Die Gartenlaube (1872)/Heft 28

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[447]

No. 28.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Diamanten der Großmutter.


Von Levin Schücking.


(Fortsetzung.)


Unterdeß hatte Gaston, als er von seinem Gaste gegangen war, leise den Schlüssel im Schlosse der Thür umgedreht, auch den schmalen Riegel unter demselben vorgeschoben; dann war er in den langen Gang hastig hineingeschritten, um doch am Ende desselben plötzlich stehen zu bleiben, die Hand wie unwillkürlich auf seinen Kinnbart zu legen und mit gefurchter Stirn starr den Boden anzuschauen. War an der Steinplatte, an dieser schwarzen Raute, vor der sein Fuß angehalten, etwas, das ihn so plötzlich hemmte, das ihn zurückschreckte, sie zu überschreiten? Sie war wie die andern schwarzen und weißen glänzenden Platten, die sein Fuß trat. Er sah sie ja auch nicht einmal; er sah nichts, was ihn hemmte; sein Entschluß stand fest; nur daß es zwei Wege gab, diesen Entschluß auszuführen, war es, was ihn stille stehen, was ihn grübeln und berechnen ließ. Der eine Weg führte von Schloß Givres links ab und war der bedeutend kürzere; er führte zu dem Eisenhammer, zu den kleinen Wohnungen der Arbeiter ringsumher; wenn Gaston zu ihnen sandte, so waren sie bald zusammengerufen, bald in Givres, der Deutsche war bald überfallen und aufgehoben von einer Rotte wüster Gesellen, und was dann mit ihm geschah, wo er blieb, wie er endete, das mochte Gott wissen – es ließ sich nicht vorhersehen und nicht berechnen! Der andere führte nach Neufchateau und war der längere; es mußten Stunden vergehen, bis es gelungen war, einen Trupp der dort sich bildenden Franctireurs herbeizuschaffen; aber es war eine halbe Organisation, ein Ansatz zu Subordination unter diesen Leuten; Gaston hatte eine Officierstelle unter ihnen; er würde die Sache lenken und leiten können; er hielt seine Hände reiner, sein Gewissen freier, wenn der Mann, den er als Gast in sein Haus geführt, als Kriegsgefangener behandelt und dann von Schloß Givres möglichst weit in den Süden, nach Algier, nach irgend einem Orte, von woher er nicht zurückkehrte, transportirt wurde. Es ist nun einmal ein großer Unterschied, ob ein Verbrechen, dessen Schuld wir tragen, vor unsern Augen begangen wird, oder weitab, jenseits von Bergen und Strömen. Gaston war kein Mensch, der vor Mitteln zurückbebte, wenn er leidenschaftlich wollte … Dieser Deutsche, das stand in ihm fest, mußte verschwinden … aber wenn ein directer Mord, eine zum Tode führende Mißhandlung vermieden werden konnte, so war es besser; es war, wie die Dinge jetzt standen, ja besser auch, daß der Anschlag auf die Ferme des Auges mißglückt war. Dieser Anschlag hatte freilich einen Vorzug gehabt. Wäre er geglückt, so hätte man später den preußischen Untersuchungen der Sache gegenüber keine Verantwortlichkeit gehabt. Was konnte d’Avelon dafür, wenn eine wilde Bande sein Haus überfiel … Gaston selbst wollte ja die Rolle eines Abmahnenden, Hindernden, Beschützenden spielen … die Eisenarbeiter hätten sich Verfolgungen leicht durch Unsichtbarwerden entziehen können. Was aber von Franctireurs auf Schloß Givres verübt wurde, konnte das nicht ihn, den Eigenthümer von Givres, der diesem Corps angehörte, bloßstellen? Aber Gaston beruhigte sich. Es konnte ja Alles vollständig verhüllt und unbekannt bleiben. Niemand konnte ahnen, Niemand nur daran denken, daß der deutsche Officier in dieser Nacht sich nach Schloß Givres begeben; er war vor dem Ueberfall der Ferme durch die Arbeiter entflohen, hatte sich verirrt, war verschwunden und nicht heimgekehrt zu seiner Truppe, wie so viele Andere auch in diesem mörderischen Kriege – wer konnte verantwortlich für ihn gemacht werden?

Gaston war bald entschlossen. Er eilte weiter, eilte zur Haupttreppe im mittleren Theil des Gebäudes, und auf dieser nach unten. Dann verlor er sich durch eine Thür, die aus der Eingangshalle in den hintern Hof, zu den Stallungen führte.




9.


Max Daveland war von seiner Ermüdung überwältigt eingeschlafen. Der Körper verlangte Ruhe, aber seine innere Erregung war so groß, daß sein Schlaf nur eine Art Taumel war, ein Gehetztwerden von einer nicht abreißenden Folge wirrster, beängstigendster und widerwärtigster Traumbilder. Er befand sich inmitten wilder Kampfscenen, rang gegen Verfolger, verlor Valentine, die er vor dem Sturz in grausige Abgründe zu schützen hatte, in endlosen dunklen Höhlengängen, aus denen ihr Hülfeschrei tönte; er träumte und behielt doch das Bewußtsein, daß er eine Beute der tollen und häßlichen Gesichte, die ihn bedrängten, war. Er fuhr endlich auf und beschloß, sich diesem Zustande, den man unter der Einwirkung von großer Ermüdung und großer geistiger Erregung kennen lernt, und der unerträglich werden kann, zu entziehen; sich aufrecht setzend, gab er sich seinen Gedanken hin, die zu dem zurückkehrten, was ihm Gaston von Ribeaupierre über Valentinens unnütze Sorge und Furcht gesagt, durch welche sie angetrieben worden, ihn in der Höhle der Jungfrau zu bergen. Je unnützer, je chimärischer diese Sorge gewesen, desto mehr lag darin für Max [448] Daveland ein Recht, sich Schlüsse daraus zu ziehen, die ihn mit einem unendlichen inneren Glück erfüllen mußten. Durch den bloßen Gedanken, den bloßen Verdacht, seine Sicherheit könne bedroht sein, hatte sich Valentine von einer ganz namenlosen Angst erfüllt gezeigt; sie hatte sich gar nicht gescheut, diese Sorge um ihn in ihrem ganzen Umfange zu verrathen; sie hatte rücksichtslos und ohne sich zu besinnen sofort das entschiedenste Mittel ergriffen, um ihn in Sicherheit zu bringen; in ihrer Noth um ihn hatte sie nichts gefürchtet, weder die Nacht, noch den Regen, noch die weite Wanderung durch eine wahre Bergwildniß; sie hatte keine Scheu gekannt, kein anderer Gedanke war mehr in ihr gewesen, als die Sorge um seine Sicherheit; kein Gedanke an Das, was sie that, indem sie mit dem fremden Manne, dem feindlichen Officier, allein in die Nacht und die Wildniß hinauseilte; die Urtheile der Ihrigen darüber, die Kritik der Welt, wenn es bekannt würde, hatten sie nicht gekümmert … sie hatte Niemand anders, nicht ihrem Vater einmal, die Sicherung Maxens überlassen wollen, nur sich selber hatte sie dabei vertraut, und für nichts Anderes mehr Sinn gehabt, als daß er in Gefahr schwebe!

Max fühlte sein Herz höher und höher schlagen, indem er zu diesen Gedanken zurückkehrte. Er wäre im Hochgefühle seines Glücks in diesem Augenblick bereit gewesen, alle Diamanten aller Großmütter der Welt darum zu geben, wenn er die Thorheit nicht begangen, sich so offen gegen Gaston auszusprechen. Was ihn dazu angetrieben, die Absicht, Gaston’s Verzicht auf Valentine zu erreichen, war ja jetzt auch gar kein Motiv für ihn mehr; er hatte Valentinens Neigung gewonnen, in einem Grade, daß sie sich gar nicht mehr gescheut, sie ihm, ja der ganzen Welt zu verrathen. Was bedurfte es da noch solcher Hebel, um Gaston zu entfernen – ach, alle solche Mittel kamen ihm in diesem Augenblicke eben so klein und verächtlich vor, wie er sich selber, er, der ja etwas war, wie eine Schlange, die Herr d’Avelon an seinem Busen zu ernähren begonnen. Es ließ ihn nicht länger ruhen. Er hatte in Gaston’s Hände den Ruf, beinahe die ganze Existenz d’Avelon’s gelegt; er mußte das gut machen auf irgend eine Weise: er mußte widerrufen, was er gesagt, er mußte Gaston erklären, daß er seine Behauptung zurücknehme, daß er sie als Irrthum eingesehen! Max sprang auf und warf sich in seine Kleider. Er hatte auf dem runden Tische mitten im Gemach Schreibzeug gesehen, er war entschlossen, Gaston eine schriftliche Erklärung, daß er sich geirrt, zu geben, sie zurückzulassen und dann im ersten Grauen der Dämmerung dies Schloß Givres zu verlassen, in welchem er alsdann ja weiter nichts zu thun hatte, in das er sich doch am Ende sehr unvorsichtig hatte locken lassen … Beweise und Briefe über d’Avelon’s Herkunft aus Belgien oder Frankreich konnten ja nicht da sein, und wenn Gaston – warum war ihm der Gedanke nicht eher gekommen? – sie zu besitzen vorgab, lag dann nicht nahe, daß dieser Herr von Ribeaupierre ihn nur nach Schloß Givres zu locken beabsichtigt habe? Wahrhaftig, es war besser, Max schlug den Rückweg ein so bald wie möglich!

Er hatte das Licht angezündet und schrieb rasch die Erklärung nieder, die er Gaston zurücklassen wollte. Sie sollte gründlich alle Gefahr entfernen, in die er d’Avelon durch sein unvorsichtiges Geständniß gebracht.

Er schrieb: „Ich bin sehr betroffen, ja beschämt, durch eine Erinnerung, die mir eben gekommen ist. Mir ist einst von den Meinigen wiederholt erzählt worden, daß die Person, welche ich wiedergefunden zu haben glaubte, als junger Mensch durch ein unvorsichtiges Gebahren mit einer Jagdflinte die zwei unteren Glieder des kleinen Fingers der linken Hand verlor. Der Herr, von dem wir sprachen, besitzt eine durchaus unverstümmelte Hand. Ich bin gedemüthigt durch diese Erfahrung, wie weit sich die Phantasie, wenn sie einmal eine falsche Richtung einschlug, zu verirren vermag. Da ich also auf die Vorlage Ihrer Documente völlig verzichten kann, bleibt mir nichts übrig, als für Ihre gastliche Aufnahme in dieser Nacht zu danken. M. Daveland.“

Als Max diese Zeilen in französischer Sprache niedergeschrieben hatte, war es Tag geworden. Das Morgenlicht begann von einem sich aufhellenden Horizont her so mächtig in das Gemach zu dringen, daß er sein Licht auslöschen konnte. Er trat an’s Fenster und sah, wie ein rosiges Licht auf die Wipfel der Bäume in dem das Schloß Givres auch von dieser Seite umgebenden Parke, auf die das Thal weiterhin ausfüllenden Ackerfluren und auf die bewaldeten Höhen fiel, welche es einengten und an denen feuchte Dunstwolken wie gigantische graue Wollflocken hingen, die sich an den Wipfeln der Bäume festgenestelt. Hinter den Bergen da oben mußte Neufchateau, weiter Dom Remi la Pucelle liegen – Max hatte seinen Weg gerade in der entgegengesetzten Richtung nordwärts zu suchen – er brauchte um das Finden des Wegs nicht besorgt zu sein, er hatte ja in der Nacht wahrgenommen, daß eine gut chaussirte Straße von Schloß Givres nach der Ferme des Auges führte, und über den Hof der Ferme laufend dann zu eben dem Wege wurde, auf den ihn Valentine anfangs weisen wollen, um nach Void zurückzukommen, bis ein Licht ihren Verdacht erweckt und sie bewogen hatte, ihn zur Höhle der Jungfrau zu bringen.

Max besorgte jetzt rasch seine Morgentoilette und wollte dann aufbrechen. Er bekleidete sich mit seinem Ueberzieher, schnallte den Degen um, fühlte nach dem Revolver in der Brusttasche und trat an die Thür. Die Thür war verschlossen. Er drehte am Schloß, er zog und rüttelte – aber umsonst – er war eingeschlossen.

„Verdammt!“ sagte er, leicht die Farbe wechselnd, „ich habe mich, so viel ist klar, von diesem Gaston übertölpeln lassen! Ich bin sein Gefangener. Hoffentlich nicht für lange. Es wird doch einen Ausgang aus dieser Bärenfälle – denn wie ein dummer Bär bin ich hineingegangen – geben.“

Ein gewaltsames Sprengen der Thür, mit einem Revolverschuß etwa, brächte das ganze Haus in Alarm und riefe alle seine Bewohner herbei. Es war keine Flucht möglich als durch das Fenster. Dieses lag freilich vielleicht zwanzig Fuß hoch über dem Rasen, der unten die Grundmauer des Gebäudes umgab. Man konnte nicht hinausspringen ohne Gefahr alle Glieder zu brechen. Und doch blieb kein anderer Weg übrig. Max dachte an die Geschichten von merkwürdigen Rettungen aus solchen Lagen vermittelst zerschnittener Tücher. Aber so etwas bedurfte langer Vorbereitung und er fühlte, daß die Augenblicke kostbar – der Boden in diesem französischen Schlosse, in das er sich so kopflos locken lassen, allein, weitab von den Seinen und aller Hülfe, begann ihm unter den Füßen zu brennen. Sollte er den Sprung hinunter wagen? Langsam und geräuschlos öffnete er das Fenster und blickte hinab – es war wahrhaftig ein verzweifeltes Unternehmen – es war ein schrecklicher Gedanke, mit zerschmetterten Gliedern da unten zu liegen, bis man komme, ihn in die Gefangenschaft zurückzubringen, oder – ihm den Rest zu geben! Er wandte sich geängstigt von dieser Vorstellung in das Zimmer zurück, und ließ sein Auge, suchend nach irgend einem Dinge, das Hülfe gewähren könnte, ausspähend durch alle Ecken schweifen, da – mit einem leisen Ausbruch der Befriedigung eilte er auf sein verlassenes Lager zurück, sprang darauf und löste mit rascher Hast eine dicke, in einen Quast endende blaue Seidenschnur, die von dem Betthimmel herabhing. Sie genügte vollständig. Max zog sein Messer, schnitt den Quast ab, nahm die doppelte Schnur einfach, befestigte sie an den untern Fensterhaken und schwang sich hinaus; als ehemaliger Turner hatte er nur noch eine Aufgabe, die sich wie ein Spiel lösen ließ. Nach wenig Secunden stand er unten auf festem Grund und Boden und entfernte sich nun mit einem triumphirenden Gefühl, wie leicht ihm dies Entkommen geworden, von dem Gebäude – er schritt in den schweigenden, unter den hohen Bäumen noch dunkelnden Park hinein, um nur zunächst möglichst weit aus dem Bereich des gastlichen Schlosses von Givres zu kommen.

Dann wandte er sich links. Er mußte einen ziemlich weiten Umkreis nicht scheuen, um die offene weite Rasenfläche zu vermeiden, welche vor der Vorderfronte des Schlosses lag, und im Schutze der Baumpartien und Gebüsche den Weg nach Void zu erreichen. Dabei kreuzte er eine andere Straße, die, vom Schlosse herkommend, sich nach rechts schwang und südwärts in’s Thal hinein verlief … in der Ferne glaubte er auf ihr Hufschläge zu vernehmen – als er stehen blieb, sah er, daß er sich nicht getäuscht; sie kamen näher; Max entfernte sich, seiner Richtung folgend, etwas mehr – nach einer Weile wandte er, von einem Strauchwerk gedeckt, sich zurück und sah einen Reiter vorübersprengen auf Schloß Givres zu – trotz des flatternden Regenmantels, der ihn umgab, glaubte er an der Figur Gaston von Ribeaupierre zu erkennen. Hatte dieser die Nacht auf einem Ritte zugebracht – und wohin? Max wünschte sich doppelt [449] Glück, daß er aus seinem Bereiche war, und hastete vorwärts, um die Ferme zu erreichen.

Er hatte die Chaussee, welche nach dieser führen mußte, bald gefunden. Es galt nur, einen schmalen Graben zu überspringen, der den Parkbezirk von der Böschung der Straße trennte. Dann schritt er rasch auf dieser weiter. Je mehr er sich der Ferme näherte, desto mehr vertiefte die Straße sich in einen schluchtähnlichen Paß, einen bergaufführenden Hohlweg. Endlich kam Max an eine Stelle, wo sich nach rechts hin eine schmälere Schlucht abzweigte. Er glaubte diese Stelle wiederzuerkennen; wenn ihn nicht Alles täuschte, mußte es die sein, wo er in der Nacht aus der engen Bergschlucht von der Höhle der Jungfrau her auf die Chaussee gekommen war, um dann bald auf Gaston zu stoßen. Max hielt seinen Schritt an. War es nicht besser, diesen Weg wieder einzuschlagen? Valentine hatte ihm versprochen, ihn dort aus der Höhle zu befreien, ihn abzuholen. War es nicht möglich, daß er sie jetzt gerade – der Tag war ja längst da – dort antraf? Die Hoffnung, sie dort zu finden sie dort allein und ungestört sprechen zu können, ihr Alles rückhaltslos sagen zu können, was seine Brust erfüllte – dann allein um ihr den Rückweg gehen zu können, war zu verlockend. Und es war ja am Ende auch klüger, vorsichtiger, diesen Weg zu nehmen und, falls er Valentine auch nicht traf, dann über den Höhenrücken den einsamen Fußpfad durch das Gehölz bis zu der Ferme zu verfolgen, den sie ihn in der Nacht geführt hatte und den er jetzt bei Tageslicht leicht mußte wiederfinden können – wenn es Gaston am Ende einfallen sollte, ihn mit seinen Dienstleuten zu verfolgen, so würde er ihn auf der geraden Chaussee suchen – sie zu verlassen um des freilich weiteren Nebenweges willen, war räthlicher.

