die ganze fernere menschliche Lebensdauer herbeigeführt, sondern auch der Keim zu hartnäckigen Kehlkopfs- und Brustleiden, die oft zum Tode führten, gelegt wurde, so würde er gewiß nicht unterlassen haben, bei den am Schlusse der Schrift angeführten Schädlichkeiten und Krankheitsursachen auch den untüchtigen Schulgesang anzuführen. Das Wort Gesang kommt aber auch hier nicht einmal vor.
Den Behörden blieben schädliche Einflüsse in dieser Beziehung wohl nicht völlig unbekannt. Sie vermochten aber aus obigem Grunde dem Uebel nicht beizukommen. Man erließ wohl Rescripte wegen Schonung mutirender Stimmen, dieselben verbreiteten aber über das Wesen der Mutation selbst, das namentlich bei Knaben und Jünglingen sehr complicirter Natur ist, nicht die geringste Klarheit. Wie sehr dieselbe gerade hier nöthig gewesen wäre, geht daraus hervor, daß der Schulgesangunterricht im Allgemeinen, und selbst in höheren Schulen, die einen Fachlehrer für diese Disciplin zu berufen pflegen, doch in den meisten Fällen noch von Musikdilettanten ertheilt wird, von denen man nicht voraussetzen kann, daß sie mit der specifisch musikalischen Behandlung der Stimme überhaupt vertraut sind, noch viel weniger aber, daß sie die mit der Entwickelung des Körpers sich vollziehenden mannigfachen Stimmwandelungen bei Knaben und Jünglingen richtig erkennen, und für jede Entwickelungsperiode die zur Abwehr schädlicher Einflüsse nöthige Behandlungsweise rechtzeitig ergreifen sollen.
Ueber den pädagogischen Nutzen eines guten Schulgesanges will ich hier nicht weiter reden. Dagegen gehört es zu meiner Aufgabe, zunächst zu betonen, daß der Schulgesang nur dann einen Nutzen gewährt, wenn er mit der wissenschaftlichen Aufgabe einer Schule auf gleicher Höhe steht, oder deutlicher ausgedrückt, daß es ebenso unzweckmäßig ist, wenn in Bürgerschulen das Gebiet des volksthümlichen Gesanges überschritten und mit Knaben- oder Mädchenstimmen künstliche Figuralmusik betrieben wird, als es beklagenswerth ist, wenn höhere Schulen, deren Aufgabe der gemischte classische Chorgesang ist, sich kaum auf die
[264][266] Höhe der Aufgabe der Volksschulen zu stellen vermögen. Beides kommt vor und ist eine Quelle von schädlichen Einflüssen, die bisher mehr dumpf empfunden als klar erkannt wurden.
Richten wir zunächst das Augenmerk auf die Gesangdisciplin der höheren Schulen. Sie war ehedem von culturgeschichtlicher Bedeutung und stellte dem Lehrer die schwierigste Aufgabe.
Wie steht es heute mit dieser Disciplin? – Wer an diesen Anstalten irgend ein anderes Fach lehren will, muß zuvor den Nachweis führen, daß er in diesem sich auch Kenntnisse erworben hat. Nur beim Gesange ist man nicht so prätentiös. Ob ein Lehrer die Stimme kennt, die er behandeln und erziehen soll, wer fragt danach? wer prüft sein Wissen nach dieser Seite hin? wer beurtheilt, ob er der den höhern Schulen unfehlbar zustehenden Aufgabe, durch correcten Chorgesang auch auf die ästhetische Bildung der Schüler günstig einzuwirken, im ganzen Umfange gewachsen ist? und wenn Untüchtigkeit schädliche Einflüsse herbeiführt, wer erkennt und beurtheilt diese, wer schützt die Jugend? –
Auf all diese Fragen giebt es zur Zeit keine irgend befriedigende Antwort. – Thatsache ist, daß unter den obwaltenden Umständen oft Leute des alleroberflächlichsten Musikdilettantismus und ohne eine Ahnung von dem, was die Aufgabe fordert, zu Gymnasialgesanglehrerstellen gelangen, und daß unsere Jugend diesen Uebelstand oft mit Verlust des Wohllautes der Stimme und mit schlimmern Folgen für die Gesundheit zu bezahlen hat. – Fragt man ferner, auf die Sache specieller eingehend, wie hier oder dort unterrichtet wird, so ergiebt sich sehr planlos Verworrenes. Hier singt man in den untern Classen Liedchen nach der Lehrmethode der Elementarschulen, während das obere Classenziel vom Singen befreit; dort singt man zwar in obern und untern Classen, allein die Männerstimmen von den Knabenstimmen gesondert. Zu gemischt-chörigen Gesängen, mit denen die höhere Aufgabe dieser Schulen überhaupt erst möglich wird, kommt es in beiden Fällen gar nicht; wohl aber wird durch die mit dem Männergesange unvermeidliche Anwendung hoher Stimmlagen der Schädlichkeit des Gesanges für Jünglingsstimmen das Privilegium ertheilt. – Bisweilen ist wohl auch die Theilnahme am Gesange dem Belieben der Schüler anheim gestellt, und ich kenne sogar einen Fall, wo der Anstaltsdirector seinen Schülern das jungen Stimmen aller Kategorien stets verderblich werdende Mitsingen in öffentlichen Gesangvereinen nur dann noch ferner gestatten wollte, wenn sie auch die Schulsingestunde besuchten.
