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Die Gartenlaube (1872)/Heft 34

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[547]

No. 34.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Ein Orangenzweig.


Von A. Godin.


(Fortsetzung.)


Gewonnen?


Das federngeschmückte Haupt der stattlichen Vergnügungspräsidentin strahlte heute von ungewöhnlicher Befriedigung, während sie mit ihren beiden Schutzbefohlenen den Saal durchschritt, um den stets für sie reservirten, bevorzugten Platz auf dem erhöhten Purpurdivan einzunehmen. Lautes und leises Flüstern hatte sie bewundernd auf dem kurzen Wege begleitet und ihre schon im Toilettenzimmer gemachte Wahrnehmung bestätigt, daß ihre „Balltöchter“ verdienten, die allgemeine Aufmerksamkeit heute auf sich zu lenken. Während sie sich majestätisch niederließ, sah sie Beide schon von Tänzern umringt, und es befriedigte sie ungemein, nicht nur Eugenie Wallmoden, sondern auch die ihrem mütterlichen Schutz anvertraute Fremde so rasch umworben zu sehen.

Allerdings war auch Gerta von Röder eine Erscheinung, die wohl nirgend unbeachtet bleiben mochte. Beim Anblick ihrer Figur wurde man unwillkürlich an jene in der Antike öfter vorkommenden Venusgestalten unter Lebensgröße erinnert – das lieblichste Ebenmaß ließ vergessen, daß sie mehr einem zierlichen Cabinetsstücke glich, als einem richtigen, mit gewöhnlichen Organen ausgestatteten Menschenkinde, und das Gesichtchen, frisch wie Thau, blickte so schelmisch befriedigt der Gegenwart in’s Auge, als wäre jede Stunde eine schimmernde Regenbogenbrücke, die sich leicht schwebend überschreiten läßt. Jene köstliche Naivetät, die sechzehnjährige Mädchen zuweilen umwebt, wie der Flaum eine frische Frucht, quoll aus jedem ihrer Worte und schaute als helle Wahrheit aus den treuherzig frohen Augen. Wer diesem Kindesblick begegnete, empfand: ihr war noch keine Ahnung davon aufgegangen, daß auf der Welt nicht Alles Freude und Liebe sei. In den zartblauen Gazewellen ihres leichtgebauschten Kleides glich sie mit der raschen, flatternden Beweglichkeit, die ihr eigen, einer Tochter der Luft. Aber der dichte Vergißmeinnichtkranz in den braunen Flechten und das blitzende Blauauge sprachen von der frohen Schönheit der Erde. Trotz aller Lebendigkeit war die kleine Libelle doch sichtlich darauf bedacht, immer dicht in der Nähe ihrer Gefährtin zu bleiben, zu welcher sie im Gedränge all der Vorstellungen und Engagements häufig hinüber oder vielmehr aufschaute, denn ihr Scheitel reichte höchstens bis zum Nacken der edelschönen Mädchengestalt neben ihr.

Seit Eugenie Wallmoden den Saal betreten, haftete manches Auge bewundernd auf der selten auftretenden, stets aber als Krone der Gesellschaft anerkannten Erscheinung. Sie trug ein wallendes Kleid vom zartesten, mit unzähligen durchsichtigen Perlen übersäeten Gewebe, das weiß und weich glitzerte, wie eine frischgefallene Schneeflocke. Ein leichtes Gewinde von Heckenrosen zeichnete von der linken Schulter bis zum Knie die anmuthigste Linie, und gleiche bethaute Rosen hielten die duftige Draperie des Halsausschnittes und die Pracht der blonden Locken als Agraffen. Eben beschäftigt, den Namen eines Tänzers, dem sie zugesagt, in ihre Ballkarte zu zeichnen, zuckte plötzlich ihre Hand, ein zartes Roth stieg bis zu den Brauen empor und wurde tiefer, als sie mit unwillkürlicher Bewegung den Kopf nach Gerta umwandte, die, hinter ihr stehend, einige Worte mit einem hochgewachsenen Officier tauschte und ihr fast im gleichen Augenblicke halbverlegen sagte: „Dieser Herr wünscht Dir vorgestellt zu sein, Eugenie, aber –“

„Nun, mein Fräulein?“

„Ei, wie kann man vorstellen, wenn man den Namen selbst nicht weiß!“ platzte die Kleine halb schmollend heraus. „Herr von Wellenberg hat ihn gewiß mit Fleiß so undeutlich ausgesprochen und sich fortgemacht, nur um mich dann stecken zu lassen. Also Eugenie, nimm vorlieb, wenn ich Dir präsentire den Herrn Rittmeister, den Herrn Baron von – Unbenannt!“ Schon war das lächelnde Kind wieder neu in Anspruch genommen, und der so eigenthümlich Vorgestellte stand einen Moment schweigend vor Eugenie, den Blick auf ihre fein gezeichneten Züge geheftet. Der seltsame Ausdruck, mit welchem sein Auge sie gleichsam umspann, hätte ihr auffallen müssen, wäre das ihrige nicht gesenkt geblieben, bis er mit dem leisen, sonoren Klang, der ihr Ohr bereits einmal getroffen, sagte: „Mein Name ist Triefels.“

Nun sah sie sinnend auf. „Seltsam,“ erwiderte sie mit halbem Lächeln, „Ihr Name klingt mir bekannt, und doch weiß ich mich keines Portraits zu solcher Unterschrift zu erinnern!“

„Vielleicht eines landschaftlichen? Kennen Sie die Pfalz, gnädiges Fräulein?“

Noch während er sprach, wölbten sich die feinen Lippen zustimmend: „Nun bin ich daheim, nun weiß ich, was mich aus dem Namen grüßte und weshalb ich dabei an eine Gestalt dachte, statt an die sagenreiche, schöne Stätte – es war der Schatten von Richard Löwenherz, der aufstieg!“

„Vor Alters hausten dort die Meinen,“ sagte Triefels, indem er mit bittender Bewegung die Tanzkarte aus Eugeniens Fingern nahm und sich nach raschem Ueberblick einzeichnete. Weder in dem Worte, noch in der Beschäftigung lag eine Erklärung für das leise, fast nervöse Erzittern, von welchem Eugenie sich ergriffen [548] fühlte, für das neue, heiße Erglühen ihrer Wange und Schläfe. Wie ein Blitz hatte es sie bei ihren eigenen Worten durchzuckt, denn die ritterlichste Gestalt in Geschichte und Sage, deren Schatten sie erinnerungsträumerisch herbeibeschworen, schien ihr verkörpert gegenüber zu stehen. Ein nie gekanntes Gefühl ergriff sie – die Scheu davor, ihre Gedanken errathen zu sehen, und vergebens suchte das weltvertraute, stets der Beherrschung sichere Mädchen heute nach einem Uebergang zu Ballgesprächen; sie fand doch nur die Frage: „So war das poesievolle Triefels Ihr Stammhaus?“

Die Antwort wurde dem Cavalier abgeschnitten, denn das Orchester hatte schon die „Träume auf dem Ocean“ angestimmt, und Eugeniens Tänzer stand vor ihr, sie zum ersten Walzer abzuholen. Während Triefels sich zurückzog, sagte er halblaut: „Ich hoffe auf Ihre Genehmigung, Ihnen später historischen Vortrag halten zu dürfen?“ Der Ton klang so leicht, daß Eugenie lächelnd umblickte, doch erstarb die Entgegnung vor dem magnetischen Blicke, der sie traf, auf ihrer Lippe.

Die Stunde des Souper’s war herangekommen, und die Vergnügungspräsidentin thronte als Vorsitzende an einem runden Tische, dessen Plätze für Alle, die sich ihr während der großen Pause anzuschließen gewünscht, keineswegs ausreichten. Seit langer Zeit war der guten Dame die trotz Verheirathung der eigenen Töchter nie aufgegebene Stellung einer vielgesuchten Ballmutter nicht mehr so wohlthuend zum Bewußtsein gekommen. Ehren aller Art flossen ihr heute zu. An ihrer Rechten saß ein durch Rang und Ruf hervorragender Mann aus der nächsten Umgebung des Königs, welch Letzterer zwar nicht selbst in der Gesellschaft erschienen, jedoch durch die Mehrzahl seines Gefolges vertreten war; zum Nachbar ihrer Linken hatte ihr eigener gnädiger Wink Rittmeister Triefels bestimmt – weniger, um die ihr anvertraute junge Dame, welche er zu Tische geführt, unter ihren Flügeln zu behalten, als hauptsächlich, weil sie von diesem Muster eines Cavaliers, der sich wiederholt im Laufe des Abends ihrer Unterhaltung gewidmet, ganz bezaubert war. Dennoch überließ sie ihn jetzt seiner Partnerin, um sich selbst ganz dem hochgestellten Gaste zur Rechten zu widmen, was sie jedoch nicht abhielt, den geübten Blick über den buntbesetzten Tisch hinweg zu ihrem zweiten Küchlein fliegen zu lassen, dem sie wiederholt, wenn auch erfolglos, mit den beweglichen Augenbrauen telegraphirte.

Es war nicht zu leugnen, Gerta plauderte lebhaft, zu lebhaft! – und wenn Bruno Wellenberg schon am Tage vorher geschworen, daß in ganz Europa kein reizenderer Backfisch zu finden sei als diese kleine Kölnerin, so war er heute, während er bei Tafel an ihrer Seite saß, sicherlich nicht in der Stimmung, dies Wort zurückzunehmen. Eben jetzt hörte sie ihrem Nachbar mit solchem Eifer zu, daß Alles an ihr funkelte, und antwortete dann noch eifriger: „Natürlich war ich dort und habe Alles gesehen – o, es war wie in einem Märchen! Denken Sie nur, sogar Onkel Wallmoden ist mitgegangen, er wollte uns nicht mit Stettens allein lassen, weil es lauter Damen waren. Aber wirklich, wir hätten ihn gar nicht gebraucht! Wir fanden eine Bank und stellten uns darauf; da sah man über alle Köpfe weg, die sich so drollig regten! Eugenie hatte lange keinen so guten Platz; sie wollte durchaus unten beim Onkel bleiben und hat sich dabei sicher feuchte Füße geholt, denn sie kam ganz blaß und schweigsam nach Hause. Ach, wie schön ist meine Cousine, nicht wahr? und dabei so klug, so gut – nur – nur –“

„Nun?“ ermuthigte Wellenberg.

„Ein bischen zu ernsthaft!“ flüsterte die Kleine mit schalkhaftem Aufblick! „Ich begreife gar nicht, wie man so ernsthaft sein kann! Wissen Sie, ich glaube, der Onkel hat an ihr abgefärbt, denn Der kann erst einmal feierlich d’reinsehen – hu!“

Wellenberg warf einen raschen Blick hinüber. „Nun, heute wenigstens sieht Fräulein Wallmoden nicht feierlich aus, “ scherzte er; „die Lebhaftigkeit ihrer Unterhaltung läßt nichts zu wünschen übrig, und daß sie trotz des sündhaften Ernstes, den Sie ihr vorwerfen, sehr sonnig zu lächeln versteht, können Sie ist diesem Moment beobachten. Uebrigens haben Sie Recht, Fräulein Gerta, Ihre Cousine ist in der That eine Schönheit; so strahlend wie heute sah ich sie noch nie!“

„Sagen Sie einmal, Herr von Wellenberg – –“

„Ja, wenn Sie mitten im Satze stumm werden, kann ich gar nichts sagen!“

„Hat Eugenie diesen Triefels wirklich erst heute Abend kennen gelernt?“

„Weshalb fragen Sie?“ erwiderte Wellenberg lebhaft.

„Ja – das möchte ich lieber nicht sagen!“

„Mir aber doch?“ lächelte er. „Vergessen Sie denn schon wieder, daß wir Nachbarskinder sind, Fräulein Gerta? Als Sie noch klein waren“ – sein Blick streifte das Kinderhändchen, welches auf dem Tische ruhte – „als Sie noch ganz klein waren, habe ich Sie ja alle Tage geschaukelt und auf den Knieen reiten lassen – solch einem uralten Freunde kann man doch Alles sagen!“

„Das ist wahr,“ nickte sie heiter, „aber es bleibt hübsch unter uns – ja? Nun, sehen Sie, ich frug deshalb: als ich heute Ihren Freund Eugenien vorstellte, nachdem Sie ihn zu mir geführt, merkte ich gleich, daß sie ihn so eigen ansah, als besänne sie sich auf etwas, und es kam mir vor, als wäre sie erschrocken. Deshalb meine ich, die Beiden müßten einander schon früher begegnet sein.“

„Immerhin möglich,“ sagte Wellenberg. „Vielleicht war Fräulein Wallmoden einmal in Berlin?“

„Nein,“ schüttelte Gerta das Köpfchen; „das weiß ich gewiß! Tante Wallmoden war ja vier Jahre lang krank, damals ist Eugenie nicht von ihr gewichen, dann kam die Trauer, und, außer einem Besuche bei uns, ist sie nie von Wiesbaden fortgewesen.“

„In diesem Falle ist allerdings kaum ein früheres Zusammentreffen denkbar, denn Triefels hat immer in Norddeutschland gelebt, so viel ich weiß; noch gestern äußerte er, daß er jetzt zum ersten Mal den Rhein besucht.“

„Dann ist es aber doch wirklich sonderbar,“ sagte die Kleine mit gehobenen Brauen, „daß solch ein fremder Herr den ganzen Abend nicht von Eugeniens Seite weicht, und sie ihm fortwährend Audienz giebt!“

„Dabei kann ich nichts Sonderliches entdecken, mein Fräulein! Triefels hatte ja auch das Vergnügen, einmal mit Ihnen zu tanzen, da kann es Ihnen sicher nicht entgangen sein, daß er zu unterhalten weiß?“

Sie bewegte leicht die kleinen, weichen Schultern, und sah mit schelmischen Augen auf. „Mit mir hat er sich unterhalten wie mit –“

„Heraus, heraus mit der Sprache, Madonnina!“

„Wie mit einem Schooßhündchen!“ brach der Kinderzorn feurig hervor. „Ich weiß gar nicht, was dieser Herr sich denkt! Fragt mich nach meinem Canarienvogel in Köln – hier, in Wiesbaden auf dem Balle! Und wie lange ich in der ersten Classe sitzen würde, und wie meine Lieblingspuppe getauft ist! Er hat aber einen andern Begriff bekommen! O, ich kann auch feierliche Gesichter aufsetzen, wenn es darauf ankommt!“

Wellenberg betrachtete die würdige Haltung, zu welcher seine Nachbarin das feine Hälschen streckte, mit innerlichem Vergnügen, während er mit unverwüstlichem Ernst erwiderte: „Mein Freund hat ohne Zweifel die Lection begriffen.“

„Das versteht sich,“ versicherte sie arglos; „o, er fing gleich an, von Politik mit mir zu sprechen, ich glaube wenigstens, es war Politik, denn er erkundigte sich bei mir, wie man in Nassau über Preußen dächte, und ob Onkel Wallmoden wirklich so böse darüber wäre, daß Ihr den Herzog fortgeschickt habt. Da haben wir uns noch eine Weile ganz vernünftig unterhalten, es dauerte nur nicht lange, dann war der Tanz zu Ende. Ihr Freund kann aber meinethalben so unterhaltend und interessant sein, wie er will, ich begreife Eugenie doch nicht. Vorigen Winter, als sie einige Wochen bei uns zu Gaste war und so sehr gefallen hat, durfte keiner der Herren sie der Art in Beschlag nehmen.“

„Im vorigen Winter, Fräulein Gerta, haben Sie da schon Ballbetrachtungen angestellt? Ich meine, damals saßen wir wirklich noch in der ersten Classe?“

Gerta wurde purpurroth und warf einen unsicheren Blick auf ihren Nachbar; als seine frohen Augen sie aber trafen, lachte sie frisch auf – das klang wie der Ton einer rieselnden Quelle. Ehe sie noch Zeit zur Antwort gefunden, ertönte das Signal zum Cotillon. Wellenberg kam der Bewegung zuvor, mit der sie eilfertig nach ihren im Weinglase aufbewahrten Handschuhen griff, und glättete das feine Leder, indem er es wie eine Curiosität betrachtete. „Nummer vierundeinhalb?“ scherzte er, als die winzigen [549] Finger eben hineinschlüpfen wollten. Ein Schlag auf die seinen, mit demselben Kinderhandschuh gegeben, entsetzte die gleichfalls aufstehende Präsidentin. Ehe dieser verantwortliche Schutzgeist aber noch seine stattliche Fülle um den Tisch bewegt hatte, um vor weiteren Excessen zu warnen, war bereits das Pärchen in den Ballsaal verschwunden.

Tour folgte auf Tour. Von den Divans aus, an den Wänden entlang, sehnten sich die Mütter hoffend und harrend dem letzten Geigenstrich entgegen, der ihnen gestatten würde, dem lange unterdrückten Gähnen volle menschliche Berechtigung zu gönnen. Die Väter waren längst in den Nebenräumen seßhaft geworden. Und doch war das Bild, welches sich den Zuschauern während dieser letzten Feststunde bot, ebenso hübsch, als gestaltenreich! Der herrliche Saal, eines Landes classischer Vorzeit würdig, kam unter den Strahlen von sieben glänzenden Kronleuchtern zur vollen Geltung. Fremdartig schön schimmerten all die Bildwerke von carrarischem Marmor aus ihren Purpurnischen hervor – in ihrer ewigen Ruhe eine seltsame Folie für den in beständig wechselnden Tanzfiguren hin- und wiederwogenden bunten Kreis, der sich unterhalb der schwarzgrauen Marmorsäulen zum Ring geschlossen. Und doch – wer weiß! vielleicht fühlte sich manche dieser modernen, geschmückten lächelnden Gestalten im Innern ebenso leblos wie jene Marmorbilder! Jedenfalls war der Ausdruck im Gesicht Rudolph Eckhardt’s nicht weniger steinern als sie.

Den Rücken gegen eine der Säulen gelehnt, deren Reihen die Länge des Saales durchtheilen, starrte der junge Mann in das wogende Gewühl des Cotillons. Es ist eine seltsame Empfindung, mit einer Angst im Herzen solchem geselligen Treiben zuzuschauen! Das Regen all dieser Gestalten kömmt Einem da so gespensterhaft, so unnatürlich vor – ihr Frohsinn wie gemachte Lüge – ihr Reigen ein Todtentanz. – Nur ein Paar war unter diesen Schemen für Eckhardt lebendig – sehr lebendig! – Eugenie und ihr Partner.

Mit gewandtem, geübtem Blick hatte Triefels den Platz für seine Tänzerin so zu wählen gewußt, daß eine Säule sie von dem nächsten Paare isolirte – die Nachbarsäule jener, an welche Eckhardt sich stützte. Da Eugenie heute, wie immer, jede Extratour ablehnte, gehörte sie ihrem Tänzer ganz, ja ganz! Eckhardt sah Das, fühlte Das – nie hatte er in ihrem Auge dies Leuchten, nie um ihren Mund dies Lächeln geschaut! Und jetzt – hörte er es sogar! Seine überreizten Nerven sogen die gedämpften Töne, welche wenige Schritte vor ihm gewechselt wurden, ein, als wären sie Wohllaut statt Vernichtung; seinen Platz zu verlassen, kam ihm nicht einmal in den Sinn.

Eifersucht! dämonische, elementare Macht, wie die Liebe selbst – ein tiefgründigeres Räthsel der Menschenbrust vielleicht, als jene! Wer hätte je den geheimnißvollen Instinct erklärt, der sich unter hundert Gefahren an die eine klammert und an sie glauben lehrt? Ueberall trägt Bewunderung ein Bedürfniß nach Sympathie, nach getheilter Anschauung in sich, heischt sie sogar gebieterisch für das geliebte Wesen und doch steht plötzlich, einem Einzigen gegenüber, diese gleiche Bewunderung als Raub, als Bestehlung der eigenen Empfindung vor der Seele und regt alle Dämonen auf, die unerkannt im tiefsten Grunde geschlummert.

Oft hatte Rudolph sich gesagt, daß der Tag kommen müsse, wo Eugenie einem Andern gehören würde – und doch brannte jetzt der Schnitt in’s Herz, als sei er nie vorhergesehen. Er konnte verzichten, ja, er vermochte sie sich an der Seite, in den Armen eines Andern zu denken – nur nicht in Dieses – nicht in Dieses Armen!

„Wo sehe ich Sie wieder?“ fragte Triefels mit jenem gedämpften Laut, der harte Stimmen rundet, melodische aber vibriren läßt. „Morgen? Könnte es doch bei der Fontaine sein, an der Stelle, wo ich Sie zum ersten Male sah – auftauchend, verschwindend, wie ein Traum der Nacht. Da schien es mir, als grüßte Undine – Thorheit! ich sah dort eben nur Ihre Locken, nicht Ihre Augen. Und doch bleibt Ihnen Verwandtes mit der süßen Wassernixe, die – eine Seele fordert! Undine, ich biete die meine! – Wo sehe ich Sie wieder?“

Eugenie sah auf, ihre Hand zuckte. „Nirgend,“ sagte sie leise.

Triefels blickte sie mit den bezwingenden Augen voll an:

„Soll das mein Urtheil sein?“

„Es ist unmöglich – unmöglich – mein Vater –“

Eine Flamme lohte in seinem Blick auf: „Dank für dies Wort – es ist ein Wort der Hoffnung! Ich weiß, Ihr Vater haßt uns Preußen, ich weiß, Sie lieben Ihren Vater! Eugenie – wollen Sie mich deshalb nicht wiedersehen?“

Des schönen Mädchens Schläfen erglühten in tiefer Röthe. Sie blieb stumm. Gerade die völlige Regungslosigkeit ihrer Haltung ließ den fliegenden Athem, das leise Zittern der gesenkten Wimpern um so sichtbarer erscheinen.

„Wohlan,“ sagte Triefels mit vibrirender Stimme; „dann gilt es nur Eines: wir sehen uns wieder im Hause Ihres Vaters.“

Ihre abwehrende Bewegung unterbrach ihn nicht, mit leise streifender Berührung machte er ihre erhobene Hand sinken. „Wenn ich sein Haus betrete, so kann es nur geschehen mit offenem Visir. Ich verstehe Sie – ja, Sie haben Recht! Dieser edlen Stirn muß die Berechtigung gewahrt bleiben, sich frei emporzuheben. Gehörte ich Ihnen nicht schon ganz, so würde der hohe Zug von Wahrheit allein mich an Sie fesseln. Gestatten Sie mir, morgen mit der Bitte um Ihre Hand vor Ihren Vater zu treten! Er kann weigern, aber nicht verwerfen – dies Recht steht nur Ihnen zu! Was äußerliche Verhältnisse betrifft, bin ich in der glücklichen Lage, allen Anforderungen entsprechen zu können, und Vorurtheile – lassen sich besiegen! Ich fürchte Nichts – als Sie! Eugenie, erscheine ich Ihnen allzu kühn? Zeit und Verhältnisse lassen sich nicht überall nach alltäglichem Maßstabe handhaben – ich fühle ganz, wie seltsam solch’ frühes Werben Ihnen erscheint, daß Sie vor so plötzlicher Entscheidung zurückbeben! Aber Sie sind ja keine der gedankenlosen Puppen, denen Ungewöhnliches unmöglich erscheint. Denken Sie groß! Bleiben Sie vor sich selbst wahr – wahr auch für mich! Spricht Ihr Herz heute nicht, so habe ich überhaupt Nichts zu hoffen! Jetzt oder nie – Eugenie, darf ich Sie morgen wiedersehen?“

Ein Moment tiefsten Schweigens – dann athmete sie: „Ja!“




Der muntere Kreis, welcher heute im Nassauer Hofe getafelt, hatte sich nach Schluß der Réunion, wie verabredet, im zweiten Restaurationszimmer zusammengefunden. Das Geplauder der jungen Männer wirbelte durcheinander wie Schneegestöber; ein wahres Ballspiel von Neckereien flog hinüber und herüber; die geschaute Damenwelt mußte eine gefährliche Revue passiren, und manche Schöne, die vielleicht jetzt ihrem Kopfkissen anvertraute, was ihr heute zugeflüstert worden, ließ sich nicht träumen, in welcher Weise dieselben Worte und ihre Aufnahme hier wiederholt und mit Randbemerkungen versehen wurden.

Die Tafelrunde war vollzählig, auch Eckhardt fehlte nicht, und nahm mehr, als ihm sonst eigen, Theil am Gespräch. Nur Der, dessen Erscheinen mit lebhaftester Spannung erwartet wurde, nur Triefels hatte sich noch nicht eingefunden. Jetzt trat auch er ein. In seinem Auge schwärmte ein seltsamer Glanz. Die elastisch hinschreitende Gestalt schien den edlen Kopf noch freier und stolzer zu tragen, als sonst. Ihm folgte ein Kellner mit gefülltem Champagnerkorbe. Leuchtend überflog der Blick des Ankömmlings den Kreis.

„Schön, Ihr Herren, daß Alle Wort gehalten! auch ich löse das meine, indem ich, wie Sie sehen, meine Wette verloren gebe. Auf’s Wohl Ihrer eigenen Herzensdamen also!“ Er löste den Pfropfen, dessen Knall vor dem Geschwirr allgemeiner Zurufe kaum gehört wurde.

„Wirklich abgefallen?“ – „Ei, während des Balles sah es danach ja gar nicht aus!“ – „Condolire, condolire!“ – „Na, der Kranz hing auch gar zu hoch!“ – „Trösten Sie sich mit Ihrem vom Satan geholten Doppelgänger; der bekam die Donna Anna auch nicht!“ – „Für diese Wallmoden muß einmal ein Feenprinz aus den Wolken fallen!“- „Sie sollte sich Einen vom Zuckerbäcker verfertigen lassen!“ – „Wie ging es denn aber zu? der stolze Schwan schien ja die Körnchen aus der Hand zu picken!“ – „So lassen wir uns nicht abspeisen – Détails, Détails!“

Triefels ging mit Schlagfertigkeit auf jeden Scherz ein, pikante Erwiderungen flogen nach allen Seiten, während er mit überlegener Gewandtheit jede Frage zu pariren verstand. Die Gefährten fanden ihn glänzender als je. Eine so eingestandene und getragene Niederlage hob ihn noch; Keinem fiel es ein, an [550] der Thatsache selbst zu zweifeln. Nur Einer wußte es besser! War auch Eugeniens leise hingehauchtes Ja nicht bis an sein Ohr gedrungen, so hatte er doch die Frage, welche es entschied, um so deutlicher verstanden – der Ausdruck ihrer Züge, ihres ganzen Wesens bis zum Moment ihres Verschwindens bedurfte für ihn keiner Bestätigung mehr. Es war geschehen!

Von dem Entschluß getragen, mit Blut und Leben für die Geliebte einzutreten, im Falle Triefels es wagen sollte, sie wirklich preiszugeben, war Eckhardt hier erschienen. Daß es nicht geschah, legte ihm Schweigen auf, und er hielt aus, bis der hereinbrechende Tagesschimmer die muntere Gesellschaft zum Aufbruche trieb. Während der Kreis sich auflöste, entschlüpfte er und wandte sich dem Parke zu; der bloße Gedanke an die Enge seiner vier Wände erstickte ihn. Endlich allein! aus dem Bereich all der Augen, der Stimmen, Nichts um sich, als den schweigenden Wald, Nichts über sich, als den vom aufglühenden Morgenroth gelichteten Himmel. Das Rauschen des Frühwindes, der grüßend durch die Blätter fuhr, das frische Plätschern des Rambaches zu seinen Füßen wirkte erquickend, und sein dumpfes Wehgefühl formte sich wieder zu Gedanken.

Was nun?! Der Würfel war gefallen, aber noch lag es vielleicht in seiner Hand, denselben nicht weiterrollen zu lassen. Aus Triefels’ Haltung während der letzten Stunden glaubte er zu erkennen, daß Dieser seinem Thun eine Folge zu geben dachte. Aber durfte Eugenie in solcher Weise gewonnen werden? Wer sich in tollem Uebermuthe nach dem glänzenden Etwas bückt, das ihm ein Zufall in den Weg geworfen, und nun sieht, daß es kein Kiesel ist, sondern ein Diamant, wird freilich den Fund behalten! – Nein, tausendmal nein! Solchen Frevel zulassen, hieße selbst zum Frevler werden. Es gab einen Weg! Ein Onkel Rudolph’s stand mit dem Staatsrathe auf vertrautem Fuße, durch ihn war er selbst bei Wallmodens eingeführt worden, und wo ihm das Zartgefühl verbot, eine so verletzende Mittheilung zu machen, konnte der alte Freund des Hauses ohne Scheu sprechen. Dies mußte geschehen, es war ein Gebot der Gerechtigkeit.

Und doch stieg bei diesem Gedanken eine Flamme zu Eckhardt’s Stirn auf; zum ersten Male erröthete er vor sich selbst! Mit unerbittlicher Deutlichkeit rief es in ihm: nicht Gerechtigkeit, nicht Ehrfurcht vor verletzter Frauenwürde treibt Dich vorwärts – es ist ein Anderes – Du willst sie schützen – wovor? Weißt Du denn, was Du ihr damit zerstörst? – fühlst Du denn auch, daß Du sie in Wahrheit lieber leiden, als mit Diesem glücklich sehen willst? –

Er verhüllte seine Augen vor dem Lichte des Tages. Zum ersten Male rang dies aufrichtige Herz mit dem Zwiespalt, der keinem Sterblichen erspart bleibt. An sich selbst irre werden, aus demselben Born, den man bisher als Quell alles Lebens empfunden, plötzlich wilde Strudel aufwirbeln zu sehen, hinabzusteigen aus der lichten Region reinen Willens in die ungeahnten Abgründe einer Selbstsucht, die uns in ihren Folgerungen schaudern macht – welche Qual!

Eckhardt ward ihrer Herr. Sein Denken war zu ernst geschult, um ihm nicht endlich das lichte Bild der Wahrheit siegend zu zeigen. Alle die eben noch so schneidend empfundenen Zweifel formten sich, wie die einzeln fallenden Tropfen zum Stein, zur Säule eines festen, berechtigten Willens. Was er zu thun gesonnen, war kein Irrlicht selbstischer Kleinlichkeit, dessen ward er sich klar bewußt! Eugenie stand ja Alledem gegenüber einsam und ohne Gewalt. Liebte sie wirklich, dann hieß es allerdings für sie, durch ein Stück Nacht zu gehen, aber es konnte sie dennoch dem Lichte entgegenführen. Er stand sogar dem Gedanken, daß sie sein Einschreiten erfahren würde, es verurtheilen könnte. Wohlan, auch Das durfte ihn nicht aufhalten! Es giebt im Leben Manches, wobei sich Gnade für uns nur von Gott und dem eigenen Gewissen erwarten läßt.

Nachdenkend wanderte er unter dem vollhereinbrechenden Tagesstrahl noch eine Stunde zwischen den Bäumen auf und nieder; sein Geist suchte gesammelt die Form für den beschlossenen Schritt. Dann schlug er langsam den Weg zurück nach der Stadt ein. Als die Thurmuhr sieben schlug, zitterte unter seiner Hand die Klingel am Hause des Regierungsrathes Gotter, seines Onkels.




Eugenie.


In einer der Villen, welche von leichtaufsteigender Anhöhe aus den Blick über Stadt und Park beherrschen, saßen zwei Männer in lebhaftem Gespräch, richtiger gesagt, bei eifriger Auseinandersetzung des Einen und gespanntem Zuhören des Andern. Beide Herren gehörten bereits jenem Stadium an, wo das Leben sich abwärts neigt. Dies machte unter ihnen jedoch die einzige Aehnlichkeit aus. Während die beweglichen Gesichtsmuskeln des stark gesticulirenden Sprechers sich jeden Moment veränderten, seine kleine Gestalt mit dem kurzen Oberkörper wie auf Springfedern zu ruhen schien und der Wald schlohweißer Haare sich zu tausend Silberlöckchen ringelte, erschien die hohe, straff aufgerichtete Figur seines Zuhörers völlig unbeweglich. Nur ein starkes Pulsiren der linken Schläfe und ein zunehmendes eigenthümliches Vertiefen der Furche, welche sich von der Stirn zur Nasenwurzel senkte, ließ ihn von einer Bildsäule unterscheiden. Es war ein frappanter Kopf, die von dunkelm, bereits spärlichem Haar nur an den Seiten eingerahmte Stirn steil aufsteigend und trotz der Magerkeit des Gesichts von keiner Querfalte durchzogen, während sich um Schläfen, Wangen und Mund tiefere Linien eingegraben hatten, als sonst einem Fünfziger eigen zu sein pflegen. Namentlich erschien der Mund alt, trotz des kräftig ausgearbeiteten Kinns; nicht eine Spur jener Anmuth, die Freundlichkeit auch noch späteren Jahren verleiht, lag um die schmalen, schwach gefärbten, fest eingezogenen Lippen, welche der sorgfältig rasirte Bart unverhüllt ließ. Aus dem strengen, ja harten Gesicht leuchteten mächtige Augen, die dem steinernen Bilde ein fast unheimliches Leben verliehen, besonders wenn sie, wie jetzt, mehr in sich hinein, als aus sich heraus zu blicken schienen. Er unterbrach die im erregtesten Ton hervorgesprudelten Mittheilungen seines Gegenüber mit keiner Silbe. Erst als dieser innehielt, erhob er sich und schritt mit gemessener, leidenschaftsloser Miene ein- oder zweimal durch das Zimmer, um endlich zu dem kleinen Manne zurückzukehren, dessen rastlose Augen ihn auf Schritt und Tritt verfolgten.

„Dank, alter Freund,“ sagte er mit mehr Wärme, als man diesen Zügen zugetraut haben würde, während er die lange, muskulöse Hand auf die Schulter des Sitzenden legte; „ich weiß genug. Bitte, lassen Sie mich jetzt allein! Möglich, daß man diesen Morgen mit der Zeit haushalten muß. Mein anfänglich gegebenes Wort sei wiederholt, und nun Lebewohl für heute!“

„Aber Wallmoden!“ rief der Andere, „Sie werden mich doch nicht heimschicken, ohne daß ich erfahre, was nun wird! Denn das bitte ich mir aus, das Kind muß aus dem Spiele bleiben, Eugenie darf kein Wort erfahren! Waschen Sie dem gottverlassenen Burschen gründlich den Kopf und schicken Sie ihn in’s Pfefferland! Aber mein Pathenkind soll mir von der sauberen Windbeutelei nicht berührt werden – Hand darauf!“

Der Staatsrath schlug nicht ein. „Das überlassen Sie mir, Gotter!“ – Der Ausdruck, womit der kleine Mann aufsah, war so bestürzt, daß etwas wie ein Lächeln über Wallmoden’s Züge huschte. „Besuchen Sie Eugenie heute Abend! Sie werden sich überzeugen, daß ihr nichts mehr zugemuthet wird, als dem sie gewachsen ist. Keine überflüssigen Worte, bitte sehr,“ unterbrach er den neuen Protest, der eben über die Lippen stürzen wollte, mit leichtem Stirnrunzeln; „es fehlt dazu, wie gesagt, an Zeit. Also –“

„Gehe schon, gehe schon,“ polterte Gotter aufgebracht; „hätte mir’s denken können! Geschieht mir ganz recht, warum bin ich nicht meiner ersten Eingebung gefolgt und habe Ihnen gar nichts gesagt, sondern es lieber dem Kinde selbst glimpflich beigebracht! Ja, davon wollte Keiner etwas wissen, der Junge nicht, und ich selber nicht! Sie sollte aus der ganzen elenden Geschichte fortbleiben; es giebt ja Gründe genug, ihr zu erklären, warum man dem Nichtsnutz heimleuchtet. Und jetzt erfährt sie doch, wie mit ihr umgesprungen worden, und weiß Gott, wie sie es erfährt! Wallmoden, Sie sind wie von Oger, dem bösen Geist, besessen. Sie wissen mit solch einem zarten Herzchen nicht besser umzugehen, als der Mann im Walde, der die kleinen Kinder frißt! Sie werden mir mein Herzblatt so scheu machen, daß sie von nun an allen Leuten aus dem Wege schleicht! Himmel und Erde!“ Er rannte wie ein Wiesel an’s andere Ende des Zimmers, ergriff seinen Hut, fuhr damit in wirbelndem Kreise durch die Luft und schoß endlich mit bösem Blick, pustend und schnaubend gleich einer Locomotive, zur Thür hinaus.


(Fortsetzung folgt.)




[551]
Der Trompeter von Mars-la-Tour.[1]


„Der sechszehnte August brach an. Wir ahnten nicht, welch schwerer Tag dies für uns werden sollte. Es wurde früh alarmirt, und eine halbe Stunde später standen wir schon im Feuer. Der Feind behauptete eine feste Stellung, wir zogen uns zurück, andere Befehle erwartend. Nachdem schon viele Menschen unsererseits geopfert waren, bekam unser Regiment, vereint mit den Sechszehner-Ulanen, den Befehl, das fast Unmögliche zu thun: den Feind durch eine kühne Attaque

Trompeter August Binkebank.
Nach einer Photographie.

aus seiner festen Stellung zu werfen. Und das wurde auch ausgeführt, freilich mit schweren Opfern. Zwei Drittel unseres Regiments waren todt und verwundet. Mit völliger Todesverachtung ritt auch ich dem Feind entgegen, jedoch je weiter ich in den Feind hineinritt, desto weniger wurden meiner Cameraden. Zuletzt waren wir noch unser Sechs. Da machten wir denselben Weg über Hunderte von Leichen wieder zurück. Mein Rappe blutete bereits aus fünf Wunden. Endlich angekommen bei meinem Commandeur, befahl mir dieser, Appell zu blasen. Aber welch kläglicher Ton kam da zum Vorschein! Meine Trompete war von einer Kugel durchbohrt worden, ohne daß ich etwas davon wußte. Sie war mir auf dem Rücken zerschossen. Ich brauch’s nicht zu verschweigen, daß ich in Folge dieses Ritts einer der Ersten in unserem Regiment war, der mit dem eisernen Kreuz geschmückt wurde.“

Hier haben wir die einfache Darstellung der Thatsache von der Hand des Trompeters, August Binkebank in Halberstadt selbst. Wir begehen gegen ihn sogar ein Unrecht mit dieser Mittheilung, denn sie ist nicht etwa von ihm direct an uns zur Veröffentlichung, sondern an einen seiner Anverwandten in einem vertraulichen Briefe gerichtet. Wenn aber der brave Mann bedenkt, daß er durch dieses Ereigniß der Geschichte angehört, so wird er zugeben, daß es besser ist, die Nachwelt erfährt dies von ihm selbst, als durch Hörensagen.

Bekanntlich war die Schlacht bei Vionville mit ihrem großartigen Reitergefecht bei Mars-la-Tour eine der gefahrdrohendsten und deshalb für die Deutschen blutigsten des Krieges. Die Deutschen standen an den für den Tag wichtigsten Stellen einer concentrirteren Uebermacht gegenüber und mußten darum außerordentliche Opfer an tapferer Mannschaft bringen. Namentlich wurde der linke Flügel durch den Feind, der durch Wälder gedeckt und auf Höhen vortheilhaft aufgestellt war, schwer bedroht. Schon hatte in einem Waldgefecht nördlich von Vionville die Division Buddenbrock nur durch große Verluste die feindliche Artillerie verdrängen können; da wurde sie durch eine neue Aufstellung dieser Artillerie auf einem östlichen Plateau in noch größere Gefahr gebracht, und da war es, wo General Bredow den Auftrag erhielt, mit seiner Reiterbrigade durch den kühnen Angriff auf Infanterie und Artillerie der Franzosen der hartbedrängten sechsten Division Luft zu machen. „Das Geschick des Tages hängt vom Erfolge ab!“ So lautete die Weisung.

Sechs Schwadronen stark, drei vom Kürassierregiment Nr. 7 und drei vom Ulanenregiment Nr. 16, jene geführt vom Oberstlieutenant Grafen v. Schmettow, diese vom Oberstlieutenant v. d. Dollen, sprengte die Brigade gegen den Feind. Vom heftigsten Feuer empfangen, durchbrachen dennoch die Ulanen den rechten Flügel des sechsten französischen Corps, Infanterie, und die Kürassiere drangen in die Batterie ein und hieben deren Bedienung nieder. So gelangten sie auf das zweite Treffen des Feindes. Aber die französische Cavalleriedivision de Forton wirft sich auf ihre Flanke, das erste Infanterietreffen schließt sich hinter ihnen wieder zusammen, und nur mit den größten Verlusten eröffnen sie sich den Rückzug.

Als das gerettete Häuflein im Sichern war, zählte Schmettow von den dreihundertzehn Mann, die er in’s Gefecht geführt, nur noch hundertvier. Von den Ulanen Dollen’s, der selbst mit dem Roß gestürzt und gefangen war, standen neunzig Mann da! Von elf Trompetern war nur Einer vorhanden – alle anderen waren gefallen, verwundet oder irrten ohne Rosse umher –, und selbst diesem Einen war die Trompete zerschossen. Von Bredow’s sechs Schwadronen kehrten drei schwache Züge zurück, aber die Helden der zwölften Cavalleriebrigade hatten „ihre Schuldigkeit“ gethan.

Schließen wir diese Erinnerung an einen großen Augenblick der größten deutschen Zeit mit Ferdinand Freiligrath’s unsterblichem Trompeter-Liede:

Sie haben Tod und Verderben gespie’n:
Wir haben es nicht gelitten.
Zwei Colonnen Fußvolk, zwei Batterie’n,
Wir haben sie niedergeritten.

Die Säbel geschwungen, die Zäume verhängt,
Tief die Lanzen und hoch die Fahnen,
So haben wir sie zusammengesprengt, –
Kürassiere wir und Ulanen.

Doch ein Blutritt war es, ein Todesritt;
Wohl wichen sie unsern Hieben,
Doch von zwei Regimentern, was ritt und was stritt,
Unser zweiter Mann ist geblieben.

[552]

Die Brust durchschossen, die Stirn zerklafft,
So lagen sie bleich auf dem Rasen,
In der Kraft, in der Jugend dahingerafft, –
Nun, Trompeter, zum Sammeln geblasen!

Und er nahm die Trompet’, und er hauchte hinein;
Da, – die muthig mit schmetterndem Grimme
Uns geführt in den herrlichen Kampf hinein, –
Der Trompete versagte die Stimme!

Nur ein klanglos Wimmern, ein Schrei voll Schmerz,
Entquoll dem metallenen Munde;
Eine Kugel hatte durchlöchert ihr Erz, –
Um die Todten klagte die wunde!

Um die Tapfern die Treuen, die Wacht am Rhein,
Um die Brüder, die heut gefallen, –
Um sie alle, es ging uns durch Mark und Bein,
Erhub sie gebrochenes Lallen.

Und nun kam die Nacht, und wir ritten hindann;
Rundum die Wachtfeuer lohten;
Die Rosse schnoben, der Regen rann –
Und wir dachten der Todten, der Todten!




Die Einsiedeleien des Harzes.


Von Gustav Heyse.


Es liegt ein wunderbarer Reiz, eine geheimnißvolle Macht in der Einzelheit der Dinge. Ein Berg, der sich einzeln aus der Ebene erhebt, ein einsam stehender hoher Baum, ein mächtiger erratischer Block auf flacher Haide, sie ziehen den Blick unwiderstehlich an, sie werden das Ziel unserer Wanderungen, der Gegenstand unserer Lieder und Sagen. Und nun gar ein einzelnes Haus! Nicht zu den kleinsten Reizen des Harzes gehören daher die zahlreichen einzelnen Häuser und Häusergruppen, die über seine Berge und Thäler verstreut sind. Nicht weltscheuen Einsiedlern oder poetischen Naturschwärmern dienen sie zum Aufenthalt; nein, der Erwerb, das Bedürfniß hat sie hervorgerufen, und derbe, durch Noth und Sorge, durch Wind und Wetter gehärtete Naturmenschen bewohnen sie. Wo irgend ein Bach seine Felsenwiege verlassen und seine ersten lustigen Sprünge in die Welt hinein versucht hat, da lauert ihm im Thale auch schon der Mensch mit Zaum und Zügel auf, um ihn in seinen Dienst zu zwingen; da gilt es Korn zu mahlen und Erz zu pochen, Holz und Steine zu sägen, Lumpen zu stampfen, Hämmer zu schwingen und Bälge zu treten. Daher die zahllosen Mühlen und Hüttenwerke, die den Lauf der Thäler bezeichnen. Bald liegen diese Mühlen auf Büchsenschußweite aneinander gereiht, bald aber auch in tiefster Abgeschiedenheit und zum Theil mit entzückender Umgebung. Von Hunderten nenne ich hier nur die jetzt in Verfall gerathene Fuhrbachs- oder Steinmühle bei Rothesütte, die Tiefenbacher Sägemühle bei Stiege, die Mönchsmühle bei Michaelstein, die Untermühle zwischen[WS 1] Neuhaus und Hilkenschwende, die Marmormühle bei Rübeland und die Mühlen und Eisenhämmer in den Thälern der Selke und Ilse.

Aber auch Wald und Wild haben zur Entstehung vieler Häuser Veranlassung gegeben. Die Köhler und Holzhauer freilich wohnen in den Dörfern und führen nur auf Monate ihr Waldleben, wo ihnen das primitivste aller Häuser, eine Köthe, als Obdach dient. Für die Beamten aber, denen die Beaufsichtigung und Bewirthschaftung der Forsten obliegt, waren hier und da solidere und bequemere Wohnungen nöthig, von denen manche zugleich als Jagdschlösser für die fürstliche oder gräfliche Herrschaft eingerichtet wurden und die noch häufiger mit Gastwirthschaft verbunden sind. Auch trifft man nicht selten mitten im Walde auf ein einzelnes verschlossenes Haus oder Häuschen, das nur zur Zeit der Jagd, zur Lohnung der Waldarbeiter oder bei andern Gelegenheiten von den Förstern benutzt wird, oder auf einen mit Raufe versehenen offenen Schuppen zur Fütterung des Wildes. Zu jenen bewohnten Forsthäusern, die zugleich Gastwirthschaft einschließen, und in deren manchem das Schlüsselbund der Frau Försterin für den Etat des Hauses ungleich schwerer wiegt, als die Büchsflinte ihres Gemahls, gehören unter Andern im anhaltischen Harz Sternhaus, Victorshöhe und Meiseberg, im Wernigerodischen die Plessenburg, im Stolbergschen der überaus liebliche Eichenforst, sowie westlich vom Brocken Oderbrück, Torfhaus, der Ahrensberg und der Auerhahn an der Straße von Zellerfeld nach Goslar. Seltener von Reisenden besucht, aber doch auch auf Gäste eingerichtet, sind zum Beispiel Wilhelmshof im Anhaltischen, Todtenrode bei Altenbrak, das Forsthaus bei Benzingerode und Christianenhaus in der Grafschaft Hohnstein. Manchmal sind neben der Försterei noch andere Häuser aufgewachsen, eine Meierei, eine Schenke oder Holzhauerwohnungen, und so entstanden Häusergruppen wie Hufhaus, Sophienhof und Rothesütte im Wernigerodischen Antheil der Grafschaft Hohnstein, Bärenrode bei Güntersberge, das braunschweigische Wendefurt u. A.

Der Bergbau ferner, wie er über reicheren und mächtigeren Erzgängen ganze Bergstädte hervorrief, trug auch nicht wenig dazu bei, den Harz durch einzelne Häuser und Häusergruppen zu beleben. Wo ein Schacht abgesunken ist und eine Wasserkunst stöhnt, da läßt auch ein Zechenhaus nicht lange auf sich warten. Hat die Grube aber größere Bedeutung und Ausdauer und liegt sie von Stadt und Dorf weit ab, so steigen neben dem Zechenhause und den zum Bergbau gehörigen Scheide- und Pochhäusern, Bergschmieden etc. wohl auch noch Wohnungen für die Beamten und einzelne Bergleute auf. Daher die Häusergruppen zu Bockswiese auf dem Oberharz, auf dem Büchenberge im Wernigerodischen, bei den Ilfelder Braunsteingruben und bei dem jetzt eingegangenen Antimonschacht bei Wolfsberg.

Noch zahlreicher sind die einzelnen Gebäude, welche der Landwirthschaft und Viehzucht dienen. Von Gütern und Vorwerken, Meiereien und Molkenhäusern, Viehhöfen und Rinderställen, die der Harz aufweist, könnte ich eine stattliche Reihe nennen.

Denkt man nun endlich an die einzelnen Zoll- oder Wegehäuser, die hier und da an den Kunststraßen errichtet sind, und an die noch weit größere Zahl von Gasthäusern und Restaurationen, die sich, fast über das Bedürfniß der Reisenden hinaus und nicht überall zur Verschönerung der Landschaft, auf allen besuchteren Höhenpunkten und in vielen Burgruinen angenistet haben, so könnte man vermuthen, daß vom Harzwalde selbst nicht viel übrig geblieben sei, daß alle diese Einzelwohnungen mit den Städten und Dörfern des Harzes zu einer großen Stadt zusammengerückt sein müßten. Aber wer jemals geholfen hat, einen Weihnachtsbaum auszuschmücken, der weiß wohl, wie manches Schock Aepfel und Nüsse sich in den Zweigen verliert, und wenn er dann von der Höhe des Brockens, der Victorshöhe oder Josephshöhe den Harz überschaut, darf er sich auch nicht wundern, nur hier und da ein rothes oder graues Dach aus der grünen Wildniß hervorschimmern zu sehen. Denn in der That, der Harzwald ist groß genug, um jedes dieser tausend Häuser mit einem breiten Gürtel von Einsamkeit zu umgeben.

Um das einsame Leben in diesen Waldhäusern kennen zu lernen, darf man freilich nicht an schönen Sommertagen eines jener beliebtesten Gasthäuser aufsuchen. Am Kaffeetisch vor dem Sternhause zum Beispiel könnte man sich leicht in den Thiergarten bei Berlin versetzt glauben; und auch da, wo Berg und Fels diese Illusion verhindern, wie auf dem Burgberge bei Harzburg oder vor den Gasthäusern in der Umgebung der Roßtrappe, lassen doch die vorüberziehenden Schwärme der Reisenden das Gefühl der Abgeschiedenheit nicht aufkommen. Aber verlassen wir einmal die Touristenstraße und schlagen uns seitwärts durch den Wald, nach einem jener abgelegenen Häuser, wie Wiedfeld, Schluft, Christianenhaus. Glück genug, wenn wir überhaupt Jemand zu Hause finden, etwa die Großmutter am Spinnrade und den von ihr bewachten Säugling in der Wiege; denn Alles, was kräftige Arme und Beine hat, ist noch draußen auf der Wiese, im Wald oder in den Ställen beschäftigt. Können wir uns mit der alten, harthörigen Frau nur schwer verständigen und sehen uns einstweilen nach Lectüre um, so haben wir die Auswahl zwischen Bibel, Gesangbuch und dem Harzkalender. Eine Zeitung verirrt sich nicht hierher.

[553] Als ich im Sommer 1848 auf dem Hufhause einsprach, gerieth ich mit dem fünfundachtzigjährigen Patriarchen der Familie, die schon seit langer Zeit diese paar Häuser bewohnt, in ein lebhaftes politisches Gespräch; er hatte gehört, daß sich der Franzose wieder geregt habe, und wollte Näheres wissen. Kaum hatte ich dabei Louis Napoleon’s erwähnt, so meinte er mit schlauem Lächeln: „Ja, ja, das hab’ ich wohl gewußt, daß sie den nicht unterkriegen werden.“ Für ihn lebte immer noch der erste Napoleon, und von einem zweiten und dritten wollte er nichts wissen. – Aber wenn auch von dem Wogenschlage der politischen Welt nur selten ein Tropfen auf diese Höhen spritzt und selbst die wichtigsten Ereignisse den Frieden des Waldes nicht leicht stören, so reicht doch ein stiller Kreis von Arbeit vollkommen hin, den menschlichen Geist auch hier zur Entwickelung zu bringen. Davon hat mich sechszehn Jahre später in demselben Hufhause ein Gespräch mit einer Schwiegertochter jenes Alten überzeugt, einer auch schon hochbetagten Frau, die selten von ihren Bergen heruntergestiegen war, aber über Menschen und Dinge ein so sicheres, klares Urtheil hatte, daß manche Salondame sie darum hätte beneiden können.

Was von vielen dieser Waldhäuser härter empfunden wird, als ihre Abgeschiedenheit vom Weltgewühl, ist ihre Entfernung von Kirche und Schule. Hufhaus, Sophienhof und Rothesütte waren ursprünglich Försterwohnungen im Hohnstein’schen Forst, der bei der Erbtheilung zwischen den Stolber’gschen Grafenhäusern an Wernigerode gefallen war. Allmählich wurden ihnen noch Viehhöfe, Schenken und einige Häuser für die allernöthigsten Holzarbeiten zugesellt; doch bestimmte noch ein Vertrag von 1709 „für ewige Zelten“, daß sie nie zu einem Dorfe erweitert werden sollten. Aber die Seelenzahl wuchs immer mehr, und da Ilfeld, wohin diese Häuser eingepfarrt waren, weitab liegt, so sah sich der Graf von Wernigerode schon 1734 genöthigt, für die Bedürfnisse der drei Forstörter in Rothesütte eine Kirche zu erbauen und einen eigenen Prediger und Schullehrer anzustellen. Für Hufhaus freilich war damit wenig gewonnen; es liegt drei Stunden von Rothesütte entfernt, und nur zwei Mal des Jahres kommt der Prediger herüber, um in einem Zimmer der Försterwohnung das Abendmahl auszutheilen.

Noch drückender für manche dieser einsamen Wohnstätten ist ihre Entfernung von der Schule. Wie wenige ihrer Bewohner vermögen einen Hauslehrer zu halten, oder ihre Kinder auswärts in kostspielige Pension zu geben! So müssen denn die Kleinen in Sommer und Winter, durch Schnee und Regen, vielleicht eine Stunde weit zur Schule wandern. Allerdings gewinnen sie dadurch an Selbständigkeit, und überhaupt steht so ein echtes Harzkind ungleich früher und sicherer auf seinen Füßen, als ein Kind der Ebene. Mit Vergnügen erinnere ich mich noch des kleinen Geschwisterpaars, das ich im Jahre 1855 auf dem langen, einsamen Waldwege von Wildemann nach Bockswiese einholte. Das achtjährige Mädchen trug eine schwere Kiepe mit Lebensmitteln für den Vater, der als Bergmann auf Bockswiese arbeitete; ihr sechsjähriger Bruder aber, einen mächtigen Wanderstab in der Hand und ein großes Schlägel und Eisen vor der Mütze, schritt als Beschützer nebenher wie ein erwachsener Bergmann und als ob ihm gar nichts passiren könne. Und doch strich weiterhin ein gar verdächtiger, zerlumpter Geselle an uns vorüber. Auf der entgegengesetzten Seite des Harzes, auf dem Wege von Breitungen nach Dietersdorf, begegnete mir im Jahre 1846 einmal ein andrer, etwa achtjähriger Junge, ebenfalls in einsamster Gegend. Auf mein Befragen, woher er komme, erzählte er mir treuherzig, daß er von einem Kunden seines Vaters, eines armen Flickschneiders, einen Gulden „gelangt“ habe. Eine Warnung, die mir unwillkürlich auf die Lippen trat, verschluckte ich wieder; denn in der That wäre es ein schlechter Handel gewesen, hätte ich dem arglosen Jungen um den Preis seiner kindlichen Weltanschauung eine armselige Klugheitsregel geboten. Wie sorglos der Harzer seine Kinder aufwachsen läßt, dafür könnte ich noch viele Belege geben. In dem einsamen Thale der Krummschlacht sah ich im Jahre 1867 vor mir auf dem Wiesenpfade ein Bündel Kleider liegen. Als ich näher kam, guckten unter den Lumpen ein Paar Aermchen und Beinchen hervor. Es waren ein Paar Kinder von vier bis sechs Jahren, die hier, zu einem Knäuel verschlungen, sich quer über den Weg dem Schlafe überlassen hatten. Aber der Himmel schien sie besser zu hüten, als sie selbst die paar Gänse, die in der Nähe weideten. Ich machte mir den billigen Spaß, in ihre ausgestreckten Händchen einige Kupferdreier zu legen, und denke es zu verantworten, wenn sie dadurch beim Erwachen zu dem Glauben an Wunder verführt worden sind. –

Ein wehmüthiges Gefühl ergreift den Wanderer, wenn er eine Gegend, die er früher durch ein freundliches Haus belebt kannte, nun verödet wiedersieht. Nach dem Bauersberger Zechenhause, wo ich im Jahre 1825 meinen ersten schüchternen Versuch im Kegelschieben machte, sah ich mich im Jahre 1858 vergebens um. Selbst der an ihm vorüberführende Fußsteig von Clausthal nach Grund schien wenig mehr betreten, seitdem mitten durch den Berg der Schulte-Stollen nicht nur das Wasser der Innerste zur Grube Hülfe-Gottes, sondern auch den Fußgänger bequemer nach Grund führt. Von einer verschwundenen Meierei im anhaltischen Harze, Dammersfeld, habe ich an einem andern Orte erzählt; hier möge noch einer braunschweigischen gedacht werden, die mich einst gastfreundlich aufgenommen hat.

Es war im September 1827, als ich auf einer Wanderung von Nordhausen nach Magdeburg den Harz durchstreifte. Ich hatte in Tanne übernachtet und brach nach Rübeland auf, um einen Freund zu überraschen. Der Weg war einsam und ermüdend. Nachdem ich einen tüchtigen Berg erstiegen, schlängelte sich der schmale Fußpfad, indem er sich oft verzweigte und mich um die Wahl verlegen machte, zwischen Dorngesträuch und Haselstauden über eine weite Ebene hin. Kein menschliches Wesen war weit und breit zu erspähen; nur hier und dort flatterte krächzend ein Rabe auf, oder ein Hase sprang durch’s Gebüsch, oder es summte ein bläulich-schwarzer Käfer an mir vorüber.

Endlich winkte mir ein rothes Ziegeldach. Ich war achtzehn Jahre alt und ein paar Stunden marschirt, – was konnt’ es anders sein, als ein Wirthshaus? Als ich in das große Gastzimmer trat, war es zu meiner Verwunderung leer; doch erschien gleich darauf ein junges, schlankes Mädchen mit ernsten, aber schönen Zügen und brachte mir auf mein Verlangen Milch und Butterbrod zum Frühstück. Die eigentliche Schänkstube mochte wohl nebenan sein, denn dort ging’s lebhaft genug zu. Vermuthlich Fuhrleute, dachte ich, die über den Weg streiten; nur fiel mir das Tactmäßige in ihrem Schreien auf, und daß Einer von ihnen, ein echter Haberecht, immer das letzte Wort behielt. Ich ließ sie streiten, setzte mich, behaglich frühstückend, an’s Fenster und knüpfte mit meiner jungen Wirthin ein Gespräch an. Als dann aber die Brille, deren Gläser Hunger und Durst waren, mir allmählich von der Nase glitt, sah ich zu meinem Erstaunen, daß ich mich nicht in einer Gaststube oder einem Tanzsaale, sondern in einem schönen großen Ahnensaale befand, dessen Wände mit zahlreichen Portraits bedeckt waren; ich hörte deutlich, daß nebenan nicht Fuhrleute, sondern der Informator mit seinen Zöglingen lärmte, – kurz, ich merkte jetzt, daß das ein stolzes Amthaus sei, was mir durch die verwünschte Brille wie ein Wirthshaus erschienen war. Aber jugendliche Unbefangenheit, die mich in das Haus geführt, half mir auch ohne große Beschämung wieder heraus. Gegen meinen Dank für genossene Gastfreundschaft tauschte ich die freundlichsten Wünsche für ferneres Wanderglück ein und nahm aus dem prächtigen Saale, wenn ich auch die steifen Allongeperrücken in ihren breiten Goldrahmen weislich hängen ließ, doch ein liebes Erinnerungsbild an das Gut „Lange“ mit fort.

Einunddreißig Jahre waren seitdem verflossen, und es war wieder ein heiterer Septembertag, als ich von Rübeland nach Hasselfelde wanderte. Der schöne schattige Fußweg, der kaum eine Viertelstunde von Rübeland rechts von der Straße ablief, mußte wohl nach Lange führen; und richtig! da stand ja noch der alte Wegweiser unter Bäumen versteckt. Aber er ließ seine Arme traurig herabhängen, und der Name „Lange“ war auf dem verwitterten Holze kaum mehr zu lesen. Trotz dieser warnenden Anzeichen trieb mich die Erinnerung vorwärts. Auf ein Stündchen Umweg kam es mir nicht an, um das gastfreundliche Haus einmal wiederzusehen. Ich wußte ja, wenn ich den schönen Fußweg eine halbe Stunde verfolgte und dann rechts um eine Waldecke bog, mußten die Gutsgebäude in einer Lichtung vor mir liegen. Ja freilich, die Waldecke kam und auch die Lichtung, – aber wo war das Gut geblieben? Dort stand doch noch sein alter Nachbar, der majestätische Ahorn, und schaute wie sonst nach der Susenburg und der Elbingeroder Ebene hinüber, – sollt’ ich mich denn in [554] der Gegend geirrt haben? – Zum Glück weidete kaum hundert Schritte von mir der Hasselfelder Kuhhirt seine Heerde, und so fragte ich hinüber: „Wo liegt denn Lange?“ „Da stehn Sie drauf, Herr!“ rief er zurück. Und wirklich entdeckte ich jetzt zu meinen Füßen noch Spuren des gepflasterten Hofes und einige Schritte weiter einiges Mauerwerk vom ehemaligen Backofen. Aber wo waren die großen Wirthschaftsgebäude geblieben? Wo der Ahnensaal mit seinen Allongeperrücken, der Informator mit seinen Zöglingen, und die junge, anmuthige Wirthschafterin? – Der alte, stattliche Fuchs, den ich bald darauf an der Bode entlang zur Trogfurter Brücke schleichen sah, mochte noch genau wissen, wann er sich vom Hofe zu Lange das letzte Hühnchen geholt; – der Hirt aber meinte, so ein halb Mandel Jahre könne es schon her sein, daß man die Gebäude hier abgebrochen habe.




Aus der Glanzzeit Pius des Neunten.
Von einem braunschweigischen Officier.
(Schluß.)


Der Papst schwieg einen Augenblick, indem er mich voll Wohlwollen anblickte. Ich glaube, es ist unmöglich, herzgewinnender zu lächeln, als er that. Bei diesem Lächeln schwand rasch alle meine Befangenheit; ich hatte das Gefühl eines unendlichen Wohlbehagens, als ich in das milde Antlitz sah und den Blick der klugen und doch so gütigen Augen auf mir ruhen fühlte. Und diese Empfindung steigerte sich noch, als Pius mit ruhigem und sanftem Tone zu mir sagte:

„Sie kommen aus Deutschland, und werden vermuthlich bald dahin zurückkehren. Ich wollte Sie nicht gern wieder abreisen lassen, ohne Ihren Wunsch erfüllt zu haben, von mir empfangen zu werden.“

Weg waren alle meine schönen Redensarten! Aber sie waren auch gar nicht nöthig. Dieser einfachen Humanität gegenüber durfte ich wirklich ohne Bedenken der Eingebung des Augenblicks folgen.

„Ich erkenne die Gnade Ew. Heiligkeit mit tiefstem Danke an, denn ich will gestehen, es würde mich tief geschmerzt haben, in die Heimath zurückzukehren, ohne persönlich den Segen des Mannes erhalten zu haben, auf den ganz Deutschland mit Ehrfurcht und voll großer Erwartung blickt.“

Dies war keine Redensart, sondern die reine Wahrheit. Mir kam es vor, als hätte ich ein Mandat von ganz Deutschland in der Tasche, Sr. Heiligkeit dies zu sagen, und eben deshalb brachte ich es auch über Erwarten fließend heraus.

„Sie werden in Deutschland Vieles verändert finden,“ fuhr Pius fort. „Die deutsche Frage ist jetzt die erste und wichtigste, welche der Lösung bedarf. Denn davon, welche Gestalt die Dinge in Deutschland annehmen, hängt das Geschick der Welt ab. Eine völlige Umgestaltung muß jetzt dort eintreten. Das bisherige Verhältniß von Oesterreich und Preußen wird sich binnen Kurzem durchaus umwandeln, und dann wird sich auch Italiens Schicksal entscheiden. Oesterreich war Italiens größter Widersacher – es ist dahin; bald wird sich zeigen, ob das übrige Deutschland Italien in seinen Bestrebungen unterstützen kann und wird.“

„An den Sympathien des deutschen Volkes für Italien wird es nicht fehlen,“ erwiderte ich; „und wenn Deutschland das Ziel erreicht, einig zu werden, so wird es voll Dankbarkeit Ew. Heiligkeit vor Allen zu Denjenigen zählen, welche dieser Idee zum Siege verholfen haben.“

„Ich bin Werkzeug in Gottes Hand,“ sagte Pius. „Die Geschichtsschreiber werden einst richten, was ich gethan habe; aber Gott wird richten, was ich gewollt habe: das Beste meines Volkes und aller Völker. Ich liebe die Deutschen. Im Mittelalter zogen sie mit den Waffen in der Hand nach Italien; ihre Kaiser ließen sich von meinen Vorgängern krönen, und zum Danke dafür verwüsteten sie oft das schöne Land. Jetzt kommen die Deutschen nicht mehr als Feinde, sondern um unsere Monumente, unsere Kunst, die Schönheit unserer Gegenden zu bewundern. Sie bringen uns dafür ihre Bildung und Wissenschaft, ja Viele bleiben hier, um nicht wieder nach dem Norden zurückzukehren. Ich weiß wohl, daß die Deutschen in weit höherem Grade Italien und sein Volk lieben, als die Italiener es ihnen zurückgeben.“

Während Pius so sprach, hatte ich Muße, ihn genauer zu betrachten. Er war von mittlerer Größe, eher etwas zur Fülle geneigt als mager. Der feine Schnitt seines edlen Gesichtes ist Jedem aus Tausenden von Abbildungen bekannt. Er hatte nichts von dem blassen, oft olivenartigen Teint der schwarzen Italiener. Ueber die glatten und weichen Wangen war vielmehr eine Frische, ich möchte sagen, anmuthige Röthe ergossen, wie man sie sonst nur bei Nordländern zu finden pflegt. Noch hatten die Sorgen und die Last des hohen Amtes von Pius’ Antlitz nicht die Rosen und den so äußerst wohlwollenden Ausdruck verscheucht. Unter dem kleinen rothen Sammtkäppchen hervor drängten sich einige braune Locken, in denen man keine Spur von Grau entdeckte, obgleich Pius damals sechsundfünfzig Jahre alt war. Er trug einen Ueberwurf von schwerer weißer Seide und darunter einen faltigen bis auf die Füße herabreichenden Rock mit weiten Aermeln, gleichfalls von weißer Seide; die Füße steckten in weißseidenen Strümpfen und Pantoffeln. Seine kleinen, aber gleichfalls etwas rundlichen weißen Hände ließ er beim Sprechen ruhig auf der Lehne des Sessels liegen, während sonst die Italiener lebhaft damit zu gesticuliren pflegen. Die Lippen waren anmuthig geschnitten, aber nicht so schmal, wie sonst häufig bei den Italienern. Um den Mund lag eine bezaubernde Herzensgüte und Freundlichkeit. Das kleine Unterkinn paßte vortrefflich zu dem Ganzen. Von welcher Farbe die Augen waren, vermochte ich nicht zu erkennen; aber sie glänzten so von Güte, Ernst und Klugheit, daß man sie stundenlang mit Entzücken hätte betrachten können. Ich glaubte vor mir das Ideal des Seelenhirten zu sehen, zu dem Christus gesprochen: „Simon Johanna, weide meine Schafe!“ Aber auch das hätte ich mir, wäre ich unbefangen gewesen, in jenem Augenblicke sagen können: dies ist nicht der Mann, der Italien zur Einheit und zur Freiheit zu führen vermag. Daß überhaupt ein Nachfolger Petri ein solches Werk nicht unternehmen konnte, ohne in den schneidendsten Widerspruch mit dem Princip der katholischen Kirche und sich selbst zu gerathen und hieran entweder als Papst oder als Fürst zu scheitern, das begriff ich zu jener Zeit ebensowenig wie das italienische Volk, so einfach es war.

„Und doch,“ fuhr Pius fort, „wird es schwer sein, zwischen der deutschen und der italienischen Nation, die berufen sind, durch feste Freundschaft miteinander verbunden zu sein, den Frieden zu erhalten.“

Hier glaubte ich nun in aller Unterthänigkeit eine Gegenvorstellung machen zu dürfen. „Das deutsche Volk,“ erwiderte ich bescheiden, aber nicht ohne einen Anflug von Festigkeit, „hält für seinen Erbfeind die Franzosen und blickt mit großen Befürchtungen gen Osten nach Rußland; aber einen Krieg mit Italien wird kein Deutscher je wünschen oder befürchten.“

„Der Krieg ist bereits eine vollendete Thatsache!“ begann Pius wieder. „Morgen wird ganz Rom wissen, daß König Karl Albert von Sardinien in die Lombardei eingerückt ist, fest entschlossen, die Oesterreicher bis auf den letzten Mann aus Italien zu vertreiben.“

Das also war es, was heute Abend den Quirinal so in Bewegung gesetzt hatte! Ja noch mehr: am folgenden Tage erfuhr ich, daß Pius, während ich in der Galerie wartend auf- und abwandelte, den Befehl gegeben, das päpstliche Heer sollte zu Karl Albert stoßen, um gemeinsam mit ihm gegen Oesterreich zu kämpfen. Dies geschah dann auch, und die beiden päpstlichen Schweizer-Regimenter schlugen sich am 10. Juni, dem blutigen Tage von Vicenza, unter dem tapfern General Durando zwar unglücklich, aber mit großem Muthe, während die italienischen Truppen großentheils das Weite suchten.

„Ich unterscheide,“ ergriff Pius wieder das Wort, „streng zwischen der österreichischen Regierung und dem deutschen Volke. Aber seit dreißig Jahren hat das deutsche Volk stets gethan, was die österreichische Regierung wollte. Das wird jetzt anders werden. Ich wiederhole, von der Haltung des deutschen Volkes, namentlich Preußens, wird es abhängen, ob wir aus dem entbrannten [555] Kampfe als Sieger oder als Besiegte hervorgehen; in Deutschland wird sich Italiens Schicksal entscheiden.“

Wie wörtlich ist dies, freilich nicht damals, aber im Laufe der Zeit, in Erfüllung gegangen! Nicht Frankreichs Siege bei Magenta und Solferino, sondern Preußens Auftreten verschaffte im Jahre 1859 den Italienern die Lombardei, Sadowa im Jahre 1866 das venetianische Königreich, die Siege über Frankreich im Jahre 1870 die Stadt Rom. Und freilich, wer hätte zu jener Zeit ahnen können, daß derselbe Mann, der jetzt Rom zur Hauptstadt Italiens zu erheben trachtete, zweiundzwanzig Jahre später Diejenigen verfluchen und mit Bann und Interdict belegen würde, die es dann wirklich thaten! Das Ziel ist erreicht worden, dem Pius damals mit Aufopferung aller Kräfte nachstrebte – Italien ist einig – und nun, wie steht er dazu! –

„Die französische Republik,“ fuhr Pius fort, „wird die Freundin Italiens sein. Sie billigt und begünstigt unsere Bestrebungen. Aber sie will den Frieden und wird Italien seinen eigenen Weg gehen lassen.“

Wohl hütete sich Frankreich damals, für Italien gegen Oesterreich aufzutreten. Das „den eigenen Weg gehen lassen“ aber bestand dann, daß schon am 30. Juni 1849 die Rothhosen das damals noch tüchtige Rothhemd Garibaldi aus der Republik Rom vertrieben, sich dann selbst für mehr als zwanzig Jahre in der Siebenhügelstadt festsetzten und fortan Italien nach ihrer Pfeife tanzen ließen.

Ein Prophet war Pius der Neunte somit in diesem Punkte entschieden nicht. Indeß wer hätte damals anders prophezeien können? – Er sprach dann noch eine Zeitlang in ruhiger, klarer und eleganter Rede über das Verhältniß, welches die Republik Frankreich den übrigen Staaten Europas, namentlich Deutschland gegenüber, einnehmen würde, und betonte dabei den im französischen Volke tiefer als in irgend einem andern wohnenden monarchischen Sinn, ohne jedoch die so naheliegende Schlußfolgerung ausdrücklich zu ziehen.

Nun aber sollte mir noch eine unerwartete Ueberraschung zu Theil werden.

„Was sind Sie?“ fragte er nach einer kleinen Pause.

„Officier in Diensten Seiner Hoheit des Herzogs von Braunschweig.“

„Von Braunschweig – in Deutschland?“

„Zu dienen, Ew. Heiligkeit.“

„Dann sind Sie also ein Hannoveraner?“

Da standen die Ochsen am Berge! – Mir war in meiner Kindheit stets gesagt worden, der Papst sei unfehlbar. Dieser Papst, vor dem ich stand, übte einen solchen Zauber auf mich aus, daß ich in jenem Augenblicke fast an seine Unfehlbarkeit zu glauben fähig gewesen wäre, obgleich sie erst zweiundzwanzig Jahre später zum Dogma erhoben wurde. Nun war ich mir freilich bewußt, im Lande Braunschweig geboren zu sein; auch stand in den Briefen, die ich erst gestern aus der Heimath erhalten, kein Wort davon, daß mein Landesherr zu seinen Vätern versammelt worden und der König Ernst August in der alten Welfenstadt das Regiment führe. Ich begann irre an mir selbst zu werden. Klar war mir aber: selbst wenn ich einen Zweifel an Dem hegte, was der heilige Vater eben so apodiktisch behauptete, es wäre völlig unangemessen gewesen, ihm Worte zu leihen oder gar mich zu unterfangen, dem Statthalter Christi eine Belehrung in Betreff der deutschen Geographie zu ertheilen. Aber antworten mußte ich auf die Frage; glücklicherweise besitzt die Sprache des Macchiavelli ein kleines Wort, „altero“, zu Deutsch „etwas Anderes“, welches, gleich dem Kopfe des Janus, nach zwei entgegengesetzten Seiten blickt. Es drückt zuvörderst einen directen und entschiedenen Widerspruch gegen die Meinung des Andern aus und gleicht in diesem Sinne auf’s Haar dem Berliner „I, wo!“ Nicht weniger aber steht es dem Italiener frei, sich mit demselben „altero“ von der Meinung des Andern zu entfernen, indem man ihn in seiner eigenen Richtung überflügelt und hinter sich zurückläßt. In diesem Falle sagt der Berliner: „Na, ob!“

Ich hatte nun freilich ein ganz richtiges Gefühl, daß hier im Quirinal das Wort „altero“ etwa ebenso angebracht sein möchte, als wenn ich im Weißen Saale zu Berlin einem gekrönten Haupte mit „I, wo!“ oder „Na, ob!“ unter die Augen ginge. Indeß ich sah keinen Ausweg. Ich verbarg also meine Verwirrung hinter einer tiefen Verbeugung und sprach im bescheidensten Tone das vieldeutige Wort „altero“ mit der Ueberzeugung, Pius würde unfehlbar den richtigen Sinn errathen.

Wahrscheinlich lächelte er darob. Dann aber richtete er wieder huldvoll das Wort an mich:

„Sie sind Officier?“

„Zu Befehl, Ew. Heiligkeit.“

„Der Infanterie oder der Cavallerie?“

„Der Cavallerie.“

„Das freut mich. Auch ich bin Officier in der Cavallerie gewesen; aber ich habe nur wenige Jahre die Waffen getragen; meine Gesundheit ertrug die Anstrengungen des Dienstes nicht. Auf den Wunsch des Papstes Gregor vertauschte ich den Degen mit dem Brevier. Damals bedauerte ich dies sehr; aber jetzt bin ich völlig zufrieden damit, denn Sie sehen“ (und hierbei lächelte er mit einer wunderbaren Mischung von Güte und liebenswürdiger Heiterkeit), „ich habe es in meinem jetzigen Stande recht weit gebracht, viel weiter, als ich irgend hoffen durfte. Möge es Ihnen in Ihrem Stande ähnlich ergehen!“

Der Statthalter Christi geruhte mit einem Lieutenant zu scherzen, und in solchem Augenblick! Ich war völlig überwältigt. Ich versuchte die Versicherung von mir zu geben, aller militärische Ruhm und Erfolg, der mir etwa beschieden sein sollte, könne das Glück dieser Stunde nicht aufwiegen – es gelang aber nur mittelmäßig, und darob wird Niemand mich verdammen.

Wohl eine Viertelstunde mochte über diesen Unterredungen vergangen sein; schon viel zu viel seiner kostbaren Zeit hatte der Papst an mich verschwendet.

„Haben Sie Rom gründlich gesehen?“ begann er wieder.

„So gründlich, Ew. Heiligkeit, als man in der kurzen Zeit von drei Monaten kann; aber ich habe es unendlich lieben gelernt.“

„Wann reisen Sie ab?“

„Uebermorgen.“

„Nun, wenn Sie Rom so lieben, dann brauche ich Ihnen wohl nicht zu empfehlen, vor der Abfahrt aus Fontana Trevi zu trinken, Sie werden auch ohne das wiederkommen.“

„Rom wiederzusehen wird stets das Ziel meiner brennenden Sehnsucht sein.“

„Wohlan, so wünsche ich Ihnen glückliche Reise, und möge unser Herrgott stets mit Ihnen sein.“

Bei diesem Worte streckte der Papst mir wieder die linke Hand entgegen. Ich verneigte mich von Neuem mit einer Kniebeugung und küßte die Hand. Während dessen legte er die Rechte leise auf meinen Kopf, – ließ sie einen Augenblick da ruhen, um mir seinen Segen zu ertheilen. Als er sie zurückzog, erhob ich mich, machte eine tiefe Verbeugung und schritt rasch der Thür zu, welche sich von selbst lautlos vor mir öffnete. Ich wendete mich nochmals, verneigte mich noch einmal voll Ehrfurcht und Dankbarkeit und schritt über die Schwelle. Dort stand der Kammerherr.

„Ich wünsche Ihnen Glück,“ sagte er. „Selten oder nie pflegt Se. Heiligkeit so spät am Abend Jemand zu empfangen, und gerade heute war er mehr als gewöhnlich von den Geschäften beunruhigt und abgespannt.“ Dann geleitete er mich bis an die große Treppe und verabschiedete sich mit freundlichem Händedruck von mir.

Unten in der Halle sühlte sich in bequemer Lage auf einer Bank mein Freund, der Schweizer aus dem Münsterlande.

„Was hat denn der heilige Vater so Wichtiges und so Langes mit Ihnen zu reden gehabt?“

„Nichts, was ich wiedersagen dürfte – aber hier etwas für Euch, um auf sein und mein Wohl zu trinken.“

Dabei gab ich ihm einen ganzen Scudo, den er mit treuherzigem „Vergelt’s Gott!“ schmunzelnd in der Hand umdrehte. Und dies ist das einzige Mal, daß ich im classischen Lande der Trinkgelder Freude daran empfunden habe, eins zu geben.

Es schlug halbelf Uhr auf Ara Celi, als ich die breite capitolinische Treppe hinanstieg zum Palazzo Caffarelli, wo eine kleine Gesellschaft von Freunden meiner seit drei Stunden geharrt hatte. Man hatte bereits nach meiner Wohnung geschickt und [556] dort erfahren, ich sei vor langer Zeit im Wagen fortgefahren, ohne zu sagen wohin.

„Wo haben Sie gesteckt, Sie Bösewicht?“ rief die Dame vom Hause mir entgegen.

„Beim Papste.“

„Ach was! scherzen Sie nicht – wir sind genug in Sorge um Sie gewesen!“

Nun zog ich meine Citation zur Audienz hervor, schlug siegreich jeden neidischen Zweifel darnieder und wurde von Allen ob meiner Errungenschaft lebhaft beglückwünscht. Natürlich mußte ich die Einzelheiten meines päpstlichen Besuches berichten, und Alle waren höchlich erfreut von der Liebenswürdigkeit und Humanität des edlen Oberhirten der katholischen Christenheit; dem Dr. theol. Papst aber, welcher damals während der Orientreise des preußischen Gesandtschaftspredigers dessen Stelle vertrat, wurde sein Namensvetter auf dem Stuhle Petri eindringlich als Vorbild aufgestellt. Wir beschlossen den Abend froh und mit der Hoffnung, uns dereinst in friedlicheren Zeiten wieder hier auf dem historisch bedeutendsten Punkte der Erde, dem Capitole von Rom, zu treffen, und dann womöglich Alle Pius die Hand zu küssen.

Und was ist daraus geworden? Von uns, den „Niedriggepflanzten“, spreche ich nicht, aber von ihm und seinem Werke. Er wollte die Einigung Italiens schaffen: mit Hülfe fremder Waffen ist die Einheit gekommen, aber die Einigung ist noch weit; denn diese kann dort, wie überall, nur geschaffen werden durch einen großen Mann auf dem Throne und redliche Arbeit des ganzen Volkes.

Und Pius selbst? – Noch immer weilt er als Statthalter Christi einsam im Vatican. Nur selten durchbrechen mühsam zusammengebrachte Loyalitätsadressen den Kreis, welchen eine fanatische Partei so eng um ihn gezogen, daß er weit mehr ein Gefangener als ein Herrscher der Kirche zu sein scheint. Und nicht einmal der Glorienschein des Märtyrers soll sein Haupt zieren; denn die italienische Regierung zahlt ihm eine wohlbemessene Civilliste von 3,225,000 Franken jährlich. Sie erhält ihn und sie kennt sehr wohl die unerbittliche Macht des Geldes.

Armer Pius! Wie oft magst du in kummervoll durchwachten Nächten voll bitteren Schmerzes geseufzt haben: „O, hätte ich doch nie den Degen mit dem Brevier vertauscht!“

J. v. U.




Eine Schweizerfahrt.


Es giebt wohl keine größeren Contraste, keine jäheren Sprünge der Temperatur und Vegetation, keine auffallendere Verschiedenheit der Sprachen und Sitten, als die höchst interessante Straße über den St. Gotthard, dieser alte, berühmte Verbindungsweg zwischen Deutschland und Italien, bietet. Als wir unser letztes Nachtquartier in Bellinzona verließen, glaubten wir durch einen herrlich angelegten, kunstvollen Garten zu wandern. Prachtvolle Magnoliabäume mit großen, weißen Blüthen, hohe Lorbeerbüsche, grüne Myrthen und roth glühende Granaten wuchsen hier im Freien; am Spalier hingen goldene Citronen und Orangen wie bei uns Pfirsiche und Aprikosen. Der Weinstock bildete fortlaufende Guirlanden und Laubgänge, unter denen die reizenden, wegen ihrer Schönheit und Anmuth berühmten Mädchen und Frauen von Bellinzona mit schwarzäugigen Kindern, vor den brennenden Sonnenstrahlen geschützt, ihre Siesta hielten. Die ganze Landschaft bot ein Bild des heiteren Südens, während die Stadt mit ihren Burgen und Mauern einem Stück verkörperten Mittelalters glich und uns unwillkürlich an frühere Kämpfe erinnerte, als Bellinzona noch einer der Schlüssel und Bollwerke zu den Alpenpässen war.

Ganz denselben Charakter zeigt das dreizehn Stunden lange Livinerthal, wo das italienische Wesen noch vorherrschend ist. Malerische, aber meist zerfallene Häuser mit flachen Dächern, reich ausgestattete Kirchen, braune Männer und Frauen mit zigeunerhaftem Anstrich, schöne, aber schmutzige Kinder und besonders zahlreiche Geistliche in langen, schwarzen Röcken und mit breiten Hüten, meist wohlgenährte Diener des Herrn, die einen unbeschränkten Einfluß auf die bigott katholische Bevölkerung ausüben, wovon wir selbst uns noch heute überzeugen sollten. Wegen unseres zerrissenen Schuhwerks wendeten wir uns nämlich in einem Dorfe am Wege an einen Schuhmacher. Dieser aber erklärte uns zu unserem Bedauern, daß er uns unmöglich dienen könne, weil gerade heute das Fest der Schutzpatronin, der heiligen Petronella, gefeiert werde, weshalb er nicht arbeiten dürfe, ohne eine schwere Sünde zu begehn. Durch unsere dringenden Bitten ließ er sich endlich rühren, aber zuvor wollte er noch mit dem Herrn Curate, dem Ortsgeistlichen, reden und dessen Erlaubniß einholen. Zu unserer Freude kehrte der fromme Schuster bald mit der Genehmigung des würdigen Priesters zurück, dessen Toleranz wir in der That höchlichst bewunderten und priesen. In wenigen Minuten wurde auch der kranke Stiefel durch Auflegung eines tüchtigen Lederpflasters geheilt, wofür unser gewissenhafter Meister jedoch den unerhörten Preis von vier Franken, etwa einem Thaler und zwei Silbergroschen, forderte, während dieselbe Arbeit in Berlin höchstens fünf Silbergroschen kostet. Als wir, über diese Prellerei erzürnt, unsern Schuster zur Rede stellten, antwortete er, daß er dem Curate für die ertheilte Erlaubniß die Hälfte des Gewinnes abgeben müsse, dieser ihm aber empfohlen habe, das Doppelte des gewöhnlichen Preises zu fordern, da die Arbeit an einem der heiligen Tage eine Extravergütigung verdiene. Es blieb uns nichts übrig, als die vier Franken ruhig in majorem Dei gloriam zu zahlen.

Nach diesem kleinen Abenteuer setzten wir unseren Weg weiter fort über das berühmte Schlachtfeld von Giornico, wo sechshundert Schweizer im Jahre 1487 einen glänzenden Sieg über fünftausend Mailänder erfochten. Auf den Rath ihres Anführers, des tapferen und klugen Richters Stanga, leiteten die von der Uebermacht bedrängten Eidgenossen das Wasser des Ticino auf die abschüssigen Wiesen, wo es in der kalten Decembernacht eine leichte Eisdecke bildete. Die Schweizer schnallten an ihre Schuhe die üblichen Eissporen an, die ihnen einen festen Tritt gestatteten, während die Italiener, auf schlüpfriger Fläche anstürmend, theils ausglitten, theils einbrachen und unter den wuchtigen Hieben der kleinen, ihren Vortheil wahrnehmenden Schaar erlagen. Fünfzehnhundert Erschlagene färbten mit ihrem Blute den weißen Schnee; das ganze Mailänder Heer gerieth in Verwirrung und ergriff die Flucht. Die Schweizer aber galten seitdem als die besten Krieger bei ihren Nachbarn, und selbst mächtige Könige bewarben sich um die Freundschaft der tapferen Republikaner.

Die Gegend wurde immer schöner und malerischer, rebenumkränzte Hügel, trotzig zum Himmel emporragende Felsen, grüne Matten, rauschende Wasserfälle und silberne Cascaden boten eine Fülle der herrlichsten Naturbilder, eine fortlaufende Gallerie der wunderbarsten Landschaften, welche unsere Augen entzückten, während uns die frische Alpenluft mit ihrem kräftigen Hauch erquickte. In Faido, dem Hauptort von Mittel-Livinien, sahen die Häuser bereits stattlicher, fast elegant aus und auch im Innern fanden wir mehr Reinlichkeit und Ordnungssinn, als man sonst in dem Canton Tessin anzutreffen pflegt. Obgleich Sprache und Sitten noch italienisch sind, glaubten wir doch bereits den deutschen Einfluß zu spüren. Die Abhänge der Berge sind mit Obstbäumen bepflanzt, und auf den Höhen wird die Alpenwirthschaft schon nach Schweizer Art betrieben. Die Dörfer rücken weiter auseinander und lösen sich in zerstreute Häuser und Hütten auf nach altgermanischer Sitte, während die romanische Bevölkerung sich enger zusammenschließt und auch ihre Wohnungen dichter aneinander baut.

Auch in Airolo wird noch vorwiegend italienisch gesprochen, aber gleich dahinter tritt die deutsche Zunge und Sitte in scharfem, überraschend jähem Wechsel hervor. Zugleich verschwinden die letzten Boten des Südens, der Weinstock hörte auf, und an die Stelle der üppigen Nußbäume und der edlen Kastanie trat die dunkle Tanne und die am Abgrund wachsende Lärche. Die Straße wurde immer steiler, die Gegend wilder und erhabener. In kunstvollen, aber höchst beschwerlichen Zickzackwendungen führte uns der Weg durch das gefürchtete Trümmelethal, Val Tremolo, wo im Frühjahr die Lawinen von den nahen Bergen niederfallen und den Wanderer zu begraben drohen. In wilden [557] Sprüngen jagte der schäumende Ticino an uns vorüber, als könnte er nicht schnell genug aus dem rauhen Norden nach dem milden Süden fliehn.

Bald erreichten wir eines jener Zufluchtshäuser, cantonniere, die dem Reisenden bei schlechter Witterung ein Asyl bieten und den Straßenarbeitern zum Aufenthalte dienen. Diese sogenannten Rutner (rottoni, cantonniers) führen besonders im Winter ein mühevolles Leben, mit dem sich die Beschwerden und Entbehrungen unserer Eisenbahnschaffner auch nicht entfernt vergleichen lassen. Jahr aus Jahr ein verweilen diese Leute in der schauerlichen Wüste des Hochgebirges, verbannt und abgeschnitten von der übrigen Welt, ohne jede Bequemlichkeit; ihre Wohnung, ein kaltes, unwirthliches Steinhaus, durch dessen enge Fenster kaum ein Sonnenstrahl dringt, rings umher kein Baum, kein Strauch, nur graue Granittrümmer; ihre Nahrung schwarzes Brod und zähe Polenta mit etwas Käse, ihr Getränk das aus den Gletschern abfließende Eiswasser. Bei einer Kälte von zwanzig bis dreißig Graden müssen sie die Straße in Stand halten, den fußhohen Schnee fortschaufeln und oft mit Lebensgefahr für die Weiterbeförderung der Post Sorge tragen. Ein Fehltritt, ein jäher Windstoß kann sie in den Abgrund schleudern, eine Lawine sie verschütten, gewiß kein beneidenswerthes Loos, und doch schienen uns die Leute zufrieden und heiter, als wir mit ihnen sprachen und unsere Cigarren mit ihnen theilten. Wie sie uns erzählten, dauert es oft mehrere Tage, bevor sie trotz aller Anstrengung den Weg für die italienische Post frei machen können, wenn das Val Tremolo bei starkem Schneefall unzugänglich wird. Dann müssen die Passagiere so lange auf dem St. Gotthards-Hospiz verweilen, während sie selbst die Briefe und Frachtstücke weiter befördern, wobei nicht selten der Eine oder der Andere der übermenschlichen Mühe erliegt und auf dem Wege erfriert.

Noch gefährlicher sind die im Frühjahre fallenden Lawinen, deren es mehrere Arten giebt. Am gefährlichsten erscheinen die sogenannten „Wind- oder Staublawinen“ wegen des von ihnen erzeugten und sie begleitenden Orcans, der Alles, was sich ihm in den Weg stellt, Häuser und Bäume, Menschen und Vieh, mit sich fortreißt und in die Tiefe schleudert. Ihnen zunächst kommt die „Grundlawine“, welche sich bei eintretendem Thauwetter aus einem kleinen sich loslösenden Schneeballe bildet, der im Rollen immer größer wird, bis er zu einer gewaltigen, zermalmenden Größe anwächst. Weniger zerstörend wirkt die „Schlupflawine“, die durch das Herabrutschen des Schnees an den schiefen Abhängen der Berge entsteht, und das ihr verwandte „Föhnschild“, eine den Felsenrand überragende Schneemasse, die durch ihre eigene Schwere oder einen leichten Windstoß, oft durch den bloßen Schall der menschlichen Stimme oder den Klang einer Glocke in Bewegung geräth.

Da wir im Hochsommer reisten, so blieben wir von all’ diesen furchtbaren Naturereignissen verschont. Ohne weitere Abenteuer erreichten wir nach mehrstündigem, beschwerlichem Steigen die dunkle Schlucht, durch welche Suwarow, der russische Hannibal, die von ihm geschlagenen Franzosen verfolgte. Dicht am Austritt aus dem „Val Tremolo“ erinnert an seine Heldenthat eine in den Felsen gehauene Inschrift: „Suwarow Victor!“ – In kurzer Zeit begrüßten wir das St. Gotthards-Hospiz, wo wir in dem Hôtel „Prosa“, das jedoch keineswegs diesen unpoetischen Namen verdient, ein freundliches Unterkommen fanden. Hier, in einer Höhe von sechstausendfünfhundert Fuß, hat menschliches Mitleid und christliche Frömmigkeit bereits im vierzehnten Jahrhundert eine Herberge gegründet, die, 1775 von einer Lawine zerstört und später von den Franzosen niedergebrannt, gegenwärtig, neu errichtet, durch wohlthätige Sammlungen und einen namhaften Beitrag der tessiner Regierung zum Besten der Reisenden unterhalten wird. Ungefähr elf- bis zwölftausend arme Reisende aller Nationen erhalten im Laufe eines Jahres fünfundzwanzigtausend Rationen, Brod, Suppe und Kaffee, und warme Kleidungsstücke unentgeltlich geliefert. Die Kosten dafür betragen gegen zehntausend Franken, und gewiß verdient keine zweite derartige Stiftung in höherem Maße die Theilnahme und Unterstützung aller Menschenfreunde. Oft verweilen bei anhaltendem Schneefall hundert Personen mehrere Tage in diesem Asyle, wo sie eine Zuflucht und Verpflegung finden. Statt der früheren Mönche hat die Regierung des Cantons jetzt Herrn Lombardi als Verwalter angestellt, während den Gottesdienst ein besonderer Caplan versieht, der zugleich die nöthigen meteorologischen Beobachtungen macht.

Wenn jene furchtbaren Schneestürme, welche in der Volkssprache „Guxeten“ genannt werden, um die Gipfel des St. Gotthard toben, die Luft, in Millionen schneidender Eiskrystalle verwandelt, sich wie eine Binde um die geblendeten Augen legt, die erstarrende Kälte den Athem erschwert, die Glieder lähmt und der Tod in seiner schrecklichsten Gestalt den hülflosen Wanderer überfällt – dann ertönt tröstend und warnend das schrille Glöcklein der Capelle auf dem Hospize und die rüstigen Knechte wandern in Begleitung der weltberühmten Hunde, mit Wein, Lebensmitteln und warmen Decken versehen, hinaus in Sturm und Wetter, um den Verirrten beizustehen, um die Verschmachtenden zu laben. Herr Lombardi, unser Wirth, erzählte uns aus seinen reichen Erlebnissen eine Reihe der erschütterndsten Tragödien und der wunderbarsten Rettungen, wobei wir nicht genug den Muth und die Aufopferung der Hospizbewohner bewundern konnten. Man denke sich, welche Selbstverleugnung dazu gehört, neun Monate des Jahres in dieser Schneewüste zu verweilen, stets bereit, das eigene Leben für die Erhaltung seiner Nebenmenschen zu wagen! Auch mit den klugen, höchst intelligenten Hunden, von denen jeder Einzelne die Rettungsmedaille verdient, wurden wir näher bekannt. Die Thiere besitzen einen wunderbaren Instinct und finden ihren Weg in finsterer Nacht durch Schnee und Eis, wo sie die Verschütteten wittern und aus ihrem Grabe herausscharren. Zwar ist die echte Bernhardinerrace auf dem St. Gotthard erloschen, aber ihre Nachfolger, eine Mischung von Kamtschatka- und Leonbergerhunden, sollen den Vorgängern in keiner Weise nachstehen.

Im Hochsommer gewährt dagegen das Hospiz ein ebenso interessantes als belebtes Schauspiel, wenn von beiden Seiten die Posten und Passagiere sich kreuzen und hier ein wahrer internationaler Völkercongreß zusammentritt, woran Deutsche, Italiener und Franzosen, vorzugsweise aber die unvermeidlichen Engländer und Amerikaner, sich betheiligen. Auch die Umgegend, so wüst sie auch erscheint, bietet manche lohnende Partie, wie die Ersteigung des nahen „Tritthorns“ und der „Fibia“, von denen man eine überraschend schöne Aussicht auf die Kette der Central-Alpen genießt. Ebenso wird der nur eine halbe Stunde entfernte, in romantischer Umgebung und auf einer Höhe von sechstausend Fuß gelegene „Lucendro-See“ öfters von Touristen besucht.

Bei der großen Wichtigkeit der St. Gotthardsstraße für Handel und Verkehr zwischen Deutschland und Italien lag der Gedanke wohl nahe, durch eine Eisenbahn beide Länder auch von dieser Seite zu verbinden. Ein directer Schienenweg über das Joch des Hochgebirges mußte jedoch wegen der Schneestürme im Winter, welche einen ganzen Eisenbahnzug in den Abgrund stürzen können, wegen der Lawinen im Frühjahre und wegen der ganzen Lage auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen. Man faßte daher den der modernen Titanen würdigen Entschluß,[WS 2] den Granitleib des St. Gotthard zu durchbohren und einen zwei Meilen langen Tunnel von einem der gefährlichsten Punkte zu dem andern hindurchzuführen. Um die für den unterirdischen Bau nöthige Luft herbeizuschaffen, sollen mehrere gegen tausend Fuß tiefe Schachte durch den harten Stein gebrochen werden. Schon in einigen Jahren hofft man das Riesenwerk zu beenden und dann zu jeder Zeit des Jahres in wenigen Minuten die Strecke zu durcheilen, zu der wir jetzt noch mehrere Stunden brauchten, obgleich wir tapfer zuschritten, nachdem wir uns hinlänglich ausgeruht und ein Glas feurigen Veltliner auf das Gelingen des kühnen Unternehmens mit unserem Wirthe getrunken hatten.

Nicht weit von dem Hospiz entfernt liegt das berüchtigte „Feld“. Kein Feld des Segens, sondern eher ein Schlachtfeld höllischer Geister und tückischer Dämonen, die im Frühjahre mit donnernden Lawinen, im Winter mit gräßlichen Schneestürmen gegeneinander kämpfen. Noch immer zeigte uns die Natur ihr ernstes Todtengesicht, bis nach und nach das versteinernde Medusenantlitz milder wurde und die starren Züge sich wieder zu beleben anfingen.

Noch scheint das organische Leben erstorben, noch sieht man keinen Baum, keinen Strauch, aber plötzlich bei einer Biegung des Weges ruht das Auge mit doppelter Wonne auf dem grünen, einer riesigen Matte ähnlichen Thal, aus dem die alten dunkeln [558] Häuser von Hospenthal mit dem grauen Longobardenthurm gleich Maulwurfshügeln emporragen. Am Ausgange des unansehnlichen Dorfes, von wo man die Furka- und Rhonegletscher in einigen Stunden ganz bequem zu Wagen erreichen kann, wurden wir durch das großartige „Hôtel zum Meyerhof“ überrascht, vor dessen Thür uns geschäftige Kellner in schwarzen Leibröcken und mit weißen Binden, verschleierte Engländerinnen, Touristen, Führer mit ihren Pferden, Sesselträger, kurz der ganze Troß, der Einem nur zu oft durch seinen Lärm den Genuß an der herrlichen Natur verleidet, schon von Weitem begrüßte.

Bellinzona.

Ohne uns aufzuhalten, zogen wir an dem nahen Andermatt vorüber, durch das Urner-Loch, einen interessanten, schon seit dem Jahre 1707 in den Felsen gehauenen Tunnel, zu der berühmten Teufelsbrücke, unter der die wilde Reuß mit dem Donner von hundert Cascaden, schäumend, in weißen Gischt aufgelöst, zwischen den trotzigen Felsen dahinstürmt. Ein kühner Bogen schwingt sich fast hundert Fuß hoch und fünfundfünfzig Fuß breit über den Abgrund, in dessen Tiefen das Wasser tobt. An die sichere Brüstung gelehnt, genossen wir das in der That großartige Schauspiel, das noch durch die Beleuchtung einen eigenthümlichen Reiz erhielt, als die Sonnenstrahlen die aufsteigenden Wasserstaubwolken in farbige Regenbogenringe verwandelten, die sich ineinander verschlingend ein magisches Farbenspiel bildeten. Hier an dieser Stelle kämpften im Jahre 1799 die verbündeten Russen und Oesterreicher gegen die Franzosen, welche weder die wüthende Reuß noch die steilen Felsen zurückschreckten, an denen sie unter dem Kugelregen ihrer Gegner emporkletterten. In das Toben der Brandung mischte sich der Donner der Kanonen, das Geschrei der Verwundeten und Sterbenden, und der weiße Gischt färbte sich roth von dem Blut der Erschlagenen, so daß die Teufelsbrücke damals in der That ihren Namen verdiente.

In vielfachen Schlangenwindungen, die sich jedoch auf Seitenpfaden, den sogenannten „Kehren“, abkürzen lassen, führte uns der Weg durch die nackte Schlucht der Schöllinen, die an Oede und Gefährlichkeit dem gefürchteten Trümmelethal nicht nachsteht. Dafür entschädigte uns im ferneren Verlauf der Reise der Anblick der herrlichen Landschaft, die sich mit jedem Schritt großartiger und schöner entfaltete. Zu beiden Seiten wechselten grüne Matten, malerisch gelegene Hütten, prächtige Tannenwälder mit den riesigen Bergen und blitzenden Schneefeldern ab. Mitten durch die prächtige Landschaft rauscht die tobende Reuß, die uns fortwährend begleitete. Die Straße ist mit bewunderungswürdiger Kunst und Kühnheit angelegt und macht eben so sehr ihrem Erbauer wie der Schweizer Regierung alle Ehre. Man kann sich keine Vorstellung von den Schwierigkeiten machen, welche der Architekt zu überwinden hatte; bald mußte er einen Berg umgehen, bald durch den widerstrebenden Felsen sich eine Bahn brechen, bald furchtbare Abgründe überwölben.

Wir ruhten an der sogenannten Pfaffensprungbrücke einige Minuten aus und blickten schaudernd in den siedenden Wasserkessel der tiefen Schlucht, über die nach der Sage ein Mönch mit seiner entführten Beichttochter den kühnen Sprung gewagt haben soll, ohne den Hals zu brechen; ein neuer Beweis, daß der Himmel seine frommen Diener beschützt, auch wenn sie nicht immer den Pfad der Tugend wandeln. – Nach kurzer Rast setzten wir unsere genußreiche Wanderung bis Amstäg fort, wo wir im „Weißen Kreuz“ einen nach der anstrengenden Fußtour doppelt willkommenen Retourwagen fanden, der uns in kurzer Zeit nach Altdorf brachte, wo wir einige Stunden verweilten. Hier betraten wir den classischen Boden der Tellsage. Das leider künstlerisch nicht besonders gelungene Standbild des berühmten Schweizer Helden bezeichnet die Stelle, auf welcher der kühne Schütz gestanden haben soll, während an dem gegenüberliegenden Thurm, der mit Fresken aus Tell’s Leben verziert ist, der unerschrockene Knabe den Pfeil des Vaters erwartete. – Mit Hülfe des Omnibus kamen wir noch rechtzeitig in dem nahen Fluelen an, um das letzte nach Luzern gehende Dampfboot zu benutzen. Unstreitig zählt eine Fahrt auf dem Vierwaldstädter See bei günstigem Wetter zu den unvergeßlichen Genüssen. Gleich einem riesigen Spiegel, worin die herrliche Natur sich selbst bewundert, breitet er sich meilenweit im Schooße der erhabenen Alpenwelt aus. Seine reizenden Ufer, von Sage und Geschichte umschwebt, vereinen den Zauber einer fast südlichen Vegetation mit der ganzen Großartigkeit des Hochgebirges. Freundliche Villen, Dörfer und Städte laden überall zum längeren Verweilen und zu den lohnendsten Partien ein. Von unserem Dampfboot, das den Namen Tell führte, begrüßten wir die von dem Genius unseres Schiller geweihten Orte, zunächst die Tellsplatte, wo der verwegene Schütz in mächtigem Sprung das ersehnte Ufer erreichte, als der tyrannische Vogt ihm das Steuerruder im wilden Sturm anvertraute. Dort steht zur Erinnerung an die kühne That eine offene Capelle, wo alljährlich das Volk der Urcantone die glückliche Rettung seines nationalen Helden durch Gottesdienst und öffentliche Spiele feiert.

Darüber erhebt sich die neue, senkrecht über dem See in den Felsen gesprengte Axenstraße, ein Meisterwerk der berühmten Schweizer Wegebaukunst. Zu beiden Seiten steigen die Riesen der Alpenwelt, die kolossale Pyramide des Frohnalpenstocks, die Windgälle, das Scheerhorn und die röthlich schimmernden Mythenstöcke empor, während zur Linken und zur Rechten die üppigsten grünen Thäler sich erschließen. Dieser Theil der großen Wassermasse, welcher den Namen „Urner See“ führt, ist selbst das herrlichste Gedicht des Schöpfers, ein Hymnus des Ewigen, ein zum Himmel aufsteigender Lobgesang. In den klaren Fluthen spiegeln sich die Häupter der Berge, die weißen schimmernden Gletscher, die grünen Wälder, die goldene Sonne, ein entzückendes Bild, das keine menschliche Phantasie zu ersinnen und selbst der größte Künstler nicht wiederzugeben vermag.

Dort unter dem Seelisberger Kulm, wo eine beliebte Schweizer [559] Pension sich befindet, liegt das Grütli, jene heilige Wiese, auf der in der ewig denkwürdigen Nacht vom zum 7. zum 8. November 1307 die Gründer der Schweizer Freiheit, der wackere Stauffacher, der kluge Walter Fürst und der feurige Arnold von Melchthal mit ihren Freunden den ewigen Bund beschworen, und nicht weit davon entfernt ragt aus der grünen Fluth der Mythenstein hervor, eine natürliche Felsensäule mit der schönen Inschrift: „Dem Sänger Tell’s, Friedrich Schiller. Die Urcantone 1860.“ Gegenüber liegt Brunnen, eine Perle des Vierwaldstädter Sees, mit entzückender Aussicht, weiterhin Gersau, einst das Eldorado aller Bettler, Vagabunden und Heimathslosen der Umgegend, die hier ihre berüchtigte Kirchweih, die sogenannte „Gauner-Kilbi“, feierten, jetzt ein wohlhabender und gewerbfleißiger Ort, auf dem entgegengesetzten Ufer das gemüthliche Bekkenried mit seinen alten, prächtigen Nußbäumen, endlich das idyllische Wäggis und das in neuester Zeit schnell aufblühende Vitzenau, von wo die wirklich märchenhafte Eisenbahn auf den Rigi führt.

Hotel de la Prosa, Güterhaus und Hospiz auf dem St. Gotthard.

Die untergehende Sonne beleuchtete mit ihren goldenen Strahlen das amphitheatralisch aus dem See auftauchende Luzern mit seinen grauen Thürmen, weißen Villen, prächtigen Kirchen und großartigen Hôtels, als wir an dem schönen Quai landeten. Rigi und Pilatus, die beiden Riesenwächter, begrüßten uns freundlich als alte Bekannte, und aus der Ferne glänzten die Spitzen der Berner Alpen, während der See zu unsern Füßen und die Wolken am Himmel rosig erglühten, bis die eintretende Dämmerung und unsere Müdigkeit dem entzückenden Anblick ein Ende machten und uns daran erinnerten, eine Wohnung zu suchen, die bei der Ueberfüllung mit Fremden nicht so leicht zu finden war. Am nächsten Morgen statteten wir nur dem „sterbenden Löwen“ Thorwaldsen unsern pflichtschuldigen Besuch ab, da wir Luzern und seine Umgebung bereits hinlänglich kannten. – Ein niedlicher Einspänner, für den der Kutscher fünfzig Franken forderte, aber schließlich dreißig nahm, sollte uns über den Brünig nach Brienz bringen, von wo wir nach Interlaken wandern wollten. Die Fahrt an dem Ufer des Sees entlang gewährte uns nach der gestrigen Anstrengung ein doppeltes Vergnügen; mit unaussprechlichem Behagen lehnten wir uns in die weichen Kissen und ließen an unseren Augen die wirklich bezaubernden Bilder wie in einem Kaleidoskop vorüberziehn, bald ein Stück des schimmernden Sees, bald eine malerische, in Bäumen und Reben versteckte Hütte, bald einen grotesken Felsen oder eine grüne Matte.

Unser Kutscher, der beiläufig den Exkaiser Napoleon und Eugenie bei ihrer Reise durch die Schweiz gefahren hatte, machte in Sarnen Halt, um die Pferde zu füttern und zugleich sich selbst mit einem Glase Wein zu stärken. Wir benutzten die Pause, um uns in dem ansehnlichen Ort etwas umzuschauen. Die schönsten Gebäude waren Nonnen- und Mönchsklöster oder geistliche Erziehungsanstalten des hier ganz ultramontanen Klerus. Einen freundlichen Eindruck machten das schöne, mitten in einem Garten gelegene Waisenhaus und das neue stattliche Spital mit der Inschrift: „Christo in pauperibus,“ die selbst einer großen Stadt zur Ehre gereichen würden. Am Ausgange des Dorfes sahen wir den Hügel, auf dem einst das Schloß des gefürchteten Landvogts Landenberg stand. Jetzt werden auf derselben Stelle, wo einst der Tyrann hauste, die Volksversammlungen des Cantons Obwalden abgehalten, wobei es mitunter um so freier zugehen soll.


(Schluß folgt.)




Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


(Fortsetzung.)


4.


„Ich bitte tausend und tausendmal um Entschuldigung,“ rief Frau Wollnow noch auf der Thürschwelle.

„Macht zweitausend,“ sagte ihr Gatte, der sich zugleich mit Gotthold erhoben hatte, ihr entgegenzugehen.

„Du sollst mir nicht immer Alles nachrechnen, Du böser Mann.“

„Aber Alles nachsehen –“

„Und mich nicht immer unterbrechen, und mich um meine schönsten Reden bringen, ich hatte mir die allerschönste an unsern lieben Gast ausgedacht.“

„Fing sie vielleicht mit ‚guten Abend‘ an?“

„Nun ja: guten Abend! und willkommen, herzlich willkommen,“ sagte Frau Wollnow, Gotthold die beiden fetten kleinen Hände entgegenstreckend, und mit heller Neugier aus den braunen Augen zu ihm emporblickend. „Gott, wie Sie noch gewachsen sind, und wie Sie sich embellirt haben!“

Gotthold konnte das Compliment nicht zurückgeben. Ottilie Blaustein schien ihm, seitdem er sie nicht gesehen, allerdings sehr viel stärker, aber weder größer noch schöner geworden. Indessen das volle und etwas geröthete Gesicht strahlte von Gutmüthigkeit und Lebenslust; und so wurde es ihm keineswegs schwer, die herzliche Begrüßung der Jugendbekanntin nicht minder herzlich zu erwidern. Sie ersuchte die Herren, wieder Platz zu nehmen; sie würde, mit ihrer Erlaubniß, sich zu ihnen setzen, und bäte auch um ein Glas, denn sie habe heute Abend so viel reden müssen, daß sie ganz verdürstet sei. Dann sprang sie alsbald wieder auf und fragte an dem Ohr ihres Gatten im halben Flüsterton, ob [560] er es ihm schon gezeigt habe? auf welche geheimnißvolle Frage Herr Wollnow lächelnd das stattliche Haupt schüttelte: „Ich wollte Dir die Freude nicht verderben,“ sagte er.

„Du guter Emil!“ rief sie, den Gatten flüchtig auf die Stirn küssend, und dann zu Gotthold gewandt: „Kommen Sie, ich muß Ihnen den Beweis liefern, daß Sie keine Undankbare verpflichteten, als Sie dem kleinen Judenmädchen die Tanzstunde möglich machten. Sehen Sie, dies habe ich zum Andenken an Sie gekauft, und hätte es gekauft, wäre es so werthlos gewesen, wie es unermeßlich werthvoll ist, und so theuer, wie ich meinen Schatz für einen Spottpreis kaufen durfte.“

Sie hatte einen Leuchter ergriffen, und führte Gotthold nun zu jenem Landschaftsbilde, das ihm bereits vorhin über die Breite des Zimmers herüber aufgefallen war. Gotthold zuckte zusammen und konnte nur mit Mühe einen Schrei der Ueberraschung und des Schreckens unterdrücken.

„Es ist Dollan, nicht wahr?“ sagte Ottilie.

Gotthold erwiderte Nichts; er nahm der Dame das Licht aus der Hand und leuchtete über das Bild, das etwas zu hoch hing. – Ja, da war es, das Bild, in das er damals seine Liebe und seinen Schmerz hineingemalt, das Bild, von dem er vorhin Herrn Wollnow erzählt, daß es auf seiner Staffelei stand, an jenem Abend, der in sein Leben eine so wunderbare Wendung brachte. Er hatte, sich selbst zum Beweis, daß er mit der Vergangenheit unwiderruflich gebrochen, und eine neue Phase seines Lebens und Strebens jetzt beginnen müsse, die Skizze verschenkt und das Bild nicht vernichtet, sondern ganz prosaisch auf eine Ausstellung gegeben, von der es auf eine andere, und wieder auf eine dritte und vierte gewandert, und endlich verkauft war, ohne daß er wußte, wohin, an wen? ohne daß er es wissen wollte: es sollte für ihn verschwunden sein. Und doch hatte er in dieser ganzen Zeit die Erinnerung an dies Bild nicht los werden können. Er hätte es aus dem Gedächtniß wieder malen können; aber es wäre immer nicht das durch so viel Schmerzen geheiligte gewesen. Und hier mußte er es wiederfinden, und jetzt, wo seine Seele schon so voll war von dem Zauberduft, den Alles, was er sah, was er hörte, ihm aus jenen Tagen entgegentrug, wie damals jeder Hauch, der um seine Stirn, um seine Wangen strich, den Duft der Tannen und des Meeres und der Liebe.

„Und wie ich dazu gekommen bin,“ sagte Frau Wollnow; „und wie ich nur überhaupt erfuhr, daß es von Ihnen ist; denn Sie wissen, unser Einer sieht nicht nach dem Zeichen, oder ich sah wenigstens damals noch nicht danach. Aber wenn man Glück haben soll! so sagte ich auch zu Cäcilie Brandow, mit der ich – es sind nun sechs Jahre und ich war eben verheirathet – in Sundin auf dem Wollmarkt – hätte ich beinahe gesagt; aber natürlich waren da nur die Herren, und wir Damen waren wegen der Ausstellung mitgefahren; und da traf ich mit ihr zusammen. Wir hatten uns so viel zu erzählen, wie zwei Freundinnen, die sich seit der Pension nicht gesehen; Sie erinnern sich vielleicht nicht, daß ich mit Cäcilie hernach in Sundin in derselben Pension war; – oder wenigstens: ich hatte viel zu erzählen; denn ich fand Cäcilie sehr still – sie hatte damals, glaube ich, ihr zweites Kind noch nicht lange verloren. Dann waren wir in dem Gedränge auseinandergekommen, bis ich sie endlich in einem der abgelegenen Zimmer ganz allein vor diesem Bilde fand, in Thränen, die sie, als ich dazukam, zu verbergen suchte.

‚Mein Gott,‘ sagte ich, ‚ist das nicht –‘

‚Ja,‘ sagte sie, ‚und es ist von ihm.‘

‚Von wem?‘

Mit einem Wort: sie hatte es sofort heraus, und ließ sich auch nicht irre machen, als ich ihr sagte, das ‚G. W.‘ in der Ecke könne ja auch der Himmel weiß wer sein. Sie sehen, ich verstand damals noch nicht viel von der Malerei – heute, wo ich – aber Ihre Hand zittert, Sie können ja den Leuchter nicht mehr halten.“

„Lassen Sie mir das Bild,“ sagte Gotthold; und dann, als er bemerkte, wie die beiden Gatten ihn verwundert anblickten, fügte er in ruhigem Ton hinzu, indem er den Leuchter wieder nach dem Tische trug: „das Bild ist wirklich nicht werth, daß es unter Ihren übrigen, zum Theil vortrefflichen Sachen hängt. Es ist eine Schülerarbeit, überdies nach einer sehr flüchtigen Farbenskizze aus der Erinnerung gemalt. Ich, ich verspreche Ihnen dafür ein anderes, besseres, das ich an Ort und Stelle, von derselben Stelle, wenn Sie wollen –“

„O, das wäre herrlich, das wäre köstlich!“ rief Frau Wollnow. „Ich halte Sie beim Wort: ein anderes, nicht besseres, Sie können es nicht besser machen, es ist unmöglich; aber an Ort und Stelle, eigens für mich von dem berühmtesten Landschafter der Gegenwart, das ist ein Triumph, an dem ich für alle Zukunft zehren kann. Hand darauf!“ Und sie streckte Gotthold die beiden Hände entgegen.

„So,“ sagte Herr Wollnow, „der Vertrag wäre geschlossen, und nun wollen wir ihn nach alter guter Sitte mit einem Trunk besiegeln. Sie sehen, Herr Gotthold Weber, Weiberklugheit geht über Pfaffenlist. Ich hätte lange predigen können, Sie zum Hierbleiben zu bewegen; da kommt die Frau, und der scheue Vogel ist gefangen. Nun, es freut mich, freut mich herzlich.“

„Und wie wird sich Cäcilie freuen!“ rief Frau Wollnow. „Meine arme Cäcilie! ihr thut eine kleine und noch dazu so angenehme Zerstreuung wirklich noth.“

Gotthold verfärbte sich. Er hatte, als er sein übereiltes Versprechen gab, wahrlich an nichts weniger gedacht, als sich auf diese Weise einen bequemen Vorwand zu verschaffen, Cäcilie wiederzusehen.

„Ich glaube, wir können unserem Freunde die Mühe der Reise ersparen,“ sagte Herr Wollnow, „und Du wirst auch mit einer einfachen Copie sehr zufrieden sein.“

„Du hörst ja, es ist gar nicht von einer Copie die Rede,“ rief Ottilie, „sondern von einem neuen, ganz neuen Bilde. Aber davon verstehst Du nichts, guter Emil, oder – er will es nicht verstehen.“

„Ich will nur unsern Freund nicht gleich wieder fortschicken, sondern ihn bei uns und für uns behalten.“

„Aufrichtig, Emil, aufrichtig!“ sagte Frau Wollnow, mit dem Finger drohend. „Die Sache ist nämlich die, Herr Weber, daß er Brandows nicht leiden kann – Gott mag wissen, warum. Das heißt, ich kann ihn ja auch nicht leiden und habe auch keine Ursache dazu, denn er hat mich in der Tanzstunde immer nur in seiner malitiösen Weise geneckt. Aber es handelt sich für mich gar nicht um ihn, sondern um seine himmlische Frau.“

„Und da Mann und Frau Eines sind –“

„Wenn alle so dächten wie Du, lieber Emil – und ich natürlich; aber ohne Ausnahme ist keine Regel, und die Brandow’sche Ehe ist eine so regelrecht schlechte und unglückliche, daß ich wahrhaftig nicht einsehe, weshalb wir –“

„So viel darüber sprechen,“ sagte Herr Wollnow, „was um so unnöthiger ist, als unser Gast wohl kaum ein besonderes Interesse an diesem Thema nehmen dürfte.“

„Kein Interesse,“ rief Ottilie, die Hände zusammenschlagend, „kein Interesse! Ich bitte Sie, Herr Gotthold – wie ich immer wieder in die alte Gewohnheit falle –, verzeihen Sie! – aber sagen Sie doch diesem Manne, der Goethe’s Wahlverwandtschaften abgeschmackt findet –“

„Bitte, unmoralisch habe ich gesagt –“

„Bitte, abgeschmackt – noch vorgestern Abend, als wir bei Conrectors darüber sprachen und Du die unerhörte Behauptung aufstelltest, Goethe habe eine Perfidie – ja, Perfidie sagtest Du – begangen, indem er die einzige Person in dem ganzen Roman, welche etwas Wahres über die Ehe vorbrächte – den Mittler – zu einem Halbnarren machte.“

„Aber was willst Du denn mit Deinen Wahlverwandtschaften?“ rief Wollnow fast ärgerlich.

„Er glaubt nämlich nicht an Wahlverwandtschaft,“ sagte Ottilie triumphirend, „und behauptet, dergleichen spuke, wie die Gespenster, nur im Gehirne von Thoren. Aber die Sache ist, er thut nur so, und heimlich glaubt er doch daran, mehr als mancher Andere, und jetzt ängstigt er sich, wie ein Kind vor Gespenstern, bei dem Gedanken, daß Sie nach Dollan gehen und Ihre Jugendfreundin wiedersehen.“

„Wie Du auch redest!“ sagte Herr Wollnow, seine peinliche Verlegenheit hinter einem gezwungenen Lachen kaum verbergend.

„Gott, wir haben in unserm Kränzchen den ganzen Abend von nichts Anderm geredet!“ rief Ottilie. „Sie müssen nämlich wissen, Herr Gotthold, es sind außer mir noch Drei von unserer Tanzstunde dabei – alle Drei jetzt verheirathet – Pauline Ellis – na, die interessirt Sie nun vielleicht wirklich nicht – Louise Palm – mit den braunen Augen, wir nannten sie immer Zingarella – und Hermine Sandberg – wissen Sie, das [561] hübsche Mädchen, schade, daß sie etwas schielt und mit der Zunge anstößt. Wir wußten factisch noch Alles, Alles bis in die kleinsten Details, vor Allem Ihr Duell mit Karl Brandow –“

„Bei welchem doch, so viel ich mich erinnere, keine von den genannten Damen zugegen war,“ sagte Gotthold.

„Sehr gut!“ rief Herr Wollnow.

„Gar nicht gut,“ sagte Ottilie schmollend, „gar nicht gut und gar nicht hübsch von Herrn Gotthold, die treue Freundschaft, die man ihm so lange Jahre bewahrt hat, zu verspotten.“

„Das sei fern von mir,“ erwiderte Gotthold. „Im Gegentheil, ich fühle mich hoch geehrt und sehr geschmeichelt, daß mein armes Selbst so liebenswürdigen Frauen – und wäre es auch nur für wenige Minuten – den Stoff der Unterhaltung hat abgeben können.“

„Spotten Sie nur weiter –“

„Ich versichere Sie noch einmal, daß ich es ganz ehrlich meine.“

„Wollen Sie mir einen Beweis geben?“

„Ganz gewiß, wenn ich kann.“

„Nun denn,“ sagte Ottilie hocherröthend, „so erzählen Sie mir, wie es sich mit dem Duell verhielt, – denn, daß ich es nur gestehe, die Eine sagte, es sei so gewesen, und die Andere, so, und schließlich fanden wir, daß wir es Alle nicht wußten. Wollen Sie?“

„Sehr gern,“ sagte Gotthold.

Er hatte Herrn Wollnow’s wiederholte Versuche, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, wohl bemerkt und glaubte annehmen zu dürfen, daß das frühere Gespräch von Seiten seines Wirthes keineswegs so absichtslos gewesen sei, als es ihm anfänglich geschienen. Hatte Frau Wollnow ihrem Gatten einen Roman nach ihrem Geschmacke erzählt und dabei ihn selbst, der Himmel weiß, welche alberne Rolle spielen lassen? Er mußte solchem Gerede ein Ende zu machen suchen; er glaubte es am besten dadurch zu können, daß er Frau Wollnow’s Wunsch sofort erfüllte und die Geschichte, als ob sie einem Dritten begegnet wäre, mit möglichster Unbefangenheit erzählte.

Diese Gedanken schossen durch seine Seele, während er das Glas langsam an seine Lippen führte. Er nippte daran und sagte, indem er sich lächelnd zu Frau Wollnow wandte:

„Wie gern, verehrte Frau, hübe ich meine Geschichte mit dem Schillerschen Aeneas an: ‚O Königin, Du weckst der alten Wunde unnennbar schmerzliches Gefühl;‘ aber es geht nicht, verehrte Frau, es geht wahrlich nicht. Ich habe allerdings in der Wunde bei starkem Witterungswechsel eine Empfindung, aber auch dann ist dieselbe keineswegs unnennbar schmerzlich, und jedenfalls empfinde ich in diesem Augenblicke gar nichts, als die tiefe Wahrheit des alten Wortes, daß Jungen eben Jungen sind, die Jungenstreiche ausüben, und manchmal recht dumme. Zur Kategorie dieser letzteren gehört ohne Zweifel mein Streit mit Karl Brandow, der aber nicht, wie Sie glauben, verehrte Frau, in der Tanzstunde entstand, sondern dort nur zum Austrag gebracht wurde, nachdem er schon lange vorher unter der Asche geglüht und einmal sogar schon in lichte Flammen auszuschlagen gedroht hatte. Die erste Veranlassung war aber diese. In unserer Secunda galt es als altes und immer heilig geachtetes Herkommen, daß ein offner Raum zwischen der ersten Bank und dem Katheder für die ‚Alten‘ reservirt war und von einem ‚Neuen‘ vor Ablauf des ersten Semesters bei schwerer Strafe nicht betreten werden durfte. Nun gehörte Karl Brandow zwar zu den Alten, und den sehr Alten, denn er saß bereits im dritten Jahr in der Secunda, aber immer nur da, wo der Bänke letzte sind, trotzdem er, wenn ich mich recht erinnere, bereits sein achtzehntes Jahr zurückgelegt hatte. Ich gehörte zu den ‚Jungen‘ und sehr Jungen; denn ich war eben erst, ein Vierzehnjähriger, zu Michaelis in die Classe eingetreten, zum nicht geringen Verdruß meines Vaters, der mich ganz allein vorbereitet und erwartet hatte, daß man mich sofort in die Prima einreihen würde. Nicht ohne Grund, denn als, der Sitte gemäß, nach den ersten acht Tagen die Reihenfolge der Schüler nach dem Ausfall gewisser Arbeiten, die wir Extemporalia nannten, bestimmt werden sollte, erwiesen sich die meinen ohne Fehl und Tadel, und ich wurde mit einer gewissen Feierlichkeit in meine verdiente Würde als Primus omnium eingesetzt. Und nun dennoch nicht den Platz vor der ersten Bank beschreiten zu dürfen! Ich hatte dieses Verbot vom ersten Augenblick an als eine Schmach empfunden, jetzt erklärte ich dies offen, und daß ich mich nicht länger fügen würde, im Gegentheil die Aufhebung des brutalen Gesetzes verlangte und zwar nicht blos für mich, sondern für alle Neuen, als deren Vorkämpfer ich mich betrachtete.

Ich war, indem ich meine Forderung so formulirte, wirklich nur meinem eingebornen Gerechtigkeitsgefühl ohne alle Nebengedanken gefolgt; aber es erwies sich, daß ich nicht besser hätte operiren können, wenn ich der schlaueste demagogische Agitator gewesen wäre. Alleinstehend hätte ich gar keine Chance gehabt, meine kühne Neuerung durchzuführen, jetzt war meine Sache die Sache Aller, das heißt aller ‚Neuen‘, und der Zufall wollte, daß wir den Alten an Zahl genau gleich waren. Auch hinsichtlich der Körperkraft, die Knaben von dem Alter so gut zu taxiren wissen, hätten wir uns wohl mit ihnen messen können, und das etwa Fehlende hätte die Begeisterung für die gerechte Sachte, die ich unablässig zu schüren bemüht war, wohl ersetzt – wenn nicht Karl Brandow gewesen wäre. Wer sollte diesem achtzehnjährigen, wie eine junge Tanne schlanken und kraftvollen Heros widerstehen! Er würde zwischen uns wüthen, wie Achill zwischen den Troern, und das Blachfeld – einen heimlichen Platz im Tannenwäldchen hinter dem Pädagogium – mit den Leibern seiner zu Boden geworfenen Feinde besäen. Denn es war ausgemacht, daß, wer im Ringen mit dem Rücken den Boden berührte, als besiegt zu erachten sei und vom Kampfe abzustehen habe, der auf diese Weise entschieden werden sollte, vor den Augen von sechs ehrenwerthen Primanern, die mit anerkennenswerther Bereitwilligkeit das Schiedsrichteramt übernommen.

Indessen ein Zurück gab es nicht mehr, wenn wir, was wahrlich nicht der Fall, an ein solches gedacht hätten. Die Stunde kam, – eine Sonnabendnachmittagsstunde, für welche wir uns der Aufsicht der Lehrer zu entziehen gewußt hatten, – und ich glaube, daß Kriegern, die zum Angriff auf eine Tod und Verderben speiende Batterie commandirt werden, nicht ernster und feierlicher zu Muthe sein kann, als uns. Ich darf wohl sagen: mir vor allem. Ich hatte den Streit entfacht, ich hatte alle die braven Jungen darein verwickelt; ich fühlte mich für den Ausgang verantwortlich, und für die Schande im Falle des Unterliegens, einem Fall, der mir mit jedem Moment wahrscheinlicher vorkam. Daß ich entschlossen war, für meinen Theil das Aeußerste zu thun und jeden Nerv anzuspannen, versteht sich von selbst. Ich hoffte und betete zu den Göttern, daß sie mir Karl Brandow zuertheilen möchten, – denn die Gegner sollten ausgeloost werden, und nur wer seinen Gegner besiegt, durfte unter denen, die ihren Gegner besiegt, frei wählen, bis Alles entschieden war. Ich erinnere mich nicht, ob die Primaner, welche diese sinnreichen Gesetze entworfen, ihren Walter Scott copirt hatten; ich weiß nur, daß ich die berühmte Schilderung des Turniers von Asby im Ivanhoe später niemals habe lesen können, ohne an diesen Sommernachmittag und den schattigen Platz im Walde und die von Muth und Kampfeseifer glühenden Knabengesichter erinnert zu werden.

Und wie im Turniere von Asby ein ganz unvorhergesehener Zufall in der Gestalt des schwarzen Ritters, des noir fainéant, die sonst unrettbar verlorene Sache des Helden gewinnen macht, so auch hier.

Unter den Neuen war ein Knabe von sechszehn Jahren, mit einem offenen, ehrlichen Gesicht, das schön gewesen sein würde, wenn es nur etwas mehr Leben gehabt und die großen blauen, treuen Augen etwas weniger träumerisch geblickt hätten. Er war nicht von hohem, aber kräftigem Wuchs, und wir würden auf ihn etwas gerechnet haben, nur daß seine Indolenz uns entschieden sehr viel größer schien als die Kraft, die er etwa besitzen mochte; denn niemals hatte er eine Probe derselben abgelegt, und auf unsere dringende Frage, wie er sich selbst taxire, hatte er schweigend die breiten Schultern gezuckt.“

„Curt Wenhof!“ rief hier Frau Wollnow.

„Ja, Curt Wenhof, mein lieber armer Curt,“ fuhr Gotthold fort, dessen Stimme bei der Erinnerung an den geliebten Jugendfreund zitterte. „Ich sehe ihn, wie er dastand, lässig, als ginge ihn die Sache nun weiter nichts an, nachdem er seinen Gegner mit leichter Mühe zu Boden geschleudert, wie ein Binder die Garbe hinter sich wirft. Auch ich hatte den meinen niedergerungen und richtete mich eben athemlos und keuchend auf, als [562] Karl Brandow, der mittlerweile mit Zweien oder Dreien fertig geworden, grade auf mich zustürmte ‚Jetzt gilt’s,‘ sagte ich, ‚du willst es ihm so schwer wie möglich machen.‘ Ich dachte nicht an Sieg. Aber in demselben Moment war Curt vor mich hingesprungen; im nächsten hatten sich die Beiden gefaßt und Karl Brandow hatte beim ersten Griff gespürt, daß er es mit einem Gegner zu thun hatte, der ihm an Kraft und Muth mindestens ebenbürtig und an Kaltblütigkeit und zäher Ausdauer, wie der Erfolg lehrte, weit überlegen war. Es war ein herrliches Schauspiel, die beiden jungen Athleten ringen zu sehen, ein Schauspiel, das wir Alle genossen, Preisrichter, Sieger, Besiegte, Kämpfer, denn wir Alle hatten nach stillschweigender Uebereinkunft einen weiten Kreis um sie geschlossen und begleiteten jede Phase des Kampfes, je nachdem wir dieser oder jener Seite angehörten, mit Angst und Hoffnung und lauten Zurufen, die sich für meine Partei in ein weithinschallendes Jubelgeschrei verwandelten, als Curt Wenhof den Gegner, dessen Kraft gänzlich erschöpft war, in die Höhe hob und mit einem solchen Schwunge auf den Rasen schleuderte, daß der Aermste dort der Länge lang, unfähig sich zu regen, in einer halben Ohnmacht liegen blieb.

Der Kampf sei entschieden, sagten die sinnreichen Primaner, und er war es in der That; wer hätte es mit dem Besieger Karl Brandow’s aufzunehmen gewagt! Ich für meinen Theil umarmte in dem Jubel meines Herzens den guten Curt, schwur ihm ewige Freundschaft und wandte mich dann zu Karl Brandow, der sich mittlerweile vom Boden erhoben hatte, und bot ihm, als der Führer der einen Partei dem Führer der andern, die Hand, indem ich den Wunsch und die Hoffnung aussprach, daß nun dem ehrlichen Kampf ein ehrlicher Friede folgen werde. Er nahm meine Hand, und ich glaube, er lachte sogar und sagte, er wäre der Narr nicht, sich über etwas zu grämen, was doch nun einmal nicht mehr zu ändern sei.“

„Das ist er, wie er leibt und lebt,“ rief Frau Wollnow eifrig, „freundlich und verbindlich in’s Gesicht und hinter dem Rücken die Tücke und Grausamkeit selbst.“

„Sie sehen, meine Frau hat schon Partei ergriffen,“ sagte Herr Wollnow.

„Schon?!“ rief Frau Wollnow. „Ei, ich habe nie anders gedacht und gefühlt; ich bin immer gegen ihn gewesen, und hatte auch wahrlich Ursache dazu. Ich möchte wohl wissen, was in der Tanzstunde aus mir geworden wäre, wenn Sie sich nicht meiner so freundlich angenommen hätten. Das werde ich Ihnen nie vergessen, und es war um so edler von Ihnen, als Sie sich wahrhaftig aus mir nichts machten, sondern für die schöne Cäcilie schwärmten, was ich Ihnen auch nie verdacht habe.“

„Ich fürchte, es würde vergeblich sein, wenn ich Ihnen widerspräche.“

„Ganz vergeblich! Sehe ich Sie doch noch neben mir vom Stuhle aufspringen, blaß vor Zorn und an allen Gliedern bebend, als Karl Brandow Cäcilie küßte, und Cäcilie in Thränen ausbrach.“

„Und hätte ich nicht zornig sein sollen?“ rief Gotthold. „Es war unter uns jungen Leuten eine Uebereinkunft, daß die Küsse, die in den Pfänderspielen nach der Stunde dictirt wurden, in einem Handkuß zu bestehen hätten. Alle hatten sich dazu verpflichtet, auch Karl Brandow, und der Vertrag war auch bis dahin unverbrüchlich gehalten worden. Ich war in meinem guten Rechte, wenn ich den frechen Vertragsbruch nicht dulden und nicht ungestraft hingehen lassen wollte, doppelt in meinem Rechte, als ich bereits seit einem Jahre so oft mit Curt in Dollan gewesen und mit Bruder und Schwester so befreundet war, überdies Curt, wie Sie sich erinnern, in seiner lässigen Weise an der Tanzstunde nicht hatte theilnehmen wollen, und ich mich also als Beschützer der Freundin vollständig legitimirt erachten durfte. Sodann stand Curt, den ich mit Mühe durch das Examen nach Prima gebracht hatte, bei den Lehrern gar nicht gut angeschrieben; ein flagranter Friedensbruch, wie er jetzt nothwendig wurde, hätte ihm ohne Zweifel eine Relegation zugezogen, und endlich, daß ich’s gestehe: ich glaubte, daß Karl Brandow es auf mich abgesehen, daß er durch seine Frechheit mich hatte beleidigen, provociren wollen, daß ich den Handschuh aufheben und für Curt den Strauß ausfechten mußte, wie er an jenem Nachmittage für mich eingetreten war. Das ist ja Alles jugendliche Tollheit, verehrte Freunde; ich erröthe jetzt noch, wenn ich daran denke, und so will ich denn mit möglichst wenigen Worten sagen, was noch zu sagen bleibt.“


(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Der Dom zu Köln und die Kaiserglocke. Es giebt eine Nemesis in der Weltgeschichte und eine mächtige Hand, welche die Geschicke der Nationen ihren Zielen entgegen lenkt. Als Friedrich Wilhelm der Vierte den Dom zu Köln für das Symbol der deutschen Einheit erklärte, fragten die Patrioten jener Tage, wann diese Zeit anbrechen werde. So ersehnten auch nach den Befreiungskriegen Männer wie Max v. Schenkendorf, E. M. Arndt, Follen u. A. das deutsche Kaiserthum, das nicht kommen wollte. Die Geschicke Deutschlands waren 1849 ebenso wenig vollendet, wie sie es 1842 und 1813–1815 waren. Soll die Blüthe sich entfalten, muß sich zuerst die Knospe bilden, aus der sie hervorbrechen kann. Alles, was die deutschen Patrioten seit 1806 geredet und gewirkt, Alles, was die deutschen Dichter gesungen und erstrebt haben, waren Bausteine zum großen Werke der deutschen Einheit, jenen Domgroschen gleich, die aus allen Theilen Deutschlands nach Köln strömten, damit das Symbol unserer Einheit vollendet werde. Heute ist dieser Tag nicht allzufern. Schon wachsen die beiden Thürme mächtig empor. Im nächsten Jahre soll das Octogon auf jedem ausgeführt werden, dem dann die Spitzen der auf fünfhundert Fuß Höhe berechneten Thürme aufgesetzt werden sollen. Aller Voraussicht gemäß, wird der Wunderbau im Jahre 1876 vollendet sein. Dann dürfte sich auch das ganze Vaterland an dieser Feier betheiligen, und unterm Klange der Glocken und dem Donner der Geschütze der Welt verkündet werden, daß die deutsche Nation abermals durch gemeinsames Wirken ein großes, ein herrliches Werk vollendet hat.

In hohem Grade bedeutsam ist, daß Kaiser Wilhelm von den in Frankreich eroberten Geschützen dem Kölner Dome eine Anzahl geschenkt hat, aus denen eine „Kaiserglocke“ gegossen werden soll. Seltsame Fügung jener Hand, welche die Geschicke der Völker wie der Einzelwesen lenkt! In der Sehnsucht der Franzosen nach dem Rheine spielte die reiche Stadt Köln mit ihrem Prachtdome eine Hauptrolle. Kaiser Napoleon und sein verblendetes Heer mochten sich schon im Geiste den Moment vorgestellt haben, in dem sie als Sieger in diese Kathedrale einziehen würden. Statt dessen zog er als Besiegter, als Gefangener über den Rhein, angesichts des Domes, der für ihn gewiß wie ein riesiger Mahner erschienen ist, seinem Glücke nicht mehr zu viel zu vertrauen und nicht titanenhaft nach dem Höchsten zu greifen. Die deutsche Einheit, die er verhindern wollte, ist in Frankreich begründet worden, und aus französischen Geschützen gießen wir uns die „Kaiserglocke“ für den Dom, damit sie kommenden Geschlechtern mit ehernem Munde die Größe unserer Tage, die Macht, Kraft und Herrlichkeit der deutschen Nation verkünde, die nicht untergehen wird, so lange sie sich selbst treu bleibt und ihre Art, ihr Wesen, ihr physisches und geistiges Sein nicht gleich den Galliern verzettelt und verlottert.

Die zweiundzwanzig Stück Bronzegeschütze, die der Kaiser dem Dome geschenkt hat, werden eine Glocke im Gewicht von 500[WS 3] Centnern liefern. Diese soll am untern Rande einen Durchmesser von sieben Metern bei fünf und einem Drittel Meter Höhe haben und nächst der berühmten Glocke in Moskau die größte in Europa werden. Der Vorstand des Dombauvereins hat einen Concurs für die Glockengießer ausgeschrieben, und soll sich bereits eine große Anzahl gemeldet haben. Man glaubt, daß der Guß in Köln erfolgen werde. Ueber die auf der Glocke anzubringenden Verzierungen und Inschriften wird das Domcapitel das Nähere bestimmen. Wir sind überzeugt, daß die Franzosen nach Vollendung der „Kaiserglocke“ mehr als je das Verlangen nach Gewinnung des linken Rheinufers empfinden werden. Im Falle eines neuen Krieges möge sie dann die deutsche Nation zum Kampfe – und wohl dem letzten – aufrufen.

Nicolaus Hocker.




Kleiner Briefkasten.

A. Fr. in A. Sie sind im Irrthum und haben die Wette verloren. Der durch seine Thüringer Höhenmessungen bekannte Major Fils giebt die Höhe des Kickelhahns bei Ilmenau auf 2651 Pariser Fuß über dem Spiegel der Ostsee an, also fast 200 Fuß höher, als Sie annehmen. Was Ihre zweite Frage anlangt, so werden Sie an dem Thurmwart des Kickelhahns, Kilian Merten, den besten Informator finden. Das im geographischen Institut in Weimar erschienene Panorama des Kickelhahns ist von Kilian Merten entworfen und dürfte Ihnen an sich schon beweisen, wie gut und sicher der alte Herr sein vortreffliches Fernrohr zu gebrauchen wußte. Uebrigens trägt Merten’s Auge fast so weit wie sein Instrument.

Frl. … in Pommern. Mit Recht protestiren Sie gegen die Sclaverei der Mode, gegen ihre Thorheiten und Geschmacklosigkeiten. Aber wenn Sie die „Gartenlaube“ gegen das Modeunwesen in die Schranken rufen, so bedauern wir, Ihnen erwidern zu müssen, daß eine Reform auf diesem Gebiete, wiewohl wir Ihre Ansichten theilen, nicht unseres Amtes ist. Machen Sie für die von Ihnen verfochtene Idee in Ihren Kreisen Propaganda! Viele Kämpferinnen machen ein Heer.

St. R. zu U. in Mähren. Sie erzählen vom Verschwinden eines freisinnigen deutschen Priesters, der, als gefährlich für das nationalclericale Czechenthum, in einem Kloster oder Irrenhause Prags festgehalten werde. Wo bleiben aber die Namen, die des Verschwundenen und der Ihre?


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Es ist wohl durch Freiligrath, der seinem Gedicht die Ueberschrift „Die Trompete von Gravelotte“ gab, die irrige Bezeichnung der Schlacht entstanden; da das Factum dem 16. August angehört, so kehren wir zur richtigen Benennung des Schlachtorts zurück.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: zwischeu
  2. Vorlage: Enschluß
  3. Vorlage: fünfzig. Die Angabe wird in Heft 37 berichtigt.