So war Maxens Entschluß bald gefaßt. Er vertiefte sich in das Seitenthal und verfolgte es, in eine immer engere Schlucht gerathend und nun doch ein wenig unsicher, ob er den richtigen Weg genommen. Bei einer letzten Wendung um einen Felsvorsprung jedoch gewahrte er zu seiner Beruhigung, nicht mehr fern vor sich, das Ende der Schlucht und die schmale Oeffnung in den Steinklippen, welche den Eingang zu seiner Höhle bezeichnete … die Jungfrau, die er zu erblicken gehofft, war freilich nicht da. Er mußte sich in die Thatsache finden, sie ward nicht anders dadurch, daß Max, den letzten Hoffnungsschimmer festhaltend, zur Höhle emporstieg. Auch von der steilen Höhe links kam sie nicht niedergestiegen auf dem schwierigen Pfade, den Max sehr bald ausfindig gemacht hatte; die abgeschiedene düstere Bergschlucht blieb so öde und einsam, wie er sie gefunden, trotz seines Harrens und Rastens auf einer Felskante am Ufer des Bachs, der durch die Tiefe dahinrieselte – es war ja auch so thöricht, es zu erwarten, daß sie noch einmal den beschwerlichen Gang durch nasses Gebüsch über den steilen Bergrücken machen sollte! In ihrer Erregung, in ihrer Angst hatte sie in der Nacht sich dazu hinreißen lassen. Die Erregung aber war nun vorüber, und wie hätte sie ihm jetzt hier allein entgegentreten können – mit dem für sie ein wenig beschämenden Geständniß, daß ihre Sorge, ihre Angst um ihn eine ganz gegenstandslose gewesen – wie hätte sie einer Scene entgegengehen können, in der sie jetzt doch nur Worte und Erklärungen voraussehen konnte, denen ein junges Mädchen doch nicht – entgegengeht!

Max gab seine Hoffnung auf und beschloß weiter zu schreiten, und doch beharrte er in seiner Ruhe und seinen Träumen auf dem Felsblocke, auf dem er saß – und nicht Träumen allein – es gab doch auch so viel zu denken, zu überlegen! Es war doch mit Valentinens Neigung, wenn auch Alles gewonnen, nicht Alles glatt und friedlich geebnet. Welche Aufnahme würde seine Werbung bei d’Avelon finden? Und wie würde er sich zu Gaston stellen, wenn dieser wieder in der Ferme erschien? – Und würde es auf die Dauer möglich sein, wenn er um Valentine warb, zu verbergen, wie nahe er Vater und Tochter stehe, und Jenem eine so tiefe Demüthigung, wie darin für d’Avelon liegen mußte, und sich selbst die peinigende Rolle, die er alsdann auf der Ferme spielte, zu ersparen?

Alles Das waren Fragen bedrängender Natur, nur zu sehr danach angethan, um ihn sinnen und grübeln zu lassen. Wie zu stillem, ungestörtem Träumen und Denken hatte ja die Natur selbst diesen Ort geschaffen, und nicht weniger dazu geschaffen war diese Stunde des frühen Morgens mit ihrer feuchten Luft, ihren leise aus den Gründen aufsteigenden Nebelschleiern – es schien einer jener Tage werden zu wollen, die wie zum Träumen bestimmt sind, wo man vergißt, ob es Morgen, Mittag oder Abend ist, und am meisten Das, was an Thätigkeit, Pflichterfüllung und Arbeit die Morgen- oder Abendstunden von uns verlangen – wo man das Leben fühlt als ein kampf- und müheloses Gebilde innerer Gesichte.




10.


Unterdeß hatte aber, während Max so in Träumen verloren müßig auf einer Felskante in der engen Bergschlucht saß, längst den Befehlshaber der kleinen Truppe in Void die Schreckensmeldung von dem völligen und räthselhaften Verschwinden des Lieutenant Daveland erreicht. Der Hauptmann von Sontheim war wie elektrisirt bei dieser Nachricht, die zwei bis an sein Nachtlager vormarschirte Landwehrmänner mit thaufeuchtem Bart ihm gebracht, in die Höhe gefahren – hatte, während er sich in die Kleider warf, rasch mehrere Befehle gegeben und war nach unglaublich kurzer Zeit, begleitet von dem Lieutenant Merwig, nach der Ferme hinausgesprengt – zu Fuße folgte ihm nach seiner Anordnung Hartig mit einem Zuge der Compagnie.

Als Sontheim auf dem Hofe der Ferme hielt, ließ er sich zuerst von dem ihm entgegenkommenden Unterofficier Bericht erstatten. Der ehrliche Thonwaarenfabrikant war herzlich froh, durch die Ankunft seines Chefs seiner weiteren Verantwortlichkeit überhoben zu sein.

„Ich habe, glaub’ ich, die richtigen Maßregeln ergriffen, Herr Hauptmann,“ sagte er, „ich konnte, denk’ ich, nichts anderes thun, als den Leuten vorläufig Arrest anzukündigen?“

„Gewiß haben Sie das Richtige gethan, Sattler,“ rief der Hauptmann aus, „es wäre ein schweres Gericht über Sie ergangen, wenn Sie es unterlassen hätten – es muß uns Alles daran gelegen sein, diese Menschen in Händen zu haben und ein Beispiel an ihnen statuiren zu können. Zeigen Sie mir das Fenster, woran Sie die Spuren gefunden, daß man an ihm hinauf geklettert ist.“

Der Unterofficier führte den Hauptmann hin; dieser sprang von seinem Pferde und gab seinem Untergebenen die Zügel. Sontheim hatte sich von der Richtigkeit der Angaben des letzteren überzeugt und sprach: „Es ist klar, man hat ihn überfallen und fortgeschleppt; dieser unpraktische Hartig, der vorgestern mit dem Lieutenant von Daveland hier war, hat ganz recht gehabt, wenn er sagte, man wolle den unglücklichen Menschen hier beschwindeln und in eine Falle locken … aber wer konnte an solch eine vermaledeite Tücke glauben!“

„Es ist eine Geschichte, über die sich Einem vor Wuth und Schmerz das Herz im Leibe umdreht!“ rief Merwig zornig aus. „Man sollte Alles füsiliren lassen, was auf dem Hofe ist …“

„Es wird doch wohl in Commercy abgeurtheilt werden, was mit den Leuten hier geschehen soll?“ wagte der Unterofficier, zu Sontheim aufblickend, zu fragen; „wenn sofort nach Kriegsrecht verfahren würde und unserer Compagnie dabei die Execution zufiele, so …“

„Was wollen Sie sagen, Sattler?“ fuhr der Hauptmann von Sontheim den friedlichen Topffabrikanten in einer Weise an, die nicht geeignet war, ihn sehr beredsam zu machen.

„Nun … ich meine nur,“ versetzte er verdrossen; „wenn es sein muß und befohlen wird, nun ja, so ist’s eben befohlen! Aber man sieht doch lieber, wenn’s Anderen befohlen wird und man seinen Flintenlauf davon rein hält!“

„Sie thun am besten, Sattler, wenn Sie sich darüber keine vorwitzigen Gedanken machen und es abwarten. Zeigen Sie mir jetzt, wo Ihre Arrestanten sind, und gehen dann zurück, um die Mannschaft, die aus Void kommt, zu erwarten; sobald sie da ist, wird der ganze Hof umstellt und darauf werden mir sofort, sobald ich Ihnen den Befehl zukommen lasse, alle Bewohner, alles Gesinde einzeln vorgeführt, daß ich sie vernehme.“

„Zu Befehl, Herr Hauptmann!“

Sontheim betrat, von seinem Untergebenen zurechtgewiesen, bald darauf mit Merwig den Salon. Herr d’Avelon trat ihm ernst und würdig entgegen, während die beiden Damen die entfernt von einander, Ellen in einer Causeuse, Valentine in einer Fensternische, saßen, nur schweigend und ohne sich zu erheben [450] seinen Gruß erwiderte. D’Avelon’s Einladung, sich zu setzen, lehnten die Officiere ab. Sontheim erklärte mit einer sehr kühlen, sehr gehaltenen Höflichkeit in einem zwar nicht fließenden, aber zum Verständniß ausreichenden Französisch, daß er die Pflicht des Dienstes bedaure, die ihn hergeführt, und zunächst um des Hausherrn Aufschlüsse über das, was geschehen, was Aufhellung über des verschwundenen Cameraden Schicksal geben könne, bitten müsse. Merwig musterte währenddeß von der Seite Valentine – er fand nichts Räthselhaftes mehr in der bisher ihm unerklärlich gewesenen Bethörung des armen Cameraden, der ihr so schnell zum Opfer geworden schien.

Herr d’Avelon erzählte Alles, was er erzählen konnte, offen, bereitwillig, so umständlich, wie er vermochte. Sontheim setzte sich dabei an den Schreibtisch Valentinens am oberen Ende des Salons, um sich einige Notizen zu machen. Dann bat er Valentine um ihre Aussagen – Valentine erhob sich und trat in seine Nähe – auch Ellen erhob sich, wie magnetisch herbeigezogen, wie als ob sie in größerer Nähe von Valentine dieser die Worte auf den Lippen zurückhalten könne, die sie nicht gesprochen wissen wollte. Aber es war unnütz, wenn sie sich ängstigte. Valentine sah ein, wie furchtbar erschwerend es für sie Alle sein würde, wenn sie von ihren Beobachtungen in der Nacht rede, wenn sie verrathe, daß ein Complot geschmiedet worden, um Daveland zu überfallen; sie sprach kein Wort, das über die Darstellung ihres Vaters hinausging. Nur eine unbestimmte Sorge um den fremden Officier hatte sie getrieben, ihn zu warnen, ihn fliehen zu heißen – und geflohen war er, sicher und ungehärmt war er entkommen, das hatte sie gesehen, und wenn ein Unglück ihn betroffen, so war sicherlich Niemand auf der Ferme daran schuld – Herr von Daveland war längst von ihr in Sicherheit gebracht, als die Arbeiter wirklich erschienen, um ihn zu überfallen.

„Sie sprechen das so bestimmt aus, er sei von Ihnen in Sicherheit gebracht, mein Fräulein,“ sagte Sontheim, „was giebt Ihnen diese Sicherheit, die Ueberzeugung, daß er nicht auf seinem Fortgange von der Ferme den Uebelthätern in die Hände gefallen ist?“

„Mein Gott,“ rief Valentine aus, „ich selbst habe ihn begleitet, ich habe ihn in eine sichere Zuflucht geführt. …“

„Was nennen Sie sicher? …“

„Ich darf eine Felsenhöhle in abgelegener Bergschlucht, die Höhle der Jungfrau, so nennen – dorthin habe ich selbst ihn begleitet. Dort konnte Niemand in der Welt ihn vermuthen – als ich bei Tagesanbruch ging, ihn aus derselben zu befreien, fand ich ihn nicht mehr, aber auch keine Spur von einem stattgefundenen Ueberfall, von einem Kampf, von einer Anwesenheit vieler Menschen dort vor kurzer Zeit … es war nicht möglich, daß man ihn dort gesucht und gefunden!“

Sontheim wandte sich Ellen zu; Miß Ellen wußte nichts weiter anzugeben, als was Herr d’Avelon über die Veranlassung von dem Bleiben des deutschen Officiers gesagt, und daß alsdann um Mitternacht eine Arbeiterschaar in’s Haus gebrochen, die aber ihr Opfer schon entflohen gefunden. Sie wußte absolut nichts weiter; sie gab ihre Aussagen ebenso bestimmt als lakonisch, mit einer sehr wahrnehmbaren Verstärkung jenes nicht anmuthigen Zuges um ihren Mund, der weder für ihre Umgebungen schmeichelhaft, noch für den Lauf der irdischen Dinge überhaupt ermuthigend war; Miß Ellen sagte offenbar mit diesen nach unten gezogenen Winkeln ihres hübschen Mundes, daß sie weder das Bewirthen eines deutschen Officiers und Valentinens Sorge um ihn, noch das Vorhandensein von Eisenhammerarbeitern in der Welt, oder das Auftreten deutscher Soldaten als Herren im Hause als anständig, moralisch oder nur erträglich betrachten könne.

Der Hauptmann v. Sontheim hatte fortgefahren, sich Notizen zu machen – dann wandte er sich zu Herrn d’Avelon zurück.

„Sie müssen schon entschuldigen, mein Herr,“ sagte er ihn scharf fixirend, „daß ich, von Ihren Angaben nicht ganz befriedigt, zur Vernehmung Ihrer Leute übergehe, und sie mir vorführen lasse. Lieutenant Merwig, sorgen Sie dafür, daß es jetzt geschehe. Was Ihre Angaben betrifft, so werden Sie selbst fühlen, daß sie in einem bedauerlichen Grade unzulänglich und Verdacht erweckend sind. Es ist nicht allein sehr auffallend, daß Sie einen Ihnen fremden Officier über Nacht bei sich zurückhielten, sondern noch mehr, daß eine junge Dame, wie Ihr Fräulein Tochter, ihn ganz allein mitten in der Nacht, durch Regen und Dunkel, in eine einsame Berggegend, in ein Asyl geführt haben will. Es lautet das so überraschend romantisch, daß es nicht mehr wahrscheinlich genannt werden kann. Die Thatsache, daß ein Arbeiterhaufe während dieser Nacht in Ihr Haus gedrungen ist, gestehen Sie selbst ein – wir müssen annehmen, daß dieser Haufe nicht gekommen ist, ohne daß ihm vorher ein Wink wurde, der ihn herbeirief; auch, daß ihm vom Innern des Hauses aus die Mühe erspart wurde, sich gewaltsam hier einzuführen. …“

„Weshalb hätten wir’s auf die Gewalt ankommen lassen sollen,“ rief d’Avelon aus – „wir wußten, daß Herr von Daveland in Sicherheit war …“

„In Sicherheit?“ fiel Sontheim ein. „War er wirklich bereits entfernt, als der Ueberfall geschah? Und wenn auch – welcher Art die Sicherheit, in welche er geführt wurde, war, das sehen wir jetzt – er ist eben verschwunden!“

„Senden Sie zu dem Eisenhammer; lassen Sie dort die sämmtlichen Arbeiter vernehmen,“ antwortete d’Avelon auffahrend und im Beginne, über diese Ungläubigkeit, auf welche seine Erklärungen stießen, außer sich zu gerathen, „alle diese Leute werden Ihnen bestätigen …“

„O gewiß, gewiß!“ unterbrach ihn Sontheim achselzuckend und mit sarkastischem Lächeln – „diese Leute werden sicherlich darin übereinstimmen, daß sie durchaus unschuldig sind und die ganze Nacht bei ihrer Arbeit oder in ihren Betten zugebracht haben … leider ist es nicht unseres Amtes, hier lange regelrechte Criminalproceduren anzustellen, dazu haben wir keine Zeit – ich werde noch Ihre Dienstleute verhören und bedaure, dann das Weitere dem Kriegsgericht in Commercy überlassen zu müssen.“

„Also wir werden vor ein preußisches Kriegsgericht gestellt werden,“ sagte d’Avelon sehr bleich werdend, „ich nicht allein, sondern auch diese Damen hier?“

Sontheim antwortete nicht. Trotz der Härte, die er in seine Sprache legte, wurde ihm die Sache peinlich – er sah von d’Avelon fort und nach der Thür, durch welche Merwig verschwunden war, um die weiter zu vernehmenden Leute einzeln eintreten zu lassen – Valentine war unterdeß aufgesprungen und neben ihren Vater geeilt, an dessen Brust sie sich warf, um daran plötzlich in einen Strom von Thränen auszubrechen. D’Avelon drückte ihren Kopf mit seiner Rechten an seine Brust, während seine Linke ihre Schulter umschlang; auch in seine Augen traten die Thränen und mit zitternder Lippe sagte er:

„Mein armes, armes Kind – sei stark, sei muthig – dieser schauderhafte Krieg nimmt bessere Leute fort, als ich bin – sie werden ja nicht den Muth haben, an Dein süßes Haupt zu rühren – sie werden es nicht! Ellen, reichen auch Sie mir die Hand – wenn ich ein Opfer dieser entsetzlichen, unerklärlichen Geschichte werde, so soll Ihnen wenigstens kein Haar gekrümmt werden – Sie sind nicht allein schuldlos wie wir Alle, auf Sie fällt ja auch nicht der leiseste Verdacht …“

Wie von einem plötzlichen Schmerz durchzuckt bei diesen Worten ihres Vaters, fuhr Valentine von seiner Brust zurück.


(Schluß folgt.)




Ein Gang durch die Katakomben bei St. Stephan in Wien.


Seit Adalbert Stifter’s ergreifender Schilderung der Katakomben zu St. Stephan hat sich die Phantasie mit dieser seltsamen Stätte des alten Wien viel beschäftigt. Sie schuf entsetzenerregende Bilder aus den düsteren und helleren Gängen, welche sich unter unserem alten ehrwürdigen Dome ausbreiten, verknüpft mit Märchen über dort vorgefallene grauenhafte Scenen aus dem Volksleben. Und unsere Romanschriftsteller hatten dabei um so größeren Spielraum, als die Chronisten über den Ursprung und Zweck der Katakomben sehr schweigsam waren. Ich will es hier versuchen, eine wahrheitsgetreue Darstellung dieser unterirdischen Todtenstätte

[451]

In den Katakomben zu St. Stephan in Wien.
Nach einer Skizze von H. Fritzmann.

zu geben. Auch ohne dichterische Färbung und Reflexion wird sie in Gemüthern, welche sich einer gewissen Pietät für Todte nicht entschlagen können, einige Theilnahme erwecken. Denn wie stumpfsinnig wir auch heute für Alles geworden sind, was einer edleren Gefühlsregung entspringt, so giebt es doch selbst für die gemüthlosesten Verstandesmenschen eine Grenze, die sie nicht gern überschreiten: den Weg zur Rohheit und Verwilderung.

Die Entstehung der Katakomben Wiens hängt mit der alten, noch heute in manchen Dörfern bewahrten Sitte zusammen, die Leichen der Verstorbenen in und neben den Kirchen zu beerdigen. Die Vornehmen und Reichen erwarben gemauerte Grabstätten im Innern der Gotteshäuser und schmückten Wände und Fußböden mit reich gemeißelten Steinplatten, um ihren Angehörigen ein dauerndes Andenken zu sichern. Die Armen mußten sich begnügen, [452] um die Kirche herum in die feuchte Erde gelegt zu werden, über deren aufgeworfenen Hügel ein einfaches, hölzernes Kreuz emporragte. Bei dem beschränkten Raum der Friedhöfe reichte man aber nur kurze Zeit mit der Unterbringung der Leichen aus und so geschah, was heute noch in großen Städten in Anwendung kommt: es wurden die Gebeine der Todten nach einer bestimmten Zeit aus den Gräbern herausgenommen. Aber anstatt sie, wie in unseren Tagen, zu verbrennen oder an Spodiumfabriken abzugeben, sammelte man sie in eigenen Beinhäusern, welche entweder unter den Chören der Kirchen oder in besonderen auf den Friedhöfen erbauten Capellen, sogenannten Karnern, untergebracht wurden.

Auch um St. Stephan breitete sich in der ganzen Ausdehnung des heutigen Platzes ein solches Leichenfeld in mehreren Abtheilungen aus. An der Südseite des Domes, und zwar in unmittelbarer Nähe des hohen Thurmes, lag der älteste Karner, der noch zum alten romanischen Bau gehörte. Ein zweites Beinhaus war in der Magdalenencapelle (um 1340 erbaut) an der Südwestseite des Platzes und ein drittes hinter der Kirche unter dem Hofraum des deutschen Hauses. Bei der wachsenden Ausbreitung des Pfarrbezirkes und der großen Sterblichkeit in der Stadt genügten aber zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts diese Karner nicht mehr, und man begann, neben der unterirdischen Todtencapelle im Deutschen Hause Keller zu graben und darin die Gebeine anzusammeln. Je nach dem Bedürfnisse wurden durch stollenmäßige Grabungen neue, rundbogig überwölbte Gänge angelegt, zuerst in nordöstlicher Richtung gegen den Zwettlhof, dann unter dem Chore und dem Langhause des Domes; kein einziger Gang erstreckt sich aber über den Stephansplatz hinaus und die Meinung, daß sich die Katakomben unter einem großen Theile der Stadt verzweigen, ist nach den jüngsten Untersuchungen unbegründet. Die Anlage der Gruftgänge geschah keineswegs nach einem bestimmten Plane. Es ergiebt sich dies aus ihrer ganz unregelmäßigen Anordnung, welche kein stufenmäßiges ununterbrochenes Fortschreiten gestattet. Ebenso wechselt die Höhe und Breite der Gänge und ihr größtentheils roher, schmuckloser Zustand. Die jüngsten Stollen wurden wenige Jahre vor der Auflassung des St. Stephansfriedhofes unter Kaiser Joseph dem Zweiten geöffnet. Zur Unterbringung der Gebeine dienten die Seitenstollen, welche man nach ihrer vollständigen Belegung zugemauert hatte.

Würden die Katakomben in diesem Zustande geblieben sein, wie ich geschildert, so hätten sie schwerlich je der Romantik und der Sage einen reichen Stoff geboten. Aber zu einer Zeit, die sich nicht bestimmen läßt, wurden sie zum Schauplatze einer unmenschlichen Verwüstung und Zerstörung, in welche nur hie und da eine ordnende Hand eingriff und die Spuren des Vandalismus in einer Art milderte, welche den grellsten nüchternsten Gegensatz bildet. Alles weist darauf hin, daß hier im Laufe der Jahre Leichenräuber ihr frevelhaftes Spiel trieben, zum Theil vielleicht auch Neugierde und Muthwille das vollendeten, was Zeit und Verwesung begonnen hatten. –

Eine zufällige Anregung bot mir Gelegenheit, vor wenigen Tagen in Gesellschaft mehrerer Freunde die Katakomben zu besuchen. Wir betraten sie an dem Zugange an der Nordseite des Thores, der nahe der Capistrankanzel liegt, durch eine offene Gitterthür, begleitet von drei Fackelträgern und an der Hand eines Planes, welchen der Conservator für Wien, H. v. Camesina, in den Schriften des Alterthumsvereins soeben veröffentlicht hat. Eine eiserne Fallthür öffnete eine schmale Stiege, über welche wir hinab in einen niedrigen engen Gang gelangten, zu dessen beiden Seiten Grufträume lagen. In einem derselben fanden wir klafterhoch und wie Holz aufgeschichtet Knochen von Armen und Beinen, zwischen denen in eigenartiger symmetrischer Anordnung Köpfe hervorgrinsten. Woher sie zusammengetragen oder aus welchen Gräbern sie genommen wurden, darüber wußten uns die Führer keinen Bescheid zu geben. Nicht weit davon entfernt sah es schon wüster und unheimlicher aus. Da lag in einem Winkel auf kahlem Boden ein Haufen von Knochen und Köpfen, dazwischen abgerissene Fetzen schwarzer Seidengewänder. Einer unserer Begleiter bemühte sich, uns die gute Qualität des Stoffes zu erklären, indem er daraus den Schluß zog, daß es reiche Leute gewesen sein mögen, deren Leichen darin gehüllt waren. Er knitterte das mit einer klebrigen Substanz bedeckte Stück Seide und bot es uns zum Geschenke an, wofür wir uns aber höflich bedankten. In einem anderen Winkel sah es ebenso unheimlich und wüst aus. Es kollerte zu unseren Füßen ein Schädel mit zerrauften Haaren, daneben lagen schwarze Tuchlappen. „Diese Stücke rühren von dem Gewande eines Geistlichen her,“ erklärte der Begleiter. „Und der Kopf?“ frug neugierig einer meiner Freunde. „Wird wohl auch dazu gehört haben,“ – erwiderte lakonisch der Führer, wie der Todtengräber im Hamlet, dem Alles gleich ist, was ihm unter die Schaufel kommt.

Durch einen schmalen unregelmäßigen Gang gelangten wir in eine ebenso unregelmäßige leere Halle, deren Gewölbe in der Mitte auf einen massiven Pfeiler gestützt und deren Wände mit Stuck verziert waren. Welchen Zweck dieser Raum hatte, konnte nicht ermittelt werden. An zwei Seiten lagen Grüfte, deren Eingänge noch vor nicht gar langer Zeit vermauert worden, gegenwärtig aber erbrochen sind. Mit Mühe brachen wir uns Bahn, um in das Innere dieser Grüfte eindringen zu können. Welch ein Bild der Zerstörung! Offenbar war die Gruft früher mit hölzernen Särgen angefüllt, welche entweder schon bei ihrer Uebertragung oder nachträglich in Trümmer zerfielen und deren Bestandtheile in gründlichster Unordnung dalagen. Einzelne Särge hatte man ihrer Deckel beraubt und deren Inhalt durchwühlt. Zu unterst gab es noch einige geschlossene Särge mit schwarzen Kreuzen bezeichnet. Zwischen den durchwühlten Brettern lagen zerstreute Schädel, Arme und Knochen herum, und der Boden war derart mit Schichten von Moder bedeckt, daß kein Tritt gehört wurde. Die Spuren dieser groben Gewaltthätigkeiten hatten auf Alle einen widerlichen Eindruck gemacht. Selbst der Arzt, welcher in unserer Gesellschaft war, erwachte aus seinen anthropologischen Studien und konnte einen Schmerzensschrei über diese Verletzung jeder Pietät nicht unterdrücken.

Wir kehrten auf demselben Wege in schon betretene Grufträume zurück und wurden von hier in eine große, breite gewölbte Halle geführt, welche unter dem Querschiffe des Domes lag. Stiegenaufgänge an beiden Enden führten in den Dom. In früherer Zeit hatte man dem Publicum bei bestimmten Anlässen den Zutritt in diese Halle gestattet, daher auch die Decken der Gewölbe und die Abschlußwände mit Malereien und Stuckverzierungen geschmückt sind. Nicht geringe Ueberraschung bereitete uns einer der Fackelträger, als er den mittleren Seitengang betrat. Da lagen zu beiden Seiten offene Särge, mit Leichen bedeckt, welche nur halb verwest und nur zum Theil ihrer Kleider entblößt waren. In dem Gesichte eines alten Mannes waren noch die Schmerzenszüge erkennbar, unter denen er sein Leben ausgehaucht hatte. Mit dem etwas vorgebeugten Kopfe und den gestreckten Gliedern machte die Leiche einen wehmüthigen Eindruck. Dort lag eine Frau vollständig entblößt; nur über den Sarg hinaus verbreiteten sich Stücke eines mit Silberfäden durchwirkten Stoffes. Sie war zur Mumie ausgetrocknet; aber in den wohlgeformten Zügen konnte man noch herausfinden, daß sie ein schönes, jugendlich kräftiges Wesen gewesen sein mußte. In ihren Armen hielt sie das Gerippe eines kleinen Kindes. Es bedurfte keiner weiteren Erklärung, um zu wissen, wofür die arme Frau gelitten, was ihr den Tod gebracht. Wer mag sie gewesen sein? Gut ist es, daß ein tiefer Schleier den Namen der Unglücklichen bedeckt, sonst müßten ihre Nachkommen das Erbarmen anrufen, daß man den Leichnam so rücksichtslos bloßgelegt hat. An einer andern Leiche hing wie steifes Leder die vertrocknete Haut von den Füßen weg, während[WS 1] der Kopf und die übrigen Körpertheile noch Spuren aufwiesen, daß sie der Leiche eines jungen Mannes angehört haben. In demselben Seitengange standen auch zwei kupferne Särge mit den Ueberresten des Bischofs Emerich Sinellius (gestorben 1685) und Joh. Andreas Joannelli’s (gestorben 1673), die unangetastet waren.

Von der Querhalle aus führten in der Richtung gegen den Hochaltar des Domes zwei oblonge Räume mit Aufzugslöchern an den Gewölben. In einem Raume hatte man Steinfiguren von dem Bildhauer Moll hingelegt, welche vor der Restauration einen Altar der Seitenchöre zierten. Seltsamer war die Wahrnehmung in dem zweiten Gruftraume. In einer kleinen Nische stand ein viereckiger Behälter von Eisenblech. Auf unsere Anfrage erhielten wir die Auskunft, daß darin im Jahre 1852 die Leichen zweier Kinder des brasilianischen Gesandten am österreichischen Hofe beigesetzt worden waren. Eine an der Wand angebrachte Tafel, die aber gegenwärtig ganz verwischt ist, bezeichnete den [453] Todestag der Kinder. Dies waren die jüngsten Bewohner der Katakomben. Welcher Grund wohl zu dieser sonderbaren Beerdigung geführt hatte?

Von dieser Stelle aus durchschritten wir unter dem Thore, wo heute das Friedrichs-Denkmal steht, mehrere Gänge, die aber keinerlei Interesse boten, und standen am Ende unserer Wanderung. Nach einem einstündigen Aufenthalte hatten wir Alles gesehen, was die Katakomben Denkwürdiges bieten. Wir athmeten leichter, als hinter uns sich das Gitter der Eingangsthür schloß, auf der die gut christliche, aber hier nicht in Erfüllung gegangene Inschrift steht: „Gott, gieb ihnen die ewig’ Ruh’, und das ewige Licht leuchte ihnen!“

K. W.




Fingerzeige für Bergreisende.


Wenn jener zartfühlende Seneschall in Boieldieu’s Oper „Johann von Paris“ verurtheilt gewesen wäre, seine Fahrt in einem vollgestopften Eisenbahn-Waggon oder in einem baierischen Stellwagen zurückzulegen, dann hätte er gewiß nie gesungen: Ha, welche Lust gewährt das Reisen! Seitdem die Dampfkraft das Massenreisen zur Mode gemacht hat, ist ein großer Theil, namentlich der idyllischen Annehmlich- und Liebenswürdigkeiten des Besuchs moderner Land- und Völkerschaften verschwunden auf Nimmerwiederkehr. Das erfuhr ich so recht, als die Sehnsucht nach der Reise-Zwangspause von 1870 mich 1871 wieder nach Tirol zog. Die Eisenbahnfahrt durch Baiern mit seinen bierfreundlichen Conducteuren bis zu der Reisewüstenoase der Starnbergerseefahrt und darnach die Stellwagenmarter in’s Gebirg werde ich selbst meinem ärgsten Feinde niemals zu gönnen wagen. Der Stellwagen übertraf wirklich Alles. Ich mußte in der That bei dem sehr nahe liegenden Vergleiche meines gequetschten Daseins mit dem Schicksale der Heringe in ihrer Tonne unbedingt den letzteren den Vorzug geben, denn die Heringe sind einmal flacheren Körperbaues und dann bietet überhaupt ihre Leibesbeschaffenheit keinen zu großen Unterschied im Allgemeinen dar. Nun hatte mir aber das Mißgeschick im Stellwagen zwei sehr, sehr Dicke zu Nachbarn gegeben, und ich dankte meinem Schöpfer in erster und dem Kutscher in zweiter Linie, als nach vierstündigem Rumpeln in Murnau angehalten und Mittag gemacht wurde.

Murnau ist ein überaus reinliches und freundliches Städtchen in reizender Lage. Die Alpen und Schneeberge rücken immer näher und gern hätte ich noch länger im Anschauen der herrlichen Natur geschwelgt, aber da steckte auch schon der Kutscher wieder nach genommener Mahlzeit seinen silbernen Löffel als Schmuck in die landesübliche kleine Seitentasche seiner prallen Lederhose und trieb die Passagiere zum Einsteigen an. Immer großartiger wird die Landschaft, durch die unser Weg führt, aber leider ist der Naturgenuß auf solch einer Fahrt nichts weniger als ungetrübt.

Nach einigen Stunden complicirter Stellwagenleiden Ankunft in Partenkirchen. Das Martervehikel hält vor der Post und Alles steigt so rasch als möglich zum Wagen hinaus, um sich in der von allen Reiseschriftstellern hochgepriesenen „Post“ ein Unterkommen zu sichern. Der dicke Herr Postmeister versichert jedoch Allen voll mitleidiger Seelenruhe, daß längst alle Zimmer „besetzt“ und überdies auf wer weiß wie lange noch vorausbestellt sind.

Der körperlich wie geistig gedrückte Zustand meiner Stellwagenleidensgefährten wurde dadurch nicht gemildert. Glücklicherweise fanden wir nach langem Umherlaufen und Suchen aber doch noch Alle Unterkommen in einigen anderen Gasthäusern und Privatwohnungen.

Die Umgegend von Partenkirchen gewährt großen Reiz und reiche Abwechslung für jeden Naturfreund. Die prächtigen Ausflüge, der herrliche Blick auf die nahen Eisberge, unter denen die mächtige Zugspitze vor allem unser Interesse immer wieder fesselt, machen Partenkirchen zu einem der lohnendsten Aufenthaltspunkte, wenn der Ort nicht eben von Fremden, wie so oft, bis hinauf zu den Schornsteinen überfüllt ist.

Hierzu hatte im vorigen Sommer nun freilich das Passionsspiel im nicht zu fernen Oberammergau hauptsächlich Veranlassung gegeben. Man wußte, daß in Oberammergau gute Quartiere nicht häufig waren, und Viele wählten deshalb Partenkirchen als Standquartier. Leider aber verfielen immer gleichzeitig zu Viele auf diesen gescheidten Plan, und so kam es, daß an den Tagen vor oder nach dem Passionsspiele die Wohnungsnoth in Partenkirchen kaum geringer war als in Oberammergau selbst.

Auch ich fuhr an einem langentbehrten wundervollen Sonntagsmorgen im offenen Poststellwagen hinüber nach Oberammergau, um des Abends in strömendem Regen durchnäßt und – ernüchtert zurückzukehren. Aber nicht der Umschlag des Wetters allein hatte mich so verstimmt; ich war – wie man dies von einem verdrießlichen Vergnügungsreisenden nicht anders erwarten wird – nicht so befriedigt, als ich es nach den enthusiastischen Lobeserhebungen von so vielen Seiten hätte sein müssen. Abgesehen von der oft erstaunlichen Kunst und Abrundung der Darstellung war mir bei all meiner Freisinnigkeit ein großer Theil des Ganzen doch mehr wie eine Herabwürdigung oder Caricatur des Erhabensten, was uns die Bibel erzählt und lehrt, vorgekommen. Auf dem nassen Heimwege hatte ich andern mehr begeisterten Theilnehmern gegenüber offen mein Urtheil ausgesprochen und war dadurch in Auseinandersetzungen gerathen, die mich wenigstens warm genug machten, um den kalten Regengüssen geringere Empfindlichkeit entgegen zu bringen.

Als ich am Abend desselben Tages im Gasthofe zum „Stern“ in Partenkirchen einige schlichte einheimische Sänger und Citherspieler hörte und den beliebten Schuhblatt’ltanz ausführen sah, mußte ich mir wohl sagen, daß diese ungekünstelten Productionen den Leuten viel besser zu Herz und Gesicht standen als die einem früheren, glücklich überwundenen Zeitalter angehörigen Darstellungen biblischer Begebenheiten.

Der nächste Morgen war wieder trübe und unfreundlich. Die Straße vor der Post in Partenkirchen zeigte aber trotzdem ein reges Leben, denn wie immer am Tage nach dem Passionsspiele kehrten Viele dem freundlichen Orte den Rücken, um bald durch eine womöglich noch größere Anzahl Touristen wieder ersetzt zu werden. Auch ich hatte mein Bündel geschnürt und schritt hinüber nach der Post, um mir einen Einspänner nach Lermos zu miethen. Eine solche Fuhre sollte nach „Bädecker“ vier Gulden kosten, doch war dies trotz der neuesten Auflage des Reisehandbuches jetzt schon ein völlig überwundener Standpunkt und man mußte sich eines besonderen Glückes erfreuen, wenn man jetzt eine solche Fahrgelegenheit um fünf Gulden erhielt.

Diesen letzten Preis hatte kürzlich der Postmeister von einem Engländer gefordert, der so viel Deutsch verstand, um nach Bädecker reisen zu können. „Fünf Florins –“ hatte der ökonomische Britte erstaunt gefragt – „hier in dies Buk stehen nur vier Florins; ich uerde zahlen nicht mehr!“ Als der gute Mann trotz aller Gegenreden durchaus auf seinem Kopfe und Buche bestehen wollte, sagte endlich der Postmeister ganz ruhig: „Na, wenn’s durchaus blos vier Gulden zahlen wollen, so lassen’s Ihnen doch vom Herrn Bädecker nach Lermos hinüber fahren!“

Obgleich ich mich nun wohlweislich nicht auf Bädecker berief, erhielt ich dennoch gar keinen Einspänner mehr in der Post, denn andere besser situirte Weltbürger hatten heute bereits vor mir in so großer Anzahl zwei- und vierspännig das Weite gesucht, daß gar kein Pferd mehr für meine einspännigen Ansprüche vorhanden war. Ich mußte also froh sein, als ich endlich noch ein schlechteres Privatfuhrwerk um – sechs Gulden erhielt.

Das Wetter war noch unfreundlich und die herrlichen Berge hatten sich dicht in langweilige Regenwolken eingehüllt. Die Reize der Landschaft zu beiden Seiten des Weges blieben mir verborgen und ich konnte meine Betrachtungen deshalb mehr dem inneren Menschen zuwenden. Hauptsächlich nahm der Magen jetzt meinen Gedankengang in Anspruch und ich freute mich schon im Voraus königlich, in Lermos endlich einmal doch gewiß Forellen zu finden. In Partenkirchen hatte ich nicht zu diesem Genuß kommen können, denn als prädestinirtem Pechvogel geschah es mir dort stets, daß eben die letzte Portion der köstlichen Fische für irgend eine langweilige englische Familie bestellt war, wenn ich mich meldete.

In Lermos angelangt, galt daher meine erste Frage noch aus [454] dem Wagen heraus den Forellen, aber auch hier hatten mir eben einige englische Damen die letzte vor dem Munde weggeschnappt.

Die brave Wirthin in der gemüthlichen Post von Lermos wußte zwar bald meinen Kummer durch anderweitigen trefflichen Imbiß zu bannen, und als sich auch nun gar noch das Wetter etwas aufhellte, so ward meine Stimmung bald besser. Und welch herrliches Bild bot sich mir hier dar! Die Zugspitze, deren gewaltige Gruppe man hier von der Partenkirchen entgegengesetzten Seite sieht, trat aus den Wolken hervor in ihrer ganzen Majestät, steil in sechstausend Fuß hohen Felswänden hier in das Thal abfallend.

War mir nach den letzten bewegten Tagen in Partenkirchen jetzt die Ruhe in dem stillen friedlichen Lermos auch höchst einladend, so litt es mich hier doch nicht lange, denn ein mir befreundeter, wohl bewährter Münchener Tourist hatte mir zu einem freundlichen Ruhepunkte Imst empfohlen.

„Wenn Sie,“ meinte er, „ein recht behagliches und angenehmes Leben in Tirol führen wollen, so versuchen Sie es nur getrost mit Imst; aus einem halben Tage, den ich dort zubringen wollte, ist eine ganze Woche geworden, denn der Stubmayer in der Post versteht es wie kein Anderer, seine Gäste gut zu bewirthen und ihnen mit trefflichem Rathe zu den schönsten Bergtouren beizustehen.“

„Also noch heute bis Imst!“ hieß meine Losung.

Der durch die vorhergegangenen Regengüsse aufgeweichte Weg veranlaßte mich, in Lermos alsbald ein einspänniges Postwäglein zu nehmen, und in der That kann es für Reisende, die nicht mit Gepäckladungen durch die Welt ziehen, gar keine angenehmere und billigere Fahrgelegenheit geben.

Der Weg von Lermos über Nassereith nach Imst über den Fernpaß gehört unbestritten zu den Glanzpunkten Tirols, und oft ließ ich den Postillon halten, um die erhabenen Eindrücke der wechselvollen prächtigen Aussichten zu genießen. Nach allen Seiten hin gewaltige schneebedeckte Bergriesen, die lieblichsten Thäler einschließend; unmittelbar am Wege einige kleine tiefgrüne Bergseen, denen dann, nachdem auf der prächtig angelegten Straße die Höhe des Passes erreicht ist, auf der andern Seite der größere, aber ebenso schön grüne Fernsteinsee folgt. Wie malerisch liegt das alte Schloß Siegmundsburg auf einer kleinen Insel inmitten dieses Sees – man mußte vor Freude laut aufjubeln in diesem Eden! Von meiner Verdrießlichkeit aber war schon längst auf dieser kurzen Fahrt der letzte Rest verloren gegangen. – Der biedere Postillon, der diesen Weg schon viele hundert Mal zurückgelegt hatte, war trotzdem noch empfänglich für die Schönheiten der Gegend, und oft genug drehte er sich nach mir herum, mich mit einem stolzen Lächeln fragend: „Gelt, Herr, das ist schön da heraußen bei uns?“

Von Nassereith aus nimmt die Gegend einen sanfteren, aber deshalb nicht weniger schönen Charakter an; das Gurglthal, in welchem jetzt der Weg hinführt, hat etwas ungemein Idyllisches, und man fühlt sich hier rasch heimisch.

In der Abenddämmerung erreichte ich mein Ziel, den Marktflecken Imst. Von Nassereith anlangend, empfängt man von dem Flecken keinen günstigen Eindruck; doch gewinnt man alsbald die Ueberzeugung, daß Imst in früherer Zeit einen weit bedeutenderen Rang als jetzt eingenommen haben mag. Man passirt Gassen mit Häusern von viel soliderer Bauart, als wir sie hier zu sehen gewohnt sind; doch viele stehen ganz oder theilweise leer und gehen ihrem Verfalle entgegen. Im Mittelalter blühte hier der Bergbau, und auch als Handelsplatz war Imst bedeutend; aber beide Hülfsquellen sind fast versiecht, bis ihnen vielleicht ein neu belebendes Element zugeführt wird.

Meine Fahrt war zu Ende. Vor einem schloßartigen alterthümlichen Gebäude hielt mein Einspänner.

„Das ist also die Post?“ frug ich verwundert.

„Zu dienen, mein Herr,“ ließ sich ein großer wohlbeleibter Mann vernehmen, der grüßend an den Wagen herantrat. Es war der Postmeister Stubmayer, und ihm richtete ich sogleich die mündlichen Empfehlungen meines Münchener Freundes aus. Aber es hätte derselben wohl kaum bedurft, um mir hier einen guten Empfang zu bereiten.

In dem großen interessanten Gebäude, das früher ein Edelsitz gewesen war, gab es Raum genug für eine Menge Tirolfahrer, und ich war so glücklich, ein Zimmer zu erhalten, das eine wahrhaft prachtvolle Aussicht nach dem Innthale und auf die Berge hinüber bis zu den Oetzthalgletschern bot. Lange Zeit labte ich mich an dem herrlichen Naturbilde, und bald überkam mich das Gefühl innigster Behaglichkeit.

Als endlich der Magen seine gewichtigen Rechte geltend machte und mich hinab zum Gastzimmer trieb, fand ich auch hier gleichgesinnte fröhliche Gefährten. Auch die ersehnten Forellen wurden mir hier nicht von englischen Usurpatoren verkümmert.

Nur kurze Zeit wollte ich in Imst bleiben, aber immer wieder wurde ein Tag zugegeben, und daran war nicht blos der behagliche Aufenthalt in dem alten Edelhofe schuld. Der freundliche Wirth wußte für jeden Tag einen neuen Ausflug in die herrliche Umgebung vorzuschlagen, und so trefflich wie der Postmeister Stubmayer weiß wohl selten Jemand Bescheid zu geben über die eingehendsten Verhältnisse der näheren und ferneren Umgegend. Der erfahrene und dabei so bescheidene Mann genießt aber auch bei den Tirolreisenden wohlverdienten Ruf, und unter seiner erprobten Anleitung muß hier auch der noch wenig Erfahrene bald zum praktischen Touristen werden.

Wenn nun bald wieder die Wanderlust Tausende nach Tirols schönen Bergen zieht, so möchte ich denen, die nicht gern in überfüllten Modestationen, wie Berchtesgaden Partenkirchen, Reichenhall, Kitzbichel etc., ihren Aufenthalt nehmen wollen, von ganzem Herzen Imst empfehlen, das bis jetzt von den Touristen noch nicht so arg belagert ist. Auch für einen längeren Aufenthalt bietet die Umgebung reiche Abwechslung, und überdies ist das Leben in Imst weit ungezwungener und ganz beträchtlich billiger als in den oben angeführten Plätzen. Sollte die Post oder geeignete Privathäuser des Ortes aber wirklich keinen Raum mehr bieten, so gewährt das nahe Brennbichel (wo König Friedrich August von Sachsen am 9. August 1854 bei einem Sturz aus dem Wagen seinen Tod fand) in dem wohlrenommirten Gasthaus leicht Unterkunft. Für längeren Aufenthalt möchte auch das eine halbe Stunde vor Imst auf dem Berge thronende romantische Schloß Starkenberg (jetzt Brauerei) mit seinen hübschen Anlagen große Reize und Annehmlichkeiten bieten.

Von reizenden nahen und fernen Ausflügen von Imst könnte ich eine lange Reihe anführen, doch wird der Wanderlustige dieselben besser und ausführlicher am Orte selbst erfahren. Zur Genüge bekannt dürfte übrigens wohl noch sein, daß die großartige Tour in das berühmte Oetzthal mit seiner Gletscherwelt am besten von Imst aus unternommen wird, und hier bekommen an Bequemlichkeit Gewöhnte auch gute, frische Maulthiere.

Die schönen und glücklichen Tage, die ich im vergangenen Jahre in Imst verlebte, haben mich veranlaßt, Anderen zu Nutz und Frommen diese wenigen Fingerzeige zu geben. Es waren nicht nur die wenig angenehmen Erfahrungen der vorhergegangenen Tage, die mir gerade Imst in rosigerem Lichte erscheinen ließen. Ich suche die mir liebgewordene Stätte gewiß bald wieder auf. Dem freundlichen und aufopfernden Postmeister Stubmayer aber drücke ich im Geiste dankbar die Hand für seine wohlgemeinten und trefflichen Touristenwinke. Ich freue mich schon, nach des Tages lohnenden Wanderungen wieder des Abends bei ihm sitzen und seinen interessanten Berichten lauschen zu können.

Im Allgemeinen darf man überhaupt darauf rechnen, namentlich in den kleineren Orten Tirols, das beste Unterkommen in den Postgasthäusern zu finden. Ueberdies sind die Herren Postmeister oder Posthalter auch gewöhnlich freundliche und zuvorkommende Rathgeber für die Reisenden. Mit Vergnügen erinnere ich mich noch des Aufenthaltes in dem bescheidenen Häuschen des Postmeisters Baldauf in St. Valentin auf der Haide. Eine traurige Haidegegend darf man sich bei diesem Ortsnamen nicht etwa vorstellen, denn vor dem Posthause liegt unmittelbar der fischreiche Mittensee mit seinem höchst romantischen Ufer und weiter nach Süden erhebt sich in großartiger Pracht die Gletscherkette des Ortler. Mit berechtigtem Selbstbewußtsein zeigt uns der freundliche Baldauf seine musterhafte Bienenzucht. Der hiesige Honig dürfte dem besten aus der Schweiz den Rang streitig machen. – Auch des guten Postmeisters Flora in Mals möchte ich gedenken. Flora war einst Schüler des berühmten Beda Weber in der benachbarten Benedictinerabtei Marienberg, und man kann von dem gebildeten Postmeister nicht nur interessante Nachrichten über seinen [455] einstigen Lehrer, sondern auch die umfassendste Auskunft über Land und Leute seiner Heimath hören.

Vermißt der verwöhntere Reisende vielleicht auch in Tirol die freilich oft sehr theueren Bequemlichkeiten der Schweizer Hôtels, so hat dagegen das Reisen in Tirol desto mehr Gemüthliches und Ansprechendes für den weniger Anspruchsvollen. Da ich aber zu dieser letzteren Menschenclasse gehöre, so gebe ich dem Tiroler Lande den Vorzug, und ich denke, daß ich auch viele Gesinnungsgenossen habe, die sich gleich mir immer wieder nach dem herrlichen Tirol hingezogen fühlen.

V.




Meine Kindheit.[1]
Von Gottfried Kinkel.
(Geschrieben Winter 1849–50 im Gefängniß zu Naugardt.)
I.


Mein Geburtsort, das Dorf Oberkassel, welches hart am Rheinufer im Siegkreise der preußischen Rheinprovinz liegt, ist gewiß, und nicht blos in meiner Erinnerung, einer der lieblichsten Erdflecke, die es giebt. Malerisch zwischen Obstbäumen seine Häusergiebel erhebend, ruht es an einer von schroffen Basaltfelsen überstiegenen Berglehne, die einen nördlichen Ausläufer des unvergleichlichen Siebengebirges bildet. In einer Stunde erreicht man von hier Königswinter, in zweien ersteigt man den Gipfel des sagenberühmten Drachenfelsens. Noch näher winkt vom jenseitigen Rheinufer der runde Thurm des Godesbergs, und ein leichter Marsch eines Sommernachmittags führt von dort nach Nonnenwerth und dem Rolandseck, dessen eingestürzten Bogen jüngst ein deutscher Dichter neu gewölbt hat. Mehr stromabwärts, wiederum in einer Stunde erreichbar, liegt auf dem jenseitigen Ufer das freundliche Bonn, und nach dieser Seite weitet sich nun das bis dahin von Felsen verengte Rheinthal in die große norddeutsche Ebene aus. Die sanften Höhenzüge, in welche hier die beiden stolzen Gebirgsketten der Eiffel und des Westerwaldes auslaufen, geben diesem herrlichen Landstrich den doppelten Reiz des Berglandes und der Ebene, und tragen auf ihren der Mittagssonne zugewendeten Flanken die letzten Weinberge, welche der Rhein besitzt. Ueber meiner Heimath, zwischen Wald, Weinberg und Getreidefeldern, zieht sich durch das nahe Dörfchen Berghausen ein Fahrweg hin, der im weiteren Fortlauf zum höhern Bergland emporsteigt. Dort möcht’ ich zumal den nordischen Wanderer unerwartet hinstellen, um ihn mit Einem Blicke die Herrlichkeit und ganz unerschöpfliche Segensfülle meines Rheinlandes überschauen zu lassen!

Ein tüchtiges Menschengeschlecht bewohnt diesen Theil des rechten Rheinufers. Eine Meile unterhalb Oberkassel strömt die Sieg ihre blauen, oft wilden Bergwasser in weitem Kiesbette dem Rheine zu. Die Anwohner der Sieg sind wie ihr herrlicher Bergfluß, kühl und klar in ruhiger Zeit, aber auch wie er schäumend und tiefwühlend, wenn ein Gewitter die Strudel schwellt. Sie haben den stolzesten Stammbaum unter allen Deutschen: es sind ja die Nachkommen der trotzigen Sigambern, die der römischen Eroberung am Rheine beständig eine Grenze gesetzt haben. In der That findet sich auch im Siegkreise keinerlei Ueberbleibsel römischen Ursprungs, während das gegenüber liegende linke Rheinufer massenweis Münzen und andere Denkmale zu Tage fördert. Später sind aus diesen Gegenden die welterobernden Franken vorgebrochen und haben von hier aus den Niederrhein, Belgien und Nordfrankreich gewonnen. Noch heute ist dieser Landstrich, der sich über den Westerwald bis in die Gegend von Siegen und zu Jung-Stilling’s Heimath ausdehnt, von der verflachenden Civilisation der Ebenen verschont geblieben. Große Städte hat er nicht; aber reich an Wald und Wild, an Kohlen und Metallen, nährt er einen kraftvollen, selbstbewußten Menschenstamm. Ein guter Theil davon sind Bergleute, ein wackerer Zusatz der Bevölkerung, weil ihre ernste, düstere und einsame Beschäftigung den Charakter härtet, während doch wieder die Cameradschaftlichkeit des ganzen Lebens allen Ideen eine rasche Verbreitung giebt. Die eigentliche Rheinebene, über welcher jenes Bergland aufsteigt, nährt sich von Acker- und Weinbau; mein Heimathdorf wird außerdem von Steinbrechern bewohnt, denen der treffliche Basalt der umliegenden Höhen ein auskömmliches Verdienst sichert.

Im Mittelalter, als das ganze Rheinthal in kleine Herrschaften zerschnitten war, deren Grenzen oft höchst wunderlich durcheinanderliefen, gehörte Oberkassel mit einigen Schlössern des Siebengebirges zu der später zum Herzogthum erhobenen Grafschaft Berg, und lag somit wie eingeschlossen zwischen dem kurkölnischen Gebiet, zu welchem abwärts die Siegmündung, südlich schon wieder der Drachenfels gehörte. So geschah es, daß ringsum unter dem Krummstab alles Land katholisch blieb, nachdem der vorschnell vorgenommene Reformationsversuch des Gebhard Truchseß gescheitert war, während in Oberkassel, wahrscheinlich von dem ziemlich nahen Wupperthal aus, eine reformirte Gemeinde sich gründen konnte. An dieser Gemeinde, die auf viele Meilen weit die einzige protestantische auf dem rechten Rheinufer war, stand mein Vater seit Beginn unsers Jahrhunderts als Pfarrer. Er selbst war indessen ein Nassauer und stammte aus der kleinen Stadt Herborn, die zwischen dem Westerwald und dem Lahnthal liegt. Dort hatte, als das heilige römische Reich noch bestand, eine reformirte Universität in Taschenformat für die nassauischen Landeskinder geblüht, obwohl Marburg und Gießen nur wenige Meilen weit entfernt lagen; denn jeder Staat mußte damals als Ehrensache seine Landesakademie haben. Dieser Umstand machte es meinem Großvater, der selbst nichts als ein armer, aber gottesfürchtiger Schuhflicker war, möglich, seine beiden Söhne dem Studium und zwar dem geistlichen Stande zu widmen. Der Eine derselben ist als Hagestolz und überstudirter Gelehrter vor etwa zwanzig Jahren in Herborn verstorben, wo er eine Stelle als lateinischer Lehrer bekleidete; dem Andern, meinem Vater (er hieß wie ich, Johann Gottfried), hat doch ein reicheres und beglückteres Leben geblüht. Der Proletariersohn erhielt, ich weiß nicht durch welche Verbindungen, einen Ruf, um als Hauslehrer in die hocharistokratische Familie v. Cloet einzutreten, die auf dem Schlosse Lauersfort bei Meurs wohnte. So in’s Amt des Erziehers einmal eingeweiht, ist er hernach zum Regens der lateinischen Schule in Solingen und von dort in gleicher Eigenschaft nach Elberfeld berufen worden, wo der gegenwärtige Hofprediger Ehrenberg in Berlin sein Schüler war. Allein die theologische Ader in ihm ließ ihm auf der Schulkanzel keine Rast: er blieb neben seiner doch immerhin angesehenen Stellung beständig Candidat des Predigtamtes, hielt auf allen vacant werdenden Stellen seine Probepredigt, und folgte zuletzt, als die arme, kleine Gemeinde Oberkassel ihn erwählte, mit Freuden diesem Rufe und seinem inneren Trieb, obwohl er an Einkommen und äußerer Stellung dadurch bedeutend sich erniedrigte. Vielleicht verräth schon dieser Zug, daß Etwas von meines Vaters Natur auf mich übergegangen ist.

Man konnte deutlich bemerken, daß der Pfarrer seine erste Weltbildung in aristokratischem Kreise empfangen hatte. Aus der engen Werkstätte des Vaterhauses war er mit jähem Wechsel in den Schooß einer feinen Adelsfamilie versetzt worden, und die zierliche Manier des Informators, der auf seine Person und Erscheinung [456] stets Acht haben soll, verleugnete sich in ihm sein Lebenlang nicht. Nie ist er, wie die meisten Landpastoren, verbauert. Auf seinen Anzug wendete er die größte Sauberkeit, und als Sonntagstracht behielt er beständig die Kleidermode seiner Jünglingszeit: einen schwarzen Frack, eine seidene kurze Hose, die mit silbernen Schnallen am Knie befestigt wurde, feine schwarzseidene Strümpfe und Schuhe, die wieder mit großen Silberschnallen und einer breiten Schleife am Fuße festsaßen. In der Kirche brauchte er nie ein Buch, das nicht in schwarzes Leder mit Goldschnitt eingebunden war. Und wenn er so in den Bäffchen und mit dem fußbreiten Streifen Taffet, der vor der Einführung des Chorrocks den Mantel der calvinistischen Pfarrer bildete, zur Kirche schritt, so war er eine strenge, stattliche Erscheinung und wurde von Jung und Alt mit Ehrfurcht begrüßt. Der Zug einer ernsten, würdevollen Strenge ging durch sein ganzes Wesen. Auch wenn er am Werkeltage die Straßen oder Baumgärten durchschritt, hörten alle Kinder zu spielen auf und stellten sich ehrerbietig aufrecht, bis er grüßend an ihnen vorübergegangen war, und das thaten nicht blos die evangelischen, sondern auch die katholischen Kinder des Ortes. Obwohl nicht hoch gewachsen, konnte er doch für einen schönen Mann gelten. Eine hohe, klare Stirn lief in eine höchst stattliche Adlernase aus, der Mund war fest, aber sehr freundlich, der Gliederbau fein und gefällig, und das mäßige, friedvolle Leben seines Berufes gab ihm noch im Alter eine frische Farbe und rüstige Kraft.

Als er mit meiner Mutter verlobt war, ist er einmal Morgens früh von Oberkassel fortgegangen und Abends, als man die Lichter anzündete, in Elberfeld bei ihr eingetroffen. Das sind sechszehn gute Stunden, immer durch Berg und Thal, und ich selbst, obwohl auch ich mehr als einmal nach derselben Richtung in Liebesangelegenheiten gewandert bin, habe ihm das niemals nachgethan. Sonst ist die Kraft des Fußwanderns bei meiner Familie einheimisch; ich selber habe mein Vaterland fast in allen seinen Theilen zu Fuße durchlaufen, und mein ältester Junge, der doch noch ein kleiner und sonst schwächlicher Kerl ist, läuft nun mit der Mutter schon auf Orte, die mehrere Stunden entfernt sind, und hat keine stärkere Leidenschaft als das Fußreisen.

Mein Vater war zweimal verheirathet, zuerst mit einer vermögenden Kaufmannstochter aus Mülheim am Rhein, mit der er nur einen Sohn hatte. Ich habe Grund zu glauben, daß diese Ehe nicht sehr glücklich gewesen ist, da die junge Frau lieber im elterlichen Hause als auf der stillen Pfarre verweilte. Mein Halbbruder Karl sollte nach dem Willen meines Vaters studiren, hatte aber am Praktischen mehr Freude und erlernte die Handlung. Er war schon erwachsen, als ich geboren wurde, und besuchte nur zuweilen noch das elterliche Haus. Damals arbeitete er beim Kataster; später, nachdem die Vermessung der Rheinprovinz beendigt war, kehrte er zur kaufmännischen Thätigkeit zurück und lebte zuletzt als Factor auf einem Blaufarbenwerk an der Ruhr. Er hat sich niemals entschlossen, ein eigenes Geschäft anzufangen oder eine Frau zu nehmen, und ich fürchte, daß er als Hagestolz sein Leben beendigen wird, das wohl durch allzustrenge Erziehung in der frühesten Jugend verletzt worden ist. Uebrigens hat er mich noch in meinem eigenen Hauswesen besucht, und mein Verhältniß zu ihm ist stets ein freundliches gewesen, wenn wir uns auch bei der verschiedenen Richtung unserer Neigungen und Berufsthätigkeiten innerlich nicht viel haben sein können. Eine kränkliche Eigenschaft meines Vaters, pedantische Ordnungsliebe und langsame Sorgfalt bei allen Geschäften, ist bei diesem Erstgebornen zum stehenden Charakterzug geworden; ich habe es selbst einmal, als ich ihn besuchte, erlebt, daß er zu einem einfachen Geschäftsbrief, der in einer Viertelstunde abzumachen war, mit Linienziehen, Schreiben, Eintragen in’s Copirbuch, Couvertschneiden und Siegeln einen Vor- und Nachmittag gebraucht hat, wobei denn allerdings nicht sonderlich viele Nummern wöchentlich sich wegarbeiten lassen.

Die zweite Frau meines Vaters war denn meine Mutter, Maria Beekmann aus dem Wupperthal. Mit ihr hatte er drei Kinder, eine Tochter Johanna, die, sechs Jahre älter als ich, mit einem Pfarrer verheirathet, als Frau und Mutter glücklich lebt, einen Sohn Gottfried, der noch klein starb, und mich, den er zum Ersatz für das gestorbene Brüderchen ebenfalls Gottfried getauft hat. So hatte ich denn das Glück, das Jüngste in der Familie zu sein und folglich gelinder als alle übrigen Geschwister erzogen zu werden. Mein Vater war nahe an sechszig Jahre, als ich ihm geboren wurde, und so habe ich in ihm nie den Freund, sondern nur den ernsten und bejahrten Lehrer und Erzieher erblicken können. Obwohl ich ihn liebte, war mein Gefühl für ihn doch mehr Furcht, und so erklärt es sich leicht, daß wir Kinder uns inniger an die viel jüngere und lebhaftere Mutter anschlossen, welche denn auch namentlich mich mit wahrhaft brennender Liebe umfaßte.

Von dieser Frau haben auch ganz fremde Personen oftmals zugestanden, daß ihr Wesen etwas Ungewöhnliches und höchst Bedeutendes an sich hatte. Die Züge ihres Charakters sind im Wesentlichen auf mich übergegangen, und es hat sich da die fast nie trügende Erscheinung bewährt, daß die Söhne der Mutter nacharten. Die revolutionäre Entschlossenheit des Sohnes war bei ihr ein himmelstürmender Wille; wie nach jenem dunkeln Mythos Jakob, rang auch sie in rastlosem Gebet mit der Gottheit, um deren Ohr ihren Wünschen gewaltthätig zuzuneigen. Mit unwiderstehlicher Kraft beherrschte sie das Hauswesen, und durch ihren Mann die ganze Gemeinde; wenn sie dabei einen Fehler gemacht hat, so war es der, daß sie ihre Herrschaft nicht zu verbergen wußte, sondern gleich einer Semiramis auch die Zeichen der Herrscherwürde für sich begehrte. Da sie meinen Vater an Willensstärke und Weltblick unendlich übertraf, so war sie die Gebieterin des Hauses, und von ihr ging namentlich die Richtung aus, die unserer Erziehung gegeben wurde. Der Charakter hatte herbe Seiten, aber mit ihnen versöhnte ihre heiße Liebe, ihre mütterliche Fürsorge für jeden Bedürftigen und eine unbestechliche Wahrhaftigkeit. Von der letzteren hat meine Frau Johanna noch einen bezeichnenden Ausdruck in ihrer Erinnerung bewahrt. Als sie einmal zum Besuche in unserem Hause verweilte, wurde ein lästiger Gast angemeldet, der die Unterhaltung störte. Jemand schlug vor, man solle hinaussagen lassen, die Familie sei nicht zu Hause. Aber das schnitt sofort meine Mutter mit den drei Worten: „Ich lüge nie“ ab, und man unterwarf sich dann geduldig der Unannehmlichkeit des Besuches. Auch diesen Zug hat meine Mutter mir als Erbtheil mitgegeben.

Die Familie dieser Frau war in dem durch seine Starkgläubigkeit berühmten Wupperthal unfern Elberfeld ansässig, wo noch heute begüterte Verwandte von uns wohnen. Der Vater war Kaufmann gewesen, hatte aber Unglück gehabt, und dabei, da er ein ehrlicher Mann war, sein ganzes Vermögen eingebüßt, so daß seine Wittwe, meine Großmutter, jetzt im Hause der Tochter mit ernährt werden mußte. Diese Großmutter hat mir die erste Ahnung von Politik beigebracht, wenn sie beim Abendessen mit dem Schwiegersohn, meinem Vater, über die Zeitung disputirte, worüber die beiden Alten stets abweichende Ansichten hatten; welcher von ihnen freilich Royalist und welcher Liberaler war, das habe ich rein vergessen. Das weiß ich aber noch, daß meine Mutter immer sagte, ich ähnle körperlich und auch in der Sinnesweise ihrem Vater sehr, als welcher ein langer, stattlicher Mann gewesen sei und einen offenen, biederen, streng rechtlichen Charakter gehabt habe. Unsere Großmutter, mit der wir Kinder wegen ihrer niederdeutschen Aussprache stets unsere Neckerei hatten, ist gestorben, als ich etwa acht Jahre alt war; sie war übrigens eine feine Stickerin, und ihre Augen sind bis in’s höchste Alter nicht matt geworden, in dieser Gattung die zierlichste Arbeit zu machen.

Und so bin ich denn von Vater und Mutter her ehrenhafter und arbeitsamer Leute Kind. Kein Tropfen vom Blute der Aristokratie oder der genießenden Stände fließt in meinen Adern, und mein günstiger Stern hat die fleißige Armuth als Wärterin an meine Wiege gestellt. Nicht durch Wahl und künstlichen Entschluß, sondern durch Stamm und Blut gehöre ich dem Stande an, dem die Weltherrschaft gebührt und zufallen wird: dem vierten Stande, und als diesem Stande unbestechlich angehörend empfinde ich mich mit Stolz.

In diesen Verhältnissen bin ich am 11. August 1815 geboren worden, so daß die Befreiungskriege ihre letzten Donner an meine Wiege sinken ließen; ich habe es stets, und so noch heute, mit frohem Selbstgefühl anerkannt, daß ich nicht mehr unter französischer Herrschaft, sondern gleich als freier Deutscher das Licht der Welt erblickte. Ich war ein derber, tüchtiger Junge, an dessen Wiege die Großmutter meiner Schwester prophezeite, daß ich diese, trotz [457] ihrem Vorsprung an Alter, noch mit dem Reis durch den Garten jagen würde – eine Weissagung, die ich auch seiner Zeit erfüllt habe. Uebrigens wäre ich in den ersten Lebensjahren bei einem Haar verloren gewesen; ein unvorsichtiges Kindermädchen gab mir eine Backpflaume, ohne zuvor den Stein herauszuthun; dieser setzte sich quer in die Kehle und brachte eine Geschwulst hervor, die mich mehrere Stunden dem Ersticktode aussetzte. Der Arzt gab mich bereits auf, aber die Natur hatte noch keine Lust, mich in ihren Mutterschooß zurückzunehmen, und half mir durch ein heftiges Husten durch: der Stein flog heraus und verrieth die Lüge des Kindermädchens, das in seiner Todesangst steif und fest behauptet hatte, es habe mir die Pflaume ohne den Stein in’s Händchen gegeben. Die übrigen herkömmlichen Kinderkrankheiten habe ich gut überstanden; mein Vater erzählte mir später, daß ich beim Scharlach ein sehr geduldiges Kind gewesen sei und stets auf seine Anmahnung bereitwillig die heißen, fiebernden Händchen wieder unter die lästige Decke gesteckt habe. Alsdann nahm mich mit etwa sieben Jahren ein Schleimfieber hart mit; ich habe davon eine Erinnerung bewahrt und fühle noch das schaudernde Entzücken, mit dem ich in der Genesung das erste Glas starken weißen Weines heruntertrank, den der Arzt zur Stärkung verordnet hatte. Seitdem bin ich mein Leben durch eine gesunde Natur geblieben, nachdem ich im Uebergang vom Jüngling zum Mann die Gefahr glücklich überwunden hatte, in die Schwindsucht zu verfallen.

Zu dieser künftigen Gesundheit hat unstreitig die ganz vortreffliche physische Erziehung beigetragen, die wir Kinder erhielten. Unseren Eltern wurde freilich solche Erziehung sehr durch die äußeren Lebensbedingungen erleichtert, die uns umgaben. Das Pfarrhaus lag inmitten eines Vierecks von Grundstücken, das einen starken Morgen Landes umspannte und nach allen vier Seiten durch Wirthschaftsgebäude, Mauern und Hecken von der Welt draußen abgeschlossen. war. Ein Drittel des Grundstücks bildete einen schattigen Baumgarten, der das mannigfachste Obst trug und sonst zum Graswuchs diente. Daran schlossen sich zwei Gemüse- und Blumengärten, in denen es wieder an Strauch- und Spalierobst nicht fehlte. Endlich blieb ein immer noch geräumiger Hof mit Nußbäumen übrig, an dessen eine Seite sich die Stallungen, die Scheune und das Kelterhaus anschlossen. Hier trieb sich Geflügel aller Art herum, unter dem uns Kindern immer der stattliche Haushahn am merkwürdigsten war; denn der Vater sorgte stets dafür, daß er davon ein stolzes Prachtmuster auf seinem Hofe hatte. Besonders groß war die Freude und die Erwartung, wenn eine Henne brütete und man nun jeden Morgen eilfertig zum Neste lief, um nachzusehen, ob noch kein Küchlein sich durchgepickt hätte.

In allen diesen mannigfaltig bebauten und bepflanzten Räumen durften wir nun frei herumlaufen, und waren also bei Tage nur im Freien heimisch, wenn nicht die Lernstunde uns an die Stube fesselte. Morgens sprang ich mit der Schwester sofort den kürzesten Weg aus der Schlafstube in den Baumgarten, nämlich frischweg durch’s Fenster, und dann gab’s im Herbste einen Wettlauf nach dem Birnbaume, von dem uns in der Regel der Morgenwind die schönsten, reifsten Früchte zum Frühstück in’s Gras geschüttet hatte. Von dieser Zeit her bis heute ist unter Allem, was Menschen essen können (und dessen ist viel), Obst meine höchste Leidenschaft geblieben. Alle übrige Kost in unserm Hause war derb und gesund, obwohl der Tisch stets mit Feinheit bereitet wurde; wir Kinder mochten gar keine Wecken essen, sondern zogen das kräftige, wohlschmeckende Schwarzbrod vor; statt der Butter diente im Winter Pflaumenmuß, dessen Kochen im Herbst eine Hauptfreude für uns war. Ein besonderes Fest gab es, wenn an vorzüglich heißen und sonnigen Sommertagen es von uns durchgesetzt wurde, daß wir in der Laube aßen, die ihren dichten Maibuchenschatten in einem Winkel des Baumgartens wölbte.

Jede solche Mittagstafel war eine Idylle; mein Vater führte wie ein Patriarch den Vorsitz; sein ehrwürdiges Silberhaupt entblößend, sprach er feierlich das Tischgebet, dem wir Kinder jedes einen kleinen Spruch nachfolgen ließen. Wir waren nicht allein, das Federvieh aus Hof und Baumgarten machte sich alles herbei, der Hahn ging zum Vater und pickte Brodkrusten aus seiner milden Hand; auch die kecken Spatzen kamen herangehüpft und fanden gleichfalls ihr Brosämlein, das einem Huhn zu klein dünkte. Draußen aber sangen in den Bäumen und im Gesträuch der Hecke die Vögel, und ein Schwälbchen zwitscherte vom dürren Aste eines nahen Apfelbaumes. Dann kam die kalte Schale von frischer Milch mit Brod, Zucker und Zimmet, der ein selbstgezogenes Gemüse und etwa ein Paar junger Tauben aus unserem Schlage folgten; den Nachtisch holten wir uns selbst, nachdem das Danksagungsgebet gesprochen war, an den Johannis- und Stachelbeersträuchern des Gartens; denn Obst kam bei uns nie auf den Tisch, weil man ja nur die Hand auszustrecken brauchte, um Pflaume oder Apfel sich frisch vom Baume zu langen. Das Schönste dabei war die weise Sorglosigkeit der Eltern in Hinsicht auf die Diät. Man gab uns zu essen, so oft wir verlangten, und weil wir somit immer haben konnten, forderten wir nur, wenn wir wirklich Hunger hatten. Da Obstessen uns nie verboten wurde, so warteten wir von selbst, bis es reif war, und aßen uns niemals krank. So fragten auch Vater und Mutter dem nicht nach, ob ich einmal Winters in Hemdsärmeln auf den Hof lief, mit Schneebällen warf oder Schneemänner machte; denn sie schlossen sehr richtig, daß, wenn ich fröre, ich schon von selber meine Jacke anziehen würde. Einzig und allein war uns verboten, auf die Straße zu gehen, und in dem Bezirk, der das Pfarrhaus umschloß, gab es keine Gefahren für uns.

Dieser glücklichen Sorglosigkeit danke ich es vor Allem, daß ich trotz der anstrengendsten Geistesarbeiten eine frische und noch immer rüstige Kraft in’s Mannesalter hineingerettet und durch sie manchen bösen Windstoß gebrochen habe, mit dem das Schicksal auf mich eingestürmt ist.

Neben diesem Spielen und Genießen in freier Luft wurde ich dann auch schon von meinen frühesten Jahren an zu leichten körperlichen Arbeiten angehalten. Den Garten sowohl als ein Gemüsegrundstück, das draußen in der Flur des Dorfes lag, bestellte mein Vater selbst, und da ein Theil der Pfarreinkünfte vom Ertrage dieser Grundstücke, mehrerer Weinberge und einiger Buschflecke abhing, so gab es in Hof, Feld und Wald beständig allerlei Landwirthliches zu arbeiten. Im ersten Frühling wurde in unseren Büschen das Brennholz geschlagen und durch Tagelöhner im Hofe zerhauen. Dabei gab es für uns mit Auf- und Abladen, mit zierlichem Schichten der Reiswellen und mit Hinauftragen des zerspällten Holzes in Schuppen und Speicher genug zu thun. Nachher mußten die Spähne zusammengelesen und selbst das Sägemehl zum Dünger geworfen werden; denn der Hof sollte stets reinlich sein, und es war Grundsatz meines Vaters, nichts umkommen zu lassen. Etwas später, wenn die frühen braunen Schmetterlinge und die Citronenfalter ihre Schwingen an der jungen Sonne ausbreiteten, half ich der Mutter, die den Blumengarten zu bestellen hatte, beim Einsetzen der Tulpenzwiebeln und jätete Unkraut aus Beeten und Wegen. Im Mai liefen wir Morgens mit der Großmutter in den Garten, um Spargel zu stechen, und wetteiferten, wer vor dem Andern noch eins der röthlichen Köpfchen entdeckte, die, über Nacht emporgeschossen, so neugierig unter einer halb aufgehobenen Erdscholle herausguckten. Dann wurden mit dem Vater Pflanzen gesäet, versetzt und am schwülen Sommerabend begossen. Der Spätsommer brachte das Bohnenschneiden, der Herbst das fröhliche Einthun des Obstes. Erst wurde wochenlang das abfallende geringere Obst aufgelesen und auf die Kelter geschüttet, um Apfelwein aus ihm zu bereiten; dann aber bekam ich neben einer tüchtigen Warnung, mich nie auf dürre Aeste zu verlassen, den Auftrag, das feinere Obst aus den höchsten Baumspitzen herunterzubrechen. Da habe ich denn ganze herrliche Herbsttage droben in der scharfen, klaren Luft verbracht, auf schwankem Baumwipfel mich schaukelnd und von seiner Höhe die prangende Flur ringsum und den Strom mit der nahen Stadt und die prachtvollen Häupter der blauen Siebenberge überblickend. Und war nun der Baumgarten von seinem Segen ganz entleert, dann wurde das Laub reinlich zur Streu zusammengerecht; Aeste aber, Dornen, Kohlstrünke, und was sonst den Ueberschuß des ländlichen Arbeitsjahres bildet, schleppten der Vater und ich auf einen hohen Haufen zusammen, und von diesem wurde dann im November einen ganzen Tag hindurch ein Herbstfeuer gezündet, um die Asche zu feinem Dünger zu gewinnen und am Abend in den Kohlen Kartoffeln zu braten. Dieser Schluß der Arbeit war wieder ein Hauptfest, und wir sammelten den ganzen Sommer über alles Mögliche von unnützem Brennstoff, um die Freude der [458] hochlodernden Flamme recht lange zu genießen. Die leidenschaftliche Lust an der Flamme habe ich bei allen tüchtigen Knaben bemerkt, und leicht dürfte sie unser Urtheil über das gerade der Jugend so eigene Verbrechen der Brandstiftung mildern.

Unter allen diesen Natur- und Arbeitsfreuden war und blieb aber unbezweifelt die höchste die Weinlese. Oberkassel trägt in seinen besten Lagen wenigstens in guten Jahren noch einen leidlichen Rothwein, und zwei unserer Weinberge galten für die Kronen der Feldmark. Bevor der Zollverein die viel feurigeren Nassauer Weine in’s Preußische einließ, hatten von unseren einheimischen Sorten auch die geringeren immer noch Preis, und mein Vater konnte dann wohl ein Drittel seines Pfarrgehalts aus seinem Gewächs lösen; jetzt freilich wird wohl der dort erzeugte Wein zum Haustrank für den Pfarrer hinabgesunken sein, wie denn überhaupt in meiner Gegend die Weinberge keinen Ertrag mehr bringen und dem Ackerbau Platz machen. Damals also war der Herbst für den Winzer noch ein Freudenfest, dessen Genuß dadurch erhöht wurde, daß am Rheine in jeder Ortschaft sämmtliche Bürger an Einem und demselben Tage Trauben schneiden. Um nämlich Weindiebstahl zu verhüten, besteht im Herbste eine eigene, aus Einwohnern des Ortes gebildete Traubenwacht, und die Vorschriften sind in diesem Punkte so streng, daß Niemand in seinem eigenen Weinberge Trauben schneiden, ja ein Jeder denselben nur zu bestimmten Wochenstunden betreten darf. Wenn nun die Reife völlig ist, so versammelt ein Glockenziehen die Ortsbürger auf dem Gemeindehause, um zu berathen, wann die Lese gehalten werden soll. In Oberkassel diente zu dieser Besprechung ein freier Platz im Dorfe, der von einem einst dort gestandenen, nun aber längst verschwundenen Baume noch heute „an der Linde“ heißt. O, wie lauerten wir Kinder dann immer dem Vater auf, wenn er von der Linde zurückkam und uns nun meldete: „Morgen, Kinder, oder übermorgen, wenn helles Wetter ist, haben wir unseren Herbst!“ Wie paßten wir dann am erwarteten Morgen ungeduldig auf das Glockenziehen, das die Erlaubniß zum Betreten der Weinberge giebt! Und nun sank der Morgennebel, nun verzogen sich die regendrohenden Wolken, der Himmel wurde blau, und die Glocke klang. „Vater, Mutter, es stürmt!“ so riefen wir jauchzend, und fort ging’s zum Weinberge hinauf, das hölzerne Lesegefäß in der Hand, in welchem das Winzermesser lustig klapperte. Das war der einzige Tag im Jahre, an welchem das Mittagsessen nicht schmecken wollte, weil man unablässig in den saftigen schwarzen Trauben schwelgte und keine besonders schöne in’s Gefäß warf, ohne zuvor einen herzhaften Biß hineinzuthun.




Ein Besuch in Barackia.


Berliner Lebensbild.


„Hast Du schon die Berliner Republik Barackia besucht?“ fragte mich eines Tags mein humoristischer Freund.

„Welche Republik?“ erwiderte ich verwundert. „Soll das einer Deiner schlechten Witze sein?“

„Keineswegs! Es handelt sich in der That um einen neuen Freistaat im eigentlichen Sinne des Wortes, in seiner verwegensten Bedeutung, um einen Staat in freier Luft, auf freiem Felde, mit der freiesten Aussicht und den freisinnigsten Institutionen, frei von allen Chicanen der Polizei, frei von Executoren und tyrannischen Hauswirthen, ohne Miethsabgaben und Steuern, ohne verpestete Rinnsteine und anrüchige Senkgruben, frei von allen Lasten und Qualen der Weltstadt. Du kannst Dich davon mit eigenen Augen überzeugen, wenn Du mit mir einen Spaziergang nach dem Cottbuser Damm machen willst. Dort findest Du wirklich paradiesische Zustände, von denen sich die kühnste Phantasie nichts träumen läßt, die einzig wahrhaft freien Menschen, welche unsere berühmte Metropole aufzuweisen hat.“

„Du redest doch nicht von jenen unglücklichen Leuten, die wegen der herrschenden Wohnungsnoth kein Unterkommen finden konnten? Ich glaube, daß die Armen eher ein Gegenstand des Mitleids als des Spottes wären.“

„Unglücklich!“ rief mein Freund fast empört. „Sie sind so wenig unglücklich, wie der amerikanische Hinterwäldler, der gewiß sein zwar rohes, aber bequemes und gesundes Blockhaus nicht mit unseren elenden Miethscasernen vertauschen möchte. Diese Armen leben in ihren Baracken jetzt jedenfalls besser und glücklicher als früher in ihren jammervollen Dachkammern und feuchten Kellerlöchern, wo sie noch dazu befürchten mußten jeden Augenblick gesteigert oder exmittirt zu werden, wo sich ihr Kindersegen zum Fluch für sie verwandelt, wo sie unter den traurigsten Verhältnissen den Kampf um das Dasein bestehen.“

„Aber es bleibt doch immer eine Schmach für unsere Welt- und Kaiserstadt!“

„Im Gegentheil! Mich freut es, daß bei dieser Gelegenheit die Welt- und Kaiserstadt sich in ihrer ganzen Glorie zeigt. Wir haben mit Hülfe unserer deutschen Brüder einen weltgeschichtlichen Krieg siegreich geführt, Elsaß und Lothringen zurück erobert, fünf Milliarden von Frankreich gewonnen. Das Geld liegt auf der Straße, und die Börse weiß nicht, was sie damit anfangen soll. Täglich entstehen neue Bankvereine und es wimmelt von Gründern. Villen, Häuser, Paläste, ganze Straßen wachsen wie die Pilze aus der Erde. Der Bodenschwindel hat den höchsten Grad erreicht. Die Stadt besitzt ein Rathhaus, das Millionen kostet. Die Regierung schreibt Concurrenzen für Denkmäler und monumentale Bauten aus, und unterdessen irren Tausende in Berlin ohne Wohnung, ohne Obdach umher, theils weil sie die fortwährend in Folge dieser abnormen Verhältnisse steigende Miethe nicht mehr erschwingen können, theils weil die Hausbesitzer arme Leute, besonders mit zahlreicher Familie, nur ungern bei sich aufnehmen.“

„Wir haben aber doch Asyle für Obdachlose und das Arbeitshaus, welche für solche traurige Fälle eine Zuflucht bieten,“ wandte ich dagegen ein.

„Wie der Augenschein lehrt, reichen diese Anstalten nicht aus. Das Asyl für Obdachlose, welches der Privatwohlthätigkeit seine Entstehung verdankt, gewährt nur für eine, höchstens für drei Nächte ein Unterkommen. Das Arbeitshaus ist eigentlich nur eine Strafanstalt für arbeitsscheue Vagabunden und liederliche Dirnen. Man kann es daher dem ehrlichen Arbeiter und fleißigen Handwerker nicht verdenken, daß er nur im Fall der äußersten Noth sich dahin wendet, weil er die Berührung mit solchem Gesindel scheut, abgesehen von dem niederdrückenden und entsittlichenden Einfluß einer derartigen Gesellschaft.“

„Aber was soll, was kann geschehen, um dem Uebel abzuhelfen?“ fragte ich meinen Freund, der im Laufe unserer Unterhaltung immer ernster geworden war.

„Was schon hundertmal gesagt und gelehrt worden ist. Der Staat, die Stadt, die ganze Gesellschaft hat die Pflicht und das Interesse für billige Arbeiterwohnungen zu sorgen. Warum gründet man keinen Verein zu diesem humanen Zweck? – Da dies bisher noch nicht geschehen ist, so haben die armen Leute instinctmäßig das Princip der Selbsthülfe angewendet und damit den einzig richtigen Weg eingeschlagen. Vielleicht wird dieser an sich so traurige Vorfall die segensreichsten Folgen haben und den heilsamen Anstoß zu einer dauernden Abhülfe dieser Nothzustände geben.“

Unter solchen Gesprächen wanderten wir an dem „Tempelhofer Ufer“ entlang vor das Hallische Thor. Unser Ziel war der sogenannte Cottbuser Damm. Auf dem Wege dahin gingen wir durch eine Reihe erst vor Kurzem entstandener Straßen, welche von Neuem ein Zeugniß für den zunehmenden Wachsthum, für die Wohlhabenheit und den Unternehmungsgeist der Residenz ablegen. Zu beiden Seiten des von reich beladenen Schiffen und Spreekähnen belebten Canals erblickten wir die schönsten Häuser, prachtvolle Paläste, kolossale Fabrikanlagen, reizende Villen, von freundlichen Gärten umgeben, ein wirklich herzerfreuendes Schauspiel.

Zu unserer Linken erhoben sich mehrere stattliche Gebäude, die Gasanstalt bildend, zu unserer Rechten zwei mächtige Casernen, in denen bequem und gut einige hundert

[459]

Die Barackenstadt von Berlin.
Nach der Natur aufgenommen von L. Loeffler.

[460] Familien wohnen können, etwas weiter imponirte uns ein wahrer Prachtbau im gothischen Styl mit Spitzbögen und durchbrochenen Thürmchen, worin verwahrloste Kinder von Verbrechern und jugendliche Sträflinge nach ihrer Entlassung gebessert werden sollen. Dahinter dehnte sich die bekannte „Hasenhaide“ mit ihren zahlreichen Brauereien und Vergnügungslocalen aus, wo das Volk beim Bockbier sitzt und die verrufenen „Louis“ freundliche Messerstiche austheilen. Allmählich verschwanden die Straßen und Häuser; es folgten mehrere große Holz- und Kohlenplätze, endlich nur noch Wiesen und Felder, die mit Korn und Kartoffeln spärlich bepflanzt waren.

Hier, wo die städtische Cultur gewissermaßen aufhörte, standen zu beiden Seiten des Weges eine Anzahl von rohen Holzhütten, meist aus ungehobelten Brettern zusammengeschlagen, ähnlich den Buden der Kaufleute auf Jahrmärkten, hier und da auch nur ein hölzernes Gerüst, zum Schutz gegen die Witterung mit grauer Leinewand überzogen, oft auch nur mit Pappbogen oder geflochtenen Strohdecken nothdürftig bekleidet.

„Wir sind in der Republik Barackia,“ sagte mein ironischer Freund auf die ärmlichen Hütten deutend.

Unter seiner Leitung betrat ich die uns zunächst liegende Colonie, die aus ungefähr zwölf solchen Baracken bestehen mochte. Am Eingange empfing uns der Präsident dieser neuen Niederlassung, der zwar nicht wie sein College Johnson von Profession ein Schneider, sondern ein Tischler war. Mit anerkennungswerther Würde und freundlicher Herablassung machte Herr Schmidt die Honneurs seines Hauses. War auch dasselbe nicht ganz so elegant wie das „Weiße Haus“ des Präsidenten der amerikanischen Union, so machte es doch einen weit bessern Eindruck, als wir erwarteten. Die einzige Stube, welche zugleich als Empfangssalon, Wohn-, Speise- und Schlafzimmer diente, war sogar mit einem gewissen Comfort ausgestattet und besaß Tische, Stühle und Betten. Die Küche, ein kleiner Feldofen, befand sich im Freien und der Keller, ein gewöhnlicher Flaschenkorb, lag dicht an der Thür und schien uns gut gefüllt.

Herr Schmidt hatte die Freundlichkeit, uns der Frau Präsidentin vorzustellen, die erst vor Kurzem die Republik mit einem neuen Sprößling beschenkt. Der junge Staatsbürger erfreute sich der besten Gesundheit, trotzdem er in einer Baracke das Licht der Welt erblickt hatte. Zur Erinnerung an diese interessante Thatsache wurde ihm in der Taufe der Name Freifeld Schmidt beigelegt, weil er auf freiem Felde geboren war. Wie wir hörten, hatte der glückliche Vater ursprünglich die Absicht, den deutschen Kaiser Wilhelm als Taufzeugen einzuladen. Obgleich aus uns unbekannten, wahrscheinlich politischen Gründen diese Courtoisie unterblieb, soll es doch bei dem Feste sehr heiter zugegangen sein, vielleicht noch heiterer als bei der jüngsten Taufe im Palais des Kronprinzen. Man trank auf das Wohl des Neugebornen und ließ es weder an den üblichen Reden noch an gereimten und ungereimten Toasten fehlen. Die Speisen und Getränke lieferte der in der Nähe wohnende Restaurateur, in dessen Schaufenster wir verschiedene Biere, selbst Selterwasser angekündigt fanden, während die ausgestellten Flaschen auch noch höhere geistige Genüsse in Aussicht stellten. Einige Gäste schienen sich beim Glase mit deutscher Tiefe und Gründlichkeit im Freien mit Lösung der socialen Frage zu beschäftigen.

Unter der Führung des Herrn Präsidenten statteten wir seinem Nachbar, einem respectabeln Lumpenhändler, einen Besuch ab. Wir traten zunächst in eine offene Halle, welche zugleich als Veranda und Waarenniederlage diente. Frauen und Kinder saßen auf weichen Säcken und sortirten fleißig den ansehnlichen Lumpenvorrath. Wie sie auf unsere Fragen erzählten, hatte die zahlreiche Familie trotz aller Mühe keine Wohnung auftreiben können, obgleich sie eine verhältnißmäßig nicht unbedeutende Miethe zahlen konnte und wollte. Zugleich zeigte man uns unaufgefordert das Quittungsbuch, woraus wir ersahen, daß die Leute bisher ganz regelmäßig und pünktlich ihren Verpflichtungen nachgekommen waren. Sowohl ihre Kleidung wie der ganze Hausstand sprach dafür, daß das Geschäft sie, wenn auch nicht glänzend, so doch hinreichend ernährte.

Als Grenzmauer zwischen ihrer und der folgenden Besitzung diente eine schwache Drahtschnur, und doch versicherte Herr Schmidt, daß dieses symbolische Grenzzeichen mit bewunderungswürdiger Gewissenhaftigkeit respectirt werde. Dicht daneben wohnte ein alter Schuhmacher, den wir ebenfalls bei der Arbeit trafen, wogegen sein Nachbar, ein junger Töpfergeselle, sich dem allgemeinen Besten widmete, indem er einen Brunnen in die Erde grub, um das nöthige Wasser für die Colonie zu schaffen. Wie wir uns überzeugten, waren seine Bemühungen bereits von dem besten Erfolge gekrönt. Nur einige Schritte weiter begegneten wir einer eben erst eingewanderten Familie, welche noch nicht dazu gekommen war, eine Hütte zu errichten. Einstweilen begnügte sie sich mit einem Schilflager, das, mit Strohmatten verhüllt und bedeckt, einem großen Waarenballen glich, in dem die Menschen gut verpackt wohnten und schliefen.

Gegen diese primitive Emballagewohnung erschien allerdings die nächste Besitzung wie ein glänzender Palast. An der Thür begrüßte uns der Eigenthümer und lud uns freundlich ein, sein „Sanssouci“ in Augenschein zu nehmen. Die Baracke mochte ungefähr vierzig bis fünfzig Schritte lang und zwanzig breit sein; sie war durch eine Scheidewand in mehrere Räume getheilt und sogar mit einer blau- und gelbgestreiften Tapete bekleidet; auch besaß sie vollständige Fenster mit Glasscheiben. Die ganze Einrichtung verrieth eine gewisse Wohlhabenheit; wir bemerkten ein Sopha von polirtem Birkenholz, mit grünem Damast überzogen, einen guten Kleiderschrank, Tische, Stühle, eine größere und eine kleinere Bettstelle, worin ein Kind mit rothen Wangen und blauen Augen lag und uns anlächelte. Der Mann selbst sah zwar bleich, aber keineswegs verkommen aus. Mit sichtlicher Freude rühmte er uns seine Wohnung und seine Augen glänzten förmlich, als er von seiner jetzigen Lage sprach und sie mit den früheren traurigen Verhältnissen verglich.

„Ich möcht’ nicht zurücktauschen,“ sagte er treuherzig. „Sehen Sie, meine Herren! Ich bin Tuchwalker und habe immer so viel verdient, wie ich brauchte. Aber jetzt geht es nicht mehr; die Miethen sind zu hoch und die Wirthe zu ausverschämt. Ich soll für ein Kellerloch und für eine kleine Küche in der Adalbertstraße neunzig Thaler geben. Das bin ich nicht im Stande, und d’runter giebt es nichts. Da hab’ ich mir lieber hier die Baracke gebaut; die Bretter kosten vierundzwanzig Thaler, für den Grund zahl’ ich bis Michaeli drei Thaler. Dafür wohn’ ich wie ein Fürst, habe zwei anständige Stuben, lebe in gesunder Luft und brauche mich nicht vom Wirthe schinden und noch obendrein chicaniren zu lassen.“

„Aber im Winter, bei schlechtem, rauhem Wetter?“ versetzte ich bedenklich.

„Davor fürchten wir uns nicht. Wir bedecken die Bretter mit Rasen und Gerberlohe; das giebt warme Stuben, und dann incommodiren uns auch nicht mehr die Fliegen,“ fügte er gutgelaunt hinzu.

Aehnliche Aeußerungen hörten wir wiederholt von den verschiedensten Bewohnern der Baracken, die uns fast ohne Ausnahme als ordentliche und verständige Leute erschienen und durchaus nicht wie Herumtreiber sich anließen. Wer daher in Barackia Mysterien à la Eugen Sue, Verbrechergestalten, Vagabunden und ähnliches romantisches Gesindel sucht, der dürfte sich getäuscht finden. Ebenso wenig entdeckten wir wirkliche Noth, noch das Elend und den Jammer eines verkommenen Proletariats, sondern eher das Gegentheil. Die Männer arbeiteten, die Frauen waren einfach, aber sauber gekleidet, die Kinder sahen gesund und reinlich aus. Fast Alle sprachen mit Befriedigung über ihre jetzige Lage, und gewöhnlich hörten wir den Wunsch äußern, daß sie es nie besser haben wollten und gern immer hier wohnen möchten.

Auf unsere Erkundigung erfuhren wir, daß der Boden, worauf die Niederlassung steht, die „Schlächterwiese“ heißt und ursprünglich der Stadt Berlin gehört. Ein Herr Bohm, welcher das Terrain vom Magistrat gepachtet, hat aus Mitleid den obdachlosen Leuten gegen einen mäßigen Zins von sieben und einem halben Silbergroschen für die Quadratruthe die Errichtung von Baracken gestattet. Nach und nach haben sich gegen siebenzig Familien angesiedelt, deren Zahl jedoch noch täglich zunimmt. Einzelne dieser Hütten verrathen allerdings noch einen höchst primitiven Zustand, dagegen ist die Mehrzahl nicht nur wohnlich, sondern selbst comfortabel eingerichtet und bietet mit den zierlichen Anpflanzungen, Gemüsebeeten und Blumenanlagen das freundliche Bild einer improvisirten Sommerwohnung in freier Natur und ländlicher Umgebung.

Im Ganzen kann man drei oder vier größere Colonieen [461] unterscheiden, die unabhängig von einander existiren. Ein Krankenwärter, Blohm, nicht zu verwechseln mit dem genannten Herrn Bohm, hat ebenfalls von der Stadt schon seit längerer Zeit ein Stück Feld gepachtet und es in gleicher Weise gegen eine mäßige Vergütigung anderen Obdachlosen überlassen. Er selbst wohnt bereits seit einigen Jahren sowohl im Sommer wie im Winter in einer von ihm errichteten und mit Rasen bedeckten Bretterhütte, so daß er als der eigentliche Gründer der Baracken angesehen werden kann. Wie der Präsident Schmidt übt auch er eine gewisse obrigkeitliche Macht aus. Wir hielten es daher für unsere Pflicht, Herrn Blohm unsere Aufwartung zu machen, und lernten in ihm einen verständigen und wohlwollenden Mann kennen, der uns bereitwillig auf seinem Gebiet umherführte und uns über Alles die gewünschte Auskunft gab.

Seine Colonie gefiel uns noch weit besser, als die frühere Niederlassung, und die Bewohner derselben schienen uns noch solider und vornehmer, als das Volk des Herrn Schmidt. Wir besuchten hier einen geschickten Ciseleur, der im Freien Capitäle aus Zink goß und uns recht gelungene Proben seiner Arbeit zeigte. Seine Hütte zeichnete sich vor Allem durch einen gewissen Luxus aus. Die Bretter waren mit Oelfarbe angestrichen, die Fenster von innen mit weißen Gardinen, von außen mit einer sogenannten Marquise versehen. An den Wänden waren künstlerische Verzierungen, Consolen und Figuren angebracht. Rings herum zog sich ein nur kleiner, aber sorgfältig gepflegter Garten, mit frischen Pflanzen und mit einer Laube, worin eine freundliche Frau und ein niedliches Kind saßen. Das Ganze hatte einen idyllischen Anstrich und erinnerte keineswegs an Noth und Elend. Der nächste Ansiedler war ebenfalls ein Handwerker und zwar ein Stuccateur, der eben im Begriff stand, sein Haus aufzubauen. Zu diesem Ende wurden von ihm vier Pfähle in die Erde festgerammt, die Bretter darauf gelegt und angenagelt. Der Preis einer solchen Hütte variirt von fünfundzwanzig bis zu vierzig Thalern, je nach der Größe und Solidität. Der Bau selbst nimmt drei bis vier Tage in Anspruch. Der neue Ansiedler schien, nach seinem Hausrath zu urtheilen, ein gut situirter Mann zu sein. Er besaß anständige Möbel, sogar Spiegel, Commoden, eine Wanduhr, lackirte Wassereimer, einige Blumentöpfe, darunter junge Palmen, die den künftigen Garten zieren sollen. Seine Tochter, ein reizendes, schlank gewachsenes Mädchen von dreizehn Jahren, hatte ein feines, intelligentes Gesicht; sie war nett gekleidet und besuchte, wie sie uns sagte, die Töchterschule in der Köpniker Straße.

Aber nicht nur Menschen, sondern auch Thiere finden in diesen Baracken ein freundliches Asyl. Vor den meisten Hütten lagen Hunde, welche vor herumstreifenden Strolchen die unverschlossenen Thüren bewachen. Auf dem Rasen der Dächer spielten zahme Kaninchen und Katzen im goldenen Sonnenschein. Selbst zwei Pferde besaß bereits die Colonie, und Herr Blohm war gerade, als wir ihn aufsuchten, mit der Errichtung eines Nothstalles für dieselben beschäftigt. Die Thiere gehörten einem Arbeitsmann, der sie zum Transport von Waaren, Sand und Steinen benutzt. Da er ungeachtet aller Anstrengungen keinen Stall in Berlin finden konnte, so hatte er seine Pferde nach dem Cottbuser Damm gebracht, wo sie vorläufig eine Nacht unter freiem Himmel campiren mußten.

Ganz besonders interessirte uns, das gegenseitige Verhalten der Ansiedler zu beobachten. Die unmittelbare Nachbarschaft, die hier herrschende unbedingte Oeffentlichkeit aller Verrichtungen, die zwanglose Lebensweise ließ uns annehmen, daß manche Uebelstände sich daraus entwickeln und leicht Veranlassungen zu Streit und Zank sich einstellen müßten. Nach den von uns eingezogenen Erkundigungen ist dies keineswegs der Fall. Zwischen den verschiedenen Familien herrscht, mit seltenen Ausnahmen, ein durchaus freundlich höflicher Verkehr. Wie wir selbst bemerken konnten, spricht kein Nachbar von und mit dem andern, ohne ihm den Titel „Herr“ zu geben, und auch die Frauen beobachten in noch höherem Grade eine gewisse Etiquette im Umgang. Die Kinder vertragen sich und waren so artig, daß sie unsere Bewunderung erregten. So lange wir verweilten, hörten wir kein rohes Wort, weder Zank noch Lärm. Vielleicht wirkt gerade die Oeffentlichkeit, das Gefühl der gemeinsamen Noth und selbst ein gewisser Märtyrerstolz in dieser Beziehung vorteilhaft.

Allerdings scheint es auch in Barackia nicht an Conflicten ganz zu fehlen, da zwischen den getrennten Colonien eine Art Eifersucht herrscht und sich auch hier der deutsche Nationalcharakter, der angeborene Individualismus und Sondergeist, geltend macht. So wollte der Präsident Schmidt um keinen Preis uns nach der Colonie des Herrn Blohm begleiten, an deren Grenze er sich von uns verabschiedete, so daß wir ein gespanntes Verhältniß zwischen den beiden Würdeträgern annehmen durften. Bis jetzt hat aber die Berliner Polizei noch keine Veranlassung gehabt, sich in die inneren Angelegenheiten der neuen Republik zu mischen. Wir selbst wurden in keiner Weise belästigt und von keinem Bettler angehalten, obgleich bei dem zahlreichen Besuch wohlhabender Fremden die Versuchung nahe liegt. Nur ein alter, augenscheinlich verkommener Mann sprach uns um eine kleine Gabe an, wobei er sich aber vorsichtig umsah, als fürchtete er von seinen Mitbürgern belauscht zu werden. Leider zeigt sich bereits auch in Barackia die herrschende Speculationswuth. Unterhändler pachten von Herrn Blohm einzelne Parcellen, die sie zu höheren Preisen an die jüngsten Ansiedler vermiethen; andere übernehmen gleichfalls mit entsprechender Provision den Bau der Hütten, woraus allerdings Zwistigkeiten entstehen, die den bisherigen Frieden zu stören drohen.

In ihrer gegenwärtigen Gestalt bietet jedoch die Republik „Barackia“ ein höchst interessantes und keineswegs abschreckendes Schauspiel aus dem Berliner Leben. Wenn auch diese Ansiedlung ein trauriges Licht auf die socialen Uebelstände unserer Weltstadt wirft und gewissermaßen den glänzenden Aufschwung derselben in letzter Zeit grausam parodirt, so muß man dagegen den gesunden Sinn des Volkes, seine Leichtigkeit, sich in die schwierige Lage zu finden, seine Fähigkeit und das Verständniß für das große Princip einer wirksamen Selbsthülfe mit Recht anerkennen. Nichts destoweniger drängen sich dem Menschenfreund ernste Bedenken und Zweifel auf, ob die augenblicklich gehobene Stimmung andauern kann, ob überhaupt derartige Zustände sich mit unserer Civilisation, mit unseren Lebensgewohnheiten und Anschauungen auf die Länge der Zeit vertragen, wie dies unter ganz anderen Bedingungen in Amerika der Fall ist.

Schwerlich wird die junge Republik über den Sommer hinaus ihr Leben fristen, da bereits am 1. October der Contract der Stadt mit den beiden Pächtern abläuft, abgesehen davon, daß die Mehrzahl der Hütten nicht für die Aequinoctialstürme und die Winterkälte berechnet ist. Wir müssen daher mit Freuden die Nachricht begrüßen, daß unser Magistrat, wie wir erfahren, eine Commission ernannt hat, welche Vorschläge zur Abhülfe der Wohnungsnoth machen und für ein zweckmäßiges Asyl der obdachlosen Familien Sorge tragen soll.

Max Ring.




Blätter und Blüthen.


Große Fürstensorge. Bei dem gewaltigen Umschwunge der Neuzeit und dem angebahnten, allmählichen Verschwinden lächerlich kleinstaatlicher Einrichtungen dürfte es geboten sein, das nachfolgende Actenstück, welches solche während einer Zeit ihrer schönsten Blüthe in köstlicher Weise kennzeichnet, durch Abdruck in der Gartenlaube der Nachwelt zu erhalten.

Dies Actenstück betrifft die Rangordnung des vormaligen Herzogthums Sachsen-Hildburghausen mit den Städten Hildburghausen, Eisfeld, Heldburg, Ummerstadt, Königsberg in Franken und dem Amtsflecken Sonnefeld.

Der ganze Staat umfaßte zehn Quadratmeilen mit der Riesenzahl von 25,000 Seelen, und kam bekanntlich mit Ausschluß von Königsberg und Sonnefeld an das Herzogthum Sachsen-Meiningen; diese Annexion geschah im Jahre 1826 durch Erbtheilung. – Wagen wir es, den hochwichtigen landesherrlichen Ukas so viel als thunlich wörtlich wiederzugeben:

„Demnach der Durchlauchtigste Fürst und Herr, Herr Ernst, Hertzog zu Sachsen, Jülich, Cleve und Berg etc. gnädigst resolviret haben, daß hinfüro so wohl bey Dero Hoffstadt, als auch sonsten bey andern ehrlichen Zusammen-Künfften und Processionen, zwischen Dero Ministers, hohen und niedern Bedienten, auch andern zu rangirenden Personen eine gewisse Ordnung im Rang beobachtet und dadurch aller Confusion und Collision abgeholfen werden möge; Als haben höchstgedacht Ihro Hochfürstliche Durchlaucht nach jetzt vorgekommenen Umständen und Motiven folgende revidirte Location aufsetzen, in Druck bringen und gebührend publiciren lassen:

[462] 1. Die wirklichen Geheimde-Räthe. 2. Der jetzige Oberjägermeister aus sonderbarer Consideration, ohne künfftige Consequentz. 3. Der Regierungs-Präsident. 4. Der Consistorial-Präsident. 5. Der Obriste v. H., aus sonderbarer Consideration, ohne künfftige Consequentz. 6. Der Hof- und Consistorial-Rath S. 7. Der Hofrath und Cammer-Junker, wie auch Consistorialrath v. H., welcher in dem Consistorial-Collegio seinen Sitz, wie bisher, behält. 8. Die Hof- und Cammer-Räthe fernerweit, jedesmahl nach ihrem Alter der Dienste, ohne Distinction des adelichen oder bürgerlichen Standes. 9. Die sämmtlichen Cammer-Junkern, nach ihrer Ordnung und Alter der Dienste. 10. Der Rath und Cammer-Meister H. 11. Der Consistorialrath, Hofprediger und Superintendens Primarius. 12. Der Consistorial-Assessor und Archidiaconus. 13. Die von Adel, so anderwärts Cammer-Junkere und Rittmeistere auch in anderen dergleichen Hof-Bedienungen und Chargen gewesen. 14. Die übrigen würklichen Regierungs-Räthe. 15. Die würklichen Hoff-Junkere. 16. Die Landstände und Vasallen von der Ritterschaft in und außerhalb Landes. 17. Der Vormundschaffts-Rath und Geheimder Secretarius. 18. Der Rechnungsrath. 19. Der Rath und Leib-Medicus Doctor B. 20. Die auswärtigen Räthe, so würkl. Dienste thun. 21. Der Küchenmeister. 22. Die Hauptleute. 23. Die Titular-Räthe nach ihrer Ordnung. 24. Der Regierungs- und Lese-Secretarius. 25. Der Hoff- und Renth-Secretarius. 26. Der Hoff- und Landbaumeister. 27. Der Cammer-Commissarius. 28. Die Special-Superintendenten. 29. Die Amt-Leute, welche das Prädicat als Amtmann haben. 30. Der Consistorial-Secretarius. 31. Die Adjuncti immediati. 32. Der Steuer-Commissarius. 33. Der erste Cammer-Diener bei des regierenden Herrn Hertzogs Hoch-Fürstliche Durchl. 34. Der Stallmeister bei des Herrn Erb-Printzens Hoch-Fürstl. Durchl. 35. Der Hoff-Verwalter. 36. Der Cammer- und Kunst-Mahler. 37. Der erste Cammer-Diener bei des Herrn Erb-Printzens Hoch-Fürstl. Durchl. 38. Die Pagen bei des regierenden Herrn Hertzogs und Dero Erb-Printzens Hoch-Fürstl. Hoch-Fürstl. Durchl. Durchl. 39. Die Amtsverweser. 40. Der Wildmeister. 41. Die übrigen würkliche Cammerdiener. 42. Der Bereuter. 43. Der Cammer-Procurator. 44. Die Hoff-Advocaten. 45. Die Lieutenants und Fendriche. 46. Die Land-Medici non promoti. 47. Die Adjuncti mediati. 48. Der regierende Bürgermeister in der Residenz. 49. Die hiesigen Capläne. 50. Der Rector und Conrector bei künfftiger Land-Schule. 51. Der Hoff-Fourirer. 52. Die Registratores. 53. Die Pfarrer auf dem Lande und in den Städten die Capläne. 54. Die Trompeter und Paucker. 55. Der Berg-Inspector. 56. Der Berg-Voigt. 57. Der Oberförster. 58. Der Bothenmeister. 59. Die Cancellisten. 60. Die Amtschreiber und Actuarii. 61. Der Hoff-Barbierer. 62. Die Mund-Köche. 63. Die Conditores. 64. Die Cammer-Laquayen. 65. Küch- und Keller-Schreiber. 66. Die Bürgermeister in den übrigen Städten. 67. Die Stadtschreiber. 68. Hoffmahler. 69. Die Silber-Diener. 70. Die Hoff-Gärtner. 71. Bauschreiber und Flößmeister. 72. Der Hoff-Uhrmacher. 73. Die sämmtliche Laquayen bei Hoffe, sowohl bei des regierenden Herrn Hertzogs, als auch des Herrn Erb-Printzens Hoch-Fürstl. Hoch-Fürstl. Durchl. Durchl. 74. Die Copisten. 75. Die Forstbedienten. 76. Die Leib-Knechte, sowohl bei des regierenden Herrn Hertzogs, als des Herrn Erb-Printzens Hoch-Fürstl. Hoch-Fürstl. Durchl. Durchl. 77. Die Leib-Kutscher, wie vorgemeldet. 78. Die Zoll-Bedienten 79. Die Einspänniger, Gleits- und Zoll-Reuter. 80. Die Reit-Knechte. 81. Die Kutscher, Beyläuffer und Vorreuter bei des regierenden Herrn Hertzogs und Dero Erb-Printzens Hoch-Fürstl. Hoch-Fürstl. Durchl. Durchl. 82. Der Keller-Knecht. 83. Einheitzer. 84. Jungfer-Knecht. 85. Die Hoff-Handwerker. 86. Der Bedienten-Diener.

Wer in dieser Rang-Ordnung nicht expresse benennet, und locirt worden, der bleibet bei demjenigen Rang, welchen er bisher gehabt, so fern solcher hierdurch nicht geändert werden; Und da ein und anderer Bedienter sich besser qualificiren und meritirt machen würde, wollen höchst gedachte Ihro Hoch-Fürstl. Durchl. auf denselben gnädigst reflectiren; Und wie er sodann weiter accomodiret wird: Also soll er auch nach der Location der Chargen seinen Rang erlangen: Wobey einem jeglichen hohen und niedrigen Bedienten ausdrücklich angedeutet wird, daß er an der ihm aus sonderbaren Vorbedacht gegebenen Stelle vergnügt sein, und gnädigster Landes-Herrschaft keine Beunruhigung verursachen solle.

An dem geschieht mehr höchst-gedachte Ihro Hoch-Fürstl. Durchl. beständiger Will und Meinung.

Signatum Hildburghausen, den 28. Februarii 1707.

 (L. S.) Ernst, H. z. S.“

Mit welchem Ernst und großer Wichtigkeit diese Rangliste behandelt wurde, geht nicht nur aus deren voransichtlicher Fassung, sondern auch aus dem Umstande hervor, daß weitere Revisionen dieser Rangordnung im Jahre 1709 und dann in den Jahren 1714, 1718 und 1720 in sorgfältigster Weise statt hatten.

Wenn wir uns auch aller Bemerkungen über den außerordentlich zahlreichen, vermuthlich dem eines Ludwig des Vierzehnten von Frankreich nachgeäfften Hofstaat etc. –, dessen Erhaltung unzweifelhaft das berüchtigte Schuldenwesen der vormaligen Herzöge Hildburghausens hervorrief, – zu enthalten bestreben, wollen wir doch auf die merkwürdige Anschauungsweise der damaligen „guten, alten Zeit“, daß nicht nur die Superintendenten und Amtleute unter dem Küchenmeister, sondern auch die Vorstände der Städte und ein Hofmaler weit unter dem Bereiter und dem Hofbarbier rangirten, besonders hinweisen, und zum Schluß noch mittheilen, daß die Militärmacht des Hildburghäuser Herzogs, Ernst Friedrich’s des Dritten, in einem von einem „vacirenden“ holländischen General errichteten Gardebataillon in der wahrhaft unerhörten Stärke von vierzig bis fünfzig Mann bestand. Diese Armee war in vier Compagnien eingetheilt und hatte einen Oberstlieutenant, vier Capitaine, acht Lieutenants, einen Regimentsfeldscheer, acht Hautboisten, einen Profos, sechs Tambours, einen Pfeifer und einen Regimentstambour! –

N. in Eisfeld.




 Nachruf an Robert Prutz,

 gest. am 21. Juni 1872.

Auch Du, auch Du! Dich traf des Todes Streich.
Ein Stern vom deutschen Dichterhimmel fiel.
Stumm ist der Mund, an süßen Liedern reich,
Zerbrochen ist ein herrlich Harfenspiel,
Schlaff ist die Hand, die fest das Banner trug,
Der Freiheit Banner in den schwersten Tagen!
Das edle Herz, das hoch begeistert schlug,
Hat ausgeschlagen!

Du sangst, voll Hoffnung, Deinen Morgengruß
In Deiner Jugend schon der neuen Zeit;
Du standest müßig nie, Gewehr beim Fuß,
Im Kampf um’s Licht, im großen Geisterstreit.
Die Sturmfluth kam und dann die Zeit der Noth –
Wie viel’ der fahnenflüchtigen Soldaten!
Du aber nahmst es nie, das Bettelbrod
Des Renegaten!

Schwer auf den Völkern lag ein Alp und Bann,
In Nebel sank der Freiheit goldnes Licht.
Die Pommernfaust, sie riß dem Dunkelmann
Die Heuchlermaske von dem Angesicht!
Wie hast Du schonungslos dem falschen Ruhm
Den Kranz zerpflückt, vom Wege aufgelesen!
Ein Wächter an der Schönheit Heiligthum,
Du bist’s gewesen!

Mehr noch als Wächter, ja, ein Priester auch!
Du warst beseelt von echter Gotteskraft.
In Deinem Schaffen, welch ein Lebenshauch,
Welch eine Gluth gewalt’ger Leidenschaft!
Nicht, wie’s jetzt Brauch, wo sich im Cancan spreizt
So manche Muse, jeder Scham entbehrend,
Im Versballet, das die Blasirten reizt,
Die Kunst entehrend! – –

Den Eichenzweig legt auf des Kämpfers Grab
Die Freiheit zu des Dichterlorbeers Grün. –
Gesegnet sei, Du, der uns Blüthen gab,
Die ewig duftig, unvergänglich blüh’n!
Du mußtest wandeln manchen harten Pfad;
Kein dornenloser Kranz war Dir beschieden! –
Ruh’ sanft, Poet, im Grab am Seegestad’!
Ruh’ aus in Frieden!

 Emil Rittershaus.




Jägerlatein. Der in Brünn erscheinende „Tagesbote aus Mähren und Schlesien“ bringt in seiner Nummer vom 19. Juni das nachstehende Inserat: „Meiner langjährigen Erfahrung und Kunst ist es gelungen, Uhu’s aus Hühnereiern im Hause ausbrüten zu lassen. Anträge wolle man richten, auch unfrankirt, einzig und allein unter J. K., Förster in Sentitz.“ – Ob dieser wackere Jägersmann, der, wie es scheint, ein tüchtiger „Lateiner“ ist, wohl je von Darwin’s Theorie von dem Variiren der Arten gehört hat?

F. R.




Berichtigung. In meinem Artikel über Victoria Woodhull sagte ich, daß dieselbe in socialer Hinsicht sich zu ähnlichen Grundsätzen bekenne, wie sie von John Stuart Mill gelehrt werden, nämlich zu denen, die man gewöhnlich als die der freien Liebe bezeichnet. – Ich verwechselte im Augenblick die Bezeichnungen. Die Bekenner der freien Liebe schwärmen zwar auch meist für women’s right – Frauenrechte – allein umgekehrt ist dies keineswegs immer der Fall. Obwohl Herr Mill für die Rechte der Frauen eintritt, und für sie einen Theil an der Regierung verlangt, so verabscheute er jedoch Theorie und Praxis der freien Liebe. Ich mache diese Berichtigung, aufmerksam gemacht auf meinen Irrthum durch einen Leser der Gartenlaube, dem ich sehr dankbar dafür bin.

Corvin.




Kleiner Briefkasten.

Herrn A. H. in Waltershausen. Die eingesandte „Astronomische Vexirfrage“ dürfte für die Mehrzahl unserer Leser zu streng wissenschaftlich sein, während Astronomie-Kundige sie leicht beantworten könnten. Auf dem Nordpol liegt Alles nach Süden, auf dem Südpol Alles nach Norden. Da jedoch das Jahr dreihundertfünfundsechszig Tage, fünf Stunden, achtundvierzig Minuten, sechsundvierzig Secunden hat, so wird – abgesehen von der Strahlenbrechung und von den Störungen, welche die Erde auf ihrem Wege um die Sonne erleidet – die Sonne in jedem folgenden Jahre zu verschiedenen Tageszeiten sowohl den Aequator durchschneiden, als auch ihre höchste Höhe erreichen; die zu bestimmenden Cardinalpunkte würden also in jedem Jahre andere sein, und zwar eine Verschiebung von fast neunzig Grad erleiden. Hätte also in diesem Jahre ein Beobachter am Nordpol die Sonne zuerst in der Richtung von Leipzig erblickt, so würde er sie im nächsten Jahre ungefähr in der Richtung von Washington sehen u. s. f. Eine Andeutung dieser Art liegt auch schon in der Fassung Ihrer Fragen. Ihr Wunsch, auch Fragen aus dem Gebiete der Astronomie, Physiologie etc. in unserem Blatte behandelt zu sehen, wird sich bald erfüllen. Sie werden in den Spalten der Gartenlaube schon nächstens Namen vom besten Klange nach dieser Richtung hin begegnen. Besten Dank und Gruß.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Der Herr Verfasser schreibt uns über obigen Beitrag: „Der Director der Strafanstalt zu Naugardt forderte mich auf, eine Beschreibung meines Lebens zu geben. An so ein Buch hätte ich in der Freiheit niemals gedacht: dort war die Erlaubniß, mich geistig beschäftigen zu dürfen, mir sehr erwünscht. Herr Schnachel war ein Ehrenmann. Als ich später zur Verschärfung meiner Strafe nach Spandau versetzt wurde, bewahrte er die Handschrift und gab sie mir viele Jahre nachher zurück. Der Mann ist todt: er war noch in London mein Gast – ein vortrefflicher Mensch, der in seinem schweren Amte sich ein menschlich Herz gerettet hatte. Ihm kann jetzt die Veröffentlichung nicht mehr schaden. In den sechs Monaten, daß ich zu Naugardt war, habe ich die Biographie bis zu meinem Eintreten in die Revolution, März 1848, fortgeführt. Die Leute, denen Etwas darin wehe thun könnte, sind im Grabe, und Manches in meiner Kindheit war so schön und lehrreich, daß Vieles davon sittlich eine Wirkung machen könnte, z. B. in der Erziehung. Ich meine, das ist so recht ein Beitrag für die Gartenlaube.“Die Redaction.     

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: wärend