Als Pendant zu dieser die Singestunde als Strafstunde zeichnenden Anordnung paßt folgende Aeußerung eines Gymnasiallehrers, den ich im Bade Salzbrunn kennen lernte. Als wir eines Tages in der schattigen Brunnenallee uns befanden, erhielt ich auf die Frage: „wie steht es mit dem Gesange in Ihrer Anstalt?“ – wörtlich folgende Antwort: „Den ertheilt ein Elementarlehrer. Mit dem Gesange ist ja auf Gymnasien überhaupt nicht viel zu machen. In Sexta und Quinta, da singen die Jungen wohl noch, in Quarta und Tertia bricht schon die Stimme, in Secunda und Prima wird sie vom Bier und Tabak erst vollends verdorben.“ Mein Begleiter war sichtlich überrascht, von mir ganz entgegengesetzte Dinge zu vernehmen: wie ein Gymnasium eine wahre Goldgrube des Kunstgesanges sei, deren Ausbeute man früher sehr wohl verstanden habe; wie unendlich viel Gutes und Edles hier gefördert werden könne, ohne das übliche Stundenmaß zu überschreiten; wie empfänglich, dankbar und hingebend die Jugend alsdann für diese Disciplin sei, aber auch welche Gefahren ungeschickte Gesangbehandlung mit sich führe etc.
Das waren meinem Begleiter neue, aber wohl einleuchtende Dinge und er antwortete vollkommen zutreffend: „Ja freilich, das kommt alles auf die Persönlichkeit des Lehrers an.“
Während dieses Gespräches schlich ein bleicher Zeuge für meine Anklage, ein Opfer mißhandelten Gesanges, stumm grüßend an uns vorüber. Es war ein katholischer Landschullehrer aus Oberschlesien. Er hatte mir sein Unglück in herzzerreißender Weise geklagt. Aus übergroßem Eifer, seiner Kirche zu dienen, hatte er zur Messe längere Zeit wegen Mangels eines Tenoristen auch die Tenorsoli gesungen, und seine Baritonstimme zu unnatürlich hohen Tonlagen hinauf zwingen müssen. Seit drei Jahren war er bereits in Folge dessen kehlkopfskrank, sein Lehramt zu versehen war ihm schon in letzter Zeit nicht mehr möglich gewesen, schon schwebte er in der Sorge, daß, wenn auch diese Brunnencur nicht anschlage, er sein Amt verlieren und mit seiner Familie in Noth gerathen würde. Dazu schien leider alle Aussicht vorhanden zu sein.
Ich unterlasse es, aus meiner vieljährigen persönlichen Beobachtung und Erfahrung ähnliche Beispiele anzuführen; weiß ich doch, daß die Opfer des Gesangsmißbrauchs, in- wie außerhalb der Schulen, überall zu finden sind. Das Auffällige dieser Erscheinung wird ein Blick in die Vergangenheit erklären. Auf Gymnasien ist von jeher gesungen worden, da die ältesten Institute dieser Art mit Kirchen in Verbindung standen und diesen zu allen kirchlichen Functionen die Chöre stellten. An der Spitze solcher Chöre standen ehedem Männer von großer allgemeiner Bildung, innig vertraut mit den Geheimnissen der Stimmbehandlung und der Gesammtkunst des correcten, vocalen Tonsatzes. Das war z. B. der Fall an der Thomasschule zu Leipzig, die übrigens noch heute eins der würdigsten kirchlichen Chorinstitute Deutschlands ist. Mit dem Umschwunge des kirchlichen Lebens, der sich inzwischen vollzog, verloren viele solcher Stellen ihre frühere Bedeutung, – sie verarmten. Wo ehedem Künstler wirkten, mußten später Dilettanten aushelfen.
Diese Erbschaft traten auch die neueren Schulen an, die nie mit Kirchen in Verbindung standen. So nur konnte es geschehen, daß in den heutigen Berathungen über Gesundheitspflege der Schuljugend die heimtückische Seite des Gesanges übersehen wurde; daß kein Arzt auf den Gedanken gerieth, auch einmal statistisch zu ermitteln, wie viele liebe frische Kinderstimmen durch untüchtigen Schulgesang verletzt, wie vielen jungen Kehlen der Keim späteren Verderbens dadurch eingeimpft wurde.
Mit dem Gesangunterrichte in bürgerlichen Schulen steht es anders. Die musikalische Aufgabe dieser Institute ist, wie bereits angedeutet wurde, viel einfacher; sie besteht hauptsächlich im ein- und zweistimmigen Choral- und Liedergesange, der hier classenweise und in der Regel vom Classenlehrer selbst nach oft sehr verständigen Lehrplänen ertheilt wird. Die mit wenigen Ausnahmen vor dem Eintritte der Mannbarkeit hier zu Ende gehende Schulzeit ermöglicht diese Einrichtung, und die Seminarien sorgen dafür, daß die künftigen Lehrer eine für ihren Beruf ausreichende Musikbildung erlangen; wenn es mit Vorsicht geschieht, kann hier wohl auch durch Anwendung einer dreistimmigen Harmonie etc. für den Kunstgesang Vorbereitendes geschehen. Diese Vorsicht wird jedoch vielfach nicht beobachtet, vielmehr finden wir hier oft eine Neigung, die von der Natur so klar vorgezeichneten Grenzen dieser Schulen zu überschreiten und dadurch schädliche Einflüsse herbeizuführen. Die letzteren entstehen hauptsächlich durch Ueberanstrengung des Organs, und zwar durch Ausartung des Gesangs in Geschrei, wozu die Kinder nicht blos durch indiscrete Behandlung des Gesanges allein verleitet, sondern auch durch die ihnen zugemutheten Ueberschreitungen des natürlichen, das heißt leicht ansprechenden Umfanges ihrer Stimmen oft gezwungen werden, sowohl nach der Höhe als nach der Tiefe hin. Beides wirkt verderblich. Einen schädlichen Einfluß übt ferner die nicht rechtzeitige Inachtnahme der mit dem Wachsthum des Körpers sich schon vor dem Eintritte der Mannbarkeit vollziehenden Umwandlung des Stimmorgans, die bei den meisten Knaben sich über vier verschiedene Klangregionen erstreckt. Diese Stimmen sinken nämlich vom hohen Sopran zum Mezzosopran, von da in den Alt und zuletzt in den Contraalt, der vom Tenor, der hohen Männerstimme, nur um einzelne Töne noch entfernt ist.
Jede einzelne dieser Stimmwandlungen bietet für den Schiffbruch der Stimme, für die Beschädigung der Gesundheit Klippen und Gefahren, die durch verständigen Unterricht sehr wohl vermieden werden können.
Solche Vorgänge in der Stimme des einzelnen Schülers können selbst in einer zahlreich besuchten Classe vom Lehrer leicht wahrgenommen werden. Sobald nämlich manierlich gesungen und nicht geschrieen wird, hebt sich die einzelne Stimme, die tiefer wurde und der nunmehr durch zu hohes Singen Gewalt angethan wird, aus dem Chore ab und wirkt störend.
Auf solche Schmerzenslaute der Gewaltthat muß der Lehrer streng achten, den betreffenden Schüler sofort ermitteln und ihn einer tieferen Stimmkategorie einreihen. Die Gefahr ist dann beseitigt. Unmöglich aber wird diese Wahrnehmung, sobald der Schulgesang in Geschrei ausartet.
[267] Die Zahl der nicht gemischt-chörigen Liederbücher für Schulen aller Art ist unübersehbar und wächst täglich. Das ist jedenfalls ein Zeichen großer Regsamkeit auf diesem Felde. Schade nur, daß man von diesen Liederbuchverfassern nicht auch immer sagen kann: „wem Gott ein Amt giebt, dem giebt er auch den Verstand!“ Prüft man nämlich den Inhalt solcher Bücher lediglich nach ihrer musikalisch praktischen Seite hin, so wird man zunächst finden, daß die den jungen Stimmen stets Gefahr bringenden zu hohen Tonlagen in strotzender Fülle hier vorhanden sind.
Betrachtet man ferner die specifisch musikalische Behandlung solcher Bücher, also den Tonsatz derselben mit kritischem Auge, so gesellen sich zu den obigen Belastungszeugen der Unkenntniß des Schädlichen noch andere kräftige Mithelfer am Zerstörungswerke unserer Kinderstimmen. Da fehlt es an ausreichender Kenntniß des absoluten Vocalsatzes: das Clavier hat bei der Arbeit aushelfen müssen; die begleitenden Stimmen singen nicht, sondern hüpfen in unmelodischen Sprüngen umher, um harmonische Lücken zu stopfen. Drei- und vierstimmige Sätze drängen die armen Kinderstimmen in die äußerste Höhe und den tiefsten Abgrund.
Daß solche Uebelstände hier vorhanden sind, kann nicht befremden. Die allgemeine Einführung des Gesangunterrichts in Volksschulen trat erst mit der Regelung dieses Schulwesens ein, das bekanntlich neueren Ursprunges ist. Den Volksschullehrern lag es nahe, zunächst für ihre musikalischen Bedürfnisse zu sorgen, und sie haben dies nach besten Kräften gethan! Wenn sie in ihrer Aufgabe zu weit gingen, musikalisch nicht das Rechte trafen, ja Fehlgriffe thaten, wer könnte mit ihnen darüber rechten? – Seminarien haben nicht die Aufgabe, Gesangkünstler und Tonsetzer zu bilden. Man führe diese Disciplin in ihre natürlichen Grenzen zurück und beachte das oben Angedeutete, dann wird hier wenig zu wünschen übrig bleiben.
Nicht so einfach und übersichtlich verhält es sich mit den Erfordernissen einer Reform des höheren Schulgesanges. Diese Disciplin war noch vor nicht vielen Jahren, mit einzelnen Ausnahmen, eine völlig verkommene. An ihr ist viel verschuldet, und ihrer Aufhülfe stehen deshalb noch heute die sonderbarsten Vorurtheile hindernd entgegen. Die oben citirte Aeußerung eines Gymnasiallehrers ist in dieser Beziehung charakteristisch, und noch nicht einmal die schlimmste Sorte von Vorurtheilen, die gegen diese Disciplin in maßgebenden Kreisen oft noch bestehen.
Es liegt jedoch andererseits in unserer Zeit ein mächtiger Zug, die ehedem so hochbedeutend gewesene Chormusik wieder zu Ehren zu bringen. Wer z. B. in Norddeutschland dieses Wiederaufleben des erhabenen, correcten Chorgesanges unserer Altmeister beobachtete, dem kann nicht entgangen sein, daß die Gründung des Berliner Domchores durch Friedrich Wilhelm den Vierten hierzu den Impuls gab. Dieser Zug unserer Zeit konnte auch auf die höheren Schulen, welche die Mittel zur Bildung ähnlicher Chöre in sich vereinigen, nicht ohne günstige Einwirkung bleiben. Nachdem einzelne Schulen in dieser Beziehung ein gutes Beispiel gegeben, ist die Erkenntniß, daß die betreffende Hand an diese Disciplin zu legen sei, in weitere Kreise gedrungen und im Fortschritt begriffen. Freilich langsam und mit großer Scheu (aus Sparsamkeit) gegen das einzige Radicalmittel, das hier helfen kann (und wird): Entfernung des billigen Dilettantismus, Erkenntniß der Nothwendigkeit, daß ein Gesanglehrer höherer Schulen Kenntniß der Gesangskunst und tüchtige Vorbildung für seine specielle Aufgabe sich angeeignet habe.
Es genügt keineswegs, wenn Jemand etwas mehr oder weniger fertig Clavier oder Violine spielt und von Accorden etwas gehört hat. Diese Dinge verhalten sich zur beregten Aufgabe genau ebenso, wie die Handlangerei zur Baukunst.
Die Wahrung der sanitätlichen Seite der Aufgabe fordert neben der Kenntniß des menschlichen Stimmorgans eine große Umsicht und Erfahrung in der Gesangsbehandlung mutirender Stimmen in des Wortes umfassendster Bedeutung.
Die gefährlichste aller Uebergangsperioden des Menschen, die vom Knaben- in das Jünglingsalter hinüberführende, fällt in diese Schulzeit und führt die complicirtesten Organzustände in einem höheren Schulchore zusammen, die auf das Sorgfältigste berücksichtigt werden müssen, um Schädigungen abzuwenden.
Eine langjährige Wirksamkeit in Schulen überzeugte mich, daß die Natur ihre Schönheit an Wohllaut der Stimme an unsere Kinder mit verschwenderischer Fülle hingiebt, und daß eine verständige Pflege des Schulgesanges wohl vermag, diese kostbaren Stimmschätze für’s Leben zu erhalten, zu veredeln und damit auch auf die Gesundheit fördernd hinzuwirken.
Wäre es möglich, die durch Gesangsmißbrauch (der auch in ähnlicher Weise außerhalb der Schule unkrautartig wuchert) verletzten Kehlköpfe wie die von den Pocken zernarbten Gesichter an’s Licht zu stellen, man würde sehen und begreifen, wie es zuging, daß eine im Kindesalter so rührend klangvolle Stimme im späteren Alter nichts mehr von ihrer ursprünglichen Schönheit erkennen läßt. Könnte man tiefer in die Brust hinabsehen, man würde die Keime zu späteren Leiden finden, die Gesangsmißbrauch pflanzte und andere Einflüsse dann großzogen.
Das Muttergottesdorle. In dem fränkischen Rom, in der Stadt Bamberg, starb in dem vergangenen Winter eine Frau, die weit hin im ganzen katholischen Frankenlande bekannt, ja berühmt und gesucht war.
Wenn man die menschlichen Existenzen in solche eintheilen kann, die auf die Einsicht und Klugheit der Menschen und solche, die auf den Aberglauben und die Dummheit derselben begründet sind, so wird man finden, daß die letzteren stets die einträglichsten sind. Das mag auch „das Muttergottesdorle“ – Dorle ist abgekürzt aus Dorothea – gefunden haben, oder vielmehr Diejenigen, welche mit ihm im Bunde waren. Die genannte Person braute zwar kein Jacobi’sches Elixir, aber sie besaß ein Muttergottesbild, das im Rufe großer Wunderthätigkeit stand. Sie wohnte zu Bamberg in einem unscheinbaren Hause an einer Straße, die nach dem Sande führte. Man mußte eine dunkle Treppe emporsteigen, auf der man sich den Hals brechen konnte. Das war praktisch, vielleicht konnte das wunderthätige Bild dann seine Wunderkraft gleich erproben. Dann kam man in ein dunkles Zimmer, das nicht sehr reinlich aussah, denn um die Wunder muß immer etwas Schmutz, Finsterniß und Rauch sein. Im Hintergrunde desselben war ein altarartiger Aufbau, auf welchem unter Beleuchtung von dicken Wachskerzen das Bild aufgestellt war. Was dasselbe eigentlich vorstellte, konnte man bei dem heiligen Dunste, der in der Stube herrschte, nicht recht erkennen; man sah ein weibliches Gesicht, man sah ein Paar dürre Arme, eine Krone oder so etwas Aehnliches auf dem Kopfe der Gestalt; dann sah man nichts mehr, als byzantinisches Dunkel. Aber das alte Weib, welches die Hüterin und Besitzerin des Bildes war, sagte, daß es die Mutter Gottes sei, und die Hauptsache war, daß die Leute es glaubten. Und es kamen sehr viele Menschen, vornehme und geringe, junge und alte, Männer und Frauen, natürlich letztere in Mehrzahl. Das Bild des Muttergottesdorle hatte für alle Schmerzen und Klagen des menschlichen Herzens eine Erhörung; es verlieh gute Träume und zeigte in denselben die Nummern, die in der nächsten Lotterie gewinnen würden; wem die Schinken aus dem Schlote gestohlen waren, dem verhalf es wieder zu seinem Eigenthume, indem es an das Gewissen des Diebes appellirte, vorausgesetzt, daß das gestohlene Gut nicht schon verzehrt war; es vertrieb den jungen Mädchen die Sommersprossen und verschaffte ihren Bräutigamen gute Anstellungen; es erlöste die Seelen aus dem Fegefeuer und schaffte gute Verdauung – Alles gegen Erlegung eines Gulden; nur gegen die Dummheit schien es machtlos gewesen zu sein.
Ein Gulden war der Minimalsatz, es war Niemandem benommen, mehr zu geben, im Gegentheil, dadurch wurden die wunderthätigen Wirkungen nur um so sicherer und nachhaltiger, aber unter einem Gulden war auch unter der Würde des Heiligthums; für einen Gulden durften es die Kranken sogar mit ihren kranken Gliedern berühren, und die nicht Kraft genug hatten, selbst die Heiligthumsstätte aufzusuchen, sandten die Lappen, mit denen ihre Wehe gebunden wurden, dahin, damit das „Muttergottesdorle“ dieselben mit dem Bilde in Berührung bringe und so die Kraft desselben auf die Bänder und Bandagen ausströme. Aber der Gulden allein that es nicht, sondern man mußte mit rechtem Herzen und gläubigem Sinne kommen; nur unter dieser Bedingung wurden die Gebete erhört. Wenn sich dagegen keine Wirkung einstellte, dann waren die Hülfesuchenden selbst daran schuld, dann waren von ihnen die genannten Bedingungen nicht erfüllt worden. Diese Casuistik war das Schlaueste an dem ganzen Humbug.
Schließlich starb das „Muttergottesdorle“. Wie die Person geheißen hatte, das wußte bis zu ihrem Tode eigentlich Niemand, ihr Vorname war Dorothea und die übrige Bezeichnung kam von ihrem Gewerbe; denn nichts Anderes war dieses unwürdige Spiel mit dem Glauben und der Frömmigkeit und dem Vertrauen der Menschen, und noch dazu ein sehr einträgliches Gewerbe. Die Besitzerin des Bildes zwar war von den Wunderwirkungen desselben felsenfest überzeugt, aber sie war dabei lediglich das einseitige Werkzeug Anderer, sie hatte sogar nichts davon, als vielleicht den Lebensunterhalt, denn wenn man sie auch für wohlhabend hielt, so ergab sich aus ihrem Nachlasse doch das Gegentheil. Dagegen munkelte man, daß sie aus dieser unsauberen Speculation mehr denn vierzigtausend Gulden Geldes und Werthes an die Domgeistlichkeit der fränkischen Bischofsstadt abgeliefert habe. Welches das Ende dieses verdammenswürdigen Hokuspokus war? Ein Ende mit Schrecken, das heißt: der Schrecken kam unter die Clerisei, als das Bamberger Bezirksgericht den Nachlaß der Verstorbenen und darunter auch das einträgliche Bild zur Versteigerung ausbieten ließ. Wer es erworben hat? Vielleicht hat sich eine fromme Gründergesellschaft gefunden.
[268] Zwei neue Kartenwerke von Deutschland. Geschichtskarten gehören zu den anziehendsten Lehrmitteln, das Staatenbild der Vergangenheit erleichtert außerordentlich das Verständniß der Geschichte. Am nächsten liegt uns allezeit unser deutsches Vaterland, aber insbesondere heute, wo es wieder bei einem Abschluß seiner Entwicklung angekommen ist, welcher Bestand verspricht; da sehen wir uns unwillkürlich nach den Zuständen der überwundenen Standpunkte um und in’s Besondere nach jenen Reichszeiten, wo das römisch-deutsche Kaiserthum, im Gegensatz zu dem reindeutschen der Gegenwart, die größte Vielgliederigkeit und Ohnmacht zugleich zeigte. Eine solche Parallel-Karte hat Dr. Karl Wolff in Berlin entworfen und gezeichnet und die Verlagshandlung von C. F. Lüderitz (Karl Habel) daselbst herausgegeben. Diese Karte stellt erstens das jetzige deutsche Reich in seiner Begrenzung und innerhalb desselben ebenso bestimmt begrenzt die Staaten dieses Reichs und zweitens diejenigen Nachbarstaaten und Theile derselben dar, welche zur römisch-deutschen Kaiserzeit in Beziehung zu jenem standen, also: Deutsch-Oesterreich, die Schweiz, Holland, Belgien und Nordost-Frankreich, alle ebenfalls mit Angabe ihrer gegenwärtigen Grenzen. Innerhalb dieser Karte von heute breitet sich in besonderer Begrenzung und Färbung der alte Reichsbestand an Ländern und Gebieten aus. Wir sehen genau, aus wie viel ehemaligen Einzelstaaten und Herrschaften zum Beispiel Baiern, Württemberg, Elsaß-Lothringen etc. zusammengesetzt, wir sehen aber auch, wie viel ehemaliges Reichsgebiet noch in fremder Hand ist. Wer früher nicht wußte, wo er die Titular-Herzogthümer der sächsischen Fürsten: „Jülich, Cleve und Berg, auch Engern und Westphalen, Grafschaft zur Mark und Ravensberg etc.“ suchen sollte, dem zeigt sie diese alte in der neuen Reichskarte alle. Auch die Ausstattung ist löblich.
Ein Wandblatt größten Formats ist die von Dr. H. Möhl entworfene und von Th. Fischer in Kassel herausgegebene „Oro-Hydrographische und Eisenbahn-Wandkarte von Deutschland“, zwölf Blatt in Farbendruck und im Maßstab 1:1,000,000. Diese Gewässer- und Gebirgskarte giebt durch Zeichnung und Farbe uns ein Bild Deutschlands und seiner Nachbarländer; von letzteren umfaßt sie Belgien, Holland und die Schweiz vollständig, Dänemark bis auf die Nordhälfte von Jütland, die Südspitze von Schweden, ganz Oberitalien bis über Ancona hinaus, Frankreich in dem Grade von Orleans vom mittelländischen Meere bis zum Pas de Calais, ganz Deutsch-Oesterreich und vom slavisch-ungarischen Osten den größten Theil des Weichsel- und Theiß-Gebietes. Tiefland und höhere Ebenen sind dunkel- und hellgrün, Hügel- und Hochland hell- und dunkelbraun gefärbt, Schnee- und Gletscherstriche stellen sich durch blauumrändeltes Weiß, Moor und Seen dunkelblau dar und zwischen dem Grün und Braun ziehen die schwarzen gezähnten Linien der Canäle und die rostrothen Stränge der Eisenbahnen sich hin. Diese Karte ist eine nützliche Wandzierde und gewiß für die wißbegierigen Kinderaugen in der Schule eine Lust.
Ordensschwindel. „Verbindungen mit hochgestellten Persönlichkeiten setzen einen den höheren Ständen angehörigen Herrn in die Lage, für Verleihung auswärtiger Decorationen mit Erfolg thätig sein zu können. Personen von Vermögen und gutem Rufe, für welche diese Mittheilung von Interesse ist, belieben ihre Adresse sub Nr. 1645 an die Annoncen-Expedition von Rudolph Mosse in Berlin einzusenden“, – diese in Berliner Blättern sich von Zeit zu Zeit wiederholende und hier buchstäblich mitgetheilte Annonce ist mehr als alles Andere geeignet, den ohnehin in vielen Fällen sehr zweifelhaften Werth der Orden vollends zu discreditiren.
Angesichts dieser Annonce drängt sich dem Leser unwillkürlich die Frage auf: Giebt es wirklich im Auslande – oder vielleicht gar im weiteren deutschen Vaterlande selbst – einen regierenden Fürsten, der sich zur Verleihung von Decorationen an ihm bis dahin fremde Personen lediglich deshalb herbeiläßt, weil sie Vermögen besitzen und sich neben ihrer Vorliebe für derartige Schmucksachen eines guten Rufes erfreuen? Oder ist der anonyme Verfasser dieser Annonce, welcher sich als Vermittler für solchen unsaubern Ordensschacher anbietet, nicht vielleicht ein Hochstapler, der es lediglich auf die Tasche „vermögender und unbescholtener“ Gimpel abgesehen hat und der schließlich darauf rechnet, daß letztere einen Entschädigungsanspruch gegen ihn zur Wiedererlangung der ihm etwa anvertrauten Summen gerichtlich kaum geltend machen können, ohne sich der öffentlichen Lächerlichkeit preiszugeben?
Wenn man bedauerlicher Weise auch annehmen darf, daß es eitle Gecken giebt, die, im Vollbesitz der vom Inserenten geforderten Eigenschaften, geneigt sind, auf seinen Vorschlag einzugehen und zur Decorirung ihres werthen „Ich“ Opfer zu bringen, so dürfte es doch Sache der betreffenden Behörden sein, entweder in dem einen Falle die nöthigen Schritte zur Beseitigung dieses öffentlichen Schachers mit ausländischen Orden ungesäumt zu veranlassen – oder im andern Falle in der Person des angeblich den höheren Ständen angehörigen Herrn, welchem diese stille Thätigkeit möglicher Weise nicht unbeträchtliche Summen zuführt, einen Bauernfänger höherer Art zu entlarven und unschädlich zu machen.
Instinct oder Ueberlegung? Vor einigen Jahren besuchte ich in den Weihnachtsferien meine Eltern. Mein Vater ist Forstmann, zwei meiner Brüder haben denselben Beruf erwählt, und der ältere von ihnen hielt sich damals zur Unterstützung des Vaters bei demselben auf. Wir hatten gelindes Frostwetter und die Erde war mit einer dünnen Schneedecke überzogen. In der Neujahrsnacht war ein guter Spürschnee gefallen und ich ging am Morgen mit meinem Bruder in’s Revier. Wir wollten eine Marderfalle nachsehen und außerdem auf einigen anderen Punkten im Forste Rundschau halten.
Das erste Ziel war die Falle, eine sogenannte Blockfalle, wie ich sie oft gesehen. Die Wände bestehen aus eingeschlagenen, circa anderthalb bis zwei Zoll dicken Pfählen, welche über dem Boden eine Höhe von einundeinviertel bis anderthalb Fuß haben. Die Vorderwand hat nur halbe Höhe und der Marder erreicht den Köder schon (gewöhnlich ein Ei oder ein Vogel), wenn er mit halbem Leibe in die Falle hinein ist, liegt also auf der Vorderwand. Der Deckel, welcher etwas über letztere vortritt, ist mit Steinen beschwert. Beim Aufstellen wird der Deckel in die Höhe gehoben und mittelst eines Stellstickens in dieser Lage erhalten. Letzterer steht mit dem Köder durch eine Schnur in Verbindung. Sobald derselbe berührt wird, fliegt der Stellsticken heraus, der Deckel schlägt nieder und erdrückt den Marder.
Die Falle stand auf einer Anhöhe in einer Tannenschonung. Wir sahen schon aus einiger Entfernung, daß der Deckel niederlag, und hofften, einen Marder in der Falle zu finden. Wir sahen uns bitter getäuscht, denn dieselbe war derartig zerstört, daß sie in diesem Zustande völlig unbrauchbar war. An der Nordseite der Falle waren vier der armdicken Pfähle über dem Boden abgenagt, mehrere andere zum großen Theile zersplittert. Die Südseite trug ebenfalls Spuren herzhafter Angriffe nagender Thiere. Rings um die Falle war das zernagte und zersplitterte Holz zerstreut und die Schneedecke des Bodens von vielen zierlichen Spuren der Eichhörnchen niedergetreten. Unter dem Fallendeckel aber guckte der buschige Schwanz eines Eichhörnchens heraus, das durch die zerfressene Seitenwand ängstlich in’s Freie schaute. Als mein Bruder den Deckel hob, sprang der Gefangene heraus und war in wenigen Minuten auf den Wipfeln der Tannen verschwunden.
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß die Zerstörung an der Falle den Zweck hatte, das gefangene Thier zu befreien. Dasselbe war jedenfalls neugierig in die Falle gegangen und hatte sich gefangen. Da es kleiner ist als der Marder, hatte der fallende Deckel nur den Schwanz getroffen und das Eichhörnchen daran festgehalten. Wie aber hatte es seinen Cameraden Mittheilung von seiner Noth gemacht und sie zur Hülfeleistung bestimmt? Die Zerstörung an der Falle war derartig, daß wenigstens zehn bis zwölf Thiere die Nacht hindurch daran gearbeitet hatten. Wie hatten sich diese so schnell zusammengefunden? Der Hauptangriff war wohlweislich auf einen Punkt mit dem größten Erfolge gerichtet, denn die Zerstörung an der Südseite rührte jedenfalls nur von den Thierchen her, die an der Hauptangriffsstelle zur Thätigkeit gerade keinen Platz fanden.
Ich wenigstens habe die Ueberzeugung gewonnen, daß hier ein wohlangelegter Plan mit größter Anstrengung zur Ausführung gebracht war, um das gefangene Eichhörnchen zu befreien. Ein inniges Bedauern ergriff mich bei dem Gedanken, daß solche Arbeit vergeblich gewesen, und daß die Retter den Ort verlassen mußten, ohne dem gefangenen Bruder helfen zu können, dem zwar der Weg in’s Freie offen stand, aber die Fesseln nicht gelöst waren.
Schwarzes Brett für die deutsche Volksschule. II. Blind und taub! – Folgendes Zeugniß ist von einem königlich preußischen Kreisphysicus in Stendal ausgefertigt und vom dortigen Magistrat bestätigt worden:
„Dem emeritirten Schullehrer Christian Friedrich Förster bezeuge ich hiermit diensteidlich, zum Behufe der Nachsuchung einer Unterstützung, daß er in sehr hohem Grade auf beiden Ohren schwerhörig ist und wegen Trübung der Hornhaut durch alte Geschwürsnarben der Pupille auf beiden Augen kleinere und fernere Gegenstände nicht mehr zu unterscheiden vermag, und daß er endlich auch an einem alten habituellen Fußübel und Geschwüren leidet. Der etc. Förster ist daher als völlig arbeitsunfähig erachtet. Stendal, 28. September 1871.“
Dieser Mann ist, nachdem er einunddreißig Jahre als Küster, Lehrer, Cantor und Organist Dienste geleistet, wegen Gehör- und Gesichtsschwäche mit vierundachtzig Thaler jährlich, als einem Drittel seines früheren Einkommens, pensionirt. Durch wiederholtes Bitten beim Cultusministerium ist ihm noch eine Unterstützung von zwölf Thaler jährlich zu Theil geworden. Der alte vierundsechzigjährige Lehrer ist also blind und taub und kann nichts mehr verdienen, seine ganze Einnahme bleibt deshalb sechsundneunzig Thaler! Davon gehen ab: sechzig Thaler für Hausmiethe, fünfzehn Thaler für Holz und Kohlen und zehn Thaler für jährliche Abgaben! Verbleibt der Familie zur Nahrung und Kleidung im Ganzen elf Thaler! Was von Hausrath und Vorräthen verkauft werden konnte, ist bereits dahin. Wenn der letzte Fetzen fort ist, was dann? –
Liebesstufen. Unter diesem Titel wurde erst in Düsseldorf, dann zu Königs Geburtstage in Elberfeld ein fünfactiges, deutsches Original-Lustspiel von Ottomar Beta, dem Sohne unseres alten Mitarbeiters, mit Erfolg aufgeführt. Die Kritiken der dortigen Zeitungen rühmen den frischen Geist, feinen Witz und die scharfe, naturgetreue Charakterisirung der komischen Dichtung. Die eine aus Elberfeld schließt: „Bei der Armuth unseres Lustspiel-Repertoires, die uns oft veranlaßt, im Auslande zu borgen (und meist leider immer noch von den Franzosen!), können wir ein junges, für die Zukunft so viel versprechendes Talent, wie das des Herrn Beta, nur auf’s Freudigste begrüßen.“
Solche junge Talente bedürfen jedenfalls in dieser Richtung der Aufmunterung, damit sie selbst und durch ähnlich Strebende und Schaffende auf den Brettern, welche die deutsche Welt für uns bedeuten sollen, wohlthätig und entfranzösirend wirken können. Deshalb rufen auch wir ihm ein Vorwärts! und Glück auf! zu.
Zur Notiz. Wir bitten die Herren „Dichter“, von jetzt an ihre Einsendungen wenigstens nicht mehr zu recommandiren, damit uns die unvermeidlichen Enttäuschungen erspart bleiben. Namentlich aus Oesterreich erhalten wir alle Verse recommandirt.
R. P. in G. Das ist komisch. Sie sind nun der Dritte, der den echten Trauring Luther’s besitzen will, und nach mündlichen Mittheilungen soll auch hier in Leipzig der echte Trauring des großen Reformators existiren. Ganz wie mit Gustav Adolph’s Lederkoller!
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ siehe hierzu Nachträgliches in Heft 37
- ↑ Vorlage: dreiunddreißig, siehe Berichtigung in Heft 18