Die Gartenlaube (1875)/Heft 17

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 17.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.



Ein kleines Bild.
Von Ernst Wichert.
(Fortsetzung.)


Also sie hatte seiner doch freundlich gedacht! Er steckte den Brief zu dem kleinen Bilde und wurde wieder an Juliette so lebhaft erinnert, daß er einige Tage ganz melancholisch herumging und seiner Mama große Sorgen machte. Daß er die Mutter des treuen Menschen aufsuchte und reichlich beschenkte, versteht sich von selbst. Er versprach ihr auch, den Sohn in’s Geschäft zu nehmen, wenn er Lust habe Comptoirdiener zu werden. Der „gelbe“ Herr Blanchard und die „vornehme“ Madame Blanchard gefielen ihm gar nicht. „Wir sind weit auseinander,“ gestand er sich.

Erst jetzt in der Heimath unter den Menschen, die von den Drangsalen des Krieges unberührt geblieben waren und ihre volle Freude an den großen Erfolgen unserer Waffen und an der Einigung des Vaterlandes zu einem deutschen Reich unter einem mächtigen Kaiser bei jeder Gelegenheit lebhaft aussprachen, lernte auch Arnold die Bedeutung dieser Errungenschaften recht würdigen. Aber so frei wurde seine Stimmung doch nicht, daß er sich mit rückhaltloser Begeisterung dem Festjubel hätte hingeben können. Er wußte ja, daß sich drüben der Horizont mehr und mehr verfinsterte, je glänzender hier die Glückssonne aufstieg, und daß sich eine immer höhere Schranke zwischen seinen Wünschen und der Hoffnung, sie erfüllt zu sehen, aufthürmte. Bei den Einzugsfeierlichkeiten war sein Haus nicht weniger geschmückt, als die anderen, und bei der Illumination hatte man Gassterne und Kerzen nicht gespart; er führte auch zu großer Befriedigung der Frau Mama Cousine Clara am Arm durch die Straßen und beantwortete Abends den Champagnertoast des guten Onkels Helmbach auf die friedlichen Streiter unter dem rothen Kreuz mit warmen Worten des Dankes, aber sein ganzes Herz war doch nicht dabei, und als er die Thür seines Schlafzimmers hinter sich geschlossen hatte, öffnete er die Brieftasche, nahm das kleine Bild heraus, hielt es lange vor sich hin und versuchte, ob es ihm nicht lebendig werden wollte. Das „erbärmlich weiß“ aus Kruttke’s Brief fiel ihm beim Anschauen der farblosen Photographie ein. Vielleicht dachte sie so schmerzlich an ihn, wie er an sie – vielleicht! Und sie hatte nicht einmal so viel von ihm zur Erinnerung.

Die Commerzienräthin ahnte nichts von alledem, was sein Herz beschwerte. Sie hatte den Lieblingsplan einer Verbindung ihres Sohnes mit seiner Cousine Clara nicht aufgegeben und versäumte nun keine Gelegenheit, ihn zu einem Entschluß zu drängen.

„Sprich nur ein Wort, daß Du einverstanden bist,“ sagte sie in einer vertraulichen Stunde gerade heraus, „und die Sache wird rasch in Ordnung gebracht sein. Ihr seid einander ja gut, so viel zu solchem Bunde nöthig ist, und daß Dir das treuherzige und bescheidene Mädchen eine brave Frau werden wird, ist außer jedem Zweifel. Worauf wartest Du eigentlich?“

„Du suchst Dir eine Frau für mich aus, beste Mama,“ antwortete er ausweichend, „und Cousine Clara, meinst Du, wird der Mutter ungefährlich sein. Aber ich denke noch gar nicht an’s Heirathen, und wenn einmal … Hoffentlich wirst Du meiner Wahl, wie sie auch ausfalle, Deine freundliche Zustimmung geben.“

Den Spätsommer brachte er in einem Bade zu, als dann aber wieder der Herbst herankam und sein Tagebuch vom vorigen Jahre immer wichtigere Daten in seine Erinnerung zurückführte, und nun auch jener Tag herankam, an dem er das kleine Bild aus der menschenverlassenen Villa entwendet hatte, wollte sich der Strom seiner Empfindungen nicht mehr niederdämmen lassen. Wie ein Träumender verrichtete er seine Arbeiten, genoß er seine Mahlzeiten, saß er am Familientisch. Seiner Mutter wurde er mehr und mehr ein Räthsel, und auch der Hausarzt wußte ihr dasselbe nicht zu lösen.

„Sage mir nur in aller Welt, was fehlt Dir, Kind?“ fragte sie ihn eines Tages mit Thränen in den Augen. „Du verkümmerst ja sichtlich! Willst Du mich um meinen einzigen Sohn, um meine ganze Lebensfreude bringen?“

Er faßte ihre Hand und drückte sie an sein Herz. „Versprichst Du mir, mich geduldig anzuhören?“ entgegnete er mit fester Stimme, nachdem er einen Entschluß gefaßt hatte. „Was ich Dir mitzutheilen habe, wird Dich in nicht geringe Verwunderung setzen, aber es darf Dich nicht erschrecken, nicht unwillig machen. Vergiß nicht, daß es Dein Sohn ist, der Dir sein Innerstes aufdeckt, und daß Du seinen Gefühlen auch dann Achtung schuldest, wenn Du sie nicht billigen kannst.“ Er öffnete die Brieftasche, nahm mit zitternder Hand Juliette’s Bild heraus und reichte es seiner Mutter.

Die Commerzienräthin warf einen neugierigen Blick darauf und erschrak, als sie das weibliche Portrait bemerkte, so heftig, daß sie kreidebleich wurde. Sie wußte in dem einen Moment Alles – Alles, worauf es ankam: Arnold liebte, und das war der Gegenstand einer Neigung, die ihn verzehrte.

Er erzählte nun seine Erlebnisse vor Paris mit aller Ausführlichkeit [278] und schloß: „Magst Du nun an den Zauber in diesem kleinen Bilde glauben, oder nicht, Mutter, so viel ist gewiß, daß das Mädchen selbst mir’s angethan hat für mein ganzes Leben. Ich weiß Alles, was Du mir vernünftiger Weise einwenden kannst; es giebt keinen Grund gegen die Verbindung, den ich nicht selbst tausend Mal durchdacht hätte. Wie oft habe ich mich einen Unsinnigen gescholten, wenn ich mir alle Hindernisse vergegenwärtigte! Und doch war kein Verstand stark genug, diese Sehnsucht meines Herzens zu bannen. Alle Deine Vorstellungen, Deine Bitten, Deine Klagen werden ebenso machtlos sein. In mir steht es fest, daß ich nicht glücklich sein kann, wenn Juliette nicht die Meine wird. Es ist beschlossen und unabänderlich: ich fahre nach Paris und halte um sie an. Liebt sie mich, wie ich sie liebe, so kann es keinen äußeren Widerstand geben, der unüberwindlich wäre.“

Arnold selbst hatte schwerlich erwartet, daß seine Mutter sich schnell seinen Wünschen fügen werde, aber auf eine so heftige Opposition, wie ihm nun entgegentrat, war er nicht gefaßt gewesen. Nicht nur sah sie ihren eigenen Lieblingsplan zerstört, es war ihr auch ganz unfaßlich, wie Arnold sich in eine Französin habe verlieben können, und wenn diese Neigung sich nun doch einmal auf so wunderliche Weise in sein Herz geschlichen habe, wie er nicht sofort einsehe, daß der Roman schlecht enden müsse. Sie bestürmte ihn, sich nicht in sein Unglück zu stürzen, und erkrankte ernstlich, als er zäh an seinem Vorhaben festhielt. Onkel Helmbach wurde in’s Geheimniß gezogen und um Rath gefragt. Der alte Herr gab ihr in Allem Recht, sprach mit Arnold „ein ernstes Wort“ und kam dann doch mit der trostlosen Nachricht zurück, es sei mit dem Trotzkopfe nun einmal nichts anzufangen. „Ich glaube übrigens,“ sagte er schließlich mit so verschmitztem Lächeln, wie sein gutmüthiges rundes Gesicht irgend aufbringen konnte, „die Sache ist gar nicht so gefährlich, wie sie scheint. Er hat sich in seinen Eigensinn verrannt, und kann nun nicht heraus. Nach seiner eigenen Darstellung ist es ja noch keineswegs gewiß, daß die junge Dame ihm eine gleich zärtliche Neigung entgegenbringt. Vielleicht würde er schnell zur Vernunft kommen, wenn er bei einer offenen Werbung seinen Irrthum einsehen müßte. Und wenn sie ihm wirklich gut sein sollte, werden ihre Eltern einwilligen? Tausend gegen eins zu wetten: nein! Dann muß er sich’s doch aus dem Kopfe schlagen, und uns kann er keine Vorwürfe machen. Es ist zu bedenken.“

Die Commerzienräthin sann nach, und diese Gründe leuchteten ihr ein. Aber die Gefahr, der er sich in Frankreich aussetzte? Die Zeitungen waren voll von Berichten, wie übel man den Deutschen dort überall begegne, wo sie sich unter der noch immer feindselig aufgeregten Bevölkerung sehen zu lassen wagten. Ihres Lebens wären sie nicht sicher, am wenigsten in Paris. Da Arnold, der schon in der Hauptsache gewonnenes Spiel hatte, diese Besorgnisse als ganz übertrieben verlachte, stellte nun die gute Frau ihr Ultimatum: allein lasse sie ihn auf keinen Fall reisen, wenn aber Helmbach ihn begleiten und vor unbedachten Schritten behüten wolle, möge er thun, was er nicht lassen könne. Onkel Helmbach, der durchaus kein Held war, zog zu dieser Entscheidung ein recht saures Gesicht, meinte dann aber doch, es empfehle sich wirklich, wenn ein älteres Mitglied der Familie an Ort und Stelle sich über die näheren Verhältnisse unterrichte und gleichsam die Sache ordnungsmäßig in die Hand nehme. Er wollte das Opfer bringen.

Arnold ließ sich recht gern den Onkel gefallen, der ihm ein lieber Reisegesellschafter und gewiß kein eifriger Widersacher war. Und so fuhren die Beiden denn eines Tages bei gräulichem Herbstwetter zur Bahn, gelangten glücklich über die Grenze und stiegen in Paris aus.

In der Stadt hielt man sich nicht lange auf. Der alte Herr war zwar neugierig genug, das moderne Babel kennen zu lernen, fühlte sich aber doch zu unbehaglich in dieser fremden Umgebung, um Wünsche zu äußern. Er glaubte jedem, der ihnen begegnete, abzumerken, daß er ihn mißtrauisch beobachtete, und namentlich verursachte ihm jeder Polizeibeamte, an dem sie vorüber mußten, heimliche Schauer.

„Herr, mein Gott,“ sagte er beklommen, „wenn ich hier von Deiner Seite abgedrängt werde, so bin ich rein verloren; ich kann ja nicht einmal französisch sprechen.“

Arnold mußte über den Mentor lachen, den ihm seine Mutter so wohlweislich beigegeben hatte. Um ihn zu beschäftigen, ermittelte er das Comptoir von Charles Blanchard und führte ihn dorthin. „Du sollst ja meiner Mutter auch Auskunft über die äußeren Verhältnisse der Familie geben,“ sagte er. „Nun, Herr Blanchard ist Kaufmann; sieh Dich in seinem Comptoir um, und Du wirst darüber besser unterrichtet sein, als durch einen Blick in den Salon.“ Onkel Helmbach nickte. Er hätte zu jedem anderen Vorschlage ebenso genickt.

Das Geschäftslocal lag in einem stattlichen Hause der Cité. Menschen in allerhand Röcken gingen aus und ein; es war ein lebhaftes Treiben in der Einfahrt nach dem Hofe zu und auf der Treppe, die nach dem eigentlichen Comptoir führte. Sie standen ein paar Minuten und beobachteten. Dann traten sie ein. Mehrere Zimmer hintereinander waren mit Schreibtischen besetzt. Arnold fragte einen jungen Menschen, der Wechsel in ein Buch eintrug, nach dem Chef. Herr Blanchard sei seit einiger Zeit kränklich, wurde ihm geantwortet, und komme nicht täglich nach der Stadt. Der Herr dort im hintersten Zimmer sei aber der Procurist und werde jede gewünschte Auskunft ertheilen. Es war Arnold lieb, seinen alten Wirth nicht hier begrüßen zu müssen. Er erkundigte sich bei dem Herrn, an den er gewiesen war, indem er sich ihm als einen Kaufmann vorstellte, ob es dem Hause vielleicht genehm sein würde, wenn er für dasselbe in Deutschland Bestellungen auf Rothweine vermittele; er dürfe einen guten Absatz versprechen. Der Franzose kniff die Augen zu, zog den Mund breit und sagte:

„Ich bedaure – Herr Blanchard macht principiell mit Deutschland keine Geschäfte. Wenn Sie aber Verbindungen in Oesterreich …“

Arnold zuckte die Achseln. Die Sache war damit abgethan. Er hatte sich schon verabschiedet, als ihm einfiel, nach Victor zu fragen. Der Geschäftsführer wurde aufmerksamer.

„Sie kennen den Herrn Lieutenant persönlich?“

„Ich habe die Ehre.“

„Er steht mit seinem Regimente in Paris und wohnt …“ Die Wohnung wurde genannt.

„Ich danke Ihnen.“ Arnold faßte seinen Onkel unter den Arm und entfernte sich.

Der Franzose begleitete ihn bis zur Thür. „Darf ich um Ihren Namen bitten, mein Herr?“

Arnold grüßte zum Abschiede. „Er thut nichts zur Sache. Ich werde den Herrn Lieutenant aufsuchen.“

Als sie die Straße entlang gingen, meinte Helmbach: „Hm, hm! Das Geschäft hat ein Ansehen. Aber verstand ich recht, daß sie mit Deutschland nicht handeln wollen?“

Arnold lachte. „Das sind Marotten, die ihnen selbst mit der Zeit sehr unbequem werden müssen.“ Innerlich nahm er diese Abweisung keineswegs so leicht. Wenn der alte Herr uns noch immer nicht seinen Rothwein gönnt, überlegte er, was wird er erst für Augen machen, wenn ich seine Tochter … Onkel Helmbach zog einen ähnlichen Schluß, schwieg aber diplomatisch.

Arnold bedachte, ob er sogleich den Lieutenant aufsuchen solle. Dieser konnte ihn bei seinen Eltern einführen, er konnte aber auch in Frankreich ein ganz Anderer geworden sein, als in Deutschland, seinen Beistand versagen und ihm bei seinem Vater einen schlimmen Empfang bereiten. Diese Befürchtung überwog. Er fand es praktischer, erst durch seine Visite in der Villa eine vollendete Thatsache zu machen. Er nahm einen Wagen, holte das Gepäck ab und verließ die Stadt in der Richtung der Ortschaft, in der sich das Feldlazareth befunden hatte. Er erinnerte sich eines Gasthofes nicht weit davon, der freilich im letzten Winter leer gestanden hatte oder von Officieren als Quartier benutzt war. Jetzt zeigte sich die Wirthschaft wieder im besten Gange. Rose ließ halten und bestellte zwei Zimmer.

Sie wurden genöthigt, ihre Namen und den Ort, woher? in ein Buch einzutragen. Gleich darauf erschien der Hôtelbesitzer selbst. „Aus Deutschland, meine Herren?“ fragte er etwas verdrießlich.

„Allerdings.“

„Darf man wissen, in was für Geschäften …?“

„In eigenen.“

„Sehr gut. Aber welcher Art, wenn ich fragen darf …?“

„Sie sind sehr neugierig, mein Herr.“

„Entschuldigen Sie! Es ist mir zur Pflicht gemacht –“

[279] „Nehmen Sie also an, daß wir Paris sehen wollen.“

„Ah! Man entfernt sich nicht so weit von der Stadt, um sie zu sehen.“

„Wir lieben aber die Stille – und ich bin hier recht gut bekannt. Im vorigen Herbst sah’s freilich in dieser Gegend anders aus.“

„So, so! im vorigen Herbst. Ja, da standen hier …“ Er verschluckte das Weitere. „Und wie lange gedenken Sie sich aufzuhalten?“

„Einige Tage.“

Der Hôtelbesitzer überlegte. „Ich kann Sie nicht hindern, meine Herren,“ bemerkte er nach einer Weile, „bei mir zu logiren, und was mich anbetrifft, ich bin ohne Vorurtheil, aber ich muß Sie bitten, mich nicht dafür verantwortlich zu machen, wenn Ihnen etwas Unangenehmes passiren sollte. Man muß eben die Verhältnisse nehmen, wie sie sind.“

Arnold beruhigte ihn, so gut er konnte.

Gegen Abend – es dunkelte schon stark – lud er den Onkel, der durch die Reden des Wirths ganz verschüchtert war, zu einem Spaziergange ein. Er müsse erst einmal recognosciren, sagte er, bevor er in die eigentliche Action eintrete. Sie kamen an dem Fabrikgebäude vorbei, in welchem das Lazareth aufgeschlagen war. Jetzt zeigten sich alle Fenster erleuchtet. Arbeiter gingen ab und zu. Ein Lastwagen wurde am offenen Thore abgepackt. Noch eine Strecke weiter unter den Bäumen – und die bekannte Villa wurde sichtbar. Aber der Mond schien nicht, um sie zauberisch zu erleuchten; in der Abenddämmerung lagen Haus und Baumwand wie eine dunkle Masse da. Sie näherten sich dem Eisengitter und Arnold führte seinen Begleiter, der ihn unter den Arm gefaßt hatte, an dasselbe heran. In dem Zimmer der Madame Blanchard brannte eine Lampe. Nun wurde auch in den Salon Licht gebracht; es bewegte sich her und hin. Gleich darauf erschien eine weibliche Gestalt am Fenster und ließ die Vorhänge herab. Dann hörte man auf dem Flügel spielen. War das Juliette? Arnold zweifelte nicht daran und nahm’s für ein gutes Omen.

Dann öffnete sich die Hausthür, und ein Herr trat heraus. Er ging langsam über den Kiesweg hin, schlug mit seinem Stöckchen in die Hecken und summte irgend eine Melodie vor sich hin. Als sich die Töne des Claviers vernehmen ließen, blieb er einen Augenblick stehen, schaute zurück und warf eine Kußhand hinauf. Dann ging er rasch weiter. Am Gitter bemerkte er die beiden Fremden und beobachtete sie beim Austreten scharf. Arnold erkannte nur einen jungen schlankgewachsenen Mann mit schwarzem Bärtchen und eigenthümlich stechenden Augen. Derselbe schloß zögernd das Gitter hinter sich und schien sich zu bedenken, ob er die Fremden anreden solle.

„Was wollen Sie hier, meine Herren?“ fragte er dann in der Weise eines Polizeibeamten, der etwas Unerlaubtes wittert.

„Wir glauben hier Niemandem im Wege zu sein,“ antwortete Arnold, ohne sich schrecken zu lassen.

„So, so – freilich!“ knurrte der Herr, faßte ihn noch einmal in’s Auge und entfernte sich, das Musikstück mit einigen ziemlich unharmonischen Tönen begleitend.

Helmbach zog seinen Neffen fort. „Wir werden noch Unannehmlichkeiten haben,“ äußerte er ängstlich, „es ist ja hier auch Nichts zu sehen.“

„Du weißt nicht, wie mir um’s Herz ist,“ entgegnete Arnold und seufzte tief auf.

Sie gingen dieselbe Straße zurück. Nicht weit von der Fabrik lag ein kleines Wirthshaus, das Arnold im vorigen Winter oft besuchte. Der Wirth hatte damals zwar auch die Flucht ergriffen gehabt, war dann aber heimgekehrt und hatte sein Geschäft wieder eröffnet. An Zuspruch fehlte es ihm nicht, und die preußischen Thaler gefielen ihm so gut wie die französischen Francs. Arnold hatte ihn lieb gewonnen, da er ein munterer Geselle war, der gut zu unterhalten verstand und die Leute im Ganzen auch ehrlich bediente. Er führte jetzt den alten Herrn trotz der Bedenklichkeiten desselben in das kleine Wirthshaus.

Der Restaurateur erinnerte sich seines guten Kunden gleich, zeigte sich aber nicht sonderlich erfreut über das unerwartete Wiedersehen. Da das Gastzimmer von Arbeitern gefüllt war, bat er die Herren, ihm nach seinem Privatstübchen nebenan zu folgen. Dort setzte er ihnen Wein vor und nahm auf Arnold’s Bitte neben ihnen Platz.

„Es ist gut,“ bemerkte er, „wenn man dort auf Sie möglichst wenig aufmerksam wird. Diese Schlauköpfe denken sich gleich allerhand zusammen.“

Rose brachte das Gespräch bald auf den Gegenstand, der ihn am meisten beschäftigte. „Wie steht’s drüben?“

Der Restaurateur verstand ihn. „In Ihrem alten Quartier, meinen Sie – ah! man weiß nicht recht. Blanchard hat viel verloren, erst durch den Krieg, dann durch die Wirren in der Stadt, aber ich denke, er ist bei alledem noch ein recht wohlhabender Mann.“

„Und seine Gesundheit?“

„Da bleibt viel zu wünschen. Er hat eine schwere Krankheit durchgemacht und leidet noch jetzt an den Nachwehen.“

„Und seine Frau?“ Arnold ging Schritt für Schritt auf sein Ziel zu.

„O! Madame Blanchard würden Sie auffallend gealtert finden. Die Sorgen, mein Herr, die Sorgen! Sie liebt ihren Mann und ihre Kinder.“

„Der Sohn ist noch Officier, nicht wahr?“

„Ich glaube, er kostet dem Papa mehr, als ihm lieb ist, und sie sind auch sonst über Manches nicht einig, wie man behauptet. Nun, das ist kein Wunder! In Frankreich muß man jetzt die Leute, die in der Politik einig sind, mit der Laterne suchen. Unglückliches Land!“

„Wie geht’s dem Fräulein?“ Nun war er auf der richtigen Fährte.

„Das Fräulein ist noch zu Hause, aber man sagt –“

„Was sagt man?“

„Ich weiß nicht, was an dem Gerede ist, aber seit einigen Monaten geht dort der Maire häufig aus und ein, und das findet man auffallend.“

„Ein großer Mann mit schwarzem Bärtchen, nicht wahr?“

„Sie kennen ihn also?“

„Ich sah ihn eben aus dem Hause kommen. Und was sagt man?“

„Er soll sich eifrig um die Hand der Tochter bewerben.“

„So – ?! Und Juliette?“

„Sie scheint kränklich zu sein, und man wollte im Sommer, als sie in ein Bad reiste, gehört haben, daß sie sich verschworen habe, nie zu heirathen. Aber bei jungen Damen hat das nicht viel zu sagen; sie ändern leicht ihren Sinn. Und schließlich spricht doch der Vater das entscheidende Wort. Ihm gefällt der Maire, da er Bonapartist ist und wohl auch heimlich für seine Partei wirkt, was ihn in der Gemeinde keineswegs beliebt macht. Uebrigens ist er aus guter Familie und soll viel gelernt haben. Man zweifelt nicht, daß er rasch vorwärts kommen wird, wenn er sich zur rechten Zeit zu neigen und zu beugen weiß, und das versteht er. Bringt ihm seine Frau ein hübsches Vermögen zu, so ist er in wenigen Jahren ein geachteter Mann, und Herr Blanchard wird seinen Vortheil daraus zu ziehen wissen, einen so nahen Freund in der Verwaltung zu haben.“

Arnold war sehr unruhig geworden, und trank ein Glas Wein nach dem andern, um seinen trockenen Gaumen zu netzen. „Die Sache ist also so gut wie in Ordnung?“ fragte er aufgeregt.

Der Wirth wiegte den Kopf. „Das glaube ich doch nicht. Es muß nicht so glatt gehen, wie’s der Herr Maire wünscht, sonst wäre wohl die Verlobung schon publicirt. Das Fräulein wird sich nicht ganz leicht geben; sie soll eigensinnig sein, und der Papa hat sein einziges Töchterchen verwöhnt. Es eilt mit dem jungen Dinge ja auch nicht so sehr. Ueber’s Jahr vielleicht …“

Arnold stand auf und bezahlte den Wein. Er hatte mehr erfahren, als er vermuthen konnte, und mehr Gewißheit vermochte der Wirth ihm doch nicht zu geben. Onkel Helmbach, der nur einzelne Brocken dieser Reden aufgefangen hatte, erhielt auf dem Heimwege einen Bericht, aus dem sich Arnold’s schwere Besorgnisse nicht erkennen ließen, aber der Hauptpunkt war doch nicht zu umgehen gewesen: daß sich ein sehr einflußreicher Freier gefunden habe und daß diese Rivalität ein neues, bisher gar nicht in Rechnung gestelltes Hinderniß bedeute.

Unser junger Freund hatte eine sehr unruhige Nacht. Die

[280] Vormittagsstunden des nächsten Tages schlichen ihm so langsam hin, daß er wiederholt seine Uhr beschuldigte, still zu stehen. So knapp wie möglich bemaß er die Zeit, die zur Abstattung von Visiten für unschicklich gilt. „Ich weiß nicht, lieber Onkel,“ sagte er, als er endlich den Gang glaubte wagen zu dürfen, „wie sich’s heute fügt, ob ich erst allein einen Besuch mache, um mein Hiersein zu melden, oder ob ich Dich gleich vorstelle. Man muß es von den Umständen abhängen lassen. Aber komm’ doch auf jeden Fall mit!“

Helmbach fügte sich.

Die Sonne schien wohl freundlich auf das gelbrothe Laub der Bäume und zwischen den Stämmen durch auf den Weg. Als sie in die Nähe der Villa kamen, stutzte Arnold und machte Halt. „Siehst Du die Dame dort im Garten hinter der Laube?“ fragte er hastig und mit verhaltener Stimme.

Helmbach nickte. „Sie hat sich in einen kurzen Mantel fest eingehüllt und trägt ein weißes Kopftuch.“

„Ganz richtig! Das ist Juliette.“

„So –? Juliette.“

Es folgte eine Pause im Gespräche. Beide Männer schauten mit gespannter Aufmerksamkeit in den Garten hinein. Die junge Dame hatte das Gesicht ihnen abgekehrt und schritt langsam den Gang weiter. „Onkel!“ nahm Arnold wieder das Wort, „Du wirst einsehen, daß ich diese Minute nicht verpassen darf – ich kann Juliette sprechen, bevor ich ihre Eltern sehe und von ihnen vielleicht unfreundlich begrüßt werde – ich muß sie sprechen.“

„Ja, so wollen wir doch –“

„Ich muß sie allein sprechen, Onkel! Thue mir die Liebe und gieb mich frei.“

„Aber, lieber Junge …“

„Gehe hier in der Allee auf und ab, aber nicht mit zu kurzen Wendungen – oder besser noch: geh’ langsam nach unserm Hôtel zurück!“

„Der alte Herr faßte seinen Arm. „Du wirst mich doch nicht – ?“

„Der Weg ist ja gar nicht zu fehlen. Und siehst Du – nun muß sie sich sogleich umwenden. Bitte, sei gut und laß mich los!“

Er entzog ihm mit einem schnellen Rucke seinen Arm und eilte über die Landstraße fort, der Gitterthür zu. Der Onkel stand ganz verblüfft da, zog den Hut tiefer über die Stirn, als ob er sein Gesicht besser verstecken wollte, murmelte irgend einen gutmüthigen Fluch und wandte seine Schritte rückwärts. Als er nach einer kurzen Strecke noch einmal sich umsah, stand der verwünschte Ausreißer schon vor der Dame und hielt den Hut in der Hand. „Er wird sich obendrein noch erkälten,“ schalt er in sich hinein; „wenn seine Mutter wüßte, daß ich so mein Amt verwalte!“ Einige Leute kamen ihm entgegen; er wich scheu bis zu den Baumstämmen hin aus. –

„Bin ich noch nicht vergessen?“ fragte Arnold, als er sich der vermummten Gestalt näherte.

Juliette hatte während des Gehens vor sich hin zur Erde gesehen; nun schreckte sie, von dieser Stimme berührt, auf, hemmte den Schritt und ließ zugleich die Arme, die gekreuzt den Mantel über der Brust schlossen, niedersinken. Der Mund öffnete sich ein wenig, ohne jedoch einen Laut hervorzubringen, und die Augen richteten sich auf den Fragenden mit jenem Ausdrucke ängstlicher und angestrengter Aufmerksamkeit, mit dem sie beim Erwachen eine ganz unerwartete Erscheinung zu mustern pflegen: träume ich – habe ich ein Wirkliches vor mir? Blitzschnell schien sie dann alle Möglichkeiten durchzudenken, die ihn hierher zurückgeführt haben könnten, und ihr bewegliches Gesicht ließ den raschen Wechsel der verschiedenartigsten Empfindungen erkennen. Zuletzt behauptete sich auf demselben siegreich ein freundliches Lächeln. Sie reichte dem Gaste die Hand und entzog sie ihm nicht sofort, nachdem er einen feurigen Kuß darauf gedrückt hatte. „Es ist doch wunderbar …“ sagte sie leise; „ich dachte eben an Sie.“

„Sie dachten an mich?“ entgegnete Arnold, und sein Blut, das bis dahin vor den krampfhaft geschlossenen Herzkammern still zu stehen schien, kam wieder in warmen Fluß. „O, dann kann ich nicht ganz unwillkommen sein.“

„Wenn das richtiger ist – ich träumte von Ihnen,“ modificirte sie ihr beglückendes Geständniß. „Man kann nicht für seine Träume.“

„Ich bin auch damit zufrieden,“ antwortete er. Die Unterhaltung stockte. Arnold überlegte, ob er sogleich eine offene Erklärung wagen solle, die sie über seine Absichten unterrichtete, und wie er sie einzuleiten habe, um nicht durch zu rasches und unvorsichtiges Vorgehen sich zu schädigen. Ehe er aber mit diesen Erwägungen in’s Reine gekommen war, hatte Juliette schon ihre ganze Fassung wiedergewonnen. Ihre Frage: „Wie ist es Ihnen bisher ergangen?“ deutete sehr bestimmt darauf hin, daß sie das Gespräch auf den conventionellen Gesellschaftston zu leiten entschlossen war.

Er fand nicht sogleich eine Antwort darauf, und als er sie nun wieder ansah, bemerkte er erst auf ihrem bleichen Gesichte die Spuren körperlicher oder seelischer Leiden, die sie gepeinigt haben mußten. „Promeniren wir noch ein wenig im Garten!“ fuhr sie fort. „Die Sonne scheint einmal nach Wochen wieder freundlich, und unser Arzt hat mir Bewegung in frischer Luft verordnet. – Aber Sie wollten vielleicht meinen Eltern –“

„Auch das!“ erwiderte er, ihr zur Seite tretend; „aber ich komme dort nicht so leicht zu spät. Man erwartet mich nicht und sieht mich wohl gar ungern. Glücklicher konnte ich es gar nicht treffen, als Ihnen, mein theures Fräulein, hier vor dem Hause zu begegnen, aus dem ich einst nur von Ihnen wie ein nicht unlieber Gast entlassen bin. Ach, jener traurige Abschied! Er haftete so fest in meiner Erinnerung – er verdüsterte alle meine Tage bis zu diesem, der mir ein Wiedersehen schenkt. Wie unglücklich wäre ich gewesen, wenn ich Ihre Gesinnungen gegen mich verändert gefunden hätte! Wie glücklich macht mich Ihre Versicherung, daß ich Ihnen kein Vergessener war!“

Juliette wandte den Kopf ab und beschleunigte ihre Schritte. Die Hand ließ den Mantel los und bewegte sich rasch nach dem Gesichte. Er glaubte zu bemerken, daß sie eine Thräne trocknete. „Wir haben inzwischen viel Trübes erlebt,“ antwortete sie ausweichend. „Sie wissen, welcher entsetzliche Kampf im Innern dem Frieden mit dem Feinde folgte, dem traurigsten Frieden, den Frankreich seit Jahrhunderten geschlossen hatte. Auch in unserm Hause … Sie kennen ja meinen Vater. Eine schwere Krankheit der überreizten Nerven brachte ihn an den Rand des Grabes, und als er dann langsam genas und sich wieder seiner Geschäfte annahm, konnte ihm der Verfall seines Vermögens nicht länger verborgen bleiben. Meine Mutter opferte freudig das ihrige, und es gelang, das Schlimmste abzuwenden; ja, seine Lage kann jetzt wieder für völlig gesichert gelten, aber seine beste Lebenskraft ist doch gebrochen, und wir dürfen uns kaum noch der Hoffnung hingeben, daß seine Gesundheit je wieder ganz hergestellt werden wird.“

„Und ist er uns Deutschen noch immer ein unversöhnlicher Feind?“ fragte Arnold etwas gedrückt.

Juliette nickte. „Er ist’s und wird seine Gesinnung schwerlich ändern.“

„Und Sie, mein Fräulein?“ Er blieb stehen, als wäre kein Schritt weiter zu thun vor Beantwortung dieser wichtigsten Frage, und sah erwartungsvoll in die großen Augen, die nach ihm umschauten und sich dann schnell senkten.

„Ich, mein Herr … O! mir sind diese Dinge gleichgültiger geworden, seitdem ich sie nicht mehr mit leidenschaftlicher Voreingenommenheit betrachte. Ich bin zu der Einsicht gelangt, daß es im Leben der Völker, wie der Einzelnen gewisse nothwendige Entwickelungen giebt, mit denen man sich abzufinden hat. Man kann den Begebenheiten nicht gerecht werden, wenn man mitten in ihnen steht und Partei zu ergreifen hat, aber wenn man die Geschichte studirt – ich studire eifrig Geschichte, und nicht nur die Frankreichs – so ergeben sich da weitere Gesichtspunkte auch für das Naheliegende. Sieg und Niederlage bedeuten dem Weltgeist ganz etwas anderes, als uns. Ich wünschte, es würde einmal eine Geschichte der Meinungen des Tages geschrieben, damit man recht deutlich einsehen lernte, wie kurzsichtig die Menschen allezeit gewesen.“

So ernst hatte sie noch nie gesprochen; in dieser Betrachtungsweise war ein deutscher Zug, der ihn frappirte.

„Sie sind ja eine Philosophin geworden,“ antwortete er mit freundlichem Lächeln. „Ich glaube, wir können uns verständigen.“

Eine leichte Röthe überhauchte ihr Gesicht. „Wir sind Protestanten,“ sagte sie, scheinbar ausweichend. „Mein Vater

[281]

Porcia im Schleier.
Nach einer römischen Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.


stammt aus einer hugenottischen Familie, die trotz aller Verfolgungen an ihrem Glauben festhielt. Wir haben glücklicherweise lange Zeit keine Veranlassung gehabt, unser religiöses Bekenntniß zu betonen – aufrichtig gesagt: wir waren so schlechte Protestanten, wie unsere Mitbürger schlechte Katholiken geworden. Jetzt reißen in dem unglücklichen Frankreich mehr und mehr die Pfaffen die Zügel der Herrschaft an sich; was geschieht, ist geradezu unwürdig einer aufgeklärten Nation, die bisher mit Recht auf ihre Literatur und auf ihre wissenschaftlichen Leistungen stolz war. Drüben in Deutschland aber entbrennt ein Kampf gegen Rom, der die volle Kraft unserer Sieger in Anspruch nimmt, und in diesem Kampf stehe ich aus ganzer Ueberzeugung auf ihrer Seite.“

„O, das sagt mir viel,“ rief Arnold, durch diese unerwartete Eröffnung beglückt, „sehr viel. Es ist zwar, so lange ich Gast in diesem Hause war, nie das Gespräch auf religiöse Gegenstände gekommen und ich durfte daraus schließen, daß Fragen dieser Art Sie und die Ihrigen damals wenig beschäftigten. Damals! Das konnte sich geändert haben, nachdem die politische Spannung nachgelassen hatte. Ich gestehe, daß ich voll heimlicher Sorge war, es könnte sich hier eine zweite, bisher noch gar nicht beachtete, vielleicht unübersteigliche Scheidewand zwischen uns schieben. Jetzt athme ich freier. Meine Reise hierher, teuerste Juliette, hatte ja keinen andern Zweck –“

Sie trat, wie erschreckt, hastig einen Schritt zur Seite und wandte das Gesicht ganz von ihm ab. „Ich glaubte, Sie wollten meinen Eltern einen – Besuch abstatten,“ unterbrach sie, „– und ich hielt Sie schon zu lange auf.“ Sie ging ihm voran nach der Hausthür zu, aber er folgte nicht und nöthigte dadurch auch sie, wieder stehen zu bleiben. Dann erst trat er

[282] an sie heran. „Entfliehen Sie mir nicht!“ bat er sanft und energisch zugleich. „Es ist eine Fügung des Himmels, daß ich Sie sprechen darf, ehe ich mich Ihren Eltern eröffne. Ihretwegen, Juliette, allein Ihretwegen kam ich ja.“

Das Wort war gesprochen; er wußte selbst nicht, wie es so rasch auf seine Lippen gekommen war. Es war nicht mißzuverstehen, und der zärtliche Blick, der es begleitete, schien nur zu fragen: kam ich dir erwünscht? Ueber das schöne, jetzt marmorbleiche Gesicht des Mädchens zuckte es hin wie ein Aufblitzen freudiger Erregung. Dann schien sie Schmerz zu empfinden: unter der Stirn zogen sich die Augenbrauen finster zusammen, und der schon zum Sprechen geöffnete Mund schloß sich wieder mit krampfartigem Druck. Er glaubte keine Antwort abwarten zu dürfen. „Hören Sie mich gütig an, Juliette!“ fuhr er fort; „wer weiß, ob mir die Stunde noch einmal so günstig ist – und Sie müssen Alles erfahren.“

Sie ließ den Mantel fallen und streckte die Hand wie abwehrend gegen ihn aus. „Nein, nein –! schweigen Sie –“ fiel sie jetzt fast heftig ein, und ihre Stimme hatte einen bange zitternden Klang. „Sie dürfen so nicht zu mir sprechen – nie, nie!“

„Ich muß!“ rief er leidenschaftlich, „ich muß – und wenn es mir an’s Leben gehen sollte! – Es geht mir an’s Leben, Juliette,“ fuhr er sanfter fort, „glauben Sie mir das! Ich habe Ihnen ein kurzes Bekenntniß zu machen, das Ihnen vielleicht besser, als eine lange Rede, meinen ganzen Zustand erklärt: ich, Juliette, war der Räuber Ihres Bildes.“

(Fortsetzung folgt.)




Der Pflanzenschmuck der Wohnungen.


Die Liebe zu den Blumen – so nennen wir nach allgemeinem Gebrauch alle Zimmerpflanzen – ist, wie wohl Jedem aus Erfahrung bekannt, unter allen Ständen verbreitet. Die Blumenzucht beginnt in den schwach erhellten Räumen der Kellerwohnung, entwickelt sich zu prächtigen Decorationen in der sogenannten Bel-Etage und steigt hinauf bis zum Dachstübchen, wo die arme Näherin oder der gering besoldete kleine Beamte seine Wohnung sucht. Sie blüht in der Stadt wie auf dem Lande. Allerdings ist sie besonders in Kreisen heimisch, wo das Gemüthsleben gepflegt wird. Rohe, nur nach gemeinem Sinnesgenuß strebende Menschen pflegen keine Blumen.

Aber die Freude an den Blumen zeigt sich auf verschiedene Weise. Die Einen wollen mit den Pflanzen nur ihre Wohnung schmücken und stellen sie in die Classe der übrigen todten Zimmerdecorationen. Die Andern lieben sie um ihrer selbst willen und erfreuen sich ihrer Schönheit, ohne viel an die Verschönerung zu denken. Bei den Ersteren sind die Blumen blos Mittel – Decorationen, – bei den Zweiten Selbstzweck. Auf welcher Seite die bessern Erfolge zu suchen sind, brauche ich nicht zu sagen. Wer die Blumen den todten Schmuckgegenständen gleichstellt, wird auch stets nur todte haben. Schon dieser Verdruß sollte dazu bestimmen, sich der Blumen mehr anzunehmen, selbst wo der Verlust an Geld nicht im geringsten in Betracht kommt. Ist es nicht für Jeden ein schmerzliches Begegniß, Blumen, also lebende Wesen, die am Tage vorher strahlten und dufteten, verdorrt und unrettbar verloren zu sehen?

Man muß den Pflanzen mit Liebe zugethan sein. Aber die Liebe muß sich durch die That, durch liebevolle Pflege bethätigen. Und doch, wie selten wird das erkannt!

Bei den so ungemein verschiedenen Verhältnissen in Bezug auf Einrichtung und Hülfsmittel, bei der großen Menge von Pflanzen, welche jetzt Bewohner der Zimmer geworden sind, ist es schwer, zur Pflege der Blumen mehr als allgemeine Vorschriften zu geben. Hierauf soll sich meine heutige Darstellung beschränken. Das Einzelne möge dann der freundliche Leser in Fachschriften nachlesen, und mit gutem Gewissen kann ich mein eigenes, mit vielen Abbildungen versehenes kleines Werk „Die Zimmer- und Hausgärtnerei“ hierzu empfehlen.

Die Zucht der Blumen in den Wohnräumen bringt manche Schwierigkeiten mit sich, welche der Gärtner nicht kennt, daher viele Ausnahmen in der Behandlung. Dabei stellt sich aber die überraschende und für Blumenfreunde erfreuliche Wahrnehmung heraus, daß manche Pflanzen im Zimmer sich schöner entwickeln, als in Gewächshäusern, wo man ihnen die beste Behandlung angedeihen läßt. Ich nenne als solche den sogenannten Gummibaum (Ficus elastica), den Kaffeebaum, den chinesischen wohlriechenden Oelbaum (Olea oder Osmanthus fragrans), Curculigo (da von hundert Pflanzen für neunzig keine deutschen Namen vorhanden sind, auch nicht gemacht werden können, so müssen sich Blumenfreunde an den Gebrauch fremder Namen gewöhnen), Dracaena heliconiaefolia und robusta, die immergrüne Kletterpflanze Cissus antarcticus, Cyclamen (das sogenannte Alpenveilchen), die lebendig gebärende Graslilie Chlorophytum Sternbergianum oder Cordyline vivipara (die Calla). Der Grund dieser Erscheinung liegt einestheils in der mehr trockenen Luft, welche viele Pflanzen, analog den Standorten in ihrem Vaterlande, bedürfen, welche ihnen aber im Gewächshause nicht zu Theil werden kann, anderntheils aber darin, daß sie einzeln stehen, sich frei ausbreiten können und nicht von Ungeziefer leiden, wenigstens leicht davon gereinigt werden können. Die beliebte Calla blüht im Zimmer, immer in einem mit Wasser angefüllten Untersatze stehend, fast das ganze Jahr, bei den Gärtnern nur im Winter. Das erwähnte Chlorophytum steht im Zimmer frei auf einem hohen Ständer, und die neuen durch Fäden an der Mutter befestigten, bewurzelten Pflanzen hängen nach allen Seiten herab und werden nicht gestört, was im Glashause nicht angeht. Das Alpenveilchen, in seinen natürlichen Standorten, den höheren Gebirgen, monatelang mit Schnee bedeckt, blüht nur einmal, entweder im Frühlinge, wie das persische und die südeuropäischen Arten, oder im Sommer, wie das deutsche Alpenveilchen, und die Gärtner geben den Pflanzen einige Monate trockene Ruhezeit. Im Zimmer dagegen, in einem ganz unnatürlichen Zustande, tränkt man sie immer durch Untersätze, und sie blühen fast das ganze Jahr.

Ich erwähne solche Thatsachen, um die Schwierigkeiten, welche sich dem Gedeihen der Zimmerpflanzen entgegenstellen, nicht in einem allzu düsteren Lichte erscheinen zu lassen. Dieser Schwierigkeiten sind gar viele: Mangel an hinreichendem Licht und ungeeignete Wärme, unreine, oft durch Gas verdorbene Luft etc. In jedem bewohnten Zimmer ist nur am Fenster ein durchaus heller Standort, und wenn man den Pflanzen die meisten Fenster einräumen will, was jedenfalls die Behaglichkeit der Wohnung stört, so haben sie doch immer nur seitliches, einseitiges Licht. Die Wohnzimmerwärme ist nicht für alle Blumen ungeeignet, wie schon aus den gegebenen Beispielen hervorgeht, aber für sehr viele. Es bieten aber Nebenzimmer und weniger warme Räume Gelegenheit, ihnen eine günstige Temperatur zu verschaffen. Leider sinkt diese durch Nachlässigkeit in kalten Wintern oft tiefer, als Pflanzen ertragen können. Am schlimmsten ist die schlechte Beschaffenheit der Luft. Dieselbe ist zeitweise mit Staub und Ruß (von Oefen und Beleuchtung) erfüllt, zuweilen zugig, vor allem für die meisten Blumen zu trocken. Man muß die Pflanzen vor diesen feindlichen Einflüssen möglichst schützen und die Arten derselben speciell im Hinblick auf den ihnen bestimmten Standort auswählen. Lichtmangel, trockne Luft, hohe und tiefe Wärme etc. vertragen zwar nur wenige, aber doch einige schöne Pflanzen, welche alles Ungemach ohne merklichen Schaden besiegen, wenn man ihnen im Sommer eine Erholungspflege giebt. Ich nenne z. B. die grüne und bunte Aspidistra elatior (Plectogyne variegata), einige Drachenpalmen oder Dracänen Dracaena rubra, congesta, paniculata etc.), den sogenannten kleinen Gummibaum (Ficus[WS 1] australis), den japanesischen Spindelbaum (Evonymus japonicus), Pittosporum Tobira etc. Hierher gehört auch theilweise der Epheu, wenn er oft genug gewaschen und angefeuchtet wird; auch einige Fächerpalmen vertragen bei sonst guter Behandlung viel.

Als Schutz für die Blumen ist zu empfehlen das Belegen des Fußbodens mit Wachstuch- oder anderen Teppichen, Anstrich desselben mit Oelfarbe, Fußbodenlack oder Wachs, weil in Folge dessen das trockene Reinigen – gefährlich wegen des [283] Staubes – wegfällt, ferner das Verhängen der Pflanzen mit leichten Tüchern beim Reinigen der Zimmer und bei Zugluft, welche stets Staub verursacht, und das Anbringen von Schutzwänden nach Art „spanischer Wände“.

Zu den gebräuchlichen Schutzmitteln gehört das Stellen der Blumen hinter Doppelfenster und in Fensterglashäuschen und Glaskästen. Für die Glaskästen vor den Fenstern und im Zimmer bedarf es einer genauen Auswahl, denn in erstere gehören licht- und luftbedürftige, in letztere aber feuchte Luft und Wärme liebende oder vertragende Pflanzen. Diese bedeckten Blumentische können sich bei bemittelten Pflanzenfreunden aber auch wohl zu kleinen Wintergärten erweitern. Mein genanntes Buch, noch mehr mein „Frauengarten“ (Gartenbuch für Damen) enthält verschiedene Abbildungen davon. Gegen die sehr schädlichen Einflüsse des Leuchtgases, nicht des Lichtes, sondern des Kohlenoxydgases und die ausströmenden Rußtheile müssen besondere Maßregeln getroffen werden, indem man die Röhren durch Oelfarbenanstrich dichter machen, alle Hähne fest verschließen und auf das Genaueste einpassen läßt. Trotzdem gedeihen eine Menge schöner Pflanzen, z. B. die Begonien oder Schiefblätter, nicht in Zimmern, wo Gas gebrannt wird, denn es strömt doch immer etwas Kohlenoxyd aus. Die nothwendige Luftfeuchtigkeit, welche in stark geheizten Räumen auch den Menschen so wohl thut, wird besser durch bei und zwischen den Pflanzen aufgehängte nasse Schwämme, als durch im Ofen aufgestellte Wassergefäße hergestellt, denn vom Ofen strömen die Wasserdünste sogleich aufwärts und verdichten sich an den Fenstern zu Wasser.

Wir wollen nun die Standorte betrachten, welche den Zimmerpflanzen geboten werden müssen. Das Fenster ist der beste Standort für kleine, lichtbedürftige Pflanzen. In den meisten Wohnungen ist es der einzige für Blumen benutzte Platz. Aber hier ist wenig und schmaler Raum, auch machen viele Blumen das Zimmer dunkel und unbehaglich. Man sollte wenigstens die Hälfte der Fenster frei lassen. Wo in starken Mauern ein Doppelfenster angebracht wird, gewinnt man schon mehr Platz, und die Blumen halten sich darin frischer und länger. Manche Winterblumen, z. B. Maiblumen, Veilchen, Chinaprimeln, vertragen den freien Stand im Wohnzimmerfenster nur kurze Zeit. Größere, ausgebreitete Pflanzen mit harten Blättern, welche weniger Lichtbedürfniß haben, stellt man auf Blumentische, höhere auf den Fußboden, sehr breite, z. B. Fächerpalmen verschiedener Art, auf besondere Ständer, welche zur Seite von Schreibtischen, Sophas etc. aufgestellt werden. Leider sind guteingerichtete Blumentische nicht häufig, indem sie meist zu klein sind und einen zu schrägen Rand haben, auch bald bedenkliche Neigungen zeigen. Noch seltener findet man praktische Blumenständer für Einzelnpflanzen.

Gegenwärtig sind die geschnitzten Ständer sehr in Gebrauch, aber wenig brauchbar, da ein Luxustopf darauf gehört, der gar keinen Halt hat und dem Gedeihen der Pflanze hinderlich ist. Besser sind korbartige Gestelle, in welchen der Topf verdeckt aufgestellt wird. Man kann dieselben mit Epheu begrünen. Ist das Zimmer hell und geräumig, so dürfen höhere Pflanzen neben dem Sopha, Schreibtische, in Ecken aufgestellt werden, im Sommer um den Ofen und vor das Kamin. Auch auf Schränken, Kommoden, Schreibtischen etc. sieht man oft Pflanzen geschmackvoll angebracht; es kann darin aber leicht des Guten zu viel gethan werden, sodaß der Aufenthalt durch Ueberfüllung drückend wird. Reizend sind Pflanzen auf Consolen, entweder frei oder mit verdeckten Töpfen. Die Consolenpflanzen hängen bald zierlich herab, bald breiten sie sich an den Wänden aus, um leere Flächen zu decken, oder sie umrahmen als Schlingpflanzen Bilder, Spiegel, Büsten, Statuetten etc.

Zur Aufstellung an nicht ganz hellen Plätzen wähle man immergrüne Pflanzen mit glatten, steifen Blättern. Im Sommer stelle man den größten Theil der Pflanzen im Freien auf, die kleinen vor dem Fenster und auf dem Blumenbrette, die größeren auf dem Balkon, in offenen Galerien, im Dachgarten, im Hofe[1] oder – was natürlich am besten ist – im Garten. Glücklich der Pflanzenfreund, dessen Wohnung einen an das Wohnzimmer stoßenden Erker oder ein Thurmzimmer aufzuweisen hat, denn er kann es oft ganz den Blumen einräumen, während das Wohnzimmer nur den wirklich verschönernden Schmuck behält. Wird dieser Ausbau durch Glasthüren geschlossen, welche aber zeitweise offen bleiben, so halten sich darin die Blumen frisch und blühen viel länger.

Die mit Glas bedeckten Vorrichtungen für Blumen sind eine Art bedeckter Blumentische oder Blumenglasschränke. In ersteren finden nur niedrige, in letzteren auch höhere Blumen Platz. Je tiefer am Boden diese Pflanzenbehälter aufgestellt sind, desto besser die Beleuchtung. Hier sind die Pflanzen gegen Staub und trockene Luft gesichert, und es gedeihen darin auch die schönen Farnkräuter und Farnmoose (Lycopodien), welche im geheizten Zimmer offen nicht zu erhalten sind. Wer lebhafte Gerüche nicht vertragen kann, stelle die stark duftenden Blumen ebenfalls in den Glasverschluß. Will man sich des Duftes erfreuen, so genügt ein kurzes Oeffnen, um die gefesselten Blumengeister ausströmen zu lassen. Aber es gedeihen viele Blumen nicht unter Glasverschluß. Daher bedarf es einer besonderen Auswahl, welche sich größtentheils auf Warmhauspflanzen beschränkt. Stehen die Blumen ohne Töpfe zwischen und auf Felsgebilden von Tufftein oder Virginkork, so nennt man solche Aufstellungen ein Terrarium (im Gegensatze zu Aquarium). Man benutzt hierzu kleine Pflanzen ohne Blumen, aber mit besonders schönen Formen und Blättern. Der Glasschrank kann auch ein nach innen erweitertes Doppelfenster sein, welches vor dem nach außen erweiterten viele Vorzüge hat. Hierzu gehört aber ein vielfenstriges Zimmer, denn diese Einrichtung verdunkelt den betreffenden Raum. Man kann darin, sowie in jeder schrankartigen Einrichtung, mit Leichtigkeit einen Springbrunnen anbringen, in welchem natürlich Goldfischchen nicht fehlen dürfen. – Außerhalb des Wohnzimmers, Prunkzimmers und des Salons finden wir den Blumenschmuck selten. Und doch ist es so schön und so leicht, auch große Vorsäle, weite Treppen und Treppenhäuser mit Grün zu schmücken, was zugleich den Vortheil hat, große Pflanzen, welche man als Gartenzierde braucht, zu überwintern. Tritt strenge Kälte ein, so bringt man sie kurze Zeit in den Keller. In nordischen Gegenden werden übrigens Häuser, in denen auch die Gänge und Treppen geheizt werden, bekanntlich immer häufiger.

Soviel über die Bedingungen, die bei Aufstellung von Blumen zu beachten sind. Ueber die Behandlung und Auswahl derselben jetzt etwas mitzutheilen, verbietet mir heute der Mangel an Raum.

Von größter Wichtigkeit für die ganze Zimmerblumenzucht ist der Ankauf der Blumen und deren Gewöhnung an den neuen Standort. Je größer die Verschiedenheit zwischen Treibhäusern und Wohnräumen ist, desto größer sind die Nachtheile des Ueberganges von dem einem Raume in den anderen. Dort feuchte Wärme, Licht von allen Seiten, reine Luft – hier trockene Hitze, Staub, Zugluft. Wer Pflanzen nicht zu einer besonderen Gelegenheit kauft, sondern für dauernd, kaufe sie im Frühjahre oder zeitig im Sommer, nie im Herbste. Sie werden dann sich leichter, weil ganz allmählich, an den Wechsel gewöhnen. Er kaufe junge, jedoch nicht zu schwache Pflanzen, da sich diese besser gewöhnen. Es ist jedoch der Ausdruck „stark“ sehr vieldeutig, und man würde sich sehr wundern, wenn man, nachdem man eine starke Palme bestellt hat, eine mächtige Kiste und eine Rechnung von fünfundzwanzig Thalern oder mehr bekäme. Kauft man in der Winterzeit Blumen, so beachte man, wo sie beim Gärtner gestanden haben, ob in einem nicht zu warmen Glashause, oder im Treibhause, vielleicht im noch heißeren und feuchteren Treibkasten. In letzterem Falle müssen sie nicht nur auf dem Transport nach dem Hause besser gegen Kälte verwahrt, sondern auch anfangs durch Papier oder gewebte Stoffe gegen die trockene Wärme geschützt werden. Läßt man bei Kälte Blumen holen, so gebe man dem Besorgenden genaue Vorschrift zur Verwahrung und die nöthige Bedeckung, sonst machen es sich Dienende oft bequem und bringen die Blumen unverwahrt. Auch gut verwahrte Blumen müssen zum Uebergang erst einige Minuten in einer kühleren Temperatur stehen. Am meisten Vorsicht verlangen getriebene Blumen, als Maiblumen, Veilchen, Hyacinthen, Rosen etc. Pflanzen, welche das ganze Jahr im Zimmer stehen können, lasse man darin, denn durch das Aufstellen im Freien oder zeitweilige Pension bei dem Gärtner

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gehen die Vortheile der Angewöhnung wieder verloren. So gewöhnen sich und blühen Camellien leicht im Zimmer, wenn sie immer darin bleiben, werfen aber meist die Knospen ab, wenn man sie nur im Winter in das Zimmer bringt. Von den prächtigen Dracänen verlieren bald nach dem Ankaufe mehrere großblättrige Arten im Zimmer die Blätter und scheinen unrettbar verloren. Pflegt man sie aber sorgfältig, so bilden sich erst kleine, dann immer größere Blätter, und zuletzt kann man sie zu so üppigen Pflanzen heranziehen, wie im Gewächshause.
H. Jäger.




Bis zur Schwelle des Pfarramts.[2]
2. Zu der Lateinschule.

So war er denn eingefangen, der Wildfang in Thal und Höhen. Statt der weiten und freien Ebene des langgestreckten Dorfes umfing ihn die Enge der Stadt, gewiß für den Reisenden von heute, den der Schnellzug von Schaffhausen nach Stuttgart hindurchführt, romantisch genug mit ihrem Neckar, der sie in zwei Theile theilt, mit ihrer Burgruine, mit ihrem „gähnenden Stein“, mit ihren waldbewachsenen Höhen, aber für den, der hier weilen muß, doch im Grunde ein Loch, nach allen Seiten mit Hügeln verbaut, und drückend für die weite Brust eines freiheitslustigen Knaben. Und erst das Schulhaus, in welchem ich mich mit zwanzig bis dreißig Zöglingen des Präceptors einlogirt fand! Ein altes, unwohnliches, dunkles Haus, zwischen die Kirche und den jähansteigenden Berg eingeklemmt. Im unteren Stock nebst einem kleinen Anbau beschäftigte sich die gesammte deutsche Jugend vom sechsten bis zum vierzehnten Lebensjahr in drei Schulzimmern; von Realschulen, von Gewerbeschulen, von Arbeitsschulen für die weibliche Jugend und Aehnlichem hatte man damals noch keine Ahnung in einer Stadt, welche den Sitz für Oberamt und Oberamtsgericht hergab. Die Töchter hielt man damals noch für weise und klug genug, wenn sie in der biblischen Geschichte beschlagen waren und lesen, schreiben, rechnen gelernt hatten.

Wer von den Knaben noch Etwas hinzulernen wollte, den gab man in die Lateinschule, für welche im zweiten Stock gesorgt war, heute in ihren engen Räumen kaum genügend für die Ansprüche einer anständigen Familie, damals zugleich die Wohnung für die Präceptoratsfamilie und ihre circa dreißig Alumnen, und der Schulraum für siebenzig bis achtzig Lateiner. Welcher Geist in diesen Schulzimmern herrschte, das zeigte dem Eintretenden sofort eine weitleuchtende, an der Wand mit großen Buchstaben angebrachte Inschrift: „ut mit dem Indicativ kostet sechs Tatzen“. Das hieß zum Voraus: 1) Hier gilt um Latein mit dem Anhang von Griechisch und Hebräisch für diejenigen, die sich für eine wissenschaftliche Laufbahn vorbereiten wollten), 2) das Latein muß mit allen Mitteln eingebläut werden, und Haselstöcke wachsen genug an den gebüschreichen Halden. Wohl trieb man neben den alten Sprachen auch Anderes, wie Arithmetik, Geographie, Geschichte, Botanik, Französisch, aber dafür waren verhältnißmäßig nur wenige Stunden angesetzt, und es waren nicht die Fächer, die der Lehrer mit Lust und Verständniß betrieb, und endlich, was die Hauptsache war, man legte keinen Werth darauf; man taxirte keinen Schüler nach dem, was er in diesen Nebenfächern leistete. Das Proloco (für den Platz) war das allein Entscheidende; so nannte man das Stück, das wöchentlich aus dem Deutschen in's Lateinische übersetzt wurde. Nach einiger Zeit wurde die Zahl der Fehler, die Jeder in diesen Uebungen gemacht hatte, zusammengezählt und danach der Platz in der Classe bestimmt. Mochte Einer in allen anderen Gebieten noch so unwissend sein, hatte er nur die wenigsten Fehler im Proloco, so war er der Primus in der Classe, zu dem alle Anderen mit Neid und Respect aufschauten.

Diesem Schulideal entsprach vollkommen der Schulmonarch. Der Mensch ging auf im Schulmann und der Schulmann im Lateiner und Griechen, wie er denn seinen deutschen Namen gern mit dem entsprechenden griechischen Ophthalmos vertauschte. Er hatte nur zwei Leidenschaften: Liebe zu seinem Fach und Ehrgeiz, den Ehrgeiz, seiner Schule den Ruhm der besten im Lande zu erwerben und es dahin zu bringen, daß Alle, die von da aus in das Landexamen einträten, darin glänzten. Beseelt von diesem Ziele, verzichtete er so zu sagen auf jeden Lebensgenuß und that weit mehr, als gefordert wurde. Im Sommer stand er schon Morgens um sechs Uhr im Feuer mit Denjenigen, die er auf höhere Schulen vorbereitete, dann kamen vier Stunden – unter Beihülfe eines Collaborators – mit allen Classen, Abends nach Schluß der obligatorischen Stunden wieder Privatstunde mit denselben Vorgerückten, in den Winterabenden Aufsicht über die Privatarbeiten seiner Hauszöglinge, Uebertragung von Goethe’s Hermann und Dorothea in lateinische Hexameter mit einigen Auserwählten, Vorlesung des Märchens vom Rübezahl oder des Robinson Crusoe nach Campe u. A. Kurzum kein Genuß, keine Ruhe, keine Erholung für sich; sogar die Ferien opferte er, wenn das Landexamen vor der Thür stand, und behielt die Schüler zurück, um sie täglich zu unterrichten. Und das Alles bei einer kärglichen, wahrhaft knauserigen Staatsbesoldung, die ihn nöthigte, sich mit seiner Familie auf ein Wohn- und Schlafzimmer einzuschränken. O! es giebt Märtyrer, deren Namen nicht glänzen auf den Tafeln der Weltgeschichte, die ihr Herzblut tropfenweise vergießen im Dienste der Gesellschaft.

Wenn ich mir dieses Heldenthum der Arbeit und Entsagung vergegenwärtige, dann bin ich geneigt, manche Mängel, die freilich schroff genug hervortraten, milde zu beurtheilen. Wie hätte unter dieser einseitigen Schulpedanterie, bei dieser ausschließlichen Einschränkung auf eine enge Sphäre die Ausbildung des Humanen nicht leiden sollen! Zartfühlend gegen die Jugend, rücksichtsvoll gegen die Individualität war unser Lehrer nicht; er betrachtete die Jugend ausschließlich als plebs discens. Eine böse Anspielung auf Familienverhältnisse, ein wehethuender Witz auf die Körperbeschaffenheit und Aehnliches machte ihm nichts aus. Wir fürchteten ihn mehr, als wir ihn liebten. Er konnte gut und vertraulich sein, wenn er bei Laune war, aber wehe uns, wenn er den schlimmen Tag hatte! Wir merkten’s von Weitem, wie es im Capitole aussah. Kam er in Pantoffeln und Schlafrock und mit der Pfeife in die Schule, dann war das Wetter gut, aber hatte er seinen blauen Rock, die gewichsten Stiefeln und die weiße Halsbinde an, dann erbleichten beim Aufgehen der Schulthür alle Gesichter und Jeder fragte im Stillen den Nachbar: „Bin ich’s?“ Einmal, am Tage des Proloco, trat er mit der Erklärung in die Schule, daß heute jeder Fehler eine Tatze koste. Man beruhigte sich wegen der baaren Unmöglichkeit, da immer Solche waren, die ihre zwanzig bis dreißig Schnitzer oder mehr machten. Aber richtig! er hielt Wort und zwei Schüler erhielten bis auf dreißig Tatzen, und zwar, wie er es gewohnt war, mit aller Kraft des Körpers aufgemessen, so daß Hände und Finger hoch aufschwollen und eine Woche lang zur Arbeit untüchtig waren. Für ein fühlendes Herz war die Luft an jenem Morgen wie am jüngsten Tage. Aber auch in gewöhnlichen Zeiten tanzte der Stock nicht übel, und wenn Etwas die traurigen Scenen erheiterte, so war es die Beobachtung der verschiedenen Geberden, mit welchen das Strafexempel hingenommen wurde, Geberden, in welchen sich die künftigen Charaktere zum Voraus abspiegelten. Der Eine trat demüthig und schmerzvoll hin; der Zweite nahm’s stolz und kalt, ohne eine Miene zu verziehen; der Dritte krümmte bei jedem Schlage den ganzen Körper wie ein Wurm und rieb jedesmal die Hand auf dem Knie, ehe er sie dem neuen Schlage darbot; der Vierte endlich erhob schon beim Ausholen des Armes ein weibisches Geschrei und variirte bei jedem Niederfalle der Ruthe die Töne wieder in anderer Weise. Das war possirlich anzusehen, und Mancher verdiente seine Tracht redlich. Denn da die lateinische Schule noch die einzige war, in welcher man über die Anfangsgründe der Bildung hinaus Etwas lernen konnte, so drängte sich Crethi und Plethi zu derselben, und es war schwer, an Cicero vorbeizukommen, wenn man Stadtrath oder Kaufmann werden wollte.

Das war die Welt, in welche ich jetzt nach den seligen [285] Tagen einer freien und freudigen Kindheit eintrat! Das war die Luft, die ich fünf Jahre hindurch einathmen sollte. Zwar traf ich’s verhältnißmäßig noch glücklich. Die Frau Präeceptorin, welche die Launen des Mannes durch tröstlichen Zuspruch an das Herz der Zöglinge gut machte und oft stundenlang bei den Schwächeren saß, um ihnen die Aufgaben einzuprägen und abzuhören, war meine nahe Anverwandte und „Dote“ (Taufpathin), die sich ihres kleinen verschüchterten Pathen in herzlicher Liebe annahm. Auch stand der ältere Bruder Theodor noch ein halbes Jahr neben mir als Trost und Stütze, ehe er in das „Kloster“ abging, und mit dem andern Bruder, der mit mir das elterliche Haus verlassen hatte, knüpfte die Fremde das in der Heimath so oft zerrissene Band geschwisterlicher Liebe so rasch und so innig, daß nie mehr ein Wort des Zankes fiel. Aber was hilft dem gefangenen Vogel die milde Hand, die ihm das Futter vorlegt? In den ersten Nächten konnt’ ich nicht schlafen; der ungewohnte Viertelstundenschlag der nahen Kirchenuhr hatte in der Stille der Nacht etwas so Schauriges und Peinigendes. Am ersten Schultage stürmte in der Pause Alles hinaus auf den Turnplatz und tummelte fröhlich durcheinander; aber die Glocke erschallte[WS 2] und Alle stürzen den Hügel hinunter zur Schule zurück. Ich allein bleibe stehen; ich kann nicht zurück; ich weine bitterlich; es ist mir, als wär’ ich von Vater und Mutter und aller Welt verlassen; ein nagendes Heimweh legt sich auf das unerfahrene Herz. Endlich wird der Bruder herausgeschickt und führt den Widerstrebenden in die Schule, wo er von dem Gelächter der Schüler empfangen wird, und der Präceptor sagt: „Wart’, Junge, ich will Dir das Gasthütchen abziehen! Setz’ Dich und zeig’, was Du gelernt hast!“

Jetzt war ich geheilt und – umgewandelt. Der kecke, fröhliche Knabe, dem das Fabuliren und Necken eine Lust gewesen war, ist von jener Stunde an zum stillen, eingezogenen, fleißigen, braven Bürschchen geworden, das sich vom Muthwillen der Jugend abschloß und auf dem besten Wege war, ein gelehrtes Haus zu werden, wovor ihn doch später der Himmel gnädig bewahrt hat. Das Schulideal ergriff ich mit Leidenschaft und studirte über Hals und Kopf. Da ich das Deutsche nicht nach der Schriftsprache, sondern nach dem Laut des Volksmundes schrieb, also „Vatter, Mueter etc.“, so nahm ich Privatunterricht bei einem Volksschullehrer, der auch die Sache so lichtvoll und rationell, den Zögling mit so viel Milde und Trost behandelte, daß ich nach einem Vierteljahre der Orthographie völlig Meister war und nicht leicht noch einen Fehler machte. Im Lateinischen konnte ich nothdürftig mit den Anderen fortschreiten, die ich nach einiger Zeit überflügelte. Denn bald trieb ich die Sprache nicht mehr schulmäßig, sondern auf eigene Faust. Wenn die Schulpensen fertig waren, suchte ich eine Ecke und las den alten Broeder, der damals schon abgeschätzt und durch modernere, handlichere Schulbücher ersetzt war. Aber meinem Eifer war er eben recht – so breit und ausführlich, jede Regel mit ihren Ausnahmen erläutert, durch viele Beispiele anschaulich gemacht und bewahrt und als Krone des Ganzen die lateinischen Erzählungen unterhaltenden und belehrenden Inhalts. Das verschlang ich alles mit Heißhunger und war der Tagesaufgabe der Schule immer weit voraus.

Da kann ich doch eine kleine Schultragödie, die mir begegnete, nicht unerwähnt lassen. Eines Tages, als wieder die Rangplätze bestimmt wurden, übersprang ich eine Classe, und wurde vom Primus einer unteren der Primus einer oberen. Der bisherige Inhaber dieses Platzes geräth in Aufregung und Bestürzung. Mit allem Recht. Er war ein höchst talentvoller Knabe, der einzige Sohn eines Landpfarrers, äußerlich etwas linkisch und unordentlich, aber innerlich um so tiefer angelegt. Eben war ein deutscher Aufsatz über den Nutzen und Schaden der Winde aus seiner Feder als eine wahre Musterarbeit der ganzen Schule vorgelesen worden; im Rechnen, in Geschichte und Geographie, in der Naturkunde etc. war ich ein wahrer Ignorant gegen ihn. Aber ich schrieb ein besseres und fehlerfreieres Latein. Das entschied. „Noch ist nicht aller Tage Abend,“ rief er in höchster Erregung am Abendessen über den Tisch zu mir herüber. Siehe da, schon auf der Schulbank im Kleinen den Kampf zwischen Humanismus und Realismus, zwischen dem Bildungsideal einer untergehenden und einer heraufdämmernden Zeit, der eben damals die literarische Welt bewegte und in heftigen Schriften und Gegenschriften geführt wurde. Noch unterlag der Realist, diesmal leider zugleich in einem schmerzlichen Sinne des Wortes. Kaum hatte er sein stolzes: „noch ist nicht aller Tage Abend“ gerufen, so mußte er sich zu Bette legen – an den Masern, und nach zehn Tagen war er todt. Der herbeigeeilte Vater erdrückte mich in der Umarmung fast vor Weinen und Schluchzen, und der Gang zu dem Grabe des Feindes, den ich liebte und verehrte, erschütterte mir Gemüth und Körper so heftig, daß ich selber die Masern auf meinem Leibe zurücktrug. „Ferien, Ferien!“ hallte es am andern Tage durch die Gänge und Zimmer, denn der Arzt hatte Schluß der Schulen befohlen. Jubelnd hatten wir die Tornister gepackt und standen reisefertig; ich eile noch in die Familienstube des Präceptors, um Abschied zu nehmen; der anwesende Arzt schaut mich bedeutsam an: „Halt einmal, Du kleiner Nestvogel,“ entblößt mir die Brust und sagt: „Geh’ sogleich zu Bett! Du hast die Masern.“ Dieser Sturz von der hellsten Freude in den tiefsten Jammer! Die Andern zogen singend über die Berge; ich mußte in der dunkeln Stube liegen; nach dem traurigen Ausgang des ersten Falles und bei der in jener Zeit noch üblichen Behandlungsart der Krankheit behütet, wie wenn ich von Glas wäre, und noch wochenlang nach der Genesung abgesperrt gegen jedes Lüftchen. Doch milderte mir die treue Schwester, die zur Pflege herbeigeeilt war, die einsamen Stunden.

Der Humanist war gerettet – zu neuem Eifer in seinen Studien. Bald begnügte er sich nicht mehr mit Grammatik und Schulbuch, er wollte die Classiker an der Quelle kennen lernen. An Sommertagen lag er am Hügel unter dem Baume oder im Waldesschatten und las nacheinander Cicero „Ueber die Freundschaft“, „Ueber das Alter“ und den „Traum des Scipio“. Wie schlich sich der Zauber dieser Sprache in das Ohr! Ihre Geheimnisse zu belauschen, diese Wendungen nachzuahmen, diese Satzbildung sich anzueignen, diese Ausdrücke dem Gedächtniß einzuprägen, um sie bei Gelegenheit zu verwenden und ein ciceronisches Latein zu schreiben – denn außer diesem wurde kein anderes als berechtigt anerkannt – das war das einzige Interesse, mit welchem er an diese Schriften herantrat. Natürlich wurde auch der Inhalt gelegentlich mitgenommen und regte das Urtheil an und bereicherte mannigfaltig den Geist. Besonders fiel es mir auf, daß dieser Erzheide Cicero in den wichtigsten Dingen schon ganz dachte, wie die Christen. Wenn man einige polytheistische Klänge wegstreicht, könnte den Traum Scipio’s eben so gut ein Christ des zweiten Jahrhunderts geschrieben haben. Da erscheint die Welt als ein Jammerthal, aus welchem der Fromme sich hinaussehnt, der Leib als ein Kerker, in welchem die Seele nach Erlösung seufzt, und der Himmel als ein Ort der Vergeltung und der ungetrübten Seligkeit mit allem Zubehör des Wiedersehens wird ganz mit den Farben der christlichen Literatur geschildert. Kein Wunder, daß ich später zu den Aussagen der Theologie über die gänzliche Finsterniß der Vernunft und das sittliche Unvermögen der menschlichen Natur außerhalb des christlichen Erlösungsgebietes bedenklich und ungläubig den Kopf schüttelte!

Was den Inhalt betrifft, sprach freilich Livius, dessen römische Geschichte das Schulbuch in einem vortreffliche Auszuge brachte, den jugendlichen Geist weit mehr an, als der docirende und breitmoralisirende Cicero. