Die Gartenlaube (1872)/Heft 35
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No. 35. | 1872. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
„Die Vorbereitungen zu dem Duell – denn für stolze Primaner mußte es selbstverständlich ein richtiges Duell sein –“ fuhr Gotthold fort, „waren in aller möglichen Heimlichkeit betrieben. Nur die Betheiligten, das heißt die Paukanten und Secundanten, um mich dieser classischen Ausdrücke zu bedienen, wußten um den Ort, um die Stunde. Uns Waffen zu verschaffen, hielt nicht schwer, denn trotz des strengsten Verbots existirten unter uns mindestens ein halbes Dutzend Paar Rappiere. Karl Brandow hatte eines und seine speciellen Freunde erzählten Wunderdinge von seiner Kunstfertigkeit; aber auch Curt war der glückliche Besitzer von zwei guten Klingen, mit deren gräulichem Gerassel wir oft in Dollan den stillen Wald aus seiner Ruhe geschreckt hatten. Ich hatte ein scharfes Auge und trotz meiner fünfzehn Jahre eine feste Hand, und Karl Brandow mochte nicht wenig erstaunt sein, als er in dem entscheidenden Momente den verachteten Gegner so gerüstet fand. Wenigstens wurde er mit jedem Augenblick unruhiger und heftiger und machte es mir so möglich, trotzdem er mir wirklich weit überlegen war, ihm nicht nur Stand zu halten, sondern sogar zum Angriff überzugehen und ihm eine Schulterquart beizubringen, die tief genug war, daß das Blut durch den Aermel drang. Die Secundanten riefen Halt! Ich ließ sofort mein Rappier sinken; aber er hatte in der Raserei des Zornes über seinen Unfall den Ruf nicht gehört, meine Bewegung nicht gesehen, so wenig, wie ich etwas von dem, was in den nächsten vier Wochen mit mir vorging, sah oder hörte.“
„Er soll ja zweimal zugeschlagen haben,“ sagte Frau Wollnow, „das letzte Mal, als Sie schon auf dem Boden lagen.“
„Ich glaube es nicht, werde es niemals glauben,“ erwiderte Gotthold; „auch unsere Secundanten hatten gewiß den Kopf verloren und konnten später nicht mehr mit gutem Gewissen sagen, wie die Sache zugegangen war. Aber jetzt, verehrte Frau, werther Herr Wollnow, muß ich fürchten, Ihre Geduld erschöpft zu haben, und will mich Ihnen empfehlen. Um Himmels willen! schon zwölf Uhr! es ist unverzeihlich!“ –
„Ich hätte die ganze Nacht zuhören können,“ sagte Frau Wollnow mit einem tiefen Seufzer, indem sie sich ebenfalls, aber sehr langsam, aus ihrem Stuhl erhob. „Ach, die Jugend, die Jugend! man ist doch nur einmal jung.“
„Gott sei Dank,“ sagte Gotthold heiter, „man müßte am Ende sonst seine dummen Streiche zweimal machen.“
„Wer ist so alt, daß er vor Thorheit sicher wäre?“ sagte Herr Wollnow mit einem ernsten Lächeln.
„Du!“ rief Frau Wollnow, indem sie ihren Mann umarmte. „Du bist viel zu alt und viel zu schlecht! Denn man muß nicht blos jung, man muß auch gut sein, wie unser Freund hier, um für alle seine Güte so schlecht belohnt zu werden. Ich kann mir denken, wie Ihnen um’s Herz war, als nun doch Cäcilie diesen Brandow heirathete. – Das süße, holde, siebenzehnjährige Geschöpf diesen Menschen! Ach, wenn man so etwas sieht, sollte man eigentlich den Glauben an die Menschen für immer verlieren!“
„Dieser Glaube soll überhaupt nicht so häufig gefunden werden, weder in Israel noch anderswo,“ sagte Herr Wollnow.
„Gehen Sie –“
„Ich gehe schon, verehrte Frau.“
„Gott, nun fangen Sie auch noch an! Ich wollte sagen: werden Sie wirklich nach Dollan gehen?“
„Jetzt muß ich es ja, wenn ich es nicht schon des Bildes wegen müßte.“
„Weshalb?“
„Mir den Glauben an die Menschheit wieder zu holen, zum mindesten an den mir wichtigsten Theil derselben, an mich selbst,“ erwiderte Gotthold mit einem Lächeln, dessen Spott Herrn Wollnow nicht entging.
„Ich bin recht unzufrieden mit Dir,“ sagte dieser, als er wieder in das Zimmer trat, nachdem er Gotthold bis an die Hausthür begleitet.
„Mit mir?“
„Was muß der Mann nur von mir denken! für welch aufdringlichen, täppischen Gesellen muß er mich halten! Ein wahres Glück, daß ich nicht noch weiter gegangen bin!“
„Aber was habe ich denn nur gethan?“
„Warum hast Du mir denn nie diese famose Jugendgeschichte erzählt, aus der doch klar hervorgeht, daß er Deine Freundin Cäcilie, wie Du sie nennst, obgleich ich von der Freundschaft nie etwas zu sehen bekommen habe, geliebt hat, und wahrscheinlich noch liebt?“
„Glaubst Du das wirklich?“ rief Frau Wollnow, indem sie aufsprang und ihren Gatten umarmte; „glaubst Du das wirklich? Hat er es Dir gesagt?“
Herr Wollnow mußte trotz seines Aergers lachen.
[564] „Ich wäre wohl der Letzte, den er sich zu seinem Vertrauten wählte, besonders jetzt, nachdem ich dummer Kerl eine Stunde lang an diesem Mohren herumgewaschen habe.“
„An diesem Mohren? aber ich verstehe Dich wirklich nicht, Emil.“
„Verstehst mich nicht? Gott, du Gerechter! Wie schwer sich diese Frauen in Angelegenheiten zurecht finden, die sie mit Stolz als die ihrigen zu bezeichnen geruhen! Verstehst mich nicht? Nun, das kann ich Dich versichern, dieser Phantast hat Dich vollkommen verstanden, und er wird morgen in aller Frühe auf dem Wege nach Dollan sein.“
„Nun, darin sehe ich denn doch kein besonderes Unglück!“ sagte Frau Wollnow. „Warum sollen sich die Beiden nach so vielen Jahren nicht einmal wiedersehen, auch wenn sie sich wirklich noch lieben? Ich gönne es der armen Cäcilie von ganzem Herzen; sie bedarf so sehr des Trostes.“
„Wie ihr würdiger Gemahl des Geldes! übermorgen ist der letzte Respectstag für fünftausend Thaler seiner Wechsel, die bei mir domicilirt sind. Vielleicht hilft er Beiden, er hat ja die Mittel!“
„Ach, Emil, Du bist unerträglich mit Deiner ewigen Prosa.“
„Ich habe Dir nie versprochen, daß Du einen Poeten an mir haben würdest.“
„Das weiß der Himmel!“
„Es wäre mir lieber, wenn Du es wüßtest.“
„Emil!“
„Ich bitte Dich um Verzeihung! ich bin wirklich zu böse, um nicht boshaft zu sein. Aber das kommt davon, wenn man sich in die Angelegenheiten fremder Leute mischt. Laß doch die Narren gewähren! und vor Allem, laß uns zu Bett gehen!“
Als Gotthold nach einer qualvoll unruhigen Nacht aus schwerem Morgenschlafe jäh erwachte, hatte die Sonne bereits stundenlang durch die weißen Tüllvorhänge in sein Zimmer geschienen. „Gott sei Dank!“ sprach er laut, „der Morgen ist da, und der Morgen hat Alles wohl besser gemacht.“
Bald stand er angekleidet am geöffneten Fenster. Wie vertraut ihm die Scene war! Der runde, von den freundlichen, gärtenumgebenen weißen Häusern eingerahmte Platz mit dem grasüberlaufenen Pflaster und dem kleinen Obelisken in der Mitte; dort das stattliche Gebäude des Pädagogiums, aus dessen offenen Fenstern der Gesang der Knaben durch die Sonntagmorgenstille so deutlich zu ihm herüberklang, daß er die Worte des Chorals zu verstehen glaubte; rechter Hand, zwischen den Häusern durchblickend und die Dächer derselben überragend, das dunkle Grün der Riesenbäume des fürstlichen Parkes; weiter links, zwischen ein paar anderen Häusern, ein Stück der blauen See und des kleinen, in diesem Momente von der Sonne beglänzten Eilandes, das der großen Insel vorgelagert ist. So wie er es hier sah, hatte er es hundert und hundert Mal gesehen, das liebe Bild, wenn er dort drüben im Pädagogium, nachdem die Morgenandacht beendet, mit Curt am Fenster stand und seine Blicke nach der Gegend schweiften, wo das geliebte Dollan lag; so wie jetzt hatte es ihn hinausgelockt aus der Enge der Zimmerwände in die sonnigen Felder, in die schattigen Wälder, an die blaue, See. Diese Lichter, diese Schatten, die Bläue – sie hatten in dem Knaben die holde Leidenschaft entflammt, nachzubilden, wiederzugeben, was verworren klar vor seinen frischen Sinnen lag, was sein Gemüth so ahnungsvoll tief bewegte. Sie waren seine ersten Lehrmeister gewesen in der wunderbaren Sprache der Linien und Farben; und wie geläufig er auch seitdem diese Sprache zu sprechen gelernt – ihnen verdankte er doch, was er war und konnte. Und hatte er nicht gestern bereits, als er durch die heimischen Gefilde kam, so düster es auch in seinem Gemüthe war, die Empfindung gehabt, als sei sein Mühen und Schaffen unten in dem schönen Italien mehr oder weniger ein vergebliches gewesen, als habe er dort eigentlich immer nur mit Auge und Hand und nie mit dem Herzen gemalt, und eine schöne, wohlklingende, aber doch fremde Sprache mühsam gesprochen, nicht seine Mutter-, seine Heimathsprache, und daß er hier, nur hier in seinem Heimathlande, unter seinem Heimathhimmel wahrhaft ein echter, rechter Künstler werden könne, der da nicht sagt, was Andere ebenso gut und besser sagen können, sondern was nur er sagen kann, weil, was er sagt, er selbst ist?
Aber konnte ihm nach Allem, was geschehen, was er hier erlebt, erlitten, die Heimath wirklich noch Heimath sein? Warum nicht, wenn er sie nur sah mit dem Auge, mit dem er doch sonst die ganze Welt zu sehen sich bemühte; wenn er nichts Anderes sein wollte, als was er in seinen guten Stunden zu sein glaubte: ein wahrhafter, nur seinen Idealen lebender Künstler, hinter dem in wesenlosem Scheine liegt, was die Anderen bändigt, und dem im schlimmen Falle ein Gott gab, zu sagen, was er leidet? Ja, seine Kunst, die strenge, holde, sie war sein Leitstern gewesen in dem Irrsal seines jungen Lebens, sein Talisman in dem Trübsal und der Noth seiner Münchener Jahre, seine Zuflucht früher und später; und sie sollte und würde es auch sein, und würde treu zu ihm halten, wenn er treu zu ihr, und sie hoch und heilig hielt immerdar als seine Schirmherrin und angebetete Göttin!
Der Gesang der Knaben drüben war verstummt. Gotthold strich sich mit der Hand über die starren Augen und wandte sich in das Zimmer zurück, als jetzt laut an die Thür gepocht wurde.
„Wie, Du bist es, Jochen?“
„Ja, Herr Gotthold, ich bin es,“ erwiderte Jochen Prebrow, nachdem er das Kaffeebrett, welches er hereingebracht, so vorsichtig auf den Tisch gestellt hatte, als wäre es eine Seifenblase, die bei der geringsten Berührung zerplatzen mußte. „Der Clas Classen aus Neuenkirchen, oder, wie sie ihn hier nennen, Louis, war gerade im Keller, als Sie vorhin klingelten, und ich dachte, der Kaffee würde Ihnen nicht schlechter schmecken, wenn ich ihn brächte.“
„Gewiß nicht; ich danke Dir bestens.“
„Und dann wollte ich auch fragen, wann ich anspannen soll.“
„Ich werde noch ein paar Tage hier bleiben,“ erwiderte Gotthold.
In Jochen’s breitem Gesichte wollte bei diesen Worten ein Lächeln aufsteigen, das aber sofort wieder verschwand, als Gotthold weiter sagte: „So wirst Du denn allein fahren müssen, alter Freund.“
„Ich wäre auch gern ein paar Tage hier geblieben,“ sagte Jochen.
„Und das kannst Du nicht, wenn ich den Wagen nicht behalte? So behalte ich ihn, und was mir mehr werth ist, Dich; und wir gehen sofort nach Dollan, wohin denn doch wohl auch Dein Sinn steht. Oder glaubst Du, die Pferde nicht so lange allein lassen zu dürfen?“
Jochen hatte nach dieser Seite keinerlei Sorge. Sein guter Freund Clas Classen, den sie hier wunderlicher Weise Louis nannten, würde die Oberaufsicht gern übernehmen und schon dafür sorgen, daß die Pferde zu dem Ihrigen kämen; aber weshalb wollte Herr Gotthold gehen, da sie doch einmal Wagen und Pferde da hätten?
„Aber ich möchte nun gern gehen,“ sagte Gotthold.
„Was dem Einen seine Eule ist, ist dem Andern seine Nachtigall,“ sagte Jochen, sich in dem dichten Haar krauend. „Aber die Sache hat doch noch einen Haken: Sie werden das Nest leer finden.“
„Wie meinst Du?“
„Sie sind vor einer Stunde schon hier durchgekommen, der Herr und die Frau,“ erwiderte Jochen. „Ich saß gerade in der Gaststube, und sie blieben vor der Thür halten.“
Gotthold blickte Jochen starr an. Sie war hier gewesen, in seiner unmittelbarsten Nähe, unter dem Fenster, an welchem er eben gestanden, und er hätte das holde Antlitz wiedersehen können, wie Jochen es gesehen, der das so ruhig sagte, als ob das eine Sache sei, die Einem alle Tage begegnen konnte!
„Und Du hast sie gesprochen, Jochen?“ brachte er endlich zögernd heraus.
„Die Frau blieb sitzen,“ sagte Jochen; „aber er kam herein, einen kleinen Rum zu trinken, und da just weiter Niemand in der Stube war und ich mir auch eben einen aus dem Schranke geholt hatte, so verhalf ich ihm dazu; und da frug er, wo ich herkomme, und ich sagte ihm, daß ich mit einem Herrn hier wäre, und ich glaubte, daß wir heute gleich weiterführen, sobald [565] der Herr aufgestanden wäre, und da frug er, ob ich den Herrn kenne; aber natürlich kannte ich ihn nicht; denn, dachte ich, die Freundschaft zwischen den Beiden ist nie groß gewesen, und je weniger Einer mit Herrn Brandow zu thun hat, desto besser ist es. Hab’ ich nicht Recht? Na, und da gab denn ein Wort das andre, und er stellte seine Uhr und sagte, er fahre nach Plüggenhof und werde wohl bis morgen Abend da bleiben, und dann trank er seinen Rum, den er wohl bezahlen wird, wenn er wieder durchkommt, und weg war er, und ein Paar schöne Braune hatte er vor, so ein Paar von den echten, besonders das Sattelpferd. Da hätten Sie auch Ihre Freude dran gehabt, denn auf Pferde verstehen Sie sich, das habe ich gestern wohl gemerkt.“
Gotthold’s starre Blicke suchten noch immer den Boden. Sie würde nicht einmal wissen, daß er hier gewesen!
Mochte es denn sein! Er hatte ja keinen Augenblick die Absicht gehabt, ihren Weg zu kreuzen; und jetzt war der Weg frei, ganz frei; er konnte ungehindert, ohne Herzbeklemmung, den Plan ausführen, den er sich gestern ausgedacht, als er von Wollnows durch den nächtlichen Park in den Gasthof zurückkehrte.
Eine Stunde später wanderten die Beiden den Weg nach Dollan, im Anfange auf der Landstraße, aber bald auf Seiten- und Richtsteigen, von denen Gotthold noch jeden Fußbreit kannte.
In Träumen verloren von den Tagen, die nicht mehr waren und niemals wiederkehren konnten, schritt er dahin, während hoch herab die Lerchen unaufhörlich sangen und auf den sonntäglich stillen Feldern die blauschwarzen Kolkraben spazierten und über den Mooren die bunten Elstern flatterten und dort am fernen Waldesrand ein Adler seine majestätischen Kreise zog. Jochen, der es sich nicht hatte nehmen lassen, außer dem eignen kleinen in sein buntes Baumwollentaschentuch geknüpften Bündel Gotthold’s Reisetasche und Malkasten zu tragen, und die meiste Zeit ein wenig zurückblieb, störte den schweigenden Gefährten keineswegs durch allzu große Redseligkeit. Jochen hatte seine eigenen Gedanken, die allerdings nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft weilten, Gedanken, die er gar zu gern ausgesprochen hätte, nur daß er nicht wußte, wie er das Gespräch einleiten konnte. Aber da kam die Waldecke immer näher und näher, an welcher er sich für heute von Gotthold trennen sollte, und wenn er überall nach Gotthold’s Meinung hören wollte, jetzt war es Zeit. So faßte er sich denn ein Herz, holte den Gefährten mit ein paar langen Schritten ein, ging dann noch ein paar Minuten schweigend an seiner Seite und war selbst nicht wenig erschrocken, als er plötzlich die Frage, die er hundertmal leise probirt hatte, wirklich laut that: „Was halten Sie vom Heirathen, Herr Gotthold?“
Gotthold blieb stehen und schaute verwundert den guten Jochen an, der ebenfalls stehen geblieben war und dessen breites Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen und dem halb geöffneten Munde einen so seltsamen Ausdruck hatte, daß er sich des Lächelns nicht erwehren konnte.
„Wie kommst Du darauf?“
„Weil ich eben heirathen will.“
„Dann mußt Du doch, was davon zu halten ist, besser wissen als ich, der ich nicht heirathen will.“
Jochen schloß den Mund und schluckte ein paar Mal, als ob er einen allzu großen Bissen hinunterzuwürgen hätte; Gotthold mußte jetzt gerade herauslachen.
„Ei, Jochen,“ rief er, „weshalb so geheimnißvoll gegen einen alten Freund! Ich will Dir gern meinen besten Rath ertheilen und, wenn es sein kann und Dir daran gelegen ist, meinen besten Segen dazu, aber vorher muß ich wissen, um was es sich eigentlich handelt. Du willst also heirathen?“
„Ja, Herr Gotthold,“ sagte Jochen, die Mütze abnehmend und sich die hellen Schweißtropfen von der braunen Stirn wischend, „ich will eigentlich gar nicht, aber sie sagt ja, daß sie mich immer gewollt hat.“
„Das ist schon etwas; und wer ist sie?“
„Stine Lachmund.“
„Aber Jochen, die ist ja mindestens fünfzehn Jahre älter als Du!“
„Dafür kann sie nicht.“
„Gewiß nicht.“
„Und dann ist sie ein tüchtiges Frauenzimmer, die höllisch gut im Zeuge ist und gut in den Knochen, nur im Gangwerk ein wenig schwer, von wegen weil sie jetzt ein wenig übercomplet ist; aber sie meint, das würde sich wohl geben, wenn sie wieder mehr zu arbeiten hätte als bei Wollnows, wo das Leben gar zu bequem ist.“
„Nun, wenn sie das selbst meint –“
„Ja, und dann hat sie sich bei Wollnows ein hübsches Stück Geld zurückgelegt, und ihre beiden Alten in Thiessow, wissen Sie, Herr Gotthold – wir sind ja ’mal zusammen hingesegelt mit unserem jungen Herrn, und draußen stand eine grausam hohe See, und kamen naß wie die Katzen hin und der alte Lachmund meinte, wir hätten eigentlich ersaufen müssen.“
„Und, dann machte er uns einen steifen Grog,“ sagte Gotthold.
„Und unser junger Herr trank ein bischen zu viel und trieb einen Teufelspossen in dem Alten seiner langen Jacke und dem Südwester auf dem Kopf – das war doch eine schöne Zeit, Herr Gotthold!“
Jochen hatte den Faden seiner Geschichte verloren, Gotthold half freundlich ein, und Jochen erzählte nun weiter, wie die beiden Alten, in ihrer Art vermögliche Leute, die in dem großen Lootsen- und Fischerdorfe eine Ackerwirthschaft und so etwas wie eine Gastwirthschaft hielten, endlich das so lange eigensinnig festgehaltene Scepter an ihre einzige Tochter abgeben und sich zur Ruhe und auf das Altentheil setzen wollten unter der Bedingung, daß sie sofort einen tüchtigen Mann heirathete.
So hatte Stine Lachmund, welcher Jochen zu derselben Stunde, in der Gotthold vorn bei der Herrschaft saß, in der Küche einen Besuch abstattete, berichtet, und sie hatte Jochen gefragt, ob er der Mann sein wolle.
„Denn sehen Sie, Herr Gotthold,“ fuhr Jochen fort, „sie nimmt nicht Jeden, und mich kennt sie, so zu sagen, von klein auf, und weiß, daß ich ja so weit ein ordentlicher, nüchterner Mensch bin, der mit Pferden gut umgehen kann und auch sonst von der Ackerei genug versteht, und auch ein Boot steuern kann, wenn’s nicht gerade zu arg weht.“
„Dann wäre ja so weit Alles in bester Ordnung,“ sagte Gotthold; „aber nun die Hauptsache: bist Du ihr denn wirklich gut?“
„Ja, das ist es ja man eben,“ erwiderte Jochen nachdenklich; „und sie hat es mich gestern Abend selbst gefragt, und was sollte ich darauf sagen?“
„Die Wahrheit, Jochen, nur die Wahrheit!“
„Hab’ ich auch, Herr Gotthold, habe ich auch gesagt. ‚Bis jetzt noch nicht,‘ habe ich gesagt, und darauf hat sie gelacht und gesagt, das schadete auch weiter nichts, das fände sich Alles, wenn das Frauenzimmer ordentlich und der Kerl ordentlich wäre. Und ich sollte Sie nur fragen, Sie würden mir schon richtigen Bescheid geben.“
„Ich?“
„Ja, Sie wüßten davon Bescheid; Sie wären immer so ein guter Mensch gewesen, und – und –“
„Und?“
„Und wenn Sie unser Fräulein geheirathet hätten, dann wäre sie ein gut Theil besser angekommen, als jetzt; na, und Herr Gotthold, ich habe sie heute Morgen durch das Fenster nur so von der Seite gesehen, als sie da allein im Wagen saß; aber das muß ich sagen: überglücklich sah sie nicht aus; und Stine meint ja, sie hat auch nicht gar so viel Ursach’ dazu. Meinen Sie denn das auch, Herr Gotthold?“
„Ich weiß es nicht, ich hoffe nicht –“ erwiderte Gotthold; „die Leute reden so viel; – aber wir wollten von Deiner Angelegenheit sprechen.“
„Ja, und was sagen Sie nun?“
„Was ist da viel zu sagen? Wenn Du das Herz dazu hast, so heirathe die Stine, die gewiß ein braves, rechtschaffenes Mädchen ist, und behandle sie gut, und seid Beide so glücklich und zufrieden, wie Ihr es zu sein verdient.“
[566] Sie hatten sich, die wichtige Unterredung in Ruhe führen zu können, am Rande des Waldes in den Schatten gesetzt. Jetzt erhob sich Gotthold rasch, ergriff Reisetasche und Malkasten, die Jochen neben sich in das Gras gelegt hatte, schüttelte dem Gefährten kräftig die braune harte Hand und wandte sich in den Wald, ohne sich umzusehen.
Jochen blickte dem Davonschreitenden nach, nahm dann sein eigenes kleines Bündel mit dem Stock auf die Schulter und begann die Haide hinaufzuschreiten, über deren höchstem Rand das Dach der väterlichen Schmiede eben sichtbar wurde.
Schnellen Schrittes, rastlos, als habe er keine Minute zu verlieren, eilte Gotthold durch den Wald. Aber es waren nur die schlimmen, qualvoll traurigen Gedanken, die ihn also jagten, und die nicht von ihm lassen wollten, so wenig wie der Mückenschwarm, der mit ihm in den Wald gezogen war und steigend, sinkend, jetzt zurückbleibend, jetzt wieder vorauseilend, sein Haupt umschwebte.
„Daß ich es immer hören muß, und überall und von allen Zungen,“ murmelte er, „als hätte ich es zu verantworten, als wäre es ein Vorwurf für mich, daß sie nicht glücklich ist! Glücklich! wer ist es denn? Die unfehlbaren Leute vielleicht, die ihr moralisches Einmaleins vorwärts und rückwärts hersagen können, wie dieser Wollnow, der kluge, selbstgerechte Pharisäer; oder wie der gute Jochen, dem fünfzehn Jahre mehr oder weniger bei seiner Stine nichts ausmachen, wenn ihm nur gute Verköstigung garantirt wird? Aber sonst – bin ich glücklich? sind es tausend und tausend Andere, die kaum eine größere Schuld haben, als die, daß sie Menschen sind, Menschen mit einem Herzen, das fühlt und mitfühlt, und leidet und mitleidet? Fluch dem Mitgefühl und Fluch dem Mitleid! Sie machen uns zu den erbärmlichen Geschöpfen, die wir sind. Was rauscht ihr, ehrwürdige Buchen, die ihr Jahrhunderte schon zur Herbsteszeit die dürren Blätter hier auf den Waldboden streut, um im Frühling wieder im vollen Schmuck des grünen Laubes zu glänzen? was murmelst du, kleiner Bach, der du heute so geschäftig dein braunklares Wasser zum Meere trägst, wie damals, als ich, ein munterer Bube, an deinem Rande spielte, und mir ein Sprung hinüber und herüber eine Heldenthat dünkte? Ach! in dem Rauschen, in dem Murmeln, – ich höre dasselbe Lied, das gestern die Schwalbe sang, das Lied von der ewigen Jugend der Natur, der immer sich gleichen und immer gleich kraftvollen, immer gleich herrlichen; und von der Vergänglichkeit, der Hinfälligkeit des Menschen, der von Furcht und Hoffnung das kümmerliche, nimmersatte Dasein fristet, um sich frühen Tod an dieser Schattenspeise zu essen, und doch noch am glücklichsten ist, so lange sein Herz noch fürchten und hoffen kann, das sich nie wieder füllt, wenn es einmal geleert ist, oder, wenn es sich wieder füllt, wenn es wieder schwillt, mit Verachtung sich füllt, von Unmuth schwillt, daß es je so thöricht sein konnte, in Furcht und Hoffnung bang zu schlagen. Nun, ich hoffe nichts mehr, so brauche ich auch nichts mehr zu fürchten, auch nicht den Blick, der mich dort oben erwartet.“
Von dem breiteren, gänzlich vernachlässigten Wege, der dem Lauf des Waldbaches bisher gefolgt war und auch nach rechts in die Tiefe des Waldes weiter zum Meere folgte, zweigte sich links ein Fußpfad ab, welcher anfangs noch zwischen mächtigen Stämmen, bald aber durch niedrigeres und immer niedrigeres Unterholz aufwärts führte. Dann war der Rücken des Hügels nur noch mit Haidekraut und Ginster überlaufen bis zur höchsten Kuppe, auf welcher Menschen der Vorzeit aus gewaltigen, jetzt mit zolldickem Moos bewachsenen, zum Theil tief in den Boden gesunkenen Felsblöcken ihrer Fürsten einem das riesenhafte Grabmal errichtet hatten. Es war der Platz, von dem aus Gotthold damals mit unsicherer Hand die Farbenskizze entworfen, die er hernach zu dem Gemälde benutzte, das in Frau Wollnow’s Stube hing.
Und da stand er nun nach zehn langen Jahren wieder – im Schatten eines der Blöcke, der ihm gegen den heißen Strahl der Sonne Schutz gewährte – und vor ihm dehnte sich die Landschaft, an deren wunderbarer Schönheit sich das Auge des Knaben nie hatte ersättigen können. – Ach, die Zeit hatte keinen der Reize des Bildes verwischt; ja, es war, als ob die Stunde eigens dazu angethan sei, ihm das Paradies seiner Jugend in seinem ganzen Zauber zu zeigen.
Die Stunde des Mittags! In funkelndem Sonnenschein gebadet die Wipfel der Buchen, über die sein Blick in smaragdene Wiesen und goldene Kornfelder sich senkte – die Wiesen und Felder von Dollan, das wie ein stilles, sonniges Eden zwischen den schattenreichen, waldgekrönten Hügeln lag, die es von allen Seiten erschlossen. Und inmitten der Wiesen und Felder, auftauchend aus dem dunkleren Grün der Gartenbäume, die strohgedeckten Dächer der Hofgebäude und das Ziegeldach des langen niedrigen Herrenhauses, in dessen rothem Giebel er deutlich das kleine Fenster des Stübchens erkannte, das er, so oft er in Dollan war, zusammen mit Curt bewohnte. Welche Erinnerungen dieses Fensterchen in ihm wachrief! und wie sein Blick daran gebannt war und sich kaum losmachen konnte, um rechts, wo sich die Hügel öffneten, in das blaue Meer hinauszuschweifen, auf welchem ferne weiße Segel wie Sterne erglänzten; oder links über die weite braune Haide, auf der die einsame Schmiede unter der uralten Eiche, dem einzigen Baum in der schattenlose Oede, lag, deren Rand wiederum von höheren Waldhügeln überragt wurde, die das Bild nach der Landseite abschlossen!
Die Stunde des Mittags, die Stunde des großen Pan! kein leisester Hauch in dem glanzvollen Aether, regungslos die blendend weißen Wolken an dem stahlblauen Himmelsgewölbe, regungslos die Wipfel der Bäume, regungslos selbst die blühenden Sträuche, ja die langen Halme der Gräser. Kein Laut in der unendlichen Stille; selbst die Cicade, die bis jetzt zwischen den Steinen des Hünengrabes geschwirrt hatte, schwieg, erschreckt vielleicht von der braunen Schlange, welche mit erhobenem Halse, die runden glänzenden Augen starr auf Gotthold gerichtet, wenige Schritte von ihm entfernt auf einem der Felsblöcke, den übrigen Theil des schuppigen Leibes in dickstem Haidekraut begraben, regungslos lag. Er hatte sie vorher nicht bemerkt, und betrachtete sie jetzt nicht ohne einen gewissen Schauder. War es doch, als ob die Erstarrung, in welche die Natur versunken war, wesenhaft geworden sei; als ob der Geist der Einsamkeit und Verlassenheit Gestalt angenommen. Wehe, wenn die Einsamkeit dort unten in dem Herrenhause mit dem verwilderten Garten, wenn die Verlassenheit in diesem von allem menschlichen Verkehr so weit entfernten Thale dich anstarren mit diesen grausamen kalten Augen! wenn du hinaushorchst in die Stille nach einer lieben Menschenstimme und nichts hörst als das siedende Blut in den Schlafen und das bange schwere Klopfen deines Herzens!
Fort, Dämon, fort!
Er hatte den Stab erhoben; die Schlange war verschwunden; er konnte, als er an den Felsen trat, wo sie gelegen haben mußte, nur noch eben die nickenden Blumen des Haidekrautes sehen, durch dessen dichtes Wurzelgeflecht sie fortgeschlüpft.
Oder war es nur ein Bild seiner Phantasie gewesen? und was die Blumen nicken machte, der leise Hauch, der jetzt durch die heiße Luft spielte und stärker und stärker wurde, so daß ein Wispern und Flüstern rings um ihn her entstand, und es jetzt aus dem Walde hinter ihm, und jetzt in den Wipfeln unter ihm zu raunen begann, und endlich voll und kühl der Wind vom Meere her über die lechzende Erde rauschte?
Der Zauber war gebrochen, Gotthold sah wieder in die Landschaft; aber jetzt mit dem Auge des Künstlers, der seinem Gegenstande die beste Seite abzugewinnen sucht.
„Ich hatte damals die Morgenbeleuchtung gewählt, wenn man dergleichen Wahl nennen darf; das war falsch und ich mußte mir für das Bild die Lufteffecte künstlich zurecht machen. Aber die Sonne muß dort links in mäßiger Höhe über der Haide stehen, ungefähr über der Schmiede, das wird gegen sechs Uhr sein; bis Acht kann ich haben, was ich brauche. Ich glaube, es wird ein gutes Bild werden, mit dem nicht blos die schwatzhafte Dame zufrieden sein kann.“
Auch außer den französischen Milliarden strömt seit dem großen Kriege und in Folge des weithinschallenden Ruhmes der deutschen Waffen noch so Mancherlei nach der Haupt- und Residenzstadt des neuen Reiches, was wesentlich zur Aenderung ihrer Physiognomie beiträgt und sie als eine beginnende Weltstadt charakterisirt. Dahin ist, und gewiß nicht in letzter Reihe, ein vordem unbekanntes Element der Bevölkerung zu rechnen, welches dem Verkehr auf der Straße und in der Gesellschaft in neuer Weise Farbe und Reiz leiht, – die Söhne einer anderen Sonne, durch den Glanz des deutschen Namens herübergelockt, um hier deutsches Wesen in Sitte, Arbeit und Bildung zu lernen und das Gelernte demnächst in der Heimath zu verwerthen.
Japan, das „Reich des Sonnenaufgangs“, der wunderbare Inselstaat, nach welchem Sage und Dichtkunst den germanischen abenteuerliebenden Sinn seit fast einem Jahrtausend hinzog, ist, nun sieben Häfen des früher verschlossenen Gebiets vor einigen Jahren sich dem europäischen Handel geöffnet haben, in kurzer Zeit ein vielgesuchtes Ziel der deutschen Schifffahrt geworden, von dessen Bedeutung das schnelle Wachsthum der deutschen Niederlassungen an den freigegebenen Plätzen Zeugniß ablegt. Durch die Berichte von Reisenden und Gelehrten sind wir nunmehr über die so lange geheim gehaltenen Verhältnisse der „Zehntausend (nach japanischer Zählung) Inseln“ ziemlich genau orientirt, und mit lebhaftem Interesse vernehmen wir, wie eine erleuchtete Regierung dort die Sache des Fortschritts vertritt, Eisenbahnen baut, Telegraphen anlegt und vor Allem sich die Verbesserung der Schulen angelegen sein läßt. Dagegen wurde anfangs Seitens des japanischen Volkes und seiner Regierung, welche in dem jungen Mikado (Kaiser) gipfelt, Deutschland nicht dieselbe Aufmerksamkeit zugewandt, mit welcher man auf die Dinge in Nordamerika, England und Frankreich blickte. Es trat der Unterschied in der Schätzung dieser Staaten sehr auffällig hervor, als vor drei Jahren der Kaiser, um schneller amerikanische und europäische Cultur nach Japan zu verpflanzen, die wissenschaftliche Ausbildung junger Männer an den Pflanzstätten dieser Cultur selbst beschloß und zu diesem Zweck bestimmte, daß eine Anzahl von Söhnen angesehener Familien in die Hauptstädte der Culturländer gehen sollten, um dort ihre Studien nach der Weise der Fremden zu betreiben. Als solche Städte wurden in Amerika New-York, in Europa London, Paris und Berlin ausersehen, aber während die Ersteren Hunderten von diesen jungen Studenten zum Aufenthalt angewiesen wurden, kamen nach Berlin nur ihrer Zwei. Dieses Verhältniß hat sich nun wesentlich geändert, seitdem die Nachrichten von den gewaltigen Siegen und Erfolgen des letzten Krieges auch in Ostasien die Bewunderung der deutschen Thaten herausforderten. Mehr und mehr Jünglinge wurden nach Deutschland geschickt, zum Theil auch nach Frankfurt und Bremen, hauptsächlich aber nach Berlin, welches jetzt siebenzig lernende und studirende junge Japanesen beherbergt, während deren überhaupt in’s Ausland fünfhundert gegangen sind. In London und New-York verweilen auch einige heranwachsende Damen zum Abschlusse ihrer Erziehung.
Siebenzig junge Männer, deren Herkunft, Sprache und Aeußeres die Aufmerksamkeit sowohl an öffentlichen Orten als in der gebildeten Gesellschaft in Anspruch nimmt, bleiben auch in dem großen, unruhigen Berlin nicht unbeachtet, und das leichtbegreifliche Interesse, welches sie in weiteren Kreisen erwecken, rechtfertigt eine Schilderung der kleinen Colonie.
Man kann die Mitglieder derselben füglich ist zwei Kategorien sondern, wenngleich eine solche Trennung äußerlich nicht erkennbar hervortritt, in Zöglinge der Regierung und in Freiwillige. Ein Theil von ihnen ist nämlich auf Kosten des Kaisers hergesandt und wird vollständig aus kaiserlichen Mitteln unterhalten. Zugleich wurden aber auch von dem Mikado der Adel Japans und speciell die bekanntlich ihrer Fürstenthümer vor Kurzem enthobenen Daimios (eine Art Lehnsfürsten) aufgefordert, in gleicher Weise sich die höhere Cultur Europas und Amerikas zu eigen zu machen, und da sich aus diesen Familien Freiwillige in großer Zahl meldeten, aus vielen zwei bis drei, ja aus einer vier Brüder, so wurden sie den Regierungs-Stipendiaten zugetheilt und mit diesen zusammen entsendet. Sie bestreiten zwar ihre Bedürfnisse selbst, sind aber den Anordnungen der Regierung ganz ebenso wie ihre pecuniär abhängigen Genossen unterworfen. Natürlich giebt es unter den letzteren auch solche, welche von Eltern oder Verwandten Zuschüsse erhalten, und die finanziellen Mittel der Einzelnen sind daher sehr verschieden. – Wie sich die Zahl der Staatspensionäre zu den Freiwilligen verhält, ist nicht zu ermitteln, da von allen Seiten darüber ein Stillschweigen beobachtet wird, welches sie mit der Besorgniß rechtfertigen, daß ein Bekanntgeben der finanziellen Lage des Einzelnen diesen in dem Verkehre nach außen benachtheiligen könnte.
Regierungsbevollmächtigter und Schatzmeister, Chef und Vormund über die ganze Gesellschaft ist Herr Aoki, ein Mann in der zweiten Hälfte der Zwanziger, ebenderselbe, der mit einem Gefährten vor drei Jahren zuerst hierherkam, und jetzt wahrlich keine Sinecure inne hat. Er besorgt für seine siebenzig jungen Leute das Unterkommen, ermittelt ihnen Lehrer, überwacht ihren Wandel und Fleiß, ist Richter bei Streitigkeiten innerhalb der kleinen Gemeinde und Cassirer und Zahlmeister von ihnen Allen, auch von den Freiwilligen, da sämmtliche Gelder, welche aus der fernen Heimath hierher gesendet werden, an ihn gelangen. Begreiflicher Weise wird ihm ein großer Respect bezeigt, den er aber auch durch sein kluges, gerechtes und liebenswürdiges Benehmen verdient. Er selbst ist der deutschen Sprache in Rede und Schrift bereits so mächtig, daß er auf der Universität, bei welcher er in der juristischen Facultät immatriculirt ist, Collegia hören kann.
Das Alter der jungen Herren ist zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren; doch sind neuerdings zwei Knaben von anscheinend zwölf bis fünfzehn Jahren angekommen und noch einige andere dieses Alters werden erwartet. Sie sind ohne Ausnahme zu gebildeten Familien in Pension gegeben, meistens zu zwei und zwei, doch auch einzeln; in sehr wenigen Fällen leben mehr als zwei in einer Familie. Es sind durchgehends kleine und ziemlich schmächtige Gestalten, mit Ausnahme nur von Aoki und einem Anderen, welche unsere Mittelgröße erreichen und breit und kräftig gebaut sind. – Mehr als durch das schlichte und glänzend schwarze Haar, das sie europäisch geschnitten tragen, fallen sie durch die mandelförmig geschlitzten Mongolenaugen und den gelblichen Teint auf. Die Physiognomien sind so verschieden wie möglich. Während einige ganz den italienischen Typus tragen oder an die ansprechende Schönheit der Savoyardenknaben erinnern, zeigen andere, und wohl die Mehrzahl, Gesichtszüge von so fremdem Ausdruck, daß man bei einer Begegnung unwillkürlich der auffallenden Erscheinung nachblickt. Einige dieser Gesichter erwecken selbst durch den hervortretenden Unterkiefer, den breiten Mund und die zolllangen Zähne in europäischen Augen entschiedenen Widerwillen. Kein Wunder daher, wenn der schaulustige und sarkastische Berliner die eigenthümlichen Figuren anfangs mit humoristischen Bemerkungen begleitete; jetzt indessen machen die oft gesehenen Gestalten kein größeres Aufsehen mehr als etwa der Mohr des Prinzen Karl. Der Bartwuchs ist nur bei Wenigen ausgebildet, bei den Uebrigen schwach oder gar nicht vorhanden.
Ihre Tracht ist die europäische. Sie gehen jederzeit vollkommen elegant gekleidet und frisirt und legen augenscheinlich Gewicht darauf, in der Toilette nicht hinter den Eingeborenen des Landes zurückzubleiben. Da sie sich aber in unseren ebenso unschönen als beengenden Kleidern genirt fühlen, vertauschen Viele sie in ihren Stuben gegen die weite, leichte bequeme Tracht ihrer Heimath, ein langes, sehr weites, vorn übereinandergeschlagenes Gewand von weichem Stoffe (Seide oder feiner Wolle), welches einige Aehnlichkeit mit manchen Morgenkleidern unserer Damen hat. Sie lieben es, sich etwas zu putzen, wenn auch nicht in übermäßigem Grade, wechseln gern und häufig die Anzüge und tragen die kleinen Schmucksachen, die bei uns in der Mode sind, als goldene Chemisette- und Manchettenknöpfchen, Uhren mit Ketten und Berloques u. dgl. mit sichtlichem Vergnügen, vermeiden aber ängstlich Alles, was sie als Fremdlinge kennzeichnen könnte, und nehmen es als ein Compliment auf, wenn ihnen gesagt wird, daß die fremde Abkunft ihnen nicht mehr anzusehen sei.
[569] Mit Geldmitteln scheinen sie reichlich ausgerüstet zu sein; denn wenn sie auch über diesen Punkt wie über manchen andern ein vorsichtiges Schweigen beobachten, so zeigt doch, abgesehen von dem Luxus, mit dem sie für ihr Aeußeres sorgen, ihr ganzes Leben, daß ihre Finanzen sich in vortrefflicher Ordnung befinden. So zum Beispiel kaufen sie Einer nach dem Andern goldene Taschenuhren, für welche sie ohne Kette etc. zwischen hundertsiebenzig und dreihundert Thaler zahlen. Nebenbei bemerkt ist das kein übles Geschäft für den Uhrmacher, zu dem sie Alle gleichmäßig gehen. Bei kleinen Reisen, Spazierfahrten und anderen Belustigungen scheint ebenfalls der Geldpunkt nicht in Betracht zu kommen, und gar Alles, was zur Förderung ihrer Studien dienen kann, wie Bücher, Globen, Atlanten, wird ohne Rücksicht auf die Kosten auf das Allerbeste beschafft. Auch der Unterricht kostet viel. Die japanische Regierung verfährt offenbar bei dem ganzen Unternehmen mit anerkennenswerther Liberalität, und zudem sind die Freiwilligen ja die Söhne des höchsten Adels, so daß ihre reichliche Ausstattung und ihr beträchtlicher Wechsel nicht Wunder nehmen können. Selbst einen gemeinschaftlichen Arzt hat Aoki besorgt in dem Geheimen Sanitätsrath Simonsohn, der aber glücklicher Weise nicht durch zu viel Patienten aus dieser Curatel belästigt wird, weil das Klima keinen ungünstigen Einfluß auf die jungen Leute übt, mit der einzigen Ausnahme vielleicht, daß bald nach ihrer Herkunft Einige an den Augen litten.
Den Zweck ihres Aufenthaltes verfolgen sie mit großem Eifer und Ernst. Die äußerlichen Formen, Sitten und Gebräuche lernen sie in den Familien, in deren Mitte sie leben, um so schneller, als sie nicht unvorbereitet ankommen. Ein größerer Theil von ihnen hat schon in der Heimath Europäer gesehen. dazu kommt dann die Seereise über den stillen Ocean nach San Francisco, die Eisenbahnfahrt nach New-York und die weite Reise, meist über London, nach Berlin. In New-York pflegen sie sich längere Zeit, in London eine kürzere aufzuhalten und am ersteren Orte sich mit europäischen Kleidern zu versehen. Mit natürlichem Verstande und scharfer Beobachtungsgabe ausgerüstet, langen sie nach dieser wohlgenützten Reise, die vier bis sechs Monate zu dauern pflegt, bereits mit europäischem Schliffe an ihrem Bestimmungsorte an. Hier bitten sie die Mitglieder der Familie, in welche sie eintreten, um weitere Belehrung und sind für jede Zurechtweisung äußerst dankbar. Bei solchem guten Willen gelingt das Vornehmen denn auch leicht, und schon nach einhalbjährigem Aufenthalte sind sie größtentheils in den Formen vollkommen berolinisirt.
Ihre wissenschaftliche Ausbildung beschränkt sich zunächst auf die Erlernung der deutschen Sprache, was aber unter den gegebenen Verhältnissen einer großen Energie und unausgesetzten Anstrengung bedarf. Denn von der gänzlichen Verschiedenheit des Idioms abgesehen, giebt es erstens in ganz Berlin keinen Menschen, der auch nur die Anfangsgründe der japanischen Sprache, geschweige denn sie so weit kennt, um sich in ihr verständlich zu machen; zweitens giebt es keine deutsch geschriebene Grammatik der japanischen oder japanisch geschriebene Grammatik der deutschen Sprache und ebensowenig ein japanisch-deutsches oder deutsch-japanisches Lexikon. Und nun denke man sich den deutschen Lehrer den Japanesen gegenüber ohne irgend eine Vermittelung! Wahrlich für Beide eine mühevolle Aufgabe! Die einzigen Aushülfen sind englisch-japanische Lexika und Grammatiken; was man davon hat, ist aber so dürftig und unvollständig, daß es nur einen sehr geringen Nutzen bringt. Doch Beharrlichkeit überwindet jedes Hinderniß. Und so gelingt es auch unseren jungen Freunden, durch Ausdauer und Achtsamkeit im Verlaufe von sechs Monaten so weit zu kommen, daß sie deutlich Gesprochenes verstehen und sich selbst verständlich machen können. In Jahresfrist aber sprechen sie das Deutsche ziemlich fließend, verstehen Alles und schreiben schon einen fehlerfreien Brief. Sie wenden den größten Fleiß an ihre Aufgabe. Zeitig des Morgens, im Sommer etwa um sechs Uhr, im Winter eine Stunde später, gehen sie an die Arbeiten, welche sie nur während der Mahlzeiten unterbrechen und oft bis lange nach Mitternacht fortsetzen, so daß schon der Arzt sich dieserhalb zu Ermahnungen veranlaßt gesehen hat. Bei dem Lehrer nimmt übrigens jeder Schüler den Unterricht allein. Ist der Letztere endlich der Sprache so weit mächtig, also etwa nach Verlauf von anderthalb Jahren, so beginnt er sich mit dem erwählten Fachstudium zu beschäftigen, wiederum zuerst auf dem Wege des Privatunterrichts und schließlich durch den Besuch der öffentlichen Unterrichtsanstalten oder der für den betreffenden Lehrgegenstand bestehenden Institute. Alle möglichen Richtungen der Ausbildung sind in’s Auge gefaßt. So studiren auf der Universität als immatriculirte Studenten Einer (Aoki) Jura und Sieben Medicin. Mehrere widmen sich der Pharmakopöie; Andere wollen landwirthschaftliche Lehranstalten besuchen; eine große Anzahl beabsichtigt Militär zu werden. Von den Letzteren befinden sich Zwei in einer sogenannten „Presse“, um demnächst ihre Fähnrichs- und Officierexamina zu machen und für einige Zeit in die deutsche Armee einzutreten. Selbst japanische Officiere von dem Range eines Hauptmanns, die bereits mehrere Feldzüge mitgemacht haben und ehrenvolle Narben tragen, sitzen hier mit dem ABCBuche in der Hand und arbeiten mit eiserner Geduld an den Anfangsgründen der deutschen Sprache. Mit gutem Beispiele geht ihnen ein Prinz von Geblüt voran, ein Onkel des Mikado, Prinz Fuschimi von Japan, der, obwohl in der Heimath ein sehr hoher und reicher Herr, alle Mühen und Anstrengungen seiner Landsleute theilt.
Von dem außerordentlichen Fleiße und der Leistungsfähigkeit der jungen Japanesen ist in diesen Tagen ein recht sprechendes Beispiel hervorgetreten. Ende des Jahres 1869 kam als einer der ersten derselben Sahami Sato hier an, der Sohn des Leibarztes des Mikado, um Medicin zu studiren, mußte aber, wie seine Gefährten, da er kein deutsches Wort konnte, zuerst sich auf das Studium der Sprache legen. In einem Jahre war er nicht allein des Deutschen mächtig, sondern hatte auch das Lateinische sich so weit zu eigen gemacht, daß er die erforderlichen Vorstudien bewältigen konnte und schon im October 1870 immatriculirt wurde. Jetzt hat er ein Tentamen in der Medicin so glänzend bestanden, daß er und ein anderer Student unter den dreizehn Examinaten das Prädicat „gut“ erhielt, eine Leistung, welche in wissenschaftlichen Kreisen als eine höchst merkwürdige betrachtet wird. Wenn man die Schwierigkeiten, welche der junge, hoffnungsvolle Mann zu überwinden gehabt hat, erwägt, so kann man sich allerdings nicht des Staunens über die Energie erwehren, mit welcher er das ihm gestellte Ziel verfolgt.
Neben dem Fleiße und der Pflichttreue besitzen sie noch andere Tugenden, welche ihnen schnell Achtung und Zuneigung erwerben. Vorzugsweise ist dahin ihre Wahrheitsliebe und Gewissenhaftigkeit auch in den kleinsten Dingen zu rechnen und sodann die Höflichkeit, wegen deren die Japanesen von jeher gerühmt worden sind. Und das ist mit vollem Rechte geschehen, denn es streift ihre Höflichkeit nicht im Entferntesten an orientalische Unterwürfigkeit oder occidentalische Kriecherei, sondern ist wirklich eine anmuthige Mischung von dem feingesitteten Entgegenkommen des gebildeten Mannes und der Bescheidenheit eines guten Kindes, Dieser sehr hervorstechende Charakterzug erleichtert ihnen auch wesentlich die Aneignung der Formen deutscher Sitte und Bildung und macht sie schnell zu gern gesehenen Gästen in den Familienkreisen, die sie betreten. Ihre Kindlichkeit ist ganz naiv. Sie bitten sofort, als Kinder behandelt und den Kindern des Hauses in allen Stücken gleichgestellt zu werden. Dem Hausherrn und der Hausfrau ordnen sie sich wie Pflegeeltern unter und sagen bei jeder Gelegenheit: „Sie sind meine Mutter, Sie sind mein Vater.“ Vielleicht illustrirt diese kindliche Höflichkeit der folgende Anfang eines Briefes. Eine Dame, die in’s Bad gereist war, hatte ihrem Pensionär geschrieben, daß sie bei der Lösung ihres Fahrbillets einen Thaler irrthümlich überzahlt habe, worauf Dieser erwiderte:
„Meine liebe Mutter! es thut mir sehr leid, daß Sie einen Thaler verloren haben. Ich habe nicht geglaubt, daß eine so kluge Mutter auch etwas verlieren könne. Aber trösten Sie sich mit dem Sprüchwort: ‚Auch die Affen fallen von den Bäumen‘“ etc.
Für eine Pflicht der Höflichkeit halten es die Japanesen, Alles, was ihnen gezeigt wird, zu loben und die Vorzüge Europas vor Japan anzuerkennen. – Bei den Mahlzeiten sind sie sehr bescheiden und mäßig und mit Allem zufrieden, loben auch die deutsche Kochart höchlichst; aber ab und zu bricht doch die Sehnsucht nach einem japanischen Mahle durch alle Floskeln der Höflichkeit hervor. Dieses entschuldbare Gelüste befriedigen sie, wenn die Pflegemütter keine Einwendungen erheben, an ihren [570] Geburtstagen, zu denen sie so viel Landsleute, als das oder die Zimmer fassen, einladen und mit einem auf japanische Weise höchst eigenhändig bereiteten Diner bewirthen. Die Ingredienzen zu solchem Festmahle werden von ihnen selbst eingekauft und bestehen aus Reis, Fisch, Geflügel, Pilzen, Zwiebeln und japanischer Soya, die hier in den Delicateßläden zu bekommen ist. Ein hier unbekanntes Gewürz, eine Art Seetang, haben sie mitgebracht. Vielleicht sind einige Notizen über ein solches japanisches Essen den verehrten Hausfrauen nicht uninteressant und so mögen sie denn hier folgen. Das Hauptgericht besteht in sechsmal gebrühtem und gewaschenem Reis, ohne Salz, Milch, Zucker oder andere Zuthat, den sie übrigens zu jeder Tageszeit essen und jeder anderen Speise vorziehen. Den Fisch (Lachs, Karpfen oder Aehnliches) braten sie theils an kleinen Spießen halb gar, worauf sie ihn, in Scheiben geschnitten, mit Reis belegen, oder sie essen ihn roh mit Salz und Essig.
Ein anderes Gericht besteht aus Hühnern oder Enten, mit den Knochen in kleine Würfel geschnitten und gekocht; dazu Pilze, gedämpft, und ganze gekochte Zwiebeln mit langen grünen Stengeln, Alles zusammengerührt und mit der japanischen Soya übergossen. Es schmeckt vortrefflich und kann empfohlen werden. Das Dessert besteht aus Reis und Obstkuchen. Alle Schüsseln werden mit Blumen geschmackvoll verziert. Getrunken wird dazu Wasser. Aber sobald die Tafel aufgehoben ist, kommt der Thee, natürlich japanischer, der viel stärker als der chinesische ist, und nun wird der heiße, aufregende und erhitzende Trank selbst im glühenden Sommer in unbegreiflichen Quantitäten genossen, den Nachmittag, den Abend, ja die Nacht hindurch. Zwischenein wird der kalte Reis wieder vorgesetzt. Und daran reihen sich die beiden Nationalgenüsse, die mit Reis und Thee in gleichem Werthe stehen, Tabak in Gestalt von Cigarren oder türkischem Kraute, und die Karten. Kein Fenster wird geöffnet, während in dem Zimmer etwa sechszehn oder zwanzig Personen sich zusammendrängen, rauchen, den kochenden Thee trinken und Karten spielen. Eine nicht japanesisch angelegte Natur hält einen solchen Festabend nicht aus. – Die äußerst zierlichen Karten sind den unseren insofern ähnlich, als es auch verschiedene Farben und Werthe giebt, doch sind sie nicht halb so groß und zeigen statt unserer Herzen etc. sehr geschmackvoll gemalte Blumen, Blumenbouquets und Bäume. – An Wein, Bier oder anderen berauschenden Getränken, außer Thee, finden die Herren keinen Geschmack.
Eine offenbare Schattenseite im Leben und Weben des Japanesen ist der Gesang. Sind die jungen Männer unter sich, etwa in dem „Leipziger Garten“, einem der anständigsten Restaurants der Residenz, dem Kriegsministerium gegenüber, wo sie an jedem letzten Sonnabend des Monats zusammenkommen, so wird natürlich auch gesungen; aber ebenso kann man dies Vergnügen haben, wenn man in einer Privatgesellschaft um den Vortrag eines Nationalgesanges bittet. Wer einen japanischen Gesang zum ersten Male hört, wird anfangs starr vor Erstaunen dasitzen und dann nur mit Mühe ein herzliches Gelächter unterdrücken „So ein Lied, das Stein erweichen, Menschen rasend machen kann,“ ist sonst nirgend zwischen Himmel und Erde zu hören. Daß die Töne durch die Fistel ausgestoßen werden, ist das Einzige, was zur Beschreibung gesagt werden kann, sonst spottet diese Leistung jeder Schilderung. Betäubt fragt man nach der Möglichkeit, wie gebildete Männer, die nun schon zwei bis drei Jahre wirkliche Musik kennen, so etwas Gesang nennen und sogar darin Genuß finden können. Es ist das in der That ein psychologisch-musikalisches Räthsel.
Noch einiges theils Charakteristisches, theils Befremdendes möchte, um diese kleine Zeichnung abzuschließen, der Erwähnung werth sein. Dahin wäre die große Verschwiegenheit, welche unsere jungen Gäste über gewisse Gegenstände beobachten, zu zählen. Es müssen ihnen bestimmte Vorschriften ertheilt sein, nichts über Religion, über ihre persönlichen und finanziellen Verhältnisse in der Heimath und über den Mikado nebst Familie mitzutheilen. Berührt man eines dieser Themata, so wird man sogleich ein Zurückweichen inne, welches mit ihrem sonstigen offenen, vertrauenden Wesen im Widerspruche steht. Sie vermeiden sogar sehr geschickt die Angabe, zu welcher der drei in Japan herrschenden Religionen sie sich bekennen. So erwiderte einer der jüngsten von ihnen, ein hübscher Junge von achtzehn Jahren, einigen jungen Damen, die ihn lebhaft bestürmten, ihnen sein Glaubensbekenntniß abzulegen, mit freundlichem Lachen: „Ich bin Philosoph und Weiberfeind.“
Auch sollen einige verheirathet sein; dies ist aber ebenso einer der Punkte, über den sie jede Mittheilung ablehnen. – Wie komisch die Begriffe von Höflichkeit bei verschiedenen Völkern bisweilen auseinandergehen, zeigt der folgende Vorfall. Herr I…, der schon fertig deutsch spricht und in dem Hause der Frau v. D. bekannt geworden ist, erhält von dieser eine Einladung zum Diner. Statt seiner aber erscheint ein gänzlich unbekannter Landsmann, der kaum über mehr als einige Dutzend deutscher Worte verfügt, zu seiner Legitimation ein Schreiben I…’s überreichend, worin dieser sich mit irgend einer Abhaltung entschuldigt und dazu bemerkt, sein Freund K… sei mit seiner Vertretung beauftragt. Die Mittheilung dieses artigen Briefchens über Tisch erhöhte die frohe Laune der Gesellschaft nicht wenig.
Und nun noch die Puppen! Was wir in alten Reisebeschreibungen und anderen Büchern von zweifelhaftem wissenschaftlichem Werthe gelesen haben, ist wirklich wahr: die erwachsenen Japanesen, Männer und Frauen, spielen mit Puppen! Auch diese Liebhaberei tritt hier allerdings nicht hervor, wahrscheinlich aus Besorgniß, daß dies kindliche Vergnügen hier nicht werde gewürdigt werden; aber die Thatsache ist richtig. Der oben erwähnte „Philosoph und Weiberfeind“ erhielt erst kürzlich von seiner Freundin in Miako eine Puppe, die ihm die größte Freude macht, und die er, wenn er sich unbeachtet glaubt, auf den Armen oder Knieen wiegt. Auch wurde dem Schreiber dieser Skizze ein japanisches Drama gezeigt, dessen Intrigue in dem Raube einer Puppe, von dem Bösewicht gegen den Helden verübt, besteht. Die erwähnte Puppe aus Miako hat die richtigen Proportionen eines Kindes von etwa sechs Monaten, ist wie die japanischen Kinder in die dort übliche köstliche Seide gekleidet und trägt auf dem Rücken ein Beutelchen mit Moschus, dem häßlichen Lieblingsgeruch aller asiatischen Völker. Formenbildung und Malerei an Kopf, Armen und Beinen beschämen sehr weit, was Europa in diesem Genre producirt, und das kleine Kunstwerk ist das Entzücken der kleinen und großen Mädchen, die es sehen.
Die Erwähnung der „Freundin“ des „Philosophen und Weiberfeindes“ erfordert noch eine Erklärung. In Japan herrscht die eigenthümliche Sitte, daß der junge Mann, bevor er heirathet, ein Mädchen gleichen Alters zu seiner „Freundin“ erwählen kann, mit der er die Vergnügungen der Jugend gemeinschaftlich genießt, während die Sitte einen anderen Verkehr zwischen unverheiratheten Herren und Damen verbietet oder doch erschwert. Mit dieser „Freundin“ liest und arbeitet er, begleitet sie auf Spaziergängen etc., ohne daß ein zärtliches Gefühl oder eine sinnliche Regung sich in das Verhältniß einmischt, welches aufhört, sobald eines von beiden Theilen heirathet. Es ist das zwar eine uns unverständliche Sache, indessen kann man ihre Glaubwürdigkeit den ernsten Versicherungen wahrheitsliebender Männer gegenüber nicht wohl bezweifeln.
Wie lange diese Gäste in der Kaiserstadt verweilen werden, wissen sie selbst nicht, da dies lediglich von dem Entschlusse der japanischen Regierung abhängt; doch sprechen sie von zehn Jahren und gefallen sich an dem neuen Aufenthalte so wohl, daß erst einer von ihnen, der an der Schwindsucht litt, zurückgekehrt ist, um den Tod in der Heimath zu erwarten.
Zum Schluß eine Probe von dem Wohllaut der japanischen Sprache. „Lieber Herr Imai, ich danke Ihnen“ heißt: „Kuíschik Imai Samma, hanna hadda arrigatto.“
Der Staatsrath sah seinem Freunde Gotter nach, ohne während des ganzen Ausbruchs ein Wort zu verlieren. Als der Gast verschwunden war, stand er einen Augenblick in Gedanken und klingelte dann.
„Fragen Sie Rose, ob meine Tochter auf ist; in diesem Falle lasse ich sie bitten, bald herunterzukommen.“
Der Bediente verschwand. Ueber des Hausherrn strenges Gesicht zog plötzlich ein ihm sonst fremder Ausdruck von Weichheit; er ließ sich abgespannt in den Lehnstuhl sinken, der an den noch unberührten Frühstückstisch gerückt war, und stützte den Kopf in tiefem Sinnen auf die Hand.
Wenige Minuten später öffnete sich die Thür und Eugenie trat ein. Der Morgenanzug von weißem Piqué ließ die leichte Blässe des reizenden Gesichtes noch mehr hervortreten; ihr wolliges Haar, das nur geringer Nachhülfe bedurfte, um sich in die schweren Locken zu ringeln, welche so oft Aufmerksamkeit erregten, ruhte lose im Filetnetze. Als sie ihrem Vater mit freundlicher Begrüßung die Hand bot und seinem prüfenden Blicke begegnete, erröthete sie und machte sich mit dem Frühstücksgeräth zu schaffen.
„Du hast auf mich gewartet?“ äußerte sie, beschäftigt, die noch unberührte Tasse ihres Vaters zu füllen. „Das ist ja wider alle Abrede! Hätte ich das geahnt, so wäre ich früher heruntergekommen. Die Langschläferin glaubte Dich bereits in Deinem Arbeitszimmer. Du fühlst Dich doch wohl, lieber Vater?“ Ihr Auge ruhte mit sorgender Innigkeit auf den ernsten Zügen – war es nur die eigene Beklemmung, welche ihr dieselben heute so verdüstert erscheinen ließ?
Seine leicht abwehrende Geberde schien der aufgetauchten Sorge zu widerstehen, mehr noch der gelassene Ton, womit er frug: „Habt Ihr Euch gestern gut unterhalten? Erzähle mir!“
Wieder jagte eine Flamme über Wangen und Schläfen hin. „Gerta war glückselig, alles Ballfieber, welches uns vorher an ihr belustigt, schon nach den ersten Minuten verflogen; ich glaube, jedes Härchen in ihren Augenbrauen weiß von Vergnügen zu sagen. Sie schläft noch tief.“
„Und Du?“ – In der Frage vibrirte jetzt ein Klang, der des Mädchens Herz bis zur Athemlosigkeit klopfen machte. Die Tasse klirrte in ihrer Hand. Sie lehnte sich stumm in ihren Sessel zurück, die schlanken Finger falteten sich auf dem Schooße ineinander. Nach einer Pause athmete sie tief auf und sagte erblassend, aber mit klarer Stimme:
„Mir, mein Vater, ist dieser Ball zur Wende des Lebens geworden. Vater, lieber Vater! ich habe mir gestern ein Herz gewonnen und – das meinige vergeben!“
Der Staatsrath machte eine so ungestüme Bewegung, daß die Rollen seines Lehnstuhls ihn einige Schritte von seiner Tochter entfernten.
„Du, Eugenie – Du? Kann ich Dich verstanden haben? Dein Herz vergeben im Laufe einer Ballnacht?! Oder war dies etwa nur die Schlußscene eines Romans, den Du schon früher ohne mein Wissen abgespielt?“
Die tiefen Mädchenaugen blickten fest in die flammend leuchtenden, deren Abbild sie waren.
„Ich habe Dir nie verhehlt, was mein Leben ausmacht, das weißt Du, Vater – ich thue es auch heute nicht, obgleich ich fühle, wie unbegreiflich ich Dir erscheinen muß – verstehe ich mich doch selbst nicht! Hast Du je geliebt, mein Vater? Du hast – ich lese Antwort in Deinem Auge – Du hast! Dann sage mir, erfaßt es Jeden so ungeahnt, so unwiderstehlich? Ich weiß es nicht – weiß nur, was mir geschehen! Erinnerst Du Dich an vorgestern Abend, an die Stimme beim Weiher, die von Treue sprach? Dieselbe Stimme hat mich gestern mit dem ersten Tone, den sie an mich gerichtet, in ihre Welt gezogen, ist bis in den Grund der meinigen getaucht! Diese Stimme führte mich in seltsamen Gesprächen – keine Ballgespräche, Vater – an Allem vorüber, was es zwischen Himmel und Erde giebt, und zwang mich mit unwiderstehlich magnetischer Gewalt zur Antwort – daß ich mein Denken und Fühlen an sie hingab, wie Keinem gegenüber je geschehen, selbst Dir nicht! Ich habe darüber gesonnen die ganze Nacht – es wich nicht – auch heute im Scheine des Tages pocht der eine Ton erweckend an jeden Gedanken – ihn wieder, ihn immer zu hören, erscheint mir unentbehrlich wie Licht und Luft – keine Zukunft denkbar ohne diesen Klang, dem Alles antwortet, was in mir lebt!“
Jedes Wort war fliegend hingeathmet worden, während sie seine beiden Hände ergriffen und gehalten, während der Blick in’s Weite schwärmte. Jetzt sah sie den Vater an. Der tief schmerzliche Zug um seine festgeschlossenen Lippen erschreckte sie, trieb sie aber auch vorwärts. Sie ließ seine Hände los, preßte die ihrigen gegen die Brust und sagte mit gesenkten Wimpern ganz langsam:
„Er ist preußischer Officier, Vater, sein Name Triefels, Baron Triefels. Er hat meine Erlaubniß erbeten, bei Dir um meine Hand zu werben – heute!“
„Und Du gabst ihm diese Erlaubniß?“
„Ja, Vater.“
Der Staatsrath erhob sich und trat, ohne seine Tochter anzusehen, zum Fenster, wo er, die Stirn gegen die Scheiben gedrückt, unbeweglich stehen blieb. Eugenie folgte ihm mit den Blicken, ihr Herz drohte still zu stehen; sie zögerte einen Moment, flog dann durch das Zimmer und warf beide Hände um die theure Gestalt.
„Du zürnst!“ rief sie klagend. „O Gott, ich fühle Dein Recht dazu, aber ich konnte – ich kann nicht anders!“
Wallmoden wandte den Kopf, und Eugenie schrak zusammen; was sie nie geschaut, selbst nicht am Sterbebette ihrer Mutter, das sah sie heute – an der Wimper des Vaters hing ein schwerer Tropfen. Wortlos verhüllte sie ihr zuckendes Gesicht und wich zurück.
Er folgte ihr und zog sie neben sich auf ein Sopha nieder. „Nein, Eugenie,“ sagte er mit ungewohnter Weichheit, „ich zürne nicht. Der Kummer, den Deine Worte mir bereitet, gilt Dir – nicht mir selbst! Längst weiß ich, wie unerbittlich das Leben ist; wenn es jetzt das Herz meines einzigen Kindes dorthin gewendet, wo mein Haß steht, so ist das nicht mehr als irgend eine andere seiner Consequenzen. Man sollte auf Alles gefaßt sein – und doch, auf Das, was der heutige Tag gebracht, war ich es nicht. Du glaubst nur meine Antipathie zu verletzen, vielleicht mein eifersüchtiges Vatergefühl zu kränken – armes Kind, Du bist es, Du selbst, die den bittern Trank leeren muß – bis zur Hefe. Daß Du vor Allem der Wahrheit bedarfst – überall – in jeder Lage, weiß ich nicht erst von heute. Sie soll Dir werden – die Menschen, welche einander schonen, lieben sich nicht. Ich kenne Deine Kraft, Eugenie, fasse sie zusammen! Dieser Mann, dem Du bereit bist, Dein Schicksal anzuvertrauen, hat ein unwürdiges Spiel mit Dir getrieben – laß mich aussprechen, Kind! Ich phantasire nicht, wir stehen nackter Thatsache gegenüber. Im Uebermuthe halbtrunkener Tafelrunde hat er sich vermessen, seine Unwiderstehlichkeit für Weiber durch ein Beispiel zu bethätigen; unter einer Schaar junger Leute wurden Loose geworfen, Dein Name gezogen, unser Name, Eugenie! So bist Du gewonnen worden – denkst Du noch daran, Dich auch so zu verschenken?“
Das junge Mädchen erschien wie von unsichtbaren Kräften in die Höhe gezogen. Sie stand gleich einer Säule; kein Laut kam über ihre Lippen. Nur ein starres Kopfschütteln zeigte, daß noch Leben in ihr war. Endlich brach das Wort hervor: „Durch wen erfuhrst Du –“
„Verlangst Du es, so bin ich berechtigt worden, Dir die Quelle zu nennen. Laß Dir vorerst genügen, wenn ich Dir mit meinem Ehrenworte bestätige, daß sie zuverlässig ist und nicht den Schatten eines Zweifels übrig läßt. Die Mittheilung stammt von einem Zeugen. Jetzt frage ich Dich, – glaubst Du, daß dieser – Bube es bis zum Aeußersten treiben, daß er wagen wird, heute wirklich in mein Haus zu dringen und die Hand meiner Tochter von mir zu fordern?“
Die mächtigen Augen des jungen Mädchens schienen tief in sich hineinzublicken, ihr Körper erzitterte, wie der Zweig zittert, [572] von dem plötzlich ein Vogel aufgeflogen. Mit dieser Bewegung der Lippen, die ebenso farblos waren wie ihre Wangen, erwiderte sie: „Ich glaube es,“
„Und wozu entschließest Du Dich?“
Mit unwillkürlicher, doch beredter Bewegung strich Eugeniens Hand über die Sophalehne und streifte das thränenfeuchte Battisttuch, welches dort lag, zu Boden. In dem Blicke, womit sie dabei den Vater ansah, lag unsäglicher Stolz.
Der Staatsrath war wieder ganz er selbst, jede Weichheit aus den festgemeißelten Zügen verschwunden, sein Auge kalt, die ganze Haltung unnahbarer als je. „Du wirst den Namen dieses Menschen nie wieder aussprechen hören, Eugenie. Ich werde den Herrn empfangen und verspreche Dir Genugthuung.“
„Nicht so, Vater,“ entgegnete sie fest; „welche Genugthuung könntest Du mir schaffen? Was hier verbrochen wurde, geht mich allein an! Soll ich fortan leben und die Augen aufschlagen, so muß ich – ich selbst diesem Manne noch ein letztes Mal gegenübertreten. Kein Dritter kann mich von der Schmach dieser Werbung erlösen, auch Du nicht! Was sollte es mir frommen, wenn Du ihm den beleidigten Vater zeigst? Das hebt meine tiefgeschädigte Frauenwürde nicht aus dem Staub empor! Ich fordere, daß er mir allein überlassen bleibt, und dann, mein Vater, sei außer Sorgen, dann soll mir Genugthuung werden!“
Wallmoden blickte seine Tochter schweigend an. In ihren Worten flammte eine Kraft, deren Höhe er noch nicht gekannt. „Ich erkenne Dir das Recht der Entscheidung zu,“ sagte er endlich, „und weiß, daß Du Dich zu beherrschen verstehst, Du hast diese Fähigkeit jahrelang am Krankenbett Deiner Mutter erprobt und bewährt. Dennoch, Eugenie, überschätzest Du vielleicht Deine Kraft. Ich kenne den Mann nicht, mit welchem Du solchen Kampf zu bestehen forderst, aber ich kenne diese Norddeutschen! Nicht gewillt, das Auge, vor was es auch sei, zu Boden zu schlagen, von ihrer kecken Höhe herab nur die eigene Berechtigung der Geltung werth haltend, verschlossen für jede Rücksicht auf Billigkeit, ja, auf freies Menschenthum, sobald sie sich in ihren Zielen gehemmt sehen – wie sollte Dein Zartgefühl gegen die Waffen siegen, die eine solche Natur jedem Deiner Worte entgegenhalten wird, Waffen, die Du – ihm selbst in die Hand gegeben? Ein gewöhnlicher Charakter würde Dich nimmer so aus allen Fugen Deines sonstigen Wesens gedrängt haben – Du stehst also einem überlegenen Geiste gegenüber, Eugenie! Wo ein solcher jedoch einen Zweck verfolgt, der mit kaltem Blute, vielleicht aber mit um so größerem Eigensinn festgehalten wird, sobald er in Gefahr erscheint, zu scheitern, da bleibt das Weib gegen den Mann immer im Nachtheil. Eine Frau ist nur dort allmächtig, wo sie – geliebt wird.“
Eugenie erröthete heftig und verstummte. Das Wort hatte getroffen, wie ein Schlag; sie wäre lieber auf der Stelle gestorben, als daß sie dem Vater eingestanden, daß sich auf den Glauben an diese letzte Bedingung ihre ganze Macht der Vergeltung stützte. Trotz des Schreckens, der sie so vernichtend durchfuhr, gestand sie sich dies im gegenwärtigen Moment selbst nicht ein. Das Auge voll aufschlagend, sagte sie mit Hoheit: „Auch die Wahrheit ist allmächtig, Vater, ihr gegenüber bleibt Trug und Lüge immerdar im Nachtheil; ob Mann, ob Mädchen, ihr Träger darf und muß jedem Kampfe stehen! Laß mich gewähren.“
Der Staatsrath schritt mit gesenktem Haupte auf und nieder, endlich hielt er den Schritt vor seiner Tochter an, ein seltsamer Glanz funkelte in seinem Blick: „Und Eines noch, Eugenie! ich berühre es ungern. Vergaßest Du ganz, was Du mir vor wenigen Minuten so leidenschaftlich eingestanden? Diese Stimme, welche die Seele meines stolzen Mädchens binnen kurzen Stunden in Bande geschlagen, fürchtest Du sie nicht? Du frugst mich, Kind, ob ich die Liebe kenne! Wohl kenne ich sie, und war es wirklich Liebe, was Dich so seltsam plötzlich erfaßte, dann laß Dich warnen! wage nicht den Kampf mit einer Macht, die gerade dann, wenn wir uns Herren des Tages glauben, sich mit erstickender Umschlingung zurückwendet, um uns hohnlachend zuzurufen: ‚Tödte, was sterblich ist!‘ Wer liebt, verliert die Fähigkeit, kalt zu verachten, auch die, Maß zu halten, und glaube mir, mein Kind, sobald das Recht zur Leidenschaft hinreißt, erfährt es stets das Geschick des Unrechtes.“
Bei des Vaters ernsten Worten legten sich immer tiefere Schatten auf Eugeniens Stirn; als er nun schwieg, beugte sie sich über seine Hand und küßte dieselbe. „Vertraue mir,“ sagte sie gelassen, „Du darfst es.“
Seine Lippen berührten ihren Scheitel, dann schob er sie sanft zurück und sprach mit Ernst: „Es sei!“
Heiter lachte die Sonne in das Balconzimmer im ersten Stock der Wallmoden’schen Villa; ihre Strahlen schlüpften wie im neckischen Tanze hin und wieder zwischen all den Blüthen und Pflanzen, welche, nächst der gußeisernen Brüstung des Balcons aufgestellt, die dort Ruhenden dem Blick Derer verhüllten, welche auf der Fahrstraße unten vorüberkamen, während sie Jenen doch den Ausblick auf Nähe und Ferne vergönnten. Ein zarter Duft von Reseda und Heliotrop zog von dort aus durch das mittelgroße, hochgewölbte Zimmer und erschien in Harmonie mit dessen Ausstattung. Leichte Säulen, welchen sich die in Stuck ausgeführten Ornamente der Decke als Fortsetzung anzuschließen schienen, theilten die nicht tapezirten, sondern höchst anmuthig gemalten Wände in Fächer. Von zartblauem Grunde hoben sich abwechselnd Blumenstücke und in Medaillonform geschlossene Landschaftsbilder in künstlerischer Ausführung ab. An jedem der drei Fenster fielen natürliche frische Ranken in Guirlanden über die duftigen Vorhänge nieder. Der weißgrundige, mit Blumensträußen übersäete Glanzkattun der Möbel paßte in seiner frischen Einfachheit ganz zu dem heiter graziösen Schmuck der Wände. Ein säulengetragener Nähtisch im Mittelfenster, die jetzt in die Ecke rechts gerückte zierliche Staffelei mit dem verhangenen Bilde darauf und eine schöne Harfe, welche im der entgegengesetzten Ecke lehnte, deuteten darauf hin, daß hier der Lieblingsaufenthalt der Tochter des Hauses war.
Seit einigen Minuten stand Arno Triefels in voller Galauniform in diesem Gemache und ließ den Blick über jede Einzelnheit desselben hinschweifen. Im ersten Augenblick hatte es ihn frappirt, daß er, auf seine Frage nach dem Staatsrathe und die darauf erfolgte Meldung in diesen Raum geführt worden war, der offenbar weder das Zimmer des Hausherrn, noch ein allgemeiner Empfangssalon sein konnte. Während des kurzen Harrens erfaßte ihn aber, vor all den Zeichen und Spuren von Eugeniens häufiger Gegenwart, eine eigenthümliche Bewegung, stark genug, um momentan selbst die Spannung zurückzudrängen, womit er dem inhaltsschweren Gespräch entgegensah, das ihm mit ihrem Vater bevorstand.
Sehr widerstandsgerüstet, sehr siegesgewiß hatte Triefels die Schwelle dieses Hauses betreten. Gewöhnt, jedes Hinderniß mit zudringendem Verlangen zu durchbrechen, gab er den Begriff eines Unerreichbaren kaum zu. Der Güter, die er in die Wagschale zu legen hatte, voll bewußt, galt ihm der voraussichtliche Widerstand eines alten Mannes höchstens als Frage der Zeit. Eugenie selbst war sein eigen! der Stolz, welcher das bisher durch kein Erreichtes gesättigte Herz bei diesem Gedanken schwellen ließ, war ihm eine nie so empfundene Regung – auch Das wußte er ihr Dank! Dankte ihr nach tausend Erfahrungen, wo seine überreichen Kräfte nur gespielt, die eine, bei aller Genußfähigkeit nie mehr erhoffte, eines thaufrischen Gefühls. Eugenie! Leise bewegte er sich im Zimmer umher, seine Finger streiften über die Saiten der Harfe hin. Harmonisch – wie diese! Was war in dem Gedanken, wovon er plötzlich erschauerte? Seit seinem Eintritt hatte es ihn wie ein Gruß umklungen: „Willkommen, süßer Dämmerschein, der Du dies Heiligthum durchwebst –“ jetzt mahnten die Dichterworte ernst: „Und Du! – was hat Dich hergeführt?“ Unwillkürlich starrte er nach der Thür, rief es in ihm weiter: „und träte sie im Augenblick herein, wie würdest Du für Deinen Frevel büßen?“ –
Sie trat herein.
Mit einem Laut lebhaftester Ueberraschung eilte ihr Triefels entgegen, um nach dem ersten Blick in ihr Auge betroffen vor ihr stehen zu bleiben. Er empfand auf der Stelle, daß etwas mit ihr vorgegangen, und sein Bewußtsein ließ keine Frage zu. Kaum hatte diese Ueberzeugung ihn durchzuckt, als er sich zusammenfaßte und ihrem Winke, sich neben ihr am Sophatisch niederzulassen, mit sicherer Haltung Folge leistete. Beide blickten einander stumm an, ohne nachher zu wissen, wie lange diese Pause gedauert.
[573] Selbst in diesem Augenblick tiefinnerster Unruhe entzückte Eugeniens Erscheinung Arno Triefels, und doch machte sie ihm heute einen ganz veränderten Eindruck. Das war nicht mehr die in Wolkenduft gehüllte Sylphe von gestern, an der jede Bewegung zu wallen und zu schweben schien, aus deren Blick und Zügen ein märchenhaft süßer Zauber sprach – die hohe Waldfrau der Sage war es, welche verschwindet, wenn man sie zu berühren wagt. Das schimmernde Blond der großgeschwungenen Locken ruhte schwer auf dem veilchenblauen Alpaccakleide, dessen mattglänzende Falten weich herabflossen. Stolze Ruhe sprach aus jeder Linie des mit leichter Röthe angehauchten Gesichtes, nur die langen, gebogenen Wimpern schienen fast unmerklich zu zittern, als sie jetzt das Schweigen brach: „Sie wünschten meinen Vater zu sprechen, Herr Baron?“
„Wie Sie erwarten durften, Fräulein Wallmoden.“ Sein Ton war ein Echo des ihrigen, förmlich und kühl. Beiden zugleich bewölkte sich die Stirn. Nach einem Moment fuhr er fort: „Und es ist – Zufall, was mir das Glück verschafft, Sie, mein Fräulein, statt des Herrn Staatsrathes erscheinen zu sehen?“
Eugenie sah lebhaft auf. „Mein Wunsch, Herr von Triefels; ich war gespannt, vorher von Ihnen zu erfahren, ob der Zweck der mit meinem Vater gewünschten Unterhaltung heute derselbe geblieben, den Sie gestern – angedeutet?“
„Ohne Zweifel, mein Fräulein.“
„Das überrascht mich, Herr Baron. Ich glaubte, Ihre Wette könnte für gewonnen gelten, ohne daß es nöthig erschien, auch noch den letzten Act der Komödie abzuspielen.“
Triefels zuckte nicht mit den Wimpern. Sein Kopf schien stolzer als je auf dem Nacken zu ruhen, als er auf die mit langsamer Deutlichkeit gesprochenen Worte ebenso gemessen erwiderte: „Ihr Empfang, mein gnädiges Fräulein, ließ mir kaum Zweifel darüber, daß Sie von einem Vorgange Kenntniß erhalten, dessen ungünstige Auffassung ich beklagen muß, ohne mir doch dadurch die Aufnahme, welche mir von Ihnen wird, ganz erklären zu können, denn derselbe berührt Sie persönlich keineswegs.“
Eugeniens Augen wurden tief dunkel. „Unerhört!“ flammte tiefste Empörung hervor.
„Und was könnte der tolle Uebermuth einer leichtfertigen Stunde Sie wohl angehen, Eugenie?“ rief er in plötzlich verändertem, leidenschaftlichem Tone. „Was wußte ich von Ihnen, als ich mich in kecker Laune vermaß, das ‚va banque‘ eines flüchtigen Gesellschaftsspieles zu halten! Sind Sie fähig, Alles, was vom ersten Augenblicke unseres Begegnens an zwischen uns vorging, auch nur mit dem Schatten eines Gedankens an jenen Vorgang zu knüpfen, dann, Eugenie, bin ich es, der gekränkt, der bis in’s innerste Leben verwundet vor Ihnen steht!“
Er war aufgesprungen und neigte sich zu dem Mädchen herab, sein bezwingender Feuerblick senkte sich bannend in ihr Auge. Jeder Nerv in ihr erschauerte – ja, das war wieder die glühend hinströmende Lava Alles verzehrender Empfindung, die ihr nicht nur gestern Wahrheit gewesen, die noch heute dem empörten Herzen Wahrheit geblieben! Mit der ganzen Kraft ihres Willens rang sie nach Sündhaftigkeit, denn hoch über dem Strudel, der sie fortzureißen drohte, stand als festes, ewiges Himmelsgewölbe die Ueberzeugung, daß Schwäche hier tödtlich – Nachgeben ein Verzicht auf den eigenen Menschenwerth sei. Sie hatte sich gesammelt.
„Unsere Anschauungen gehen weit auseinander,“ sprach sie fest; „so weit, daß ich darauf verzichte, mich über die meinigen zu äußern. Sie sagten vorhin richtig, Herr von Triefels, daß Sie nichts von mir wußten, als Sie meinen Namen zum Einsatz eines – Gesellschaftsspieles gemacht. Nun, jedes Ihrer Worte beweist, daß Sie auch jetzt nichts von mir wissen, sonst würden Sie es nicht wagen, auf Ansprüche hinzudeuten, die für mich – demüthigend sind!“
Triefels loderte auf: „Sie vergessen, mein Fräulein, daß Der, welcher diese Ansprüche zu erheben wagt, zugleich mit dem Höchsten vor Sie trat, was er selbst zu bieten hat. Sollte der Name, die Ehre, die ganze Zukunft eines Mannes als ein so werthloser Einsatz in Ihren, ja, in seinen eigenen Augen erscheinen, daß hier von Demüthigung die Rede sein kann? Wer Ihnen seine Hand für das Leben anbietet, giebt genügende Bürgschaft für die Wahrheit seiner Empfindung, wenn Sie wirklich solcher Bürgschaft bedürfen sollten.“
Ihr mächtiges Auge ruhte voll auf ihm.
„Momentane Wahrheiten sind mir keine,“ sagte sie ernst, „und an das Leben einer ewigen Wahrheit glaube ich nur da, wo ich zugleich an Achtung vor dem Bewußtsein Anderer glauben kann. Daß Ihr Spiel sich auf mich gerichtet, Herr Baron, geht mich allerdings wenig an, denn dies war Zufall – daß es überhaupt unternommen morden, ist keiner! Und wem solches Spiel möglich gewesen, dem würde sich mein Innerstes für ewig abwenden und fremd bleiben müssen, und wäre er selbst ein mit jedem bisherigen Athemzuge geliebter Bruder.“
„Eugenie,“ rief er stürmisch, „hören Sie Ihr Herz, ehe Sie unwiderruflich mein Urtheil sprechen! Es hat mir gestern freiwillig das verheißende Ja gegeben, und wenn Sie mir allen Glauben verweigern, so glaube ich um so fester an Sie! Ein Mädchen Ihres Charakters verschenkt sich nicht an einen höher schlagenden Puls des Augenblicks – dies Ja, das mich so tief beglückte, das Sie jetzt unerbittlich zurücknehmen, kam aus dem Grunde Ihrer Seele! Im Namen der Wahrheit, die Sie mir als flammendes Schwert entgegenhalten, frage ich Sie: Eugenie, war es nur ein aufflackerndes Irrlicht, das uns Beide mit schnell verlöschendem Scheine getäuscht? Antworten Sie auch hierauf Ja – wenn Sie dürfen!“
Er hatte ihre beiden Hände ergriffen und sah sie an, als vermöchte er in die tiefsten Gründe ihres Innern zu tauchen. Ungestüm entzog sie sich ihm und verhüllte ihre Augen.
Ueber Lungern, dessen See auf den Aussterbe-Etat gesetzt ist und in fruchtbares Land verwandelt wird, stiegen wir langsam zur Paßhöhe des Brünig empor, die allerdings kaum dreitausend Fuß hoch liegt, aber trotzdem eine herrliche Aussicht bietet. Zu unseren Füßen lag das Thal der Aar mit seinen schimmernden Buchen und silbernen Wasserfällen, hoch überragt von den mächtigen Häuptern des Tschingelhorns, Oltschihorns und Wandelhorns und von den Riesen des Berner Oberlandes mit ihren weißen Schneefeldern und schimmernden Gletschern. Den Berg hinunter flogen wir mit Sturmeseile, daß wir jeden Augenblick befürchteten, in den gähnenden Abgrund geschleudert zu werden. Aber unser Rosselenker, der den Pferden die Zügel schießen ließ und sie noch durch seinen ermunternden Zuruf anspornte, spottete nur über unsere Angst. Es war die köstlichste Fahrt, im offenen Wagen so dahinzufliegen, vorbei an grünen Matten und blumigen Halden, an rauschenden Quellen, an zierlichen Schweizerhäusern, an grüßenden Männern und lächelnden Frauen; dazu der blaue, wolkenlose Himmel, der goldene Sonnenschein und die berauschende Alpenluft. Das Ganze glich dem Traum eines Glücklichen, der nur zu schnell vorüberflieht.
Da es gerade ein Feiertag war, so fanden wir Brienz im Sonntagsstaat. Frauen und Mädchen promenirten in ihrer kleidsamen Tracht zwischen den malerischen Holzbauten oder saßen am Wasser und sangen jene schönen Volkslieder, womit sie die Fremden ebenso sehr, wie durch ihre natürliche Anmuth erfreuen. Schnell wurde von uns ein Boot gemiethet, das über den schönen See nach den berühmten Gießbachfällen fuhr. Wir landeten in einer geschützten Bucht, von der ein sorgfältig angelegter Fußweg zwischen prächtigen Waldbäumen allmählich zu dem bekannten „Gießbachhôtel“ emporsteigt, das, mitten in diesem Naturpark gelegen, rings von den schönsten Gartenanlagen umgeben, den Wanderer durch die darin herrschende Eleganz und den gebotenen Comfort in solcher Höhe überrascht. Allerdings sind auch die Preise weniger für den Beutel deutscher Schriftsteller als für [574] englische Lords, amerikanische Speculanten und Berliner Gründer berechnet. Der Zusammenfluß der Fremden schuf hier eine kleine Industrie, die mitunter in
seltsam phantastischen Erscheinungen sich kundgiebt. So sahen wir einen wunderlich ausgeputzten Mann, der den Wilden spielte; er trug einen Hut mit Adlerfedern, um seine Schultern, trotz der Hitze ein Fell geschlungen und zeichnete sich durch seine langen Haare und seinen röthlichen Bart aus, so daß man ihn für den Häuptling irgend eines Indianer-Stammes halten konnte. Unter der wilden Maske steckte jedoch ein zahmer Schweizer, der auf diese neue Weise Reclame für seine Gemshörner und Edelweißvorräthe machte. – Die Gießbachfälle stürzen in sieben Absätzen aus einer Höhe von neunhundert Fuß über die waldbewachsenen Felsen in die Tiefe. Abends werden die Cascaden mit bengalischen Flammen beleuchtet und gewähren dann in der That ein magisches Schauspiel, das einem Märchen aus „Tausend und einer Nacht“, dem gaukelnden Spiel der Wassergeister, einem nächtlichen Zauberfeste Oberon’s und Titania’s gleicht. Wenn auch die strenge Aesthetik diese Ueberschönerung der schönen Natur, dieses Raffinement eines blasirten Geschmacks verwerfen muß, so läßt sich doch nicht leugnen, daß die Wirkung eine feenhafte ist.
Am nächsten Tage wanderten wir nach Interlaken, wo wir mehrere Tage zu verweilen gedachten, um von hier aus Partien in die Berner Alpen zu unternehmen. Die günstige Lage des Ortes zwischen dem Brienzer und Thuner See, die prächtigen, mit allem Comfort und Luxus ausgestatteten Hôtels und Pensionen, machen Interlaken zum Mittelpunkt des Fremdenverkehrs und dadurch für Viele geräuschvoll, unruhig und ungemüthlich, weshalb es sich weniger für den Naturfreund als für Touristen und die sogenannte feine Welt eignet, welche auch in den Bergen nicht die zweideutigen Genüsse der großen Stadt entbehren will. Wenn man auf dem staubigen „Höhenweg“ promenirt, so glaubt man in Berlin, Paris oder in Baden-Baden zu sein. Nur hier und da hat sich noch ein Stück der früheren primitiven Einfachheit erhalten, unter Andern der komische Ausrufer, der im schwerverständlichen Berner Dialect die obrigkeitlichen Verordnungen, verlorene und gefundene Sachen mit lauter Stimme öffentlich verkündigt und dazu die Trommel rührt.
Um so reizender ist die nächste Umgebung von Interlaken, wo jeder Schritt ein neues, überraschendes Landschaftsbild bietet, dessen Mittelpunkt die erhabene Jungfrau mit ihrem Gletscherdiadem bildet. Zu den lohnendsten Spaziergängen, die in wenigen Minuten zu erreichen sind, zählt vor Allen der kleine Rugen, zu dessen Füßen das bekannte großartige Hôtel „Jungfraublick“ liegt, ferner die nicht minder beliebte „Heimwehfluh“. Von beiden Punkten sieht man die strahlende Jungfrau, das weiße Silberhorn, den finstern Mönch und den gewaltigen Eiger in wechselnder Beleuchtung, während die blauen Seen und die grünen Wiesengelände sich zu unsern Füßen ausbreiten; eine seltene Vereinigung der höchsten Erhabenheit und lieblichster Anmuth.
Aber selbst die herrlichsten Punkte in der Nähe von Interlaken werden von einem Ausflug nach Grindelwald und Lauterbrunnen übertroffen, wohin wir im leichten Einspänner rollten, vorüber an freundlichen Häusern und friedlichen Dörfern, durch das romantische Thal der Lütschinen, bewacht von himmelhohen Felsen, durchrauscht von den schäumenden Wellen des Baches, der uns mit seinem wilden Berglied begrüßte, und über uns der blaue, wolkenreine Himmel, die goldene Sonne, so daß man bei jedem Schritt laut aufjauchzen möchte. Nach und nach wird der Weg steiler, so daß wir ausstiegen, um dem Pferd die bei der drückenden Hitze doppelt schwere Last zu erleichtern. Da die Sonne in dem von Bergen rings eingeschlossenen Thal sich vom 28. October bis zum 8. März nicht blicken läßt, so darf man sich nicht wundern, daß hier keine Feldfrüchte mehr gedeihen und große Armuth herrscht. Obgleich die Noth wirklich bedeutend ist, so wird dieselbe von den Bewohnern noch künstlich übertrieben und zu einer Bettelei benutzt, die den Genuß an der wunderbar schönen Gegend wesentlich stört. Dafür entschädigt allerdings das großartige Schauspiel der Natur. Von allen Seiten steigen die weißen, schimmernden Gletscher hernieder, welche dicht an die grünen Matten grenzen und mit diesen zu verschmelzen scheinen, als wollte der bleiche Tod sich mit dem blühenden Leben versöhnen. [575] Im Hintergrund der Landschaft steigt das schwarze Wetterhorn, gleich einem riesigen Sarkophag für erschlagene Titanen, empor; ihm zur Seite die Pyramide des Schreckhorns, der kahle Metterberg, der trotzige Eiger und die Schneegipfel des finstern Mönchs.
Außer durch die Bettelei wird dem Reisenden der Besuch von Grindelwald noch durch die Zudringlichkeit der Kellner, Führer, Träger, Pferdeverleiher und ähnlicher Plagegeister mit ihren unverschämten Forderungen verleidet, die über jeden Touristen wie über eine willkommene Beute herfallen. Nachdem wir uns durch die genügende Grobheit von dem lästigen Schwarm befreit hatten, setzten wir unsere beschlossene Wanderung nach der berühmten Wengernalp fort. Mit dem nöthigen Schuhwerk und den unentbehrlichen Alpenstöcken versehen, besuchten wir zuerst den „Gletscher“, der vor uns zu liegen schien und doch noch gegen drei Viertelstunden entfernt war.
Durch ein rundes Loch schritten wir über einige Bretter in die Eishöhle, von der fortwährend das Wasser niederregnete, so daß wir uns durch Schirm und Plaid schützen mußten, um nicht durchnäßt zu werden. Wie von blauen und grünen bengalischen Flammen beleuchtet, schimmerten die durchsichtigen Wände gleich einer aus kostbaren Edelsteinen, Smaragden und Demanten erbauten Feengrotte. Um die Täuschung noch zu erhöhen, erschallte aus dem Hintergrunde ein unsichtbarer, tief ergreifender Geisterchor. Als wir jedoch näher traten, entdeckten wir in der Tiefe eine alte, zusammengekauerte, Cither spielende Frau, unheimlich von einigen blakenden Lämpchen
beleuchtet. Das Ganze war eine optisch-akustische Täuschung, eine jener zahllosen Illusionen, die man nicht in der Nähe betrachten und analysiren darf, ohne den Zauber zu zerstören. Nach langem Steigen, das jedoch wegen der stärkenden Gebirgsluft nur wenig ermüdete, sahen wir die Wengernalp mit ihrem neuerbauten „Hôtel de la Jungfrau“ vor uns liegen, wo einst Lord Byron in tiefster Einsamkeit längere Zeit gelebt und seinen „Manfred“ geschrieben haben soll. Der Anblick, der sich uns hier darbot, ließ alle Schönheiten weit hinter sich zurück, die wir bisher auf unserer Reise gesehen. Zu unseren Füßen lag das wüste Trümmletenthal – nicht zu verwechseln mit dem Val Tremolo – in dessen Abgründen die Geister der Hölle zu wohnen schienen. Uns gegenüber baute sich der riesige Thron der weißen Jungfrau auf, um deren Haupt die wallenden Nebelschleier flatterten, bis ein Windhauch die Hülle fortwehte und die unsterbliche Königin der Berge in ihrer ganzen wunderbaren Pracht und Herrlichkeit vor uns erschien, so daß wir geblendet von dem Glanz die Augen schließen mußten. Rings um die Herrscherin schaarten sich ihre nicht minder großen Diener und Vasallen, das schlanke vom tiefen Blau des Aethers scharf abstechende Silberhorn, der graue Mönch mit weißer Schneecapuze, der Eiger in seinem blinkenden Stahlharnisch mit Silber ausgelegt, die schwarzen Wetterhörner und mit ihnen jene unübersehbare Reihe der Recken und Riesen, welche huldigend den Thron der in unnahbarer Majestät niederblickenden Herrscherin umstehen, vor der man unwillkürlich die Kniee beugen möchte. Das Haupt im Himmel, den Fuß im Abgrund, mit ewigem Eis gekrönt, in ihren schimmernden Schneemantel gehüllt, stand sie vor unseren Blicken, furchtbar in ihrer Größe, erhaben in ihrer Majestät, vom Donner der Lawinen umtönt, durch den sie mit den Sterblichen spricht, ein unbeschreibliches, unvergeßliches Bild.
Ein ziemlich steiler, aber schattiger Weg führt durch blumenreiche Matten nach dem ungefähr drei Stunden entfernten Lauterbrunner Thal. Bei dem Dorfe Wengen erblickten wir ein eigenthümlich interessantes Schauspiel; vor dem Wirthshause sahen wir wohl gegen hundert prächtige Kühe und Ochsen, auch einige Ziegen versammelt, umgeben von Hirten und Sennen. Auf unser Befragen erfuhren wir, daß das Vieh jeden Sonntag hier mit Salz gefüttert werde. Es war wirklich lustig mit anzusehen, wie die klugen Thiere den Hirten nachliefen, das Salz suchten und ihnen die Hände, selbst die Taschen leckten, wie sich die lebendigen Gruppen weit bis zu den Bergen hinaufzogen und die schönsten Studien für einen Thiermaler ungesucht darboten.
Nach dem erhabenen Epos der Wengernalp erschien uns das Lauterbrunner Thal mit seinen grünen, freundlichen Matten, mit den kleinen traulichen Häusern und den silbernen Quellen wie eine anmuthige [576] Idylle. Von allen Seiten ein Klingen und Singen, ein Rauschen und Rieseln, ein wahres Naturconcert, dem man mit Entzücken lauscht. Vor Allen aber fesselte uns der Staubbach, dessen Cascade aus einer Höhe von 925 Fuß niederfällt und je nach der Jahreszeit und der Wassermenge bald einen überraschend schönen, bald einen ziemlich kläglichen Eindruck macht. Wir selbst trafen ihn nach längerem Regen in bester Verfassung. Wie ein aus Millionen Perlen und funkelnden Demanten gebildeter Schleier flatterte der mehr durch seine Lieblichkeit als durch seine Größe anerkennenswerthe Fall von den schroffen Klippen; ein reizendes Spiel der mit sich selbst coquettirenden Natur. Aber auch an großartigen Naturbildern fehlt es nicht; auch hier erblickt man die Jungfrau noch deutlicher und klarer als in Interlaken, das blendend weiße Silberhorn und das sich bisher dem Auge entziehende Mittagshorn. Es ist daher kein Wunder, daß das Lauterbrunner Thal von Touristen, besonders von reisenden Engländern überschwemmt wird. Wie zu einem Wallfahrtsort wandern große Karawanen zu Fuß und zu Wagen nach dem beliebten Anziehungspunkt, wo sich ein überraschendes Leben und Treiben, ein Gewirr von Menschen, Pferden, Eseln und Equipagen entwickelt.
Fast übersättigt von den Eindrücken des schönen Tages kehrten wir nach Interlaken zurück, wo wir die uns noch übrige Zeit zu weiteren Ausflügen benutzten. Ein interessanter Spaziergang führte uns zu der romantischen Ruine „Urspunnen“.
Eine andere Partie galt dem neu auftauchenden Luftcurort Beatenberg, der immer mehr in Aufnahme kommt. Schon längst haben die Schweizer Aerzte auf die Wichtigkeit der sogenannten Luftcuren hingewiesen, die hauptsächlich dem erst in neuerer Zeit entdeckten „Ozon“ oder polarisirten Sauerstoff ihre Wirksamkeit in zahlreichen chronischen Krankheiten verdankten. Dieser Stoff entwickelt sich vorzugsweise unter Einwirkung des Sonnenlichts auf hohen Bergen, in der Nähe des Meers und in Wäldern. Beatenberg selbst liegt in einer Höhe von siebentausend Fuß und schien uns wie geschaffen zu einem derartigen Curort, indem es mit der nöthigen Ruhe die reizendste Aussicht auf den smaragdenen See und auf die lange, weiße Kette der Berner Alpen verbindet, ein Bild des stillen Friedens im Vergleich mit dem geräuschvollen Interlaken, dem es freilich an Comfort und Eleganz weit nachsteht.
Endlich schlug die Abschiedsstunde von der schönen Schweiz. Mit dem Dampfboot fuhren wir über den herrlichen Thuner See, an dessen Ufern die reizendsten Villen, Schlösser und Dörfer uns zum längeren Verweilen einluden. Nur mit schwerem Herzen rissen wir uns von der bezaubernden Gegend los, um die Rückreise mit der Eisenbahn fortzusetzen. Erst in Hauenstein, wo die Gräber der in dem Tunnel unglücklich Verschütteten sich erhoben, schwand der letzte lichte Streifen der fernen Alpen. Wir aber riefen, eingedenk der schönen Tage: auf Wiedersehen, auf baldiges Wiedersehen!
Im Anfange der vierziger Jahre versammelte sich in Kießling’s Bierkeller in Breslau eine große Zahl Breslauer Bürger, junger Beamten und Studenten, welche nicht blos dem Bier, sondern auch dem Zeitgeist und der freien politischen Entwickelung huldigten. Man verstand unter der letzteren eine „constitutionelle Verfassung“, gegen welche damals eine heftige Reaction sich ereiferte, während sie jetzt eine unbestrittene und der Reaction selbst nicht unwillkommene Thatsache ist. Der Schweidnitzer Keller des Breslauer Rathhauses, dessen Bimmelglocke schon lange nicht mehr geläutet wird, versammelte allerdings ein zahlreicheres Publicum, aber in Kießling’s Keller kam Alles zusammen, was zur Opposition gehörte. Auch Gutsbesitzer der Provinz fanden sich häufig ein, darunter der jugendliche Graf Eduard Reichenbach mit seiner hohen Gestalt, seinem imponirenden Vollbart, seinen Feueraugen, jeder Zoll noch ein Jenenser Burschenschafter, der stets bereit war, „den Stier bei den Hörnern zu fassen“, wie er zugleich als politischer Radicaler und tüchtiger Landwirth sich auszudrücken pflegte. Uns jungen Studenten imponirte diese kräftige Reckengestalt, um welche die Glorie einer überstandenen Festungshaft schwebte und deren Frische und Energie einen hinreißenden Zauber ausübte.
Es herrschte in diesen unterirdischen Gemächern ein durch den Gerstensaft genährter lebhafter Cultus der geistigen Freiheit; hier wurden politische Gedichte declamirt, Herwegh war damals Mode, und Alles „riß die Kreuze aus der Erde“, um damit dreinzuschlagen; dort führte man philosophische Gespräche. Da machte sich vor Allem ein blutjunger Student bemerklich mit einer etwas spitzen, aber doch durchdringenden Stimme, von blasser Gesichtsfarbe, von einem griechischen Profil, das mit den physiognomischen Merkmalen israelitischer Herkunft eigenthümlich verschmolzen war. Ganz nach den Gesetzen hellenischer Plastik erstreckte sich die Nase ohne jeden Einschnitt geradlinig von der Stirn herab, aber um den Mund spielte eine lebhafte Beweglichkeit mit allen jenen zersetzenden geistigen Elementen, welche dem jüdischen Stamme eigenthümlich sind. Die ganze Erscheinung hatte etwas körperlich Durchsichtiges und geistig Feines – zählte doch der junge Student nicht mehr als siebenzehn Jahre; doch kein Professor der Philosophie konnte mit größerer Beredsamkeit von Hegel, dem modernen „Proclus“, sprechen und über die neuen mythologischen Offenbarungen Schelling’s in Berlin den Stab brechen; denn es hatte Ludwig Feuerbach in einer kleinen Schrift die Grundzüge einer neuen Philosophie des Sensualismus veröffentlicht, und an diese Schrift knüpfte sich die lebhafte Debatte an einem Seitentische des Kießlingschen Kellergeschosses. – Ich frug nach dem Namen des jungen Studenten und erfuhr, daß er Ferdinand Lassalle heiße und der Sohn eines vermögenden jüdischen Kaufmanns sei.
Bald traten wir uns näher. Es spukte damals wundersam in den Köpfen, war doch die Welt in Gährung, in Unruhe. Ein neuer Tag schien anzubrechen, und der Lorbeer des Reformators erschien als der schönste und erreichbarste von allen. Ein wenig Märtyrerthum dabei – das machte die Weltverbesserung noch romantischer. Die heutige akademische Jugend, die sich auf der Grundlage eines mächtigen Staatswesens dem Dienste der Wissenschaften weiht, kann sich kaum in jene Zeit der politischen Bewegung zurückversetzen, wo sich eine Welt von Möglichkeiten traumhaft dem Blicke aufthat, wo Jeder glaubte, er brauche nur zuzugreifen, um dem Staatsschiff eine andere Richtung zu geben, wo der jüngste Student berühmt werden konnte und auch wirklich berühmt wurde, wenn er in den Reihen der Opposition irgend eine herostratische That verrichtet hatte, mochte diese auch nur in einem herausfordernden Gedicht oder in der Betheiligung an einer lärmenden Demonstration bestehen. Das geistige Streben ging damals in’s Blaue, aber es herrschte bei allen Verirrungen ein schöner Idealismus, wie er der Jugend ziemt. Man kannte zwar noch keine Zukunftsmusik, aber man glaubte an die Harmonie der Zukunft, und der Himmel hing voller Geigen.
Ferdinand Lassalle imponirte mir durch die genaue Kenntniß des schwierigsten Gedankensystems bei seiner großen Jugend; er konnte seinen Hegel auswendig bis in die dunkelsten Stellen; er wußte schon damals den Standort aller Gedanken in den verschiedenen Werken und Bänden, eine Kenntniß, durch die er später in Berlin selbst einem Alexander v. Humboldt die größte Achtung abnöthigte. Er war überhaupt ein feiner Kopf, geübt in allen Combinationen, ein gewandter Schach- und Whistspieler, und auch diese Neigungen führten uns zusammen. Wir beschlossen, eine geschriebene Zeitschrift für die Breslauer Burschenschaft, den „Raczeckes“, abzufassen, für welche Lassalle die philosophischen Artikel und ich die Gedichte lieferte. Das Journal, welches die Kunst Gutenberg’s verschmähte, erfreute sich dennoch einer großen Popularität, und wenn manche gedruckten Blätter und Werke in einem unheimlichen Dunkel verharren, so hatte unsere ungedruckte Zeitschrift dafür glänzenden Erfolg. Sie lag in den Lesezimmern aus; unsere Gedanken und unsere Verse wurden bei jeder Gelegenheit, bei den Kneipen und den Commersen citirt, und da sie uncensirt erschienen, fehlte es ihnen an Kühnheit nicht. Ein [577] Gedicht, welches ich gegen die Bureaukratie gesündigt hatte und in welchem ich die Dreistigkeit hatte, die Beamten mit einer numerirten Herde zu vergleichen, fand besonderen Beifall bei den künftigen Staatsdienern, aber weit geringeren bei dem damaligen Regierungsbevollmächtigten der Universität, der sich wahrscheinlich aus autographischer Liebhaberei in den Besitz desselben gesetzt hatte. Natürlich ließ sich ein solches journalistisches Unternehmen ohne Mitarbeiter nicht bestreiten, unter denen sich einige curiose Käuze befanden. Zu diesen gehörte ein angehender Philosoph, der ohne genügende Vorbildung in die Stromschnellen der Dialektik gerathen war; er hatte ein Drama geschrieben, „Der Sieg der Idee“, in welchem nach seinem eigenen Ausdrucke „die Geschichte hinten herunterfällt“, ein Drama, das sich nicht aufführen ließ und an die philosophischen Dramen der Hindus erinnerte, an diese großartigen metaphysischen Schattenspiele, wie „der Mondaufgang der Erkenntniß“.
Lassalle schrieb für unser Journal philosophische Aufsätze im Stil der „deutschen Jahrbücher“, Aufsätze, die von einer seltenen Begabung zeugten, und in der That, wer seine späteren großen Werke über Heraklit und das Erbrecht, welche für seine meisten Anhänger Bücher mit sieben Siegeln sind, aufmerksam durchstudirte, der muß seinem eminenten Scharfsinn, über den die zünftige Gelehrsamkeit nur selten gebietet, und seinem erstaunlichen Fleiß die vollste Anerkennung zollen. Doch was ein Dörnchen werden will, krümmt sich bei Zeiten – und so krümmte sich das Dörnchen Lassalle in unserem Journal.
Eine studentische Katastrophe sollte den jungen Philosophen in jene ersten Conflicte mit den Behörden bringen, die ihm in späterer Zeit fast zu den täglichen Lebensgewohnheiten gehörten; diesmal waren es indeß die akademischen Behörden, deren Joch immerhin noch süß und deren Last leicht ist. Jene Vorgänge zeugten von einem so leidenschaftlichen Interesse für Philosophie bei der Studentenschaft, wie es heute längst in das Reich der Sage gehört. Der Professor der Philosophie Braniß in Breslau war einer der geistreichsten Docenten der Universität; sein Vortrag war außerordentlich lebendig und anregend. Weniger glücklich war er als Schriftsteller. Eine „Geschichte der Philosophie seit Kant“ hatte es nur bis zu einem Bande gebracht und war in demselben glücklich bis zu dem Anfangspunkte des Werkes, bis zu Kant vorgedrungen; sein philosophisches Hauptwerk stellte als höchstes Princip das „absolute Thun“ hin, während sehr viele Commilitonen sich lieber für das „absolute Nichtsthun“ erklärt hätten. Braniß liebte es, Zeitrichtungen anzugreifen, und so ließ er denn auch eines Tages das schwere Geschütz seiner Dialektik gegen Ludwig Feuerbach spielen. Damit stach er indeß in ein Wespennest. Feuerbach hatte eine große Zahl begeisterter Anhänger, welche ihre Opposition alsbald in thatkräftiger Weise äußerten; sie trommelten und trampelten, und brachten so die Logik des Professors Braniß zum Schweigen.
Es war dies jedenfalls ein unwissenschaftliches Vorgehen. Dieser Ansicht war auch ein Student, Hermann Grieben, jetzt tüchtiger Redacteur der „Kölnischen Zeitung“ und beliebter Dichter; er sprach seine Ueberzeugung in einem Artikel der „Breslauer Zeitung“ aus und tadelte das Benehmen der Studirenden auf das Heftigste. Eine solche Auflehnung eines Einzelnen durfte indeß nicht ungestraft bleiben; es war eine Art von Hochverrath an der Majestät der Studentenschaft. Max v. Wittenburg, damals eines der Häupter der Burschenschaft, später in das feudale Lager übergegangen, berief eine große Studentenversammlung, vor welcher Grieben sich wegen seines Attentats rechtfertigen sollte. Diese Versammlung wurde von dem Rector und dem Senat verboten, aber, wie dies zu gehen pflegt, dennoch abgehalten, und war vielleicht gerade deshalb außerordentlich besucht. Der Angeklagte erschien und vertheidigte sich nach besten Kräften; aber er war schon von Hause aus verurtheilt, und die Catilinarischen Reden regneten nur so auf sein verfehmtes Haupt herab. Unter diesen Anklägern befand sich auch Ferdinand Lassalle; er ließ vielleicht zum ersten Male sein etwas spitzes, aber von nervöser Energie vibrirendes Organ in einer größeren Versammlung ertönen. Seine Beweisführung war wenig volksthümlich; es waren allerlei dialektische Spinngewebe, die er in hastiger Rede zusammenfegte, und so rief sein erster Versuch auf dem Gebiete volksthümlicher Beredsamkeit eigentlich keine durchschlagende Wirkung hervor. Doch an Terrorismus ließ er nichts zu wünschen übrig; seine Rede war mit lauter Donnerkeilen gegen die Ankläger Feuerbach’s hinlänglich ausgerüstet, und man glaubte, als er mit prickelndem Feuer schloß, etwas von jenem Schwefeldampf zu verspüren, welcher das Verschwinden des Mephistopheles begleitete.
Auch ich hatte in jener verbotenen Versammlung gesprochen, natürlich im Sinne der Bewegungspartei, und da ich noch an den Folgen eines Königsberger Consilium abeundi litt und noch nicht rite immatriculirter Student war, so machte man mit mir kurzen Proceß und verwies mich einfach aus der Stadt. Der Regierungsbevollmächtigte erfreute mich außerdem durch den Vortrag einiger Verse, zu deren Autorschaft ich mich bekennen mußte und die, um die Wahrheit zu sagen, äußerst wenig zu meinen Gunsten sprachen. Doch die Studentenschaft benutzte diese Ausweisung zu einer neuen Demonstration; man erkannte mir die Ehre eines feierlichen Geleits zu; Ferdinand Lassalle war mit unter den Entrepreneurs dieser Feierlichkeit. Auch die Landsmannschafter betheiligten sich mit einer Deputation, in welcher sich der jüngst verstorbene wackere Berliner Rechtsanwalt Hiersemenzel befand, damals ein strebsamer Musenjünger, dem die Lyrik in aller Stille und Verschwiegenheit ihre Weiheküsse ertheilte. Es war für ihn der Anfang einer Sturm- und Drangperiode, die an allerlei lustigen Abenteuern reich war; denn der blaß und schüchtern aussehende Jüngling konnte mit seinen damaligen und späteren Erlebnissen eine ganze Chronik füllen.
Außer den Abgesandten der Landsmannschaft hatten sich zu dem Comitat auch einige Breslauer Bürger eingefunden, um den Antheil an den Tag zu legen, den auch die Bürgerschaft allen Bestrebungen zuwandte, die eine Opposition gegen das Cultusministerium, wenn auch in ferner Perspective, zeigten. Vor dem Thor des grauen Bibliothekgebäudes auf dem Sande, in dessen Hof ich meine klösterliche Wohnung aufgeschlagen hatte, wurde es auf einmal in unheimlicher Weise lebendig, vier- und sechsspännige Wagen fuhren vor, die Posthörner schmetterten, Reiter sprengten mit blanken Hiebern in den Hof, Studentenmützen von den verschiedensten Farben wogten durcheinander. Ein langer Wagenzug entführte mich aus der Vaterstadt, vor dem Gebäude des Polizeipräsidiums und Regierungscuratoriums hielt der Zug; die Postillone bliesen das wehmüthige Lied: „Bemooster Bursche zieh’ ich aus“ und weiter ging’s dann nach dem oberschlesischen Bahnhofe, wo vor zahlreich versammeltem Publicum noch einige kräftige Abschiedsreden gehalten wurden.
Doch der hinkende Bote kam nach! Die Unternehmer und Theilnehmer des Comitats geriethen in Untersuchung und auch Ferdinand Lassalle wurde der Märtyrer seiner Ueberzeugungen. Mannhaft trat er dem Universitätsrichter gegenüber und bewies sein gutes Recht mit jener unerschütterlichen Unfehlbarkeit, die auch allen seinen späteren Vertheidigungsreden eigen war. Ich besitze noch einen sehr ausführlichen Brief von ihm, in welchem er mir das ganze Verhör mit allen seinen kecken Antworten mittheilt – wie oft ist mir dieser Jungfernproceß Lassalle’s bei seinen späteren Processen eingefallen! Doch die blinde Themis ließ sich durch das Genie nicht bestechen. Lassalle wurde zu achttägiger Carcerstrafe verurtheilt und genoß so den Vorgeschmack der künftigen Gefängnißstrafen, die dem socialen Agitator zuerkannt wurden.
Nachher verlor ich ihn einige Zeit lang aus dem Gesicht. Als ich ihn dann in Berlin wiedersah, befand er sich in der Epoche der feinen Pariser Hemden und der vornehmen Liebesabenteuer, einer sehr kostspieligen Epoche, die an die Tasche des Vaters appellirte. Alles um ihn war aristokratischer Parfum, Liebesbriefe von dem Umfang einiger Bogen Conceptpapier wurden in echtem Romanstil an vornehme Damen gerichtet; der Don Juan stand in voller Blüthe.
Bei einem späteren Besuch in Berlin fand ich ihn etwas mehr zu den Gretchen und Clärchen herabgestiegen; er liebte nur Naturkinder, huldigte aber außerdem der Freundschaft. Er wohnte mit seinem Freund, dem Doctor Mendelssohn, zusammen, den er in die Geheimnisse der Hegel’schen „Phänomenologie“ einweihte. Das unerwartete Resultat dieser Studien war der berüchtigte Cassettendiebstahl, der nicht lange darauf in Scene ging. Nun begann Lassalle eine öffentliche Rolle zu spielen; ich habe sie mit Antheil verfolgt, bis zu dem Duell, das dem duellfeindlichen Agitator, dem Helden einer Pauk- und Prügelscene [578] auf den Straßen Berlins, verhängnißvoll werden sollte, und mit Antheil sah ich später einmal die goldgelockte Ate dieses unseligen Duells, die Rolle in der Hand, in dem Salon der Frau Peroni-Glaßbrenner, wo sie sich, nach selbsterlebter Tragödie, für die geschminkten Tragödienrollen der Bühne vorbereitete!
Wer, wie ich, Lassalle von Jugend auf kennt, dem muß es als eine merkwürdige Ironie des Schicksals erscheinen, wie gerade an seinen Namen sich eine Agitation der Massen knüpfen konnte. Lassalle war eine durchaus aristokratische Natur; er besaß eine geistige Vornehmheit, wie sie den Vertretern der Hegel’schen Philosophie eigen ist, welche die Masse und ihren gesunden Menschenverstand verachten; seine gelehrten Werke sind nur der exclusivsten Gelehrsamkeit zugänglich und tragen für das profane Publicum die Inschrift der Dante’schen Hölle: „Die Ihr hier einzieht, laßt die Hoffnung draußen!“ er hatte überdies aristokratische Lebensgewohnheiten und gehörte durchaus nicht zu den Männern, die sich in der Atmosphäre des Arbeiterpublicums wohl fühlen oder die durch Bonhomien, Humor, äußeres Kraftgefühl und die Vorliebe für Kraftausdrücke sich die Sympathien dieses Publicums gewinnen können.
Als er sich indeß einmal mit dem heißen Ehrgeiz und der fieberhaften Energie, die ihn beseelten, auf die Arbeiterfrage geworfen hatte, zu welcher ihn die Bedenken über die Berechtigung des Capitalgewinns in seinem größeren Werke hinführten, da vermochte er durch seine Neigung für das Extreme, das die Massen begeistert, durch die Unermüdlichkeit, mit welcher er die Sturmglocke läutete, durch die scharfgeschliffenen Sätze, die er hin- und herschleuderte wie ein Jongleur, auf die Massen einen Zauber auszuüben, der ihn überlebt hat und ihn zum Gegenstande eines enthusiastischen Todtencultus seitens der Arbeiter Deutschlands macht.
Vergessen wollen wir indeß nicht, daß er keineswegs den staatsfeindlichen Theorien der Internationale und ihrer deutschen Anhänger huldigte, daß er in seinen politischen Broschüren und in seiner Fichterede den Beruf Preußens zur Wiederherstellung deutscher Macht und Größe energisch hervorgehoben, ja einen Cavour dem preußischen Staatsmann als Muster hingestellt hat, daß er himmelweit entfernt war von einer Allianz mit dem Particularismus und den jetzigen reichsfeindlichen Mächten.
Lassalle hatte von Haus aus wie Wenige eine eiserne Stirn und den Glauben an seine Unfehlbarkeit – und das ist für ein öffentliches Auftreten schon die halbe Bürgschaft des Erfolgs. Hat er doch dadurch selbst dem kranken Aristophanes in Paris imponirt, der in ihm den Vertreter einer neuen Jugend erblickte, die rücksichtslos mit allen Traditionen und jeder Gefühlsschwärmerei gebrochen hat.
Sein Lebenslauf bewegt sich indeß in einer „gebrochenen“ Linie; aus dem Gelehrten entpuppt sich der Agitator, und der Abenteurer geht durch beide Epochen hindurch. Mindestens beweist dies interessante Phänomen, daß die Zeit der deutschen Faust-Don Juane noch nicht vorüber ist, eine so große Rolle auch gegenwärtig die gelehrten und poetischen Wagner spielen!
Noch ein später Kämpferlohn. Wer unsere Abbildung von Jahn’s Denkmal (S. 567) mit Augen betrachten kann, welche die Männer des Geistes und der That der Befreiungskriege, die Wecker und Erheber der deutschen Nation zu jenem Fürstenrettungskampfe noch selbst gesehen, wie sie in der Ungnade der Entfernung von ihrer Berufswirksamkeit herumgelaufen oder vom Gram über den Undank niedergebeugt in ihren Schmollwinkeln gesessen, für den reden diese Denkmalsteine eine ganz andere Sprache, als für die jüngere Generation. Wir Aelteren haben die schwerste Zeit mit durchlebt, wo der deutsche Nationalgeist von der Particular-Souverainetät als Verbrecher behandelt wurde; dieser Geist aber ist es, dessen gewaltigem Siege wir die Aufrichtung jener Denkmale und den Glanz ihrer öffentlichen Weihe verdanken; in ihnen erkennen wir die untrüglichsten Zeugen für die Wahrheit und Größe des Siegs und für die Sicherheit einer entwickelungsfrohen Zukunft. Und darum freuen wir uns über die Begeisterung, mit welcher das Volk die festliche Enthüllung solcher Denkmale begrüßt, und über die Theilnahme, durch welche das deutsch-nationale Fürstenthum sie auszeichnet.
Drei Säulen ehren jetzt den deutschen Boden, drei Säulen für drei Männer, deren Namen für alle Zeit in der deutschen Leidens- und Siegesgeschichte mit unvergänglichem Glanze strahlen. Sie heißen:
Wer das Leben dieser drei Männer erzählt, führt uns durch die drangvollste deutsche Zeit und dennoch durch die ruhmreiche Vorhalle, durch welche der deutsche Nationalgeist hindurchdringen mußte, um sich zu rüsten und zu erstarken für den großen Kampf der Gegenwart, deren Siegesglanz am würdigsten von diesen drei Denkmälern widerstrahlt.
Auch Vater Jahn’s Turnkunst hatte alle Wandelungen mitzumachen, denen das deutsche Streben nach nationalem Aufschwunge ausgesetzt war. Mit vollem Rechte sprach der Festredner vor Arndt’s Denkmal: „Jeder wiederkehrende heitere Sonnentag nationalen Lebens sah das Turnen von Neuem und stärker aufblühen und unter dem Schutze des Volkes gedeihen.“ – Gehen wir vorüber an den Schatten der Geschichte der deutschen Turnerei, es ist überwunden, es sei auch überwunden, was hinter uns liegt, und freuen wir uns der Sonne, die heute auf Deutschland scheint!
Der zehnte August war der Ehrentag des dritten jener Denkmäler, welche Versöhnung mit der Vergangenheit und Muth für die Zukunft predigen: das Denkmal, welches, seit Jahren und lange unter den ungünstigsten politischen Sternen vorbereitet, endlich seine Vollendung und seine Weihe im eigenen Vaterlande erreicht hat. Der Verlauf der festlichen Tage in Berlin ist, wie der Gefeierte selbst, unseren Lesern längst bekannt, sie Alle stimmen dem kernigen Lobspruch bei, welchen der Festgruß der „Wespen“, der gelungenste poetische Schmuck des Tages – dem Manne Jahn dargebracht hat. Ja:
Er war ein Mann,
Nicht fein und zart –
Doch was er sann,
War deutscher Art.
Rauh war er, hart,
In Noth nicht blaß,
In That nicht laß,
Und mehr als das:
Ein ganzer Mann in Lieb’ und Haß.
Der Jugend war
Sein Herz geweiht,
Des Argen baar
In arger Zeit.
Ihn bog kein Leid!
Verfolgt, verkannt,
Fest hielt er Stand,
Mit Herz und Hand
Treu allezeit dem Vaterland.
Als hoch die Fluth
Des Unglücks schwoll,
Blieb er voll Muth
Und Hoffens voll.
Sein Ruf erscholl
Zu ernster Lehr’
Und trieb zur Wehr –
Wie Keiner mehr,
Wies er das Volk auf Recht und Ehr’.
Und dieses Volk war es auch, dessen Dankbarkeit sich an diesem Denkmal in einer Weise bethätigt hat, über die wir nicht stillschweigend hingehen können. Bekanntlich wurden die Verehrer Jahn’s in aller Welt aufgefordert, Steine zu dem Denkmal mit Bezeichnung des Orts und des Gebers zu senden. Solcher Steine kamen nun so viele an, daß sie nicht alle für den Unterbau des Denkmals benutzt werden konnten und deshalb unmittelbar hinter demselben zu einer Pyramide aufgehäuft wurden. So beweist nun die Hasenhaide bei Berlin auf der Stätte des ersten deutschen Turnplatzes durch diese steinernen Zeugnisse, daß, soweit das deutsche Volk um die Erde, ebenso weit die Verehrung für den alten Jahn vorgedrungen. Einige dieser Zeugnisse theilen wir mit. Der Stein aus St. Louis trägt die Inschrift: „Dem Andenken Jahn’s. Am Tage der Abschaffung der Sclaverei in Missouri, am 11. Januar 1865.“ Vom Turnverein in Hechingen „ein Stein vom Hohenzollern“. Ein Stein aus Ostasien trägt die Inschrift „Manila“; einer von Tanunda in Süd-Australien: „dem edlen Jahn.“ – Ferner finden wir einen Stein „von Düppel-Schanze Nr. 2; einen von der Stammburg Ulrich’s von Hutten, Steckelberg, einen von Burg Sickingen „1549“; einen „vom Hohenstaufen“; aus Kronstadt in Siebenbürgen, aus dem Teutoburger Wald, viele Steine aus Thüringen und sogar „eine Kanonenkugel vom Linienschiff Christian VIII., Eckernförde den 5. April 1849“. Kurz: kein Land der Erde, wo Deutsche wohnen, ist hier unvertreten. Durch den letzten Krieg aber besonders bedeutungsvoll wurde der schon am 3. Februar 1863 von Saarbrücken und St. Johann eingesandte Stein mit einem Consol von der durch Napoleon den Ersten am 7. Januar 1814 gesprengten Saarbrücke. Die Inschrift schließt mit den jetzt prophetisch klingenden Versen:
– – Mich sandten die Turner vom fernen
Saargau her, den Vater zu ehren, auch allen Brüdern
Gruß zu bringen und herzliche Mahnung, daß nie und nimmer
„Wiederkehre der Tag, wo straflos der Fußtritt des Fremden
Deutsche Erde entweiht und der Bruder versäume den Bruder!“
Der Enthüllungsfeier wohnte officiell der königliche Minister Graf Eulenburg bei. Auch das gehört in diese Denkmalgeschichte.