Die Gartenlaube (1872)/Heft 17
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No. 17. | 1872. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Auch in Dobra hatte während der letzten Zeit eine große und tief eingreifende Veränderung stattgefunden. Fräulein Franziska Reich, gegenwärtig Frau Franziska Günther, residirte dort bereits seit länger als zwei Jahren als Gutsherrin an der Seite ihres Gatten. Die alte Jugendliebe hatte bei Beiden schließlich doch gesiegt, wenn dieser Sieg sich auch freilich auf etwas originelle Weise vollzog und jedenfalls keine Spur jener Romantik an sich hatte, an der Luciens Neigung so reich war, die aber Bernhard sowohl als Franziska für sehr überflüssig hielten. Eine jener häufigen Debatten, die, wie gewöhnlich von irgend einem geringfügigen Anlasse ausgehend, sich bis zum hitzigsten Streite steigerten, in dem Fräulein Reich die ganze Heftigkeit ihres heißblütigen Temperaments entfaltete, während Günther seinerseits es sich angelegen sein ließ, sie mit seiner spöttischen Ruhe auf’s Aeußerste zu reizen, hatte ganz urplötzlich mit einer Verlobung geendigt. Bernhard hatte mitten im ärgsten Wortgefecht plötzlich seine Hand auf die ihre gelegt und mit seiner ganzen unverwüstlichen Gelassenheit gesagt: „Franziska, wir müssen endlich einmal dem ewigen Streite ein Ende machen – das Vernünftigste wäre eigentlich, wir heiratheten uns!“
„Das nennen Sie dem Streite ein Ende machen?“ war die in höchster Entrüstung gegebene Antwort gewesen.
[270] „Sie meinen, er würde dann erst recht beginnen? Allerdings keine besonders angenehme Aussicht für mich, indessen ich will es einmal darauf hin wagen. Die Hauptfrage ist nur: wollen Sie mich, Franziska?“
Die mit diesem lakonischen Antrag Beehrte war anfangs noch immer ziemlich entrüstet über die Idee, ihr mitten im Zanke einen Heirathsvorschlag zu machen, ließ sich aber doch schließlich überzeugen, daß es wirklich „das Vernünftigste sei“, und Lucie war nicht wenig überrascht, als ihr der Bruder die Erzieherin, die sie eben noch in der hitzigsten Debatte mit ihm verlassen, zehn Minuten später als seine Braut und ihre künftige Schwägerin vorstellte. Drei Monate später hatte Franziska das Regiment in Dobra angetreten, wie es Günther spottweise nannte, indessen war es Thatsache, daß er und ganz Dobra sich nicht schlechter befanden unter diesem Regiment, obgleich die neue Herrin auch als Frau ihr früheres resolutes Wesen nicht verleugnete.
Augenblicklich befand sich der Gutsherr in seinem Zimmer und hatte sich dort in die Zeitungen vertieft, als seine Frau eintrat, sehr erhitzt, sehr eifrig, und fast erdrückt von der Last und Wichtigkeit all der Geschäfte, welche Luciens morgen bevorstehende Trauung nothwendig machte, obgleich diese Trauung in aller Stille und nur vor wenig Zeugen stattfinden sollte.
„Es ist vier Uhr, Bernhard!“ sagte sie mahnend, „Du wirst Dich wohl jetzt fertig machen müssen, um nach der Bahnstation zu fahren.“
Günther ließ etwas überrascht die Zeitung sinken. „Ich nach der Bahnstation? Weshalb?“
„Nun, Du weißt doch, daß wir den Herrn Pastor aus der Residenz heute Abend erwarten. Oder willst Du vielleicht einen der Stiftsherren von drüben zu dem feierlichen Acte morgen herüberholen lassen? Das würde einen schönen Lärm geben, wir erlebten statt der Hochzeit eine neue Auflage der Excommunication!“
„Liebes Kind, das Abholen ist Bruno’s Sache,“ erklärte Bernhard sehr gleichmüthig. „Er hat den ihm befreundeten Geistlichen gebeten, die Trauung zu vollziehen, also schickt es sich auch wohl, daß er ihn bei der Ankunft in Empfang nimmt.“
Franziska zuckte die Achseln. „Bruno? Als ob der im Stande wäre, jetzt irgend etwas Anderes zu sehen und zu denken als nur seine Lucie, oder auch nur eine Viertelstunde von ihrer Seite fortzugehen, nachdem er heute Morgen erst angekommen ist! Du wirst wohl selbst hinfahren und den geistlichen Herrn empfangen müssen, er thut es bestimmt nicht und ein Bräutigam ist ja auch immer entschuldigt.“
„Ja, Bruno ist jetzt wirklich etwas sehr langweilig für alle Anderen!“ meinte Günther trocken, indem er seine Blätter zusammenlegte.
„Ich weiß nicht, ob es gerade langweilig ist, wenn Jemand seine künftige Frau anbetet – es giebt mehrere Männer, die sich ein Beispiel daran nehmen könnten!“ sagte Frau Franziska höchst anzüglich.
„Ich hoffe, Du sprachst nur im Allgemeinen! Oder sollte mir vielleicht diese freundliche Bemerkung gelten?“
„Wie Du es nehmen willst! So viel steht fest, daß ich mich während meines Brautstandes über eine ähnliche ‚Langweiligkeit‘ Deinerseits nicht zu beklagen hatte.“
„Ja, beste Franziska, verzeih’, aber Du bist auch nicht –“
„‚Du bist auch nicht darnach, um angebetet zu werden!‘ willst Du wohl sagen?“ unterbrach ihn Franziska neckend.
„Bewahre! Wie Du mir die Worte auslegst! Ich meinte nur, ich bin nicht darnach, solche ‚Langweiligkeiten‘ zu begehen, und das wirst Du wohl selbst zugeben müssen. Stelle Dir einmal vor, ich wäre Dir zu Füßen gefallen und hätte Dir eine ideal-romantische Scene, so etwa in Bruno’s Stil, vorgespielt, ich glaube, Du hättest mir in’s Gesicht gelacht.“
Franziska wandte sich ab, um das verrätherische Zucken ihrer Mundwinkel zu verbergen, als sie sich ihren Gemahl in der eben geschilderten Situation vergegenwärtigte, wenn sie auch um keinen Preis zeigen wollte, wie unendlich komisch sie ihr vorkam.
„Du weißt nichts als spotten!“ entgegnete sie ärgerlich. „Und sogar der Landrichter sagt –“
„Schweige mir von dem Landrichter! Er vergilt die Gastfreundschaft, die er so oft hier in Dobra genießt, auf höchst abscheuliche Weise, indem er überall Verleumdungen, zumal über Dich, ausstreut. Er behauptet öffentlich, Du commandirtest ganz Dobra, mich mit eingerechnet.“
Franziska, die bei den ersten Worten sich sehr kampfbereit aufgerichtet hatte, ließ jetzt beruhigt den Kopf wieder sinken.
„So? Das ist also die ganze Verleumdung?“
„Ich hoffe, Du bist äußerst entrüstet darüber.“
Die Gefragte stieß einen kläglichen Seufzer aus. „Ich wollte, er hätte Recht! Du lieber Himmel, ich einen Mann commandiren, der mit jedem Tage unserer Ehe den Despoten mehr herauskehrt! Wenn ich sehe, wie Lucie diesen starren eigenwilligen Bruno mit einem einzigen Blicke lenkt –“
„Ich finde, es wird wirklich Zeit, daß Lucie jetzt heirathet!“ unterbrach sie Günther lächelnd. „Bruno verdirbt mir sonst mit seiner überspannen Leidenschaft noch den ganzen Hausfrieden. Du ziehst fortwährend Vergleiche, und wenn es auch fraglos ist, daß dieselben stets zu meinem Vortheil ausfallen müssen, so sind sie doch bisweilen etwas unbequem.“
Frau Franziska schien diese letzte Bemerkung ihres Gatten überhören zu wollen. „Ich habe es nie für möglich gehalten, daß Lucie sich so entwickeln könnte, wie es in diesen drei Jahren der Fall gewesen ist!“ sagte sie ernster. „Es ist kaum zu glauben, was er aus ihr gemacht hat und mit welcher Hingebung sie an diesem düstern Manne hängt. Freilich, sie vermag Alles über ihn, und er wird ja jetzt überall als etwas Großartiges und Unerreichbares gepriesen, aber –“
„Aber Dein Geschmack wäre er nicht!“ ergänzte Bernhard wieder neckend. „Sehr begreiflich, da Du mich vorher kanntest. Also gönne ihn Lucien immerhin und tröste Dich mit der unumstößlichen Thatsache, daß Du jedenfalls den besten Mann von Euch Beiden besitzest.“
Das war für Franziska zu viel, sie sprang heftig auf. „Bernhard, ich glaube, Du bist im Stande, Dir im vollen Ernste Dergleichen einzubilden! Uebrigens wollte ich Dich bei Gelegenheit des morgenden Festes doch einmal fragen, wer von uns Beiden damals Recht hatte in Bezug auf Luciens sogenannte Liebe zu dem Grafen, die Du so bestimmt behauptetest und die ich so entschieden in Abrede stellte.“
„Du hattest Recht, liebe Franziska, wie Du ja überhaupt immer Recht hast – wohin willst Du denn auf einmal?“
„Aus Deiner Nähe! Wenn Du anfängst, Complimente zu machen, kann ich stets auf irgend eine kleine Bosheit gefaßt sein. Aber ich wiederhole es Dir, Bruno ist heute zu nichts Vernünftigem fähig; also mache Dich fertig und fahre an seiner Statt nach E. hinüber. Ich kann nicht all die Last und Sorge auf mich allein nehmen; Du kannst mir auch dabei helfen!“
Mit diesen etwas dictatorischen Worten eilte Frau Franziska hinab in die Wirthschaftsräume, während Bernhard wirklich aufstand, seine Zeitungen im Stiche ließ und sich als gehorsamer Ehemann anschickte, den Anordnungen seiner Frau Gemahlin nachzukommen. –
Es war am zweiten Tage nach der soeben geschilderten Scene, noch sehr früh am Morgen, als ein leichter offener Wagen auf dem Fahrwege hielt, der nach dem Gebirgsdorf N. hinaufführte. Die Insassen des Wagens waren ausgestiegen, um den Rest des Weges zu Fuße zurückzulegen und unbemerkt das Pfarrhaus zu erreichen, wo sie schon erwartet zu werden schienen, denn Pfarrer Clemens empfing sie bereits an der Thür.
Der Greis war noch müder und hinfälliger geworden während dieser letzten Jahre, und sein ganzes Aussehen verrieth, daß ihm die fernere Lebensdauer nur auf Monate, vielleicht nur auf Wochen noch zugemessen war. Er hatte schon längst sein Amt in die Hände eines Caplans niederlegen müssen, und wenn man ihn dem Namen nach noch im Besitze seiner Pfarre ließ und ihm noch einige leichte Amtshandlungen gestattete, so verdankte er diese Vergünstigung nur seinem langjährigen Wirken und der Anhänglichkeit seiner Gemeinde, die von ihrem alten, treu bewährten Seelsorger nicht lassen wollte, vielleicht auch dem Umstande, daß es nicht Viele gab, die sich zu dieser dürftigen Stellung gedrängt hätten.
Es war wohl nicht bloßer Zufall, daß dieser Besuch gerade jetzt stattfand, wo der Caplan auf einige Tage abwesend war. In dem Studirzimmer, wo sich sonst täglich die kleine, runde und wohlgenährte Figur dieses Herrn bewegte, dem gutes Essen und Trinken über Alles ging, und der jedesmal seufzte, wenn [271] irgend eine priesterliche Verrichtung ihn hinausrief, stand jetzt die hohe Gestalt seines Vorgängers. Bruno hatte sich wenig verändert, nur ernster, ruhiger war er geworden, die düstere Gluth des jungen Mönches, dessen Inneres sich so leidenschaftlich gegen die Fesseln seines Standes aufbäumte, war der Festigkeit des Mannes gewichen, der sich bereits im Kampfe mit dem Leben versucht hatte. Die dunklen Locken bedeckten dicht und üppig auch jene Stelle des Hauptes, die einst die Tonsur getragen, und damit schien auch der letzte Rest des Mönchthums abgestreift von der stolzen Erscheinung, der man es nicht mehr ansah, daß sie sich einst im Ordensgewande mit den vorgeschriebenen Zeichen äußerer Demuth gebeugt hatte.
An der jungen, kaum neunzehnjährigen Frau an seiner Seite waren die drei Jahre fast spurlos vorübergegangen. Die langen braunen Locken wallten noch wie einst über Hals und Schultern, in den blauen Augen lächelte wieder das ganze sonnige Glück früherer Tage und das rosige Antlitz hatte den vollen Zauber der Kindlichkeit behalten, aber es lag doch ein Hauch von Ernst auf ihrem ganzen Wesen, der verrieth, daß sie jetzt wohl etwas Anderes kennen gelernt, als Kinderspiele und Kinderthorheiten, und daß sie keine unwürdige Gefährtin des Mannes sein werde, der nun wirklich gekommen war, sie „mit hineinzureißen in sein Leben voll Kampf und Streit“.
Bruno hatte ihre Hand ergriffen und führte sie dem Pfarrer zu. „Mein Weib!“ sagte er einfach, aber es lag eine ganze Welt von Leidenschaft und Zärtlichkeit in dem einen Worte. „Ich konnte nicht abreisen, Hochwürden, ohne Ihnen meine Lucie zuzuführen. Sie wollte mich nicht allein in’s Gebirge lassen, denn sie kann noch immer nicht vergessen, was mir einst hier drohte, und ich –“ er beugte sich zu ihr nieder und sah ihr tief in’s Auge, „ich wäre auch schwerlich ohne sie gegangen!“
In dem Gesichte des alten Pfarrers zeigte sich eine gewisse zaghafte Verlegenheit bei dieser Vorstellung; für den katholischen Priester haftete doch noch immer etwas von einem Sacrilegium an dieser Vermählung des einstigen Mönches, als aber Lucie halb schüchtern, halb freundlich zu ihm aufblickte und ihm mit kindlicher Vertraulichkeit die Hand hinstreckte, da siegte das Herz des alten Mannes über alle priesterliche Bedenken, er faßte die Hand der jungen Frau und drückte sie herzlich in der seinen.
„Wir sind gestern noch bis A. gefahren,“ fuhr Bruno fort, „um heute in aller Frühe hier zu sein und Sie möglichst unbemerkt aufsuchen zu können. Ihres freundlichen Empfanges war ich zwar sicher, aber ich möchte nicht, daß mein Besuch, wenn er bekannt würde, Ihnen Ungelegenheiten dem Stifte gegenüber bereitet. “
Der Greis lächelte. „Fürchten Sie nichts! Ich bin Jenen zu unbedeutend, als daß sie sich viel um mein Thun und Lassen kümmern sollten; das geschah nur, so lange Sie unter meinem Dache weilten. Ueberdies wird das Regiment im Stifte nicht mehr mit der alten Strenge gehandhabt, es wird jetzt Manches geduldet, was früher nicht ungestraft hätte hingehen dürfen.“
„Ich weiß es! Mit dem Prälaten ist die eigentliche Seele des Klosters gewichen, dessen Macht sich jetzt reißend schnell ihrem Ende zuneigt. Daß jener mächtige Arm auch noch aus Rom herüberreichen kann, habe ich erfahren! Manches Hemmniß, mancher Stein in meinem Wege kam unzweifelhaft von seiner Hand – es ist ihm dennoch nicht gelungen, mich unschädlich zu machen!“
Er wandte sich nach dem Fenster und blickte hinaus auf die Häuser des Dorfes, in die er als Priester so oft eingetreten war; der Pfarrer benutzte diese Bewegung, sich Lucie zu nähern und ihr hastig einige Worte zuzuflüstern, es schien fast eine Bitte zu sein. Die junge Frau fuhr überrascht auf und warf einen besorgten Blick auf ihren Gatten, erst nach einer wiederholten leisen Bitte des alten Geistlichen näherte sie sich ihm.
„Bruno, unser Hiersein ist doch nicht so ganz verborgen geblieben, als wir glaubten; der Herr Pfarrer hat bereits seit gestern Abend einen Gast im Hause, der Dich zu sprechen wünscht.“
„Mich zu sprechen?“ wiederholte Bruno befremdet und völlig ahnungslos, „und dazu wählt man diesen Ort und diese Stunde? Warum nicht Dobra, wo ich doch ganz offen zu finden war?“
Der Pfarrer schwieg verlegen, muthiges persönliches Eingreifen war seine Sache nicht und er mochte auch wohl von früheren Zeiten her den Starrsinn seines ehemaligen Caplans zur Genüge kennen, aber Lucie kam ihm zu Hülfe. Sie ergriff Bruno’s Hand und zog ihn rasch zu der Thür des Nebenzimmers, die in diesem Augenblick geöffnet ward – Graf Rhaneck stand auf der Schwelle.
Ein leichtes Zucken flog über sein Antlitz hin, als er die Beiden vor sich sah. Der Graf hatte vielleicht noch niemals so bitter seine Vereinsamung gefühlt, so tief die Oede und Leere seines jetzigen Lebens empfunden, wie hier beim Anblick seines Sohnes und des lieblichen jungen Wesens, das sich an dessen Seite schmiegte. Bruno dagegen war zurückgewichen, die Ueberraschung schien ihm im höchsten Grade peinlich zu sein, und als Lucie jetzt Miene machte, sich zu entfernen, hielt er sie heftig zurück.
„Du bleibst, Lucie! Ich habe keine Geheimnisse vor Dir, am allerwenigsten mit dem Herrn Grafen Rhaneck.“
Die junge Frau legte leise den Kopf an seine Schulter. „Laß mich gehen, Bruno!“ flüsterte sie bittend. „Dies einzige Mal muß ich Dich doch wohl Deinem Vater lassen, es würde ihm wehe thun, stände ich jetzt zwischen Euch!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, zog sie ihren Arm aus dem seinigen und in der nächsten Secunde waren die Beiden allein. Der Graf kam langsam näher.
„Wir haben uns lange nicht gesehen, Bruno! Hat mein Sohn auch jetzt keinen Gruß, kein einzigem Wort für seinen Vater?“
Bruno schwieg, er schickte nur einen unruhigen und ungeduldigen Blick nach der Thür hinüber, in der Lucie mit dem Pfarrer verschwunden war, als wolle er sie selbst für diese kurze Zeit nicht im Schutze eines Anderen wissen; der Graf fing diesen Blick auf.
„Deine Gattin hat es herausgefühlt, wie furchtbar schwer es mir geworden wäre, Dir in ihrer Gegenwart zu nahen,“ sagte er ernst, „Du freilich hättest mir diese Demüthigung nicht erspart!“
Bruno sah in der That nicht aus, als wolle er dem Grafen irgend etwas ersparen oder irgend etwas gewähren. Vielleicht hätte Lucie doch besser gethan zu bleiben, der so lange verbannt gewesene feindselige Zug auf seiner Stirn regte sich wieder, auch nicht einen Schritt that er dem Vater entgegen.
„Jedenfalls habe ich diese Demüthigung nicht verschuldet!“ erwiderte er kalt, „denn ich habe diese Begegnung weder begehrt noch gesucht.“
„Ich wollte Dich wiedersehen!“ entgegnete Rhaneck weich. „Und um so mehr, als ich hörte, daß Du Dich vermähltest.“
Die Weichheit hatte hier stets die entgegengesetzte Wirkung, Bruno flammte wieder trotzig auf bei diesen Worten. „Ja, ich bin vermählt, und unsere protestantische Ehe wird nicht anzufechten sein! Wenn ich auch die Mönchsgelübde brach, meinem Weibe werde ich die Treue zu halten wissen, die ich ihr am Altare schwur!“
Die Lippen des Grafen zuckten wieder bei dieser schonungslosen Erinnerung. „Du kannst mir nicht verzeihen, was ich Dir und Deiner Mutter gethan!“ sagte er leise. „Hätte ich es wieder gut machen können, es wäre längst geschehen, aber meine zweite Ehe bindet mir ja die Hände bei jedem Schritt. Die erste anerkennen hieße Ottfried im Grabe und die Gräfin an meiner Seite rechtlos machen. Du mußt das doch begreifen.“
„Daß die hochgeborene Gräfin Rhaneck und ihr Sohn andere Rücksichten verdienen, als meine bürgerliche Mutter, die man ungestraft rechtlos machen durfte – nein, Herr Graf, das begreife ich nicht und werde es nie begreifen!“
„Bruno!“ Die ganze innere Qual lag in dem Tone, Rhaneck drängte sie nur mühsam zurück, als er gefaßter hinzusetzte: „Und wollte ich selbst das Aeußerste versuchen, Du hast den Namen Rhaneck stets von Dir gewiesen, Du würdest die Anerkennung von meiner Hand nicht einmal nehmen wollen.“
„Nein, niemals!“ erklärte Bruno mit unversöhnlicher Härte. „Was Sie mir thaten, deshalb klage ich Sie nicht an, wir waren quitt in dem Momente, wo ich die Fesseln brach, in die man schon meine Kindheit geschmiedet. Auch ohne den Grafentitel [272] der Rhaneck habe ich mir einen Namen und eine Stellung in der Welt errungen, und vielleicht wäre auch ich an den Folgen einer vornehmen Erziehung geistig zu Grunde gegangen, wie Graf Ottfried. Ich habe nichts mehr von Ihnen zu verlangen, seit ich frei bin, aber was Sie meiner Mutter thaten, läßt sich nicht mehr sühnen. Ihr ist das Herz darüber gebrochen, und das ist’s, was ewig zwischen uns steht!“
„Sie hätte die Vergeltung in keine besseren Hände legen können!“ sagte der Graf bitter, „und vielleicht war es ihre Rache, die mir diese leidenschaftliche unbezwingliche Liebe zu Dir in’s Herz senkte, der ich jetzt opfere, was ich noch Keinem auf der Welt geopfert, meinen ganzen Stolz. Ich habe Dich des Namens und Rechtes Deiner Geburt beraubt – ja! Und doch habe ich nichts so sehr auf Erden geliebt, als mein beraubtes, mein verstoßenes Kind. So oft Du äußerlich Deinem Bruder nachgesetzt wurdest, senkte sich der Stachel tief in mein Innerstes, und es blutete zehnfach unter diesem Stachel, wenn ich bei Dir nur den dunkeln instinctmäßigen Regungen des Hasses begegnete, wo ich mit der ganzen Leidenschaft des Vaters Liebe forderte. Dein mühsam verhehlter Widerwille, Dein ewiges Zurückweichen vor meiner Zärtlichkeit ist mir eine Strafe gewesen, wie sie bitterer nicht gefunden werden konnte. In Ottfried erzog ich mir den Erben meines Namens und meiner Güter – was Du mir warst, ist er mir nie gewesen! Jetzt ist auch dieser Erbe mir genommen, dem Bruder bin ich auf immer entfremdet, ein kaltes verhaßtes Band fesselt mich an eine ungeliebte Frau, während mein Name und mein
Geschlecht mit mir zu Grabe geht, und mein geliebtester, jetzt mein einziger Sohn wendet sich in Haß und Bitterkeit von mir – ich glaube, Bruno, Deine Mutter ist gerächt!“
Er hatte mit ruhigem, aber erschütterndem Vorwurf gesprochen und wandte sich jetzt zum Gehen. Bruno stand da im heftigsten Kampfe, plötzlich aber eilte er ihm nach.
„Mein Vater!“
Der Graf blieb wie gebannt stehen, als er zum ersten Male den Vaternamen von diesen Lippen hörte; stumm, aber mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit streckte er die Arme nach seinem Sohne aus, noch einen Moment lang zögerte dieser, dann warf er sich an seine Brust, die Versöhnung war geschlossen. –
Bruno richtete sich zuerst wieder empor, er machte sich sanft los aus den Armen, die ihn noch immer umschlungen hielten.
„Wir müssen scheiden, Vater!“ sagte er fest. „Oeffentlich können und dürfen wir einander nicht begegnen, auch um Deinetwillen. Du kennst meine Stellung Deiner Kirche gegenüber, sie bannt mich aus Deinen Kreisen, denen ich so wenig nahen kann, als Du den meinen. Laß es genug sein mit der Erinnerung an diese Stunde, bis auf bessere Zeiten!“
Rhaneck trat mit dem Ausdrucke der Resignation zurück. „Bis auf bessere Zeiten! Und Deine Gattin?“
„Lucie soll auch den Vater umarmen. Sie hat meinen Widerstand gegen Dich stets Härte genannt. Ich gehe sie zu holen!“
Eine halbe Stunde später trat das junge Paar den Rückweg an. Der Graf war im Pfarrhause zurückgeblieben. Der alte Pfarrer aber hatte es sich nicht nehmen lassen, seine Gäste zu begleiten, so weit seine schwachen Kräfte es noch zuließen. Am Crucifix angelangt, von wo aus Bruno einst den verhängnißvollen Gang nach der Wallfahrtskirche angetreten hatte, blieb dieser jetzt stehen und reichte dem Geistlichen Abschied nehmend die Hand.
„Leben Sie wohl, Hochwürden! Ich habe Lucien versprochen, daß sie im Herbste die Ihrigen wiedersehen soll. Auf Wiedersehen also auch uns Beiden!“
Der Greis lächelte traurig. „Wir werden uns schon auf längere Zeit Lebewohl sagen müssen! Im Herbste werden Sie mich wohl dort drüben finden.“ Er wies nach dem kleinen Friedhofe des Dorfes hinüber. „Ich habe wenig mehr zu schaffen auf der Welt und bin nur eine unnütze Last noch, aber es freut mich doch, daß ich vor meinem Tode noch ein volles, warmes Menschenglück gesehen habe! Sie haben sich losgerissen von unserem Stifte, von unserer heiligen Kirche sogar, und ich sollte Sie wohl auch verdammen deshalb, aber es muß ja ein Jeder selbst am besten wissen, wie er mit sich und seinem Gott fertig wird. Ich habe von jeher herzlich gern mit meinen Mitbrüdern gesegnet, mit ihnen fluchen habe ich nie gekonnt, und wenn ich Ihr junges Weib ansehe, kann ich’s vollends nicht, also – der Herr segne Euch Beide!“
Er drückte Bruno noch einmal herzlich die Hand und küßte die junge Frau auf die Stirn. Bruno’s Auge schimmerte feucht, als er das letzte Lebewohl zurückwinkte nach dem Kreuze, an dem die verfallene, schon halb gebrochene Gestalt des alten Pfarrers lehnte – auch er wußte, daß er zum letzten Male in diese freundlich milden Augen geblickt hatte.
Durch den blauen Morgennebel dämmerten jetzt allmählich die hohen Schneegebirge, noch umwoben von dem rosigen duftigen Hauch der ersten Frühe, während das einsame Dörfchen bald ihren Blicken entschwand. Der helle klare Sonnentag, den jener Morgenduft verhieß, stieg jetzt glänzend herauf über dem Gebirge, während der Wagen des jungen Paares dahinrollte, vorüber an den thaufrischen Matten, an den dunklen Tannenwäldern und den mächtigen Felsgruppen, immer an dem brausenden Bergstrom entlang, der sie hinableitete bis in die Ebene.
Als sie diese wieder erreichten und, ohne Dobra nochmals zu berühren, die Richtung nach E. einschlugen, begann der Morgen schon den heißeren Strahlen des Tages zu weichen. Langsam fuhr der Wagen die Waldhöhe hinauf, von der aus Lucie zum ersten Male das Thal gesehen. Wie damals lag es im hellen Sonnenstrahl zu ihren Füßen, mit seinen Flecken und Dörfern, seinen Bergen und Wäldern, mit dem rauschenden Strom in der Mitte und dem blauen Gebirge in der Ferne. Aus seinem Tannendunkel ragte Schloß Rhaneck empor, und ihm gegenüber lag die Benedictiner-Abtei da, in ihrer ganzen stolzen Pracht. Wieder leuchteten die weißen Thürme und glänzten die langen Fensterreihen des mächtigen Gebäudes, dessen Mauern wie für die Ewigkeit gegründet schienen, aber Einen wenigstens hatten sie frei geben müssen, und wo erst Einer die Kette bricht, da ist sie auch gebrochen für Jeden, der ein festes Wollen einzusetzen hat. Bruno blickte hinüber nach jenen Mauern und dann hinauf zu den Lerchen, die liederfröhlich über seinem Haupte schwebten, er wußte ja jetzt auch wie sie, was Freiheit hieß. An dem Orte, der ihn einst schied von Leben und Glück, am Altare hatte er gestern die Hand seiner Braut empfangen und eilte jetzt der neuen Zukunft entgegen, sein junges Weib neben sich, vor sich die blaue duftige Ferne und über sich die schmetternden Lerchen, deren Lied hoch oben verklang im blauen sonnigen Aether.*
* Auf vielfache Anfragen nur die Mittheilung, daß die früheren Erzählungen des Verfassers: „Hermann“ und „Ein Held der Feder“, soeben als Buch unter dem Titel „Gartenlaubenblüthen“ erschienen sind.
Selten hat in Deutschland das Erscheinen eines Werkes aus der Hand eines bisher nur in engeren Kreisen gekannten Künstlers allüberall so enthusiastische Aufnahme gefunden, wie die nach Handzeichnungen hergestellten Photographien, welche kurz vor Weihnachten vorigen Jahres unter dem Titel „Aus A. Hendschel’s Skizzenbuch“ von dem Frankfurter Verleger F. A. C. Prestel ausgegeben worden sind. Der Titel war schlicht und einfach genug, Reclame war weder in Frankfurt noch sonst wo für die erscheinende Sammlung gemacht worden, der Verleger hatte sie in aller Stille eines Morgens in seinen Schaufenstern zu Frankfurt ausgelegt, die bald genug von Neugierigen und Bewunderern aus allen Ständen umlagert waren, und schon nach wenigen Tagen war die ganze Auflage derart vergriffen, daß die Bestellungen aus anderen Städten, wie Berlin oder Leipzig, wo die Blätter das gleiche Aufsehen gemacht hatten, nicht mehr ausgeführt werden konnten. Es mußten neue Platten, der Druck mußte neu hergestellt werden.
Das war, wie gesagt, an Weihnachten vorigen Jahres, und wie man beim neuen Schneefall des anbrechenden Winters Morgens über die Straße hinüber das alte Volkswort ruft: „Wir haben einen neuen Nachbar bekommen“, so hätte auch ich, als mir das Weihnachtsfest die Blätter „Aus A. Hendschel’s Skizzenbuch“, so zu sagen, in meine Stube hereinschneite, allen Kunstfreunden zurufen mögen: „Wir haben einen neuen Liebling bekommen!“ Und in der That, so unvorbereitet, so unerwartet diese reichen Gaben gespendet wurden, von bisher fast noch unbekannter Hand, so verdient und so reich war ihr Erfolg, wohin sie auch bis jetzt gelangten. Jedermann fand Scenen aus dem Leben, die er selbst schon hundert- und tausendmal mit angesehen, vielleicht ohne viel zu denken, hier mit einer Genialität des Blicks aufgefaßt und mit einer Unmittelbarkeit der Darstellung wiedergegeben, die geradezu in Staunen setzte. Wie war hier dem Alltäglichsten ein Zauber der Poesie abgelauscht, der doch schon vor dem Maler dagewesen sein mußte und nur dem flüchtigen Auge des Laien bisher entgangen war! Wie drängten sich in diesem Skizzenbuch die Gestalten des muthwilligsten Humors, der ausgelassensten Schalkhaftigkeit, der spottenden Carricatur in buntem Wechsel und bei all moderner Eleganz der Darstellung, wie harmlos, wie voll Gemüth war doch Alles erfaßt, gedacht, wiedergegeben! Das „Skizzenbuch“ war die Arbeit eines deutschen Künstlers, und dieser hat sich denn auch mit den Früchten seines Fleißes und seines Studiums wahrlich nicht vergebens an sein Volk gewandt. Es versteht sich von selbst, daß man nun auch nach dem Schöpfer dieser Gaben zu fragen anfing, aber nur [274] wenige Befreundete konnten hier und da Auskunft geben. Sintemalen man aber kein Licht anzündet, um es unter einen Scheffel zu stellen, sondern daß es leuchte, so wollen wir unseren Lesern einige Blätter aus Hendschel’s Skizzenbuch zum Abdrucke bringen und diejenigen Mittheilungen aus dem Lebens- und Entwicklungsgange des Malers hinzufügen, wie sie die Theilnahme und das Interesse an seinen Werken zu wissen erfordern.
Albert Hendschel ist im Jahre 1834 zu Frankfurt am Main geboren und entstammt einer Familie, deren Name wenigstens längst weithin bekannt geworden ist durch das von seinem Vater begründete und herausgegebene Eisenbahnbuch „Hendschel’s Telegraph“.
Schon die vielseitige Anregung im häuslichen Kreise weckte seinen offenen Sinn und sein scharfblickendes Auge. Er genoß eine sorgfältige Erziehung, die für harmonische Ausbildung und einen glücklichen Menschen angelegt war und deren gute Erfolge sich heute noch darin beweisen, daß Hendschel vor Allem ein ganzer Mensch und dann erst Künstler sein will. Wie Viele stellen überall und einseitig den Maler voran, der überdies leider oft nichts Höheres kennt als einige Zunftbestrebungen, und dessen ganzer Lebenszweck, dessen ganze künstlerische Thätigkeit sich darauf beschränkt, so und so viele Bilder in die Welt zu setzen, und im Uebrigen sich um die Herrlichkeit dieser Welt, um all das Schöne und Gute, das Wissenswerthe und Große ebensowenig kümmert wie um das süße innerliche Stillleben im kleinsten Raume. Nein, ein Kind aus der „ehemals freien Reichsstadt Frankfurt“, ein Sproß aus Goethe’s Frankfurt wandelt andere Wege und spricht:
„Dir gehöret mein Herz, du Leben voll göttlicher Schönheit,
Das ich mit dankbarem Sinn nehm’ aus der Hand der Natur.“
Solche Gefühle bewegten den Knaben und entwickelten seine Lust Allem nachzugehen, was ihn interessirte, und dies kennzeichnet heute noch die künstlerische Thätigkeit des Mannes. Das Geschaute festzuhalten in Wort und Bild, übte nicht blos in früher Jugend schon seinen entschiedenen Formensinn, sondern brachte auch frühzeitig dessen technische Unterstützung durch ein bedeutendes Zeichentalent zum Vorschein. Die Vorträge seiner Lehrer wußte er sich bald durch humoristische Illustrationen zu würzen, und noch während des Besuchs des Gymnasiums trieb es ihn zur Theilnahme an dem Zeichenunterricht im Städel’schen Kunstinstitute. Dennoch war er bei seiner glücklichen Allseitigkeit unentschieden, welchem Berufe er sich zuwenden solle, bis eine von ihm entworfene frappant ähnliche Carricatur einer bekannten Persönlichkeit seine Eltern bestimmte, ihn sich der Kunst widmen zu lassen.
Im Jahre 1847 trat er sodann ganz als Schüler in das Städel’sche Kunstinstitut ein, besuchte zunächst den Elementarunterricht von Professor J. Becker und zeichnete nach der Antike bei Passavant und Steinle. Jetzt ging seine künstlerische Entwicklung rasch vorwärts und mit der täglich geübten technischen Fertigkeit wuchs zugleich die Leichtigkeit im Schaffen und die heitere Lust am Bilden überhaupt. Die ernsteren Studien nach dem lebenden Modell machte er unter dem Bildhauer Professor J. N. Zwerger, Kupferstecher Professor E. E. Schäfer und Historienmaler Professor Ed. Steinle, welche damals das Zeichnen nach dem Akt leiteten. In die Malschule trat er unter Professor J. Becker und blieb schließlich dessen Specialschüler bis zum Jahre 1865.
Ein reiches, schönes Leben war dem Künstler in dieser Periode aufgegangen. Feind alles akademischen Zopfes, wußte er sich die glückliche Natürlichkeit zu erhalten, welche mit dem Hauche der Poesie nicht nur Fühlen und Denken durchdringt, sondern auch die äußere Erscheinung des Künstlers mit der Liebenswürdigkeit kleidet, die ihn überall willkommen sein läßt. Ein gewählter Kreis kunstsinniger Freunde bot ihm mannigfaltige Gelegenheit, mit den schönsten Gaben seines Talentes zu erfreuen, und in liberalster Weise war er jederzeit dazu bereit, ohne eitel damit glänzen zu wollen, ja grundsätzlich jeglicher Anerkennung aus dem Wege gehend und zufrieden, wenn dem Kunstinteresse gedient war. Hendschel’s außerordentliche Fähigkeit, einmal Gesehenes aus der Erinnerung zu zeichnen, fand hier, unterstützt durch ein wunderbares Formengedächtniß, die vielseitigsten Motive, um daran zur vollen Ausbildung zu gelangen, und nicht blos einzelne Physiognomien, sondern auch ganze Gruppen in ihrer charakteristischen Erscheinung mit wenigen Strichen festzuhalten. Dieser Zeit verdanken vor Allem die Skizzenbücher ihre Entstehung, aus welchen wir probeweise „Kinder an der Schaukel“, „Mädchen mit Puppe“, „Bäckermagd im Sturm“, „Augenarzt“, „Kinder am Brunnen“ (Glück und Unglück), „Schusterjungen und Kesselflicker“ etc. abdrucken. Alles Scenen, welche wirklich aus dem Leben stammen, daher das Anheimeln derselben, das ungezwungen Heiterstimmende, als wären wir mit dabei. Einen solchen Humoristen, mit der Wahrheit und Frische, dürfen wir gewiß willkommen heißen, und Deutschland hat es gethan, denn sein „Skizzenbuch“ ist, wie schon gesagt, mit einem Enthusiasmus aufgenommen und hat in überaus kurzer Zeit, trotz des hohen Preises, eine Verbreitung gefunden, wie selten ein Kunstwerk vorher.
Günstige Verhältnisse gestatteten Hendschel nach allen Seiten hin eine planmäßige Abrundung seiner künstlerischen Bestrebungen; der häufige Besuch der bedeutendsten Galerien des In- und Auslandes bildete sein kritisches Urtheil und eine im Jahre 1869–1870 unternommene Reise nach Italien gab seiner vollendeten Entwicklung die höhere Weihe, die den Künstler frei und selbstständig in den Dienst der Musen und auf denjenigen Platz stellt, den er allein mit seinen eigenartigen Schöpfungen auszufüllen vermag.
Damit ist denn wohl auch der Zeitpunkt gekommen, der über die Grenzen der Vaterstadt hinaustreten heißt. Hinter den Bergen wohnen auch noch Leute, und ich meine, sie haben es bewiesen, welches große Interesse sie an den Leistungen eines echten Künstlers nehmen, durch die freudige Erregung und den Willkommen, den sie der ersten Publication „Aus A. Hendschel’s Skizzenbuch“ entgegenbrachten. Möge der junge Maler fortfahren, ein dankbares Publicum um sich zu sammeln; möge er nach und nach die nicht blos mehr oder weniger vollendeten Studien und Skizzen seiner Mappen, sondern auch die größeren Schöpfungen, wie sie ihm schon gelungen, und überhaupt den ganzen Reichthum seines künstlerischen Fühlens und Denkens entfalten.
Eine bloße Aufzählung der Compositionen, wie sie uns aus seinem Atelier bekannt geworden, würde wenig geeignet sein, einen Begriff davon zu geben, ohne die Anschauung; aber sagen wollen wir doch, daß aus den Gebieten der Märchenwelt, der Legende, des ländlichen und romantischen Genres, sowie der Geschichte, Bilder wie Aschenbrödel, Schneewittchen, – der Geiger von Gemünd, – die Kaffeegesellschaft, – der Wirthin Töchterlein, – Compositionen zu Götz von Berlichingen und Illustrationen zu Shakespeare, durch ihre Originalität, Unmittelbarkeit der Empfindung und Feinheit des technischen Vortrags uns mit einer Bedeutung angesprochen haben, wie selten etwas Aehnliches.
Wenn irgend ein moderner Maler unser Alltagsleben mit poetischen Augen anzuschauen, den natürlichen Humor desselben herauszufinden und mit forminniger, dabei eleganter Ausdrucksweise wiederzugeben weiß, so ist es Albert Hendschel. Darum wird mit der wachsenden Kenntniß seiner Werke auch die verdiente Anerkennung gleichen Schritt halten. Die Kunst hat leider im letzten Jahre so viele hervorragende Jünger verloren, daß wir uns herzlich freuen müssen, wenn eine so eminente, so glänzend begabte neue Kraft erscheint, um wenigstens eine Lücke wieder auszufüllen.
Der den Menschenkindern zur Wohnung dienende Planet kann, so behaupteten dereinst die „Fliegenden Blätter“, dem von Zeit zu Zeit ihm in angenehme Aussicht gestellten Zusammenstoß mit irgend einem vagabondirenden Kometen ruhig entgegensehen, sintemal der alte Erdenball derart mit eisernen Reifen überzogen ist, daß er einen gelinden Puff ebenso gut zu ertragen vermag, wie ein irdener Kochtopf, den des Drahtflechters Hand mit stützendem Netze versehen hat.
Jungfrau Europa kann in dieser Beziehung nicht über Vernachlässigung klagen; an einigen Stellen, z. B. Großbritannien, [275] Belgien, sind die Maschen des Netzes so eng geworden, daß Stieler und Sydow in ihren Schulatlanten längst schon ihre liebe Noth gehabt haben, zwischen allen den schwarzen oder schwarz-weißen Linien der Schienenverbindungen noch die Namen der Städte, Flüsse und Gebirge anzubringen. An einigen Stellen unseres in dieser Beziehung nicht übermäßig gesegneten deutschen Vaterlandes freilich ist leider noch Raum genug zu letzteren Zwecken geblieben. Daß aber auch dieser gehörig ausgenutzt werde, sind zwei einflußreiche Mächte einig bemüht. Der deutsche Generalstab sorgt dafür, daß nie wieder, wie im letzten Kriege, Frankreich den Vortheil eines für strategische Zwecke speciell eingerichteten Eisenbahnnetzes uns voraus habe, und diejenigen Lücken, welche für Handel und Industrie unangenehm werden, lassen die Herren Gründer gewiß nicht lange unausgefüllt.
In dieser Beziehung kommen den Interessen des Verkehrs die seit 1866 in Deutschland erfolgten Umwälzungen ganz außerordentlich zu statten. Einen interessanten Beleg hierfür liefert die Entstehungsgeschichte der Paris-Hamburger Bahn.
Wer vor etwa zehn Jahren einen, wenn auch nur oberflächlichen Blick auf die Eisenbahnkarte des nordwestlichen Deutschlands warf, mußte es auffallend finden, daß man, um von Hamburg nach Bremen zu gelangen, genöthigt war, vorerst per Dampfboot oder per Fähre nach Harburg, dann per Locomotive nach Süden gen Lehrte, dann nach Westen gen Hannover und endlich nach Norden gen Bremen zu pilgern, wenn man nicht die Diligence zwischen Hamburg-Harburg und Bremen benutzen wollte. Wer reist aber im sechsten Decennium des neunzehnten Jahrhunderts per Diligence! Abgesehen davon brachte die durch den Eisgang der Elbe eintretende alljährliche Störung des Verkehrs und namentlich der Postverbindung zwischen Hamburg und Harburg, das heißt dem ganzen nordwestlichen Deutschland, Holland, Belgien, Frankreich und England etc. manchen Kauf- und Handelsherrn der freien Reichs- und Hansestadt Hamburg oftmals in gelinde Verzweiflung.
Das im Jahre 1862 bestimmte Gestalt annehmende Project einer directen Eisenbahnverbindung zwischen Paris, Westphalen, Bremen und Hamburg, beziehungsweise zwischen Hamburg und den Plätzen Antwerpen und Amsterdam, wurde Angesichts der geschilderten Nothstände in kaufmännischen und industriellen Kreisen mit allgemeinem Beifall begrüßt. Die Bahn versprach eine der Hauptadern des Verkehrs zu werden; sie sollte den kürzesten Weg zwischen den Hansestädten, Ostpreußens und Skandinaviens einerseits, Frankreichs, Belgiens, den Niederlanden und England andererseits herstellen, und zugleich rationelle und ökonomische Verkehrsverhältnisse zwischen der Bevölkerung der östlichen Theile Hannovers begründen.
Die Unternehmer, die „Gesellschaft der directen Eisenbahn von Paris nach Hamburg, norddeutsches Eisenbahnnetz“, nahmen also eine Eisenbahnkarte mit schwarzem Druck, zeichneten eine schöne rothe Linie zwischen Paris und Hamburg, und machten sich guten Muthes an’s Werk, zunächst die Concessionen zu erwerben. In Frankreich und Belgien gab es keine Schwierigkeiten, denn von Paris bis Mastricht war die directe Bahn vorhanden und stand zur Disposition; von Mastricht bis Venloo übernahm die niederländische Regierung den Bau. Zwischen der Strecke Venloo–Hamburg aber lagen – so und so viel deutsche Grenzpfähle!
Mit Preußen, Oldenburg und Hannover mußte man Verhandlungen anknüpfen. Das oldenburgische Gebiet konnte man allenfalls seitwärts liegen lassen; hiermit war aber Preußen aus verschiedenen Gründen nicht einverstanden, und erst nach einjährigem Notenwechsel zwischen den genannten drei Staaten ward hierüber eine Einigung erzielt. Hannover behielt seinen Willen, die Bahn sollte Oldenburg nicht berühren, sondern von Osnabrück an auf hannoverschem Gebiet bleiben.
Preußen hatte aber noch eine zweite Bedingung gestellt: die Bahn sollte direct von Osnabrück über Bremen nach Hamburg führen. Hiermit waren die Unternehmer sehr einverstanden, nicht aber die hannoversche Regierung. Diese fürchtete in erster Linie, daß die directe Bahnverbindung den bestehenden hannoverschen Staatseisenbahnen Concurrenz bereiten würde, und zweitens zitterte sie für ihr Schooß- und Schmerzenskind Harburg, welches zur „Seestadt“ und zum Rivalen Hamburgs zu erheben, längst eines der Lieblingsprojecte des Welfenthums war.
Vergebens wiesen die Unternehmer auf das Princip hin, daß ein Staat Eisenbahnen nicht zu Speculationszwecken, sondern im Interesse des Verkehrs bauen und sich befriedigt erklären müsse, wenn die Bahnen sich gut verzinsten, daß es sie aber nicht als Monopole ausbeuten dürfe, zum Schaden des Gemeinwohls, also zu eigenem Nachtheil. Nutzlos war die klare Auseinandersetzung, daß der Betrieb der hannoverschen Staatsbahnen ungeschmälert fortbestehen würde, der Vortheil der directen Linie aber dem ganzen hannoverschen Staat zu Gute kommen müßte. Unbeachtet blieb der Hinweis auf das Beispiel Belgiens, welches fortwährend Concessionen zu Eisenbahnunternehmungen ertheilte, die den Staatslinien Concurrenz machen mußten, und das doch dabei brillant seine Rechnung fand. Die Minister des Welfenhauses schüttelten den Kopf, hielten den Finger auf Osnabrück und blieben bei ihrem „Bis hierher und nicht weiter“. Was kümmerten den Staat Hannover die „deutschen Ausländer“; im Gegentheil, ersterer verdiente Geld durch die weiten Umwege, welche die letzteren durch das hannoversche Gebiet nehmen mußten. Mit Hohnlächeln wies man zugleich die Raisonneurs ab, welche behaupteten, daß, wenn Hamburg und Harburg durch eine Eisenbahnbrücke verbunden wären, sich ein großer Theil des Zwischenhandels vom rechten Ufer der Elbe (Hamburg-Berliner Bahn) nach dem linken auf die Bahn von Harburg nach Hannover, Kassel u. s. f. ziehen würde.
Die Eisenbahnbrücke zwischen Hamburg und Harburg wurde aber immer nothwendiger für den Verkehr. Hamburg knüpfte wiederholt mit Hannover Verbindungen an, aber die Hansestadt hatte früher und später ebenso wenig Glück in der Residenz an der Leine, wie die Unternehmer der Paris-Hamburger Bahn im Jahre 1863. Hannover gestattete freundlichst den Bau der Brücke auf Kosten Hamburgs und bat sich nur das Hoheitsrecht über dieselbe als Aequivalent für seine Großmuth aus. Kopfschüttelnd traten die berechnenden Kaufleute von dem schlechten Geschäft zurück.
Erst als der Sturmwind des Jahres 1866 die ganze Welfenherrlichkeit hinweggefegt hatte, gewann das nunmehr von der Köln-Mindener Eisenbahngesellschaft adoptirte Project der Paris-Hamburger Bahn endlich Aussicht auf Verwirklichung, und nunmehr, da nur Hamburg und Preußen als contrahirende Staaten in Betracht kamen, einigte man sich rasch über Concession, Hoheitsrechte und Verwaltung. Im December 1867 ward der betreffende Vertrag geschlossen, bereits im Januar 1868 ward der Bau der Eisenbahnbrücken über die Elbarme zwischen Hamburg und Harburg begonnen.
Die oben geschilderten Hindernisse, welche der Particularismus der Bahn in den Weg legte, waren überwunden; jetzt galt es den Kampf mit den technischen Schwierigkeiten, deren die Ueberbrückung des Elbstroms Legion bot. Die Herren Architekten und Ingenieure haben diese schwierige Aufgabe glänzend gelöst.
Zwischen Harburg und Hamburg liegen zwei Elbarme, die Süderelbe bei Harburg, etwa vierzehnhundert Fuß Hamburgisch breit, und die Norderelbe bei Hamburg, etwa tausend Fuß Hamburgisch breit; die zwischen beiden belegenen, von kleineren Elbarmen durchschnittenen Inseln mögen zusammen etwa eine Meile breit sein. Es waren demgemäß, außer verschiedenen kleineren Ueberbrückungen, zwei große Brücken in Angriff zu nehmen, deren eine, welche mit drei Bogen, oder richtiger Doppelbogen, die Norderelbe überspannt, die Gartenlaube ihren Lesern mit Bilde vorführt. Die andere Brücke, über die Süderelbe, gleicht jener in allen einzelnen Theilen, nur ist sie um einen Bogen länger.
Der Boden ist Alluvialland; um die Brückenpfeiler sicher zu fundiren, bedurfte es einer auf gewaltigen Pfahlrosten ruhenden Betonschicht von achtzehn Hamburger Fuß Dicke. Auf dieses flüssig in die Baugrube gebrachte, im Schooß der Erde bald zu einer festen Masse sich verhärtende Material wurden die steinernen Pfeiler (Basaltlava von Niedermendig bei Andernach) fundirt, welche die ganz eigenthümlich construirten eisernen Brückenbogen tragen.
Eine ähnliche Construction (System Lohse) ist bisher in Deutschland noch nicht zur Anwendung gekommen; sie erhielt den Namen ihres Erfinders, zugleich des Erbauers der Brücke, des preußischen Regierungs- und Bauraths Lohse. Die Vortheile des von Fachmännern als wahrhaft genial bezeichneten Systems sind: größere Höhe als bei andersartig gebauten Brücken zu erzielen, [276] sowie leichtere Construction bei nicht größerer Anstrengung des Materials.
Die Entfernung zwischen den einzelnen Brückenpfeilern (also die Sehne des Brückenbogens) beträgt 325 Fuß rheinisch; jeder Bogen wiegt an Eisen, ohne die Schienen, 1,230,000 Pfund. Zur Hamburger Brücke mit ihren drei Bogen sind demnach 3,690,000 Pfd., zur Harburger Brücke, vier Bogen, 4,920,000 Pfd., total 8,610,000 Pfund Eisen verwandt. Der mittlere Wasserstand der Elbe, + 8 Fuß Hamburger Pegel, bleibt noch reichlich 20 Fuß unter der Sohle der Brückenpassage.
Gegen den Eisgang der Elbe, so mächtig derselbe auch ist, sind keine besonderen Vorrichtungen vorhanden; die Pfeiler sind stark genug, um dem Andrange der treibenden Schollen Trotz bieten zu können. – Beide Brücken sind bereits so weit im Bau vollendet, daß sie von Fußgängern wie von Arbeitszügen täglich
passirt werden. Die officielle Eröffnung ist auf den 1. Juli d. J. angesetzt. Der Eindruck des imposanten Bauwerks auf den Beschauer ist ein großartiger; das Nützlichkeitsprincip, dem bei einem entschieden realistischen Zwecke dienenden Bau so oft die Schönheit der Form geopfert werden muß, hat hier, Dank der glücklichen Combinationsgabe des Erbauers, gewissermaßen eine ästhetische Verklärung erhalten. Die gleich stolzen Thürmen emporragenden Pfeiler, die kühn geschwungene, graziös wellenförmigen Linien der eisernen Doppelbogen, die trotz der riesigen Dimensionen des Gebäudes zierlichen und gefälligen Umrisse des Ganzen vereinigen sich zu einem Gesammtbilde, das den Architekten mit Entzücken und Begeisterung, den Laien mit Staunen erfüllt.
Aber auch großartig in jeder Beziehung ist das Gesammtwerk, die Paris-Hamburger Bahn, die sich jetzt nach langjährigen Debatten, nach vielmonatlicher rüstiger Arbeit mit schnellen Schritten ihrer Vollendung nähert. Wenn durch diese Hauptader des internationalen Verkehrs frisch pulsirendes Leben zuckt, wenn Züge auf Züge mit den Schätzen aller Welten über die Elbbrücken fliegen, dann werden die Männer, welche sich dereinst die undankbare Aufgabe der oben Geschilderten Unterhandlungen stellten, lächelnd jener Zeit gedenken, die, kaum vergangen, durch die gewaltigen Ereignisse der letzten Jahre uns schon in weite, weite Ferne gerückt erscheint, und sie werden das Geschaffene, die Bahn mit ihren Brücken, froh begrüßen als prächtiges, lebenskräftiges Pathenkind der neuerstandenen deutschen Reichseinheit!
„Seit drei bis vier Tagen hat es ununterbrochen geschneit; das Thermometer zeigt acht bis zehn Grad Kälte, und das Fahren mit dem Wagen, ja das Reisen selbst ist äußerst erschwert, wenn nicht gar unmöglich geworden. Da kommt Abends der Pferdewächter, auf ungesatteltem Gaule mühsam durch den fußhohen Schnee sich quälend, nach Hause und meldet, daß in dem in nächster Nähe gelegenen Wäldchen sich die Spuren von fünf starken Wölfen zeigen, welche dort ein geraubtes Schaf zerrissen und sodann nach dem eine gute Meile weit gelegenen großen Buchenwalde sich zurückgezogen haben. Diese Nachricht setzt Alt und Jung, d. h. jeden männlichen Dorfbewohner, welcher ein Schießgewehr behandeln oder wenigstens den Treiberknittel führen kann, in nicht geringe Aufregung, und bald ist es auf der ganzen Pußta bekannt, daß in den nächsten Tagen eine großartige Wolfsjagd abgehalten werden wird. Schon am folgenden Abende sitzen die Würdenträger der Pußta hinter dem gewaltigen Ofen beisammen; der große steinerne Krug wandert abwechselnd in den Keller und dann wieder von Hand zu Hand, und weiser Rath erblüht bald auf dieser, bald auf jener bärtigen Lippe. Darüber einigt man sich in Kurzem, daß das alte Pferd im Stalle des
[277] Wirthschaftsbesitzers, welches beim letzten Getreideaustreten im Spätherbste sich den Vorderhuf spaltete und jetzt noch den ihm spärlich zugetheilten Mais unnützer Weise frißt, geopfert werden müsse, um die Jagd zu sichern, d. h. um die vollgefressenen Wölfe in der Nähe des Aases festzuhalten, und der Vogt erhält deshalb auch den Auftrag, das Thier trotz seines elenden Zustandes noch heute Nacht in den Wald zu führen und dort nieder zu stechen, da man von der alten, unmenschlichen Sitte, es lebend anzubinden, denn doch absehen will, um nicht bei diesem und jenem Thierschutzvereinler zu verstoßen.
Der Auftrag wird ausgeführt, und noch ehe der Knecht wieder zu Hause angekommen ist, schmausen die Wölfe wacker von der erwünschten Beute, fressen sich ungestört den Wanst beinahe ebenso voll wie der böse Wolf im Märchen vom Rothkäppchen und thun sich in der Nähe nieder. Am folgenden Morgen aber ziehen auf weiten Umwegen unter Berücksichtigung des Windes fünfzehn bis zwanzig Schützen und die doppelte bis dreifache Anzahl mit tüchtigen Knitteln bewehrter Treiber nach dem Walde, umstellen den Theil desselben, in welchem die Wölfe liegen; ein Schuß giebt das Zeichen zum Beginn der Jagd, und unter Geschrei und Lärmen nähern sich die Treiber. Die Wölfe erheben sich schon beim ersten Geräusch, blinzeln und schnüffeln nach allen Seiten hin und suchen die Treiberlinie zu durchbrechen, werden aber durch einen Höllenlärm zurückgescheucht und kommen endlich schußgerecht vor die Schützen, welche mit mehr oder weniger Geschick und Glück ihre Schüsse abgeben und günstigen Falls einen oder den andern Wolf in das Jenseits befördern. Nicht selten, und namentlich wenn das Jagdrevier ein dichter Rohrwald ist, gelingt es den Wölfen, durchzubrechen, und die Jagd ist dann gründlich verdorben.
Ich muß sagen, der letztere Fall ereignet sich häufiger als der günstigere, und die meisten Wolfsjäger wissen von weit mehr ergebnißlosen als gelungenen Jagden zu erzählen. Wurde der Wind nicht gehörig beachtet, stellten sich die Treiber nicht lautlos genug auf, und gingen sie anfänglich nicht mit größter Ruhe vorwärts, oder hatte man gar übersehen, daß die Wölfe den Wald Nachts bereits wieder verlassen, oder schossen endlich die Jäger aus Unkenntniß oder vom Jagdfeuer hingerissen weiter auf Isegrim, als sein dicker Pelz gestattet, so ist alle Mühe umsonst, und die ebenso frechen, als namenlos feigen Raubthiere kommen glücklich durch und treiben ihr Unwesen von Neuem. Dann entschließt man sich endlich, angespornt durch die unterbrochenen Verluste an Hausthieren, zu umfassenderen Maßregeln; und wenn man vollends eines Morgens die Ueberreste eines zerrissenen Weibes oder Kindes aufspürt, mischt sich auch die hohe Obrigkeit in die Sache und veranstaltet eine Kreisjagd. Zu ihr werden zwei bis dreihundert Treiber aufgeboten, die Wölfe von sachverständigen Leuten genau abgespürt und nun am bestimmten Tage das großartige Treiben ausgeführt. Dann ist das Ergebniß in der Regel aus leicht begreiflichen Gründen ein besseres, obschon es wohl immer noch hinter Ihren Erwartungen zurückstehen mag.
Dies, mein verehrter Freund, ist der gewöhnliche Verlauf ungarischer Wolfsjagden, und ich begreife wahrlich nicht, weshalb Sie um solcher Kleinigkeit willen sich mit Ihren Freunden von Berlin aufgemacht und in dieser abscheulichen Winterkälte eine so weite Reise unternommen haben.“
Der also zu mir sprach, war Freund Herklotz in Wien, mit welchem ich schon seit Jahren im Briefwechsel stehe, und den ich heute zum ersten Male von Angesicht zu Angesicht kennen gelernt hatte. So viel konnte nicht bestritten werden: das Wetter war bei unserer Abreise von Berlin abscheulich, nämlich unangenehm kalt und die Reise somit nicht ganz ohne Beschwerde gewesen; auch hatte man in Berlin in Freundeskreisen vorher bedenklich die Köpfe geschüttelt ob der tollen Idee, mitten im Winter zur Jagd nach Kroatien zu reisen. Für mich freilich handelte es sich keineswegs in erster Reihe darum, einen Wolf zu erlegen, sondern darum, im Kreise ansprechender und liebenswürdiger Menschen einige Tage zu verleben, ein von uns Nord- und Mitteldeutschen wenig besuchtes Land und seine Bewohner kennen zu lernen und mit Isegrim und Braun, welche mir in Norwegen und Spanien hartnäckig ausgewichen, zusammen zu kommen. Und die tolle Idee fand auch bei Anderen Anklang. Mein lieber Freund Hermes, mit welchem ich bisher blos dürftige Jagdgefilde der Mark durchstreift, schloß sich ohne langes Bedenken mir an; der Reisende Mohr fand, als er von der beabsichtigten Wolfsjagd in Kroatien vernahm, die Bremer Luft urplötzlich dick und unerquicklich; Rittergutsbesitzer Beer und der Reichsabgeordnete Gerlich erklärten sich ebenfalls für die Theilnahme; und so war eine Reisegesellschaft zusammen gekommen, welche jenes Kopfschütteln durchaus nicht berücksichtigt und sich heiteren Sinnes aufgemacht hatte, um wo möglich ein leichtes Abenteuer zu bestehen. So waren wir also abgereist und saßen jetzt guten Muthes im tiefen Keller beim weltberühmten Dreher’schen Biere und ließen uns von Freund Herklotz das Vorwort zu dem beginnenden Werke geben.
„Von Gefahr,“ fuhr dieser fort, „kann bei einer Wolfsjagd kaum die Rede sein; es sei denn, daß der Grund und Boden Hindernisse in den Weg legt. Daß die ungarischen Waldungen sich mit Ihren wohlgehegten Forsten nicht vergleichen lassen, brauche ich Ihnen nicht zu sagen; es geschieht also gar nicht selten, daß einer oder der andere Jäger plötzlich in tiefen Schlünden oder Felsspalten verschwindet, welche der Schnee leichthin überdeckt, daß beim Stürzen sich sein Gewehr entladet und er dadurch andere Schützen gefährdet, oder aber, daß in den Rohrwaldungen das Eis unter den Füßen zusammenbricht, Einer in der Tiefe versinkt und ohne thatkräftigen Nebenmann in große Bedrängniß geräth. Was aber die Wölfe anlangt, so sind sie viel zu feige, als daß sie jemals den Jäger gefährden könnten, und ihre Jagd ist deshalb wahrhaftig kaum ernster zu nennen, als ein Treiben auf Hasen und Füchse. Ernste Zwischenfälle kommen höchst selten, heitere Einschiebsel in die Jagd dagegen desto öfter vor.“
Mancherlei derartige Jagdscenen schilderte Herklotz, und manches mir Neue und Wichtige aus dem Leben der Wölfe wurde hinzugefügt, so daß der Abend, außerdem verschönt durch andere Wiener Freunde, rasch verging und die Stunde des nächtlichen Heimgehens rascher als uns lieb herangekommen war. Vom herrlichsten Winterwetter begünstigt setzten wir Tags darauf unsere Reise fort, überfuhren beim prachtvollsten Sonnenschein den Semmering, welcher wie die ganze Alpenwelt ringsum ein Winterkleid von wunderbarer Schönheit trug, begeisterten uns gegenseitig im Anschauen der köstlichen Landschaft und kamen nach zwölfstündiger Fahrt in Agram an.
Fiedler, ein tüchtiger Buchhändler und ebenso tüchtiger Thierkundiger, dessen freundlicher Einladung wir Reise und Wolfsjagd überhaupt zu danken hatten, und andere Agramer Bekannten empfingen uns, und ersterer überraschte uns sichtlich erfreut mit der Nachricht, daß nicht bloß Wölfe in der üblichen Menge vorhanden seien, sondern sich auch ein mächtiger Bär in den Waldungen eines seiner Bekannten gezeigt habe. Mit herzlichem Danke nahmen wir die an uns ergehende Einladung unseres Gastfreundes an, in seinem Hause das Hauptquartier aufzuschlagen und von hier aus die verschiedenen Ausflüge zur Jagd anzutreten. Kannte ich doch bereits Fiedler’s und seiner anmuthigen Gemahlin Gastlichkeit und Zuvorkommenheit von einem früheren Besuche her, und wußte ich, daß wir gerade durch ihn nicht allein mit dem Kern der deutschen Bevölkerung Agrams, sondern auch mit den unserem Zweck am meisten entsprechenden Landeseingeborenen in Verkehr kommen würden.
Es liegt mir fern, hier eine Beschreibung Agrams, seiner Häuser, Straßen, Plätze, Bewohner, deren Trachten, Sitten und Gewohnheiten zu geben; nur bemerken will ich, daß wir in Fiedler’s und Albrecht’s Hause für die ferneren Tage vorbereitet und in dieser und jener Hinsicht unterrichtet wurden, um kroatische Sitten in ihrer vollen Bedeutsamkeit verstehen und würdigen zu können. Insbesondere bemühten sich die Genannten, uns ein Bild der allgemein üblichen und in höchst ansprechender Weise gepflogenen Gastfreundschaft der Kroaten zu entwerfen, gleichzeitig sich der wenig dankbaren Aufgabe unterziehend, uns für die Opfer zu weihen, welche wir dem hier noch unbestrittene Herrschaft übenden Gotte Bacchus zu bringen haben würden. Mit anderen Worten: ein Fest reihete sich an das andere; einer der Freunde suchte den anderen durch liebenswürdige Zuvorkommenheit zu überbieten; der Willkomm ging fleißig in der Runde, und der treffliche kroatische Wein entsiegelte auch unsere Lippen bei den Versuchen, der kroatischen, wahrhaft fließenden Beredtsamkeit es gleich zu thun.
Wir richteten unsern ersten Ausflug in die zwischen der [278] Sawe und dem adriatischen Meer sich erhebenden Gebirge, die letzten Ausläufer der Alpen nach Südosten hin, weil wir von einem dort wohnenden kroatischen Edelmanne, Herrn v. Vranyczany, eine Einladung erhalten hatten. In Begleitung eines unserer Agramer Bekannten, des Herrn v. Lopaschitsch, Verwandten unsers Jagdgebers, brachen wir am Morgen eines Sonnabends von Agram auf und fuhren zunächst mit der Eisenbahn bis Karlstadt, einer kleinen, jetzt bedeutungslosen Festung an der Militärgrenze, von wo aus wir die unter der Regierung Maria Theresia’s erbaute schöne Kunststraße nach Fiume weiter benutzen konnten. Die Fahrt auf letzterer war so angenehm, als sie nur sein konnte. In ziemlich gerader Richtung zieht sich die trefflich angelegte Straße durch das wechselvolle Land, bald einen Hügel erklimmend und von der Höhe desselben eine weite Umschau gewährend, bald wieder in eines der Flußthäler hinabsteigend, im Großen und Ganzen dem Laufe der Kulpa folgend. Der Himmel war unbewölkt, die Luft klar und rein, und so lag das schöne Land im Glanze der Wintersonne vor uns auf Meilen hin erschlossen. Nach Süden und Südosten hin wurde der Blick begrenzt durch die höheren Bergketten der Militärgrenze, nach Westen und Nordwesten hin durch die Ausläufer der julischen Alpen; im Mittelgrunde verzweigen sich andere Bergketten zu einem förmlichen Netze: jede Wendung der Straße gab uns deshalb Gelegenheit, ein wieder etwas verändertes Landschaftsbild zu erschauen.
Soweit wir beurtheilen konnten, war die ordnende Hand des Menschen überall ersichtlich. Alle günstig gelegenen Berggehänge hatte man zu Weinbergen umgewandelt, in den Thälern und auf den ebneren Stellen Felder angelegt, welche von unvermuthet sorgsamer Behandlung Zeugniß gaben. Selbst die Dörfer, von denen viele an den Berglehnen hingen, erschienen uns freundlich und reinlich, jedenfalls weit besser, als wir erwartet hatten. Einen ganz besonderen Schmuck der Landschaft bilden die Kirchen und Capellen, welche auch hier, wie in Steiermark, regelmäßig auf den am meisten hervorragenden Punkten der Gegend angelegt wurden und deshalb auf Meilen weit sichtbar sind. Ich glaube dies ausdrücklich erwähnen zu müssen, weil wir uns in Gegenden, in denen Wölfe in Menge und auch noch einzelne Bären hausen, eine Wildniß vorgestellt hatten, während wir doch in ein von dem Menschen ziemlich vollständig in Besitz genommenes Gebiet gelangt waren.
Eine vierstündige Fahrt brachte uns nach dem Schlosse Severin, welches uns schon von fern her heimlich entgegenschimmerte. Die Straße kommt hier wieder bis auf einige hundert Schritte an die Kulpa heran, welche in dieser Gegend in einem tiefen und engen Thale, zwischen Bergen von drei- bis fünfhundert Metern bedingter Höhe dahinfließt und die Grenze zwischen Kroatien und Krain bildet. Auf einem von ihr in flachem Bogen umzogenen, steil abfallenden Vorberge liegt das Schloß, ein Bauwerk aus dem siebenzehnten Jahrhundert, in einer wirklich köstlichen Lage, etwa sechszig Meter über dem Spiegel des Flusses, welcher sein grünes Bergwasser nur deshalb langsamer dahinwälzt, weil es durch eine Reihe von Wehren von Strecke zu Strecke gestaut wird. Unweit des Schlosses, nach der Landseite zu getrennt durch einen hohen Damm, wahrscheinlich den Ersatz einer früheren Zugbrücke, liegt die Ortschaft Severin, unter deren Gebäuden das Stuhlrichteramt, die Schule und der Gasthof durch Größe und Bauart von den kleinen Häusern der Bauern weit mehr abstechen, als dies bezüglich der beiden Letztgenannten in unseren Dörfern der Fall zu sein pflegt.
Herr v. Vranyczany und seine liebenswürdige Gemahlin empfingen uns mit jener ungezwungenen Freundlichkeit und Gastlichkeit, welche Fremdsein augenblicklich vergessen machen und zwischen Wirth und Gästen ein Verhältniß herstellen, wie es zwischen längst bekannten Freunden besteht. Der Pfarrer eines nahegelegenen Dorfes, ein stattlicher und anziehender Mann, war zu kurzem Besuch anwesend und trug nicht unwesentlich bei, die bald lebhaft geführte Unterhaltung im Fluß zu erhalten. Wir wurden wenige Minuten nach unserer Ankunft zu Tische geleitet und hier nach altkroatischer Sitte willkommen geheißen. Es ist dies Willkommenheißen so bezeichnend für das Land und so anmuthend für den an das Alltagsleben gewöhnten Fremden, daß ich mir nicht versagen will, es mit einigen Worten zu beschreiben.
Nachdem das landesübliche Gemüse, Sauerkraut, aufgetragen, erhebt sich der Hausherr und fordert einen der vorhandenen Gäste auf, das Amt eines Tischherrn zu übernehmen, d. h. für Belebung der Tafelrunde Sorge zu tragen. Der Tischherr empfängt vom Hausherrn den Bilikum, das heißt Willkomm, einen mehr oder minder großen, meist auch eigenthümlich geformten Humpen, und den Schlüssel des Hauses, füllt das Glas bis zum Rande mit edlem Weine und setzt dem Fremden in geordneter und gefälliger Rede auseinander, daß es in Kroatien üblich sei, einem gern gesehenen Gaste Willkommen zu bieten und ihm damit alle Rechte eines Freundes des Hauses einzuräumen. Denn so wie der edle Wein die Freundschaft besiegele, so deute der beigelegte Hausschlüssel darauf hin, daß der, welchem man solche Ehre erweise, bei ferneren Besuchen jederzeit, sei es bei Tage, sei es bei Nacht, willkommen sein und als zum Hause gehörig betrachtet werden solle. Der Gast empfängt das Bilikum und hat die Verpflichtung, es in einem Zuge oder doch ohne den Humpen wieder auf den Tisch zu stellen, zu leeren und hierauf mit einigen Worten für die ihm erwiesene Ehre zu danken. So wandert der Humpen von einem Gaste zum anderen und schließlich in die Hände des Tischherrn zurück, welcher ihn ebenfalls im Namen des Hauses leert. Mit dieser feierlichen Begrüßung beginnt das Gelage; denn von nun an reiht sich ein Trinkspruch an den anderen, und zwar bestimmt es die ansprechende Sitte, daß man niemals einen Gast allein leben läßt oder, wie man in Kroatien sagt, antrinkt, sondern ihn immer in Verbindung bringt mit einer Dame, gleichviel ob mit einer gegenwärtigen und bekannten oder aber mit einer abwesenden und unbekannten. Der Angetrunkene hat sich in angemessener Weise zunächst im Namen der Dame und dann in seinem eigenen zu bedanken.
Es ist erklärlich, daß in guter Gesellschaft die Tafelrunde sich durch diese An- und Gegenreden, welche mit einer uns Deutsche fast beschämenden Beredtsamkeit vorgetragen werden, im hohen Grade belebt, um so mehr, als nach den Trinksprüchen zu Ehren der Gäste solche auf die Frauen, das Vaterland, den Landesherrn, die Freiheit, die Freundschaft der Völker etc. folgen, und unter Umständen, namentlich wenn es sich darum handelt, den Ruhm der Frauen zu feiern, ein und derselbe Trinkspruch von allen anwesenden männlichen Gästen ausgebracht werden muß, sei es auch nur, um zu sehen, inwiefern ein Jeder dem Thema neue Seiten abzugewinnen vermöge. Dabei wird tapfer, hier und da auch unmäßig getrunken; der übliche Tischwein ist aber so mild oder so wenig tückisch, daß das Gelage nur äußerst selten, in einem Hause wie das unseres Wirthes niemals, ausartet.
Uns flogen in diesem hochgebildeten Kreise die Stunden dahin wie Minuten, und die Unterhaltung war für uns um so spannender und fesselnder, als Wirth und Wirthin so wie der eingeborene Gast uns über Land und Leute, Sitten und Gebräuche, Verhältnisse und Zustände Belehrung und Aufklärung verschafften.
Nach Aufhebung der Tafel kam die Unterhaltung selbstverständlich auf den Zweck, welcher uns hergeführt hatte, um so mehr, als unser Kaffeetisch auf dem Felle eines Bären stand, welches geradezu herausforderte, den Jäger nach Wild und Jagd zu befragen. Besagter Bär war vor zwei Jahren von Vranyczany in der Nähe von Severin und zwar mit einem glatten Doppelgewehre erlegt worden. Der kühne Schütze hatte das Ungethüm bis auf zwanzig Schritte an sich herankommen lassen und ihm dann die Kugel so an die richtige Stelle gesetzt, daß Petz sofort das Zeitliche segnete und zu seinen Vätern versammelt wurde. Unser Wirth machte wenig Aufhebens von der Sache, obgleich er die Gefahr, welche jede Bärenjagd mit sich bringt, durchaus nicht unterschätzte. Bis jetzt waren zwei Bären von ihm erlegt worden, welche sein Jagdgebiet durchwandert hatten, wie es regelmäßig zu geschehen pflegt, wenn sie aus den Gebirgen Krains nach den Bergwildnissen der Militärgrenze wandern und umgekehrt. Hier wie dort zählen sie noch zu den wenn auch nicht häufigen, so doch ständigen Raubthieren, und bei der Beschaffenheit der Gebirge und Wälder wird es auch noch gute Weile haben, bis sie vollständig ausgerottet werden können. Man jagt sie mit der größten Leidenschaft, mehr des Jagdruhmes halber als des Schadens wegen, welchen sie verursachen. Allerdings fallen auch sie gelegentlich über eine Herde her und reißen eines oder das andere Stück nieder; der Schaden aber, welchen sie anrichten, steht in gar keinem Verhältniß mit dem, welchen die noch ungleich häufigeren Wölfe dem Besitzthum des Menschen zufügen. Während des Sommers findet Petz so viel pflanzliche Nahrung, daß er sich [279] nur selten einmal am Herdenvieh vergreift. Denn der Stoff regiert nicht blos den Menschen, sondern auch den Bären, und so lange Freund Braun milchige Maiskolben, noch nicht gehärteten Hafer, saftiges Gras, frische Pilze und Beeren zur Verfügung hat, begnügt er sich gern mit solcher ihm sehr zusagenden Speise, denkt friedlich und schlägt blos dann, wenn ein Herdethier ihm gar zu bequem sich bietet, dasselbe nieder. Auf den ernährenden Herbst folgt der Winter, welchen unser Raubthier bekanntlich größtentheils verschläft, und da Derjenige, welcher schläft, nichts Böses thut, so bleibt während dieser Zeit der Mensch von allen ihm lästigen Besuchen seines behaarten Landsmannes verschont.
Ganz anders verhält es sich mit den Wölfen, diesen ewig hungrigen, im Winter geradezu gierigen Räubern, welche in ganz Kroatien die trefflichsten Schlupfwinkel haben und deshalb, aller Jagd und Jäger ungeachtet, noch überall in Menge sich finden und der Landwirthschaft ganz bedeutende Verluste zufügen. Ich nahm die günstige Gelegenheit wahr, von einem so tüchtigen Jäger, wie Baron Vranyczany es ist, Zuverlässiges über den Wolf zu erfahren, und unser Wirth war auch so artig, keine einzige meiner unzähligen Fragen für unnöthig zu halten.
In früherer Zeit waren die Wölfe in hiesiger Gegend noch weit häufiger als gegenwärtig, weil die Bebauung des Landes doch Fortschritte macht und die Waldungen in eben demselben Grade sich verringern, als sie ihr Urwaldsgepräge verlieren. Schloß Severin selbst war in den vierziger Jahren der Schauplatz eines Abenteuers absonderlichster Art. Es war im Winter und ziemlich kalt; die Gebirgswaldungen lagen unter einer hohen Schneedecke fast vergraben, und auch im Thale hatte der Schnee den Wölfen die Tafel auf weithin zugedeckt. Da tritt eines Abends ein Diener des Schlosses aus seinem im Erdgeschosse gelegenen Zimmer und strauchelt über ein vor der Schwelle liegendes Thier, welches er selbstverständlich für einen der starken Hunde des Hauses hält. Ein aus der zufällig geöffneten Nebenthür fallender Lichtstrahl belehrt ihn jedoch, daß er es nicht mit einem Hunde, sondern mit einem Wolfe zu thun hat. Augenblicklich stürzt sich der beherzte Mann auf das Raubthier, packt es mit sicherem Griffe an den Ohren, springt rittlings auf seinen Rücken, klemmt sich mit den Schenkeln fest und reitet so den auf’s Höchste erstaunten Wolf in den Hof hinaus, woselbst dieser, nachdem Jenes Hülferuf die andern Diener herbeigelockt, unter dem Leibe des muthigen Reiters erschlagen wird.
Derartige Besuche sind gegenwärtig allerdings selten geworden; aber noch alljährlich kommen die Wölfe in die Dörfer herein, in der Absicht zu rauben, und in dem Gemüsegarten des Schlosses spürt man sie während des ganzen Winters. Ihre Jagd gilt um diese Zeit vorzugsweise den Hunden, welche überhaupt in ihren Augen ein sehr beliebtes Wild zu sein scheinen und im Winter die einzige Jagdbeute sind, welche sie in und um die Dörfer finden. Zwar verabsäumt der Wolf es keineswegs, auch eine andere Gelegenheit sich bestmöglichst zu Nutze zu machen, schleicht sich ohne Bedenken in einen Stall ein, dessen Thür der Besitzer nicht gehörig verschlossen, springt sogar, wie es erst im vorigen Jahre im Dorfe Bosilgevo geschah, durch ein offen stehendes Fenster in denselben und würgt dann, d. h. wenn er seinen Rückzug gedeckt sieht, alles vorhandene Kleinvieh ohne Gnade und Barmherzigkeit, während er, wenn der Zufall ihm den Rückweg verlegte, sich feige in eine Ecke kauert, dem Kleinvieh nichts zu Leide thut und angsterfüllt der Dinge wartet, die da kommen sollen. Doch gehören Einbrüche des frechen Räubers in Viehställe immer zu den Seltenheiten, während alle Dorfbewohner ringsum allwinterlich einen guten Theil ihrer Hunde einbüßen, und auch der Jäger im Laufe des Sommers regelmäßig mehrere seiner treuen Gehülfen verliert, wie beispielsweise Vranyczany selbst im Laufe eines Jahres vierzehn Jagdhunde durch die Wölfe verlor. Zwar erheben diese, wenn mit Hunden getrieben wird, sich beim ersten Lautwerden der Bracken, um sich fortzustehlen, geben aber genau darauf Acht, wie viele Hunde ihnen folgen, und überfallen, wenn ein einzelner sich durch das Jagdfeuer verlocken ließ, von den übrigen sich zu trennen, diesen ohne weiteres, erwürgen ihn und fressen ihn während der Jagd selbst auf. Ja sie verfahren, wie Pfarrer Kaliman zufällig beobachten konnte, mit ausgesuchter und schändlicher List, um einen Hund zu übertölpeln.
Genannter Beobachter, ein nach Versicherung unseres Wirthes durchaus zuverlässiger Gewährsmann, sah einmal an einem Bergabhang drei Wölfe lauernd stehen und auf das Gekläff einiger Hunde lauschen, welche sie wahrgenommen hatten. Nach einiger Zeit zogen sich zwei von den Wölfen in das nahe Dickicht zurück, während der eine den drei oder vier Hunden, mittelgroßen Bracken, entgegenging und sie förmlich herausforderte, ihn zu verfolgen. Die Hunde stürmten ohne Besinnen auf den verhaßten Gegner los und folgten ihm mit um so größerem Eifer, als er sich bei ihrem Erscheinen sofort wandte und auf die Flucht machte. Kaum hatten sie die Stelle, von welcher aus die beiden anderen Wölfe weggelaufen waren, übersprungen, als diese wieder erschienen, die Fährte ihres Cameraden und der Hunde aufnahmen und nun ihrerseits die Hunde verfolgten. Von diesen kam kein einziger in das Dorf zurück. Aehnliche Ränke und Listen mögen sie im Winter auch in unmittelbarer Nähe der Dörfer oder im Dorfe selbst anwenden, um die Hunde aus dem sicheren Schutze des Hauses wegzulocken; denn gar nicht selten geschieht es, daß ein Dorfhund Abends in voller Angst in das Innere eines Hauses stürzt, um in der Nähe des sichernden Feuers Schutz zu suchen, und man bald darauf das langgezogene Heulen Isegrims vernimmt.
Während des Sommers reißen die Wölfe hauptsächlich Kleinvieh, namentlich Schafe und Ziegen nieder; doch ist der Schaden, welchen sie um diese Zeit anrichten, nicht so bedeutend, als man denken sollte. Der Wald selbst bietet ihnen in den warmen Monaten gar Mancherlei, namentlich Hasen, Füchse, Igel, möglicherweise auch Mäuse und andere freilebende Säugethiere, außerdem Haselhühner, deren Eier und Junge, ein Aas etc. Wenn aber der Herbst kommt, umschleichen sie das draußen noch weidende Vieh ununterbrochen und schonen weder große noch kleine Herdenthiere. Nur an Schweine wagen sie sich selten, nämlich bloß dann, wenn ein Stück der borstigen Herde sich von den übrigen verliert, und mehrere der Raubthiere zusammen sind, um es niederzureißen. Eine größere, geschlossene Schweineherde dagegen bleibt, wie in Spanien, wo ich genau dasselbe erfuhr, regelmäßig von Wölfen verschont, wird sogar von diesen ängstlich gemieden. Denn die tapferen Hausthiere stehen muthig ein für das Wohl der Gesammtheit, alle für einen, und bearbeiten den bösen Wolf, welcher sich erfrechen sollte, unter ihnen einzufallen, mit den Hauzähnen so wacker, daß er alle Räubergelüste vergißt und nur daran denkt, sein auf’s Höchste bedrohtes Leben in Sicherheit zu bringen. Versäumt er den rechten Augenblick, so wird er von den erbosten Schweinen unbarmherzig niedergemacht und dann mit demselben Behagen verzehrt, welches ein Schweinebraten bei ihm erwecken mag. So erklärt es sich, daß man da, wo Schweine im Walde weiden, fast nie einen Wolf spürt, und andererseits wird es verständlich, daß der Jäger, welcher mit seinen Hunden zufällig in die Nähe einer Schweineherde geräth, nicht minder ernste Gefahr läuft als die Wölfe. Denn die Schweine sehen in den Hunden so nahe Verwandte der von ihnen gefürchteten Raubthiere, daß sie sich eben so gut auf jene stürzen wie auf diese und, einmal wüthend geworden, auch den zum Schutze seiner treuen Gehülfen herbeieilenden Jäger nicht schonen.
Aeußerst selten kommt es vor, daß Wölfe sich an einen Menschen wagen. Alle die schauerlichen Geschichten, welche in unseren Büchern erzählt und von unserer Einbildungskraft möglichst ausgeschmückt werden, finden in Kroatien kein Echo. Viel eher als durch Wölfe verliert ein Mensch durch Schweine das Leben; denn jene sind hier trotz ihrer bedeutenden Größe unglaublich feig und lassen sich schon durch das Geschrei der Kinder abhalten und in die Flucht treiben. Freilich treten in Kroatien auch nur ausnahmsweise Nothstände ein, wie die Wölfe der russischen Steppen sie erleiden. Selbst der arme Winter, welcher die Raubthiere anderwärts durch Hunger stachelt und zu kühnen Thaten treibt, bietet ihnen hier immer noch verhältnißmäßig reichliche Nahrung, weil das Vieh nur bei sehr hohem Schnee nach den Ställen getrieben wird. Andererseits rudeln sich die Wölfe auch nicht in so starke Rotten zusammen, wie es in jenen Steppen der Fall ist. Während der Fortpflanzungszeit begegnet man ihnen paarweise und nimmt deshalb allgemein an, daß der Wolf eben so gut wie die Wölfin für die Nahrung des Gewölfes oder Geheckes Sorge trage. Im Herbst sieht man Trupps von vier bis sechs Stück und hält einen solchen Trupp
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[281] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [282] für eine Familie, bestehend aus beiden Eltern mit ihren Jungen. Ein allgemeiner Nothstand vereinigt wohl auch zwei oder drei solcher Familien; stärkere Rudel aber, wie beispielsweise eines von fünfzig Stücken, welches im Laufe des vergangenen Winters bei Casma unter eine Schafherde fiel und alles Lebende würgte, gehören zu den seltensten Vorkommnissen. Der Trupp schweift in einem ziemlich großen Gebiet umher und unternimmt allmählich Jagdzüge von zwei bis drei Meilen Ausdehnung, kehrt aber nach etwa acht Tagen wieder auf dieselbe Stelle zurück, um das Revier von Neuem zu durchstöbern. Erprobte Jäger, wie Vranyczany, sind so fest von der regelmäßigen Wiederkehr der Wölfe überzeugt, daß sie ihre Jagden darnach einrichten, nämlich erst acht Tage später denjenigen Waldestheil abtreiben, in welchem ein Trupp Wölfe gespürt worden war. Wie der Fuchs hält der Wolf seinen Wechsel auf das Genaueste ein, weil er, ebenso wie Reinecke, zu dem Wechsel sich stets die geeigneten, d. h. ihn möglichst deckenden Theile des Waldes wählt und namentlich für einen sicheren Uebergang von einem Waldestheile zum andern die größte Sorge trägt.
Das war es, was ich im Laufe des Gesprächs von meinem Wirth und dessen Gast in Erfahrung brachte.
Eine von jedem Vorurtheil freie und allein auf die Erfahrung gestützte Untersuchung über Ursprung und Wesen der Visionen und Träume darf von vornherein auf die Theilnahme aller Gebildeten rechnen. Ganze Richtungen im Leben der Völker, die Askese des Mittelalters zum Beispiel und das Hexenwesen, können ohne Kenntniß des visionären Zustandes nicht gehörig gewürdigt werden; weltgeschichtliche Persönlichkeiten, wie die Jungfrau von Orleans, bleiben für Den ein ungelöstes Räthsel, der über die Visionen, als über das treibende Motiv im Leben derselben, keinen Aufschluß zu geben vermag; ja der Ursprung aller sogenannten geoffenbarten Religion hängt auf’s Innigste mit der Frage nach Grund und Wesen der Vision zusammen. Nicht nur für den Historiker ist es unumgänglich, daß er klar in dieser Sache sehe; sie hat auch für das Leben der Gegenwart das eminenteste Interesse. Es ist nicht damit abgethan, daß der Naturforscher dem Gespensterglauben und Allem, was damit zusammenhängt, den Rücken kehre; in der Wurzel vernichtet wird der Aberglaube erst dann, wenn er wissenschaftlich erklärt ist. Zu einer solchen Erklärung einen kleinen Beitrag zu geben, ist der Zweck des nachfolgenden Versuchs. Ich beabsichtige zunächst an einigen Beispielen den Hergang selbst, seine Bedeutung und seine Gefahr möglichst anschaulich zu machen. Was sodann die eigentliche Erklärung betrifft, so ruht dieselbe im Wesentlichen auf der geistvollen Untersuchung Schopenhauer’s in den „Parerga und Paralipomena“: Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt. Bei Schopenhauer indessen gehen die feinsten und besten Beobachtungen Hand in Hand mit metaphysischen Träumereien, die sich in gänzlich dunkle Gebiete verlieren und den traurigen Beweis geben, daß auch der größte Philosoph zum abergläubischen alten Weibe werden kann, wenn er um übernatürliche Stützen für sein philosophisches System verlegen ist. Uns ist im Dunkeln so wenig wohl, daß wir dasselbe lieber gänzlich auf sich beruhen lassen und uns darauf beschränken, zu erklären, was sich eben erklären läßt.
Den Hergang der Visionen selbst anschaulich zu machen, ist kein Beispiel geeigneter als das des Berliner Buchhändlers und Schriftstellers Fr. Nicolai. Derselbe hat, wie er zum Gespensterseher wurde, der Berliner Akademie acht Jahre später in der aufrichtigsten und treuherzigsten Weise erzählt und seinen Vortrag alsbald auch unter dem Titel „Beispiel einer Erscheinung mehrerer Phantasmen nebst einigen erläuternden Anmerkungen“ dem Druck übergeben. Nicolai befand sich zu Anfang des Jahres 1791 in einer höchst traurigen und verworrenen Gemüthsstimmung. Die Ursache derselben hat er der Akademie nicht mitgetheilt, indessen lag sie ohne Zweifel in der wüsten und traurigen Reaction, welche in Preußen nach dem Tode Friedrich’s des Großen ihr Wesen hatte. Nicolai wurde besonders empfindlich dadurch getroffen. Die gewaltige Zeitschrift, deren Entstehung sein Werk, deren Leitung seine Lebensaufgabe war, die „Allgemeine deutsche Bibliothek“, war den damaligen Staatslenkern, Wöllner und Genossen, ein Dorn im Auge. Unter Friedrich dem Großen war diese Zeitschrift durch Beschluß des ganzen Staatsrathes für ein nützliches Werk erklärt und dieser Beschluß sogar in die Sammlung der königlich preußischen Edicte aufgenommen worden. Und jetzt waren die Regierenden auf einmal zu der Einsicht gekommen, die Hauptsätze der französischen Revolution rührten vorzugsweise aus der Nicolai’schen Berliner Bibliothekschmiede her, und der Leiter derselben müsse als Erzfeind von Thron und Altar verfolgt werden. In der panischen Angst jener Tage half da auch kein Widerlegen: die „Allgemeine Bibliothek“ mußte erst nach Hamburg flüchten, und wurde bald darauf ganz verboten. Das war zu viel für den alten Nicolai, der sich bewußt war, ein ebenso guter Patriot als Christ zu sein. Seine lebhafte Phantasie malte die Sache noch schlimmer aus, als sie war, über der Sorge um sein Werk und seine so hart angegriffene Ehre vergaß er die Pflege seines Körpers, versäumte die sonst üblichen diätetischen Vorsichtsmaßregeln, und so trat denn jene seltsame Katastrophe ein, welche den alten Aufklärer und erbitterten Verfolger der Gespenster auf einmal selbst zu einem Geisterseher machte.
Es war am 24. Februar 1791, Vormittags zehn Uhr, als Nicolai in seiner Wohnung zu Berlin und in Gegenwart seiner Frau und eines Hausfreundes die erste Gespenstererscheinung hatte. Man muß gestehen: Zeit, Ort und Umstände konnten nicht wohl ungeschickter für dies Ereigniß gewählt sein, es war durchaus gegen alles Herkommen unter den Gespenstern. Nicht die feierliche Geisterstunde, nicht die schauerliche Stille der Nacht, nicht eine öde zerrissene Gegend und „Leichensteine ringsum im Mondenscheine“, nichts von all’ dem düsteren, geheimnißvollen Apparat, mit welchem wir von der Amme an Gespenster zu erwarten gewohnt sind! Es war nicht einmal der Augenblick abgewartet, in welchem sich das Opfer der Geisterwelt allein befand; recht als wenn allen den Grundsätzen, die Nicolai’s großer Freund Lessing einst so glänzend gegen Voltaire’s „Semiramis“ in’s Feld geführt, hätte Hohn gesprochen werden sollen. Indessen hatte Nicolai an eben diesem Morgen eine Reihe von Nachrichten erhalten, die sein moralisches Gefühl auf’s Tiefste empörten und aus welchen er keinen vernünftigen Ausweg sah. Und so stand denn plötzlich am hellen lichten Wintermorgen, kaum zehn Schritte von ihm entfernt, die Gestalt eines Verstorbenen vor ihm. Er wies auf dieselbe hin und fragte seine Frau, ob sie die Person nicht sähe. Diese sah natürlich nichts. Sie nahm ihren Fritz nach Weiberart herzlich erschrocken in die Arme, suchte ihn zu beruhigen und schickte nach dem Arzte. Doch hatte sich die Gestalt, noch ehe derselbe kam, ernst und schweigend entfernt, ihr Besuch hatte nur eine halbe Viertelstunde gedauert. Aber schon Nachmittags heim Eintritt der Dämmerung stellte sich der ungebetene Gast auf’s Neue ein, als Nicolai allein auf seinem Zimmer arbeitete. Es half nicht, daß er sofort zu seiner Frau eilte, die Gestalt folgte ihm und stellte sich ruhig in seine Nähe. Zwei Stunden später kamen noch verschiedene wandelnde Personen, welche indessen die stehende Figur völlig ignorirten. Der Arzt verordnete allerlei blutreinigende Arzneien, ohne die geringste Wirkung damit zu erzielen.
In den folgenden Tagen vermehrten sich die Erscheinungen auf die sonderbarste Weise. Sie kamen höchst ungenirt unter den verschiedensten Umständen bei Tage und bei Nacht, Nicolai mochte allein oder in Gesellschaft, daheim oder in fremden Häusern sein. Fast ohne Notiz von ihm zu nehmen, gingen sie, Männer und Weiber, durcheinander, einige zu Pferd, andere von Hunden begleitet, wie auf dem Markt, wo Alles sich fortdrängt. Alle [283] waren in Gesichtszügen, Haltung und Kleidung so deutlich unterschieden wie im weltlichen Leben und ganz und gar nicht mit den Gebilden zu vergleichen, wie sie eine lebhafte Einbildungskraft willkürlich vor die Seele stellen kann. Dabei waren sie weder schrecklich, noch komisch, noch widrig, einige sogar angenehm.
Nach etwa vier Wochen hörte Nicolai sie erst untereinander sprechen, dann wurde auch er in die Unterhaltung gezogen. Waren es doch auch lauter verehrte Freunde und Freundinnen, verstorbene und lebende; unter den letzteren nur solche, mit welchen Nicolai nicht im täglichen Verkehr lebte, entfernt wohnende, lange nicht gesehene. Sie sprachen sehr verständig, ihrem Charakter ganz angemessen zu ihm, namentlich waren sie bemüht, ihn in kurzen, oft abgerissenen Sätzen über die Gegenstände seines Kummers zu trösten. Uebrigens war der alte Aufklärer weit entfernt, sich durch diese persönlichen Erfahrungen von der Realität der Gespensterwelt überzeugen zu lassen. Kaum waren sie fort, so hielt er den Sinnen, die ihn betrogen, untrügliche Vernunftschlüsse entgegen. Gelang es ihm dadurch auch nicht, die Geister zu bannen, so bannte er wenigstens alle Furcht vor ihnen. Er machte sie, soweit es anging, zum Gegenstand seines Studiums, ja er fing als ein richtiger Berliner nach einiger Zeit an, sich mit ihrer Betrachtung zu amüsiren und mit seiner Frau und dem Arzte darüber zu scherzen. Aergerlich und Besorgniß erregend blieben indessen doch die zudringlichen Gestalten. Ganze Tage lang beunruhigten sie ihn und sobald er Nachts aufwachte, waren sie auch wieder da.
Zuletzt rieth ihm sein alter Hausarzt, sich Blutegel ansetzen zu lassen. Wo, das hat er der Akademie der Wissenschaften auch nicht verschwiegen, und seine naive Offenherzigkeit hat ihm viel grausamen Spott zugezogen. Unter anderen ergriff bekanntlich Goethe die Gelegenheit, ihm als dem Proktophantasmisten im „Faust“ die poetische Unsterblichkeit zu sichern. Die Operation wurde etwa zwei Monate nach der ersten Begegnung mit den Gespenstern vollzogen. Beim Beginn derselben wimmelte das Zimmer noch von menschlichen Gestalten jeder Art, die sich lebhaft durcheinander drängten. Bald aber fingen dieselben an sich langsamer zu bewegen, ihre Farben wurden blasser, ihre früher sehr fest bestimmten Umrisse schwankender, und zuletzt zerflossen sie gleichsam in der Luft, um nicht wieder zurückzukehren. Sie, die der kräftigsten Willens- und Vernunftsanstrengung, ja die dem Spott des Berliners nicht einen Augenblick gewichen waren, kehrten in ihr Nichts zurück vor sechs Blutegeln, welche weitab vom Kopfe angesetzt worden waren.
Und doch waren es ganz unbezweifelt Gespenster, die Nicolai gesehen hatte, so echte und richtige, wie sie überhaupt nur gesehen worden sind. Auf dem kritischen Berliner Boden, dem massiven norddeutschen Verstand gegenüber, hatten sie freilich einen schweren Stand und ihr naives Verschwinden vollends hat sie lächerlicher gemacht, als sie verdienten. Denn dem Wesen nach sind alle Visionen dieser gleich; so genau beobachtet und so nüchtern beschrieben haben nur wenige Visionäre ihre Erfahrungen wie Nicolai. Von einer weltgeschichtlichen Bedeutung derselben kann allerdings schon um deßwillen keine Rede sein, weil Nicolai sie sofort für Das nahm, was sie an sich sind, für Krankheitserscheinungen und Sinnestäuschungen; Visionen von weltgeschichtlicher Bedeutung aber setzen in erster Linie den unerschütterlichen Glauben an eine directe Verbindung des Himmels mit der Erde voraus. Ist dieser Glaube im Visionär wie in seinen Zeitgenossen vorhanden, und ist der erstere außerdem eine Persönlichkeit von bedeutender Anlage, von heroischem Enthusiasmus, was Nicolai nicht war, so sind damit erst die Bedingungen gegeben, unter welchen Visionen eine weltgeschichtliche Bedeutung erlangen können. Den Visionen der Jungfrau von Orleans kommt ohne Zweifel eine größere objective Realität nicht zu als den Nicolai’schen. Sie gingen, wie jene, aus einer krankhaften körperlichen Organisation[1] und aus einer auf’s Aeußerste gesteigerten geistigen Spannung hervor. Aber indem die Jungfrau in Folge dieses Zustandes die Bilder, welche ursprünglich nur die Gluth ihrer Andacht und ihr opferfroher Patriotismus erzeugte, als ein Aeußerliches schaute und in ihnen sofort die Stimmen und Boten der jenseitigen Welt verehrte, erhielt der Glaube an ihre Sendung die göttliche Weihe und so wurde ihr jene schrankenlose Kraft, jener unwiderstehliche Siegesmuth eingeflößt, der, wie mit übernatürlicher Gewalt, die Freunde fortriß und die Feinde niederschmetterte.
Ganz ähnlich verhält es sich mit Mohamed, dessen Beispiel auch insofern recht lehrreich ist, als es die sittlichen Gefahren lebhaft vor Augen stellt, welche nur zu oft mit dem visionären Zustand verknüpft sind. Es ist längst nachgewiesen und kann nachgerade als ausgemacht gelten, daß Mohamed ursprünglich nichts weniger als ein Betrüger war.[2] Wie man auch sein körperliches Leiden nennen mag, ob Hysterie oder Epilepsie, jedenfalls zog er sich als ein armer, kranker Schwärmer aus Mekka zurück, voll Grauen vor dem nahen Weltgericht, dessen Nähe die Christen auch in Arabien mit Feuereifer verkündeten. Um sich in der tiefsten Einsamkeit auf sein Erscheinen vor dem Richterstuhl Gottes vorzubereiten, bezog er eine Höhle auf dem Berge Hirâ, vier bis sechs Ellen lang und höchstens drei Ellen breit. Der Ort entsprach ganz den unheimlichen Oeden, wohin der Volksglaube die Wüstengespenster versetzte. Nicht Wasser und Rasen, nicht Blumen und Schatten erfreuten hier das Auge. Nackte Felsstücke strahlten das scharfe Sonnenlicht so grell zurück, daß die Augen fast davon versengt wurden. Dazu wirkt nun andererseits die reine elastische Wüstenluft so anregend und stärkend, ja berauschend auf den Geist, daß derselbe unwillkürlich veranlaßt wird, allerlei Bilder aus der Vergangenheit aufzufrischen und neue zu erzeugen, um damit die trostlose monotone Umgebung auszufüllen.
Denken wir uns in dieser Lage den phantasiereichen, körperlich und geistig leidenden Mann, aufgewachsen im Glauben an eine Welt von Engeln und Gespenstern, die bald sichtbar bald unsichtbar in das Leben des Menschen eingreifen, was Wunder, daß sich die Gebilde seiner aufgeregten Phantasie zu Visionen verdichteten! Dieselben entsprachen durchaus seinen Körper- und Gemüthszuständen. So lange die Furcht überwog, waren sie finsterer Art: er sah gräßliche Dämonen, hörte seinen Namen in schrecklicher Weise rufen, so daß er durch Angst bis zu Selbstmordgedanken getrieben wurde. Auf den Zuspruch seiner Frau jedoch und anderer frommer Mekkaner, daß ihm der einige Gott diese Anfechtungen nur sende, um ihn späterhin zu besonderen Zwecken tüchtig zu machen, wich die Furcht allmählich dem Bewußtsein eines höheren Berufes und alsbald nahmen auch die Visionen einen freundlicheren Charakter an. Einst sah er – ohne Zweifel kannte er damals schon die Geschichte der Berufung Moses – einen entfernten Baum in wunderbarem, überirdischem Lichtglanz strahlen. Wie er in sprachloser Entzückung hinschaute, glaubte er einen Engel vom Baum zum höchsten Himmel aufsteigen und sich dann zu ihm niederlassen zu sehen.
Mit dieser Vision war sein Lebensberuf entschieden; er hatte dadurch die Gewißheit erlangt, daß er zum Propheten des ewigen Gottes unter den abergläubische Mekkanern bestimmt sei. – Man kann gar nicht zweifelhaft bleiben über den Ursprung dieser Visionen, wenn man dieselben fort und fort mit dem Wesen und Wirken des Propheten in vollster Uebereinstimmung findet. Bekanntlich hatte Mohamed’s religiöse Genialität von Anfang an eine glühende Sinnlichkeit zur physischen Grundlage. Als nun nach den Jahren des aufregenden Kampfes das Fleisch mehr und mehr über den Geist triumphirte und der Polterer anfing ein fauler Bauch zu werden, da kam meistens auch der Inhalt der Visionen auf recht irdische Dinge herab. „Mein einziges Vergnügen auf Erden,“ sagte der Prophet nach einer wohlverbürgten Tradition, „sind Weiber, Wohlgerüche und das Gebet.“ Die Weiber stellte er also mit der großen Männern eigenen Aufrichtigkeit voran. Und Allah gönnte denn auch nach seiner unergründlichen Barmherzigkeit seinem Knechte zum Ersatz für die schwere Lebensaufgabe die größte Freiheit im Liebesgenuß. In Folge verschiedener Offenbarungen durfte der Prophet vierzehn Frauen und drei Nebenweiber halten; ja zuletzt wurde die allgemeine Weisung ertheilt: „Wenn sich aber eine gläubige Frau dem [284] Propheten schenkt, so kann sie der Prophet, wenn er will, heirathen.“ Die reizende kleine Ayischa war in ihrer kindlichen Naivetät oft ganz außer sich über die Unersättlichkeit ihres Herrn und Gebieters. „Wie?“ rief sie einst bei der Entdeckung einer neuen schmählichen Untreue, „wie? Und Du nennst Dich einen Boten Gottes?“ Noch desselben Tages erhielt Mohamed eine neue Offenbarung. „O Prophet,“ sagte Allah, „versage Dir nicht Deinen Frauen zu Liebe, was Gott Dir erlaubt hat.“ Nun, Allah ist groß, der kleinen Ayischa aber schien das neueste Orakel doch etwas stark und sie hatte den Muth, dem Propheten in’s Gesicht zu sagen: „Dein Herr beeilt sich fürwahr, Deinen Gelüsten zu folgen.“ Und in der That, wem über solchen Visionen die Augen nicht aufgehen, der hat keine Augen. Wir sind hier hart an der Grenze, wo krankhafte Selbsttäuschungen in wissentlichen Betrug übergehen, und der Vorgang gemahnt an das berufene Goethesche Distichon:
Jeglichen Schwärmer schlagt mir an’s Kreuz im dreißigsten Jahre:
Kennt er die Welt erst ganz, wird der Betrog’ne (der durch seine Sinne Getäuschte) zum Schelm. –
Wir haben an hervorragenden Beispielen den Hergang, die Bedeutung und Gefahr des visionären Zustandes uns zu vergegenwärtigen gesucht; im Uebrigen liegt es nicht in unserer Absicht, den geneigten Leser durch die zahllose Menge ähnlicher Geschichten zu ermüden. Denn Legion ist die Anzahl der Visionäre, vom König Saul ab, dem am Tage vor seinem Tode Samuels Geist erschien, von den Gesichten des Dion und Brutus an, die doch nach dem Urtheil Plutarch’s gesetzte Männer waren und sich so leicht von keinem Vorurtheil einnehmen ließen, bis auf Jung-Stilling, Justinus Kerner und die Gespensterseher unserer Tage hin. Hat doch selbst das vorige Jahrhundert, das Jahrhundert der Aufklärung, seinen Swedenborg gehabt, der noch auf dem Sterbebette sich rühmte, daß er mit St. Paulus ein ganzes Jahr, mit Johannes siebenmal, einmal mit Moses, hundertmal mit Luther und mit den Engeln fast täglich seit zweiundzwanzig Jahren conversirt habe. Und bezeugt doch der verstorbene Literaturhistoriker und Marburger Prof. Dr. Vilmar noch im Jahre 1857, daß er des Teufels Zähnefletschen aus der Tiefe gesehen, mit leiblichen Augen ganz unfigürlich gesehen, und sein Hohnlachen aus dem Abgrund gehört habe. Nur die Thatsache verdient noch Beachtung, daß Menschen von überwiegendem Phantasie- und Gefühlsleben, also neben den teufelsehenden Theologen vorzüglich Dichter und Weiber, zum visionären Zustand disponirt sind. Tasso verkehrte in seinen letzten Lebensjahren beständig mit einem Geiste und vergeblich suchte ihn sein Freund, der Ritter Manso, zu überreden, daß die Erscheinung nur eine Sinnestäuschung sei. Manso, vom Dichter aufgefordert, selbst einer solchen Zusammenkunft beizuwohnen, bemerkte, wie Tasso mitten in der Unterredung mit ihm auf einmal seinen Blick auf ein Fenster heftete: „Hier ist der freundschaftliche Geist,“ sagte er zu Manso, „der sich mit mir unterhalten will, gieb Acht und überzeuge Dich, daß Alles Wahrheit sei, was ich gesagt habe.“ Manso sah und hörte natürlich nichts, Tasso aber fing mit großem Ernst eine Unterhaltung an, fragte und antwortete, bis sich der Geist verabschiedete. Bekanntlich hatte auch Goethe, als er nach dem schmerzlichen Abschiede von Friederike auf dem Fußpfade gegen Drusenheim ritt, eine der sonderbarsten Visionen. „Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes sondern des Geistes, mich mir selbst denselben Weg zu Pferde wieder entgegenkommen und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traume aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg.“
Neben den Dichtern aber sind nun vollends die Weiber die Gespensterseherinnen von Profession. Jene heiligen Jungfrauen des Mittelalters, welche sich in Stunden seliger Entzückung bald mit dem Apostel Johannes, bald mit dem Christkinde selbst verlobten und von der Wirklichkeit dieses Vorgangs so überzeugt waren, daß sie, wie Katharina von Siena, zeitlebens den Verlobungsring an ihrem Finger funkeln sahen, den doch kein sterbliches Auge außer dem ihrigen erblickte, sie stehen, die Sache vom ärztlichen und nicht vom moralischen Standpunkte angesehen, genau auf derselben Stufe mit den armen unseligen Hexen, die mit Leib und Seele dem Fürsten der Finsterniß anzugehören meinten und deren Geständnisse viel häufiger aus der Angst eines gepeinigten Gewissens als aus den Qualen der Folter hervorgingen. Wer aber vermag die endlose Reihe dieser Schwärmerinnen zu zählen? In Trier allein verbrannte man deren 7000, in Genf innerhalb dreier Monate (des Jahres 1513) 500, in Bamberg 1500 etc. – Noch in unserer Zeit konnte die liebenswürdige Westphälin Annette von Droste-Hülshoff die Gespensterseherei mit der anmuthigsten poetischen Begabung verbinden. –
Alle Visionäre berufen sich zum Beweise für die Realität der Visionen auf die Erfahrungen der Sinne. Was meine Augen gesehen, sagen sie, meine Ohren gehört und meine Hände betastet haben, das werde ich doch als etwas Wirkliches und außer mir Vorhandenes anerkennen müssen. Diesem sehr voreiligen Schlusse gegenüber muß nun zunächst an die triviale und doch immer wieder vergessene Wahrheit erinnert werden, daß es überhaupt unrichtig ist, zu sagen: meine Augen haben gesehen, meine Ohren gehört etc. Vielmehr ist, was die Sinne uns zuführen, nur ein äußerst dürftiger Rohstoff, aus welchem allererst der Verstand das Bild der uns umgebenden Welt aufbaut. Träte etwa, indem wir die schönste Landschaft betrachten, plötzlich eine Art Gehirnlähmung ein, welche die Thätigkeit des Verstandes aufhöbe und nur die Sinneseindrücke ließe, so würde sich, was wir erblicken, in nichts von einer Palette mit vielerlei bunten Farbenklexen unterscheiden. Statt des erhabensten Musikstückes würden wir in dem nämlichen Falle nur ein verworrenes Geräusch vernehmen. Wollen wir uns also genau ausdrücken, so werden wir sagen: ich habe vermittelst des Auges gesehen, vermittelst des Ohres gehört. Was heißt das aber, worin besteht beispielsweise dieser Proceß des Sehens vermittelst des Auges? An der Hinterwand des Augapfels liegen die äußerst zarten Endfasern des Sehnerven; diese Schicht der Netzhaut wird, wenn durch den durchsichtigen Augapfel das Licht, das Helle, die Welt der Farben zu ihr dringt, in eine eigenthümliche Erregung gesetzt und diese Erregung wird durch den Sehnerven – noch hat die Wissenschaft nicht ergründet, wie? – in’s Gehirn fortgeleitet. Nun liegt jene für den Reiz des Lichtes empfängliche Nervenschicht in der knöchernen Augenhöhle und in der Tiefe des festen Augapfels so wohl geborgen, daß sie von der Außenwelt nicht leicht auf andere Weise afficirt wird, als eben durch das Licht, welches der durchsichtige Augapfel ungehindert einläßt. Theilt sich vermittelst des Sehnerven der auf die Netzhaut ausgeübte Reiz dem Gehirn mit, so ist dies für den Verstand das Anzeichen von Licht außerhalb des Auges. Und unzählige Erfahrungen von der Kindheit an lassen in uns in der Regel gar keinen Zweifel darüber aufkommen, daß der uns längst bekannten Wirkung die bekannte Ursache entspreche.
Indessen steht doch erfahrungsmäßig fest, daß sehr verschiedene Ursachen dieselbe Wirkung zur Folge haben können. Dieselbe Erregung des Sehnerven, zu der eigentlich nur das Licht berufen ist, kann zum Beispiel durch einen kräftigen Faustschlag auf’s Auge hervorgebracht werden. Daher die Redeweise der Kinder, wenn ihnen ein Ball in’s Auge geflogen oder sie einen Stoß in dasselbe bekommen haben, es sei ihnen Feuer herausgesprungen. Ein Druck mit dem Fingernagel gegen die Seite des Augapfels, der hineingeleitete elektrische Strom genügen, selbst im dunkelsten Raume entschiedene Lichtempfindungen hervorzurufen. Sogar in Fällen, wo durch Verletzung oder Operation das Auge ganz verloren ist, kann der Wundreiz am Nervenstumpf noch phantastische Lichterscheinungen erzeugen. Mithin ist der Schluß, daß der Erregung des Sehnerven jedesmal äußeres Licht entsprechen müsse, ein falscher; immerhin aber ist in den genannten Fällen die Lichtempfindung durch eine außerhalb des Körpers liegende Ursache bewirkt.
Der angeblich letzte Schillianer (Nr. 14) hat uns zu Nachforschungen über die Verhältnisse desselben veranlaßt. Nach einer authentischen Mittheilung, die uns soeben zugeht, erscheint die ganze Nachricht über denselben als eine in der That sehr unfeine Schwindelei. Uns wurde dieselbe aus der „Königsberger Hartung’schen Zeitung“ mit der Bitte um Berücksichtigung des angeblich armen Veteranen zugesandt, und wir hatten bisher noch keine Veranlassung, in die Glaubwürdigkeit solcher Mittheilungen dieses Blattes Zweifel zu setzen. Daß wir gegen derartige „Nationalbitten“ bei jedem „Localmißgeschick“ unsere Mißbilligung ausgesprochen haben, wird auch in der Provinz Preußen die Zustimmung unserer Leser finden; daß aber gerade dort die Veranlassung dazu gegeben werden sollte, ist, wie sich nun herausstellt, weder ihre noch unsere Schuld.
- ↑ „Johanna d’Arc ist nicht blos als Jungfrau geschieden, sie ist auch nach einem sichern Zeugnisse, welches nichts dadurch erklären will, in einer bestimmten Beziehung immer ein Kind geblieben. Ihre Erscheinungen aber begannen im dreizehnten Jahre. Durch ihr häufiges Fasten und ihre ganze, einer strengen Fastenzeit ähnliche Nahrungsweise mag sie unbewußt und doch mit der Klugheit des Instincts die visionäre Stimmung gefördert haben.“ Hase, Neue Propheten. I. S. 88.
- ↑ Sprenger, Leben und Lehre des Mohamed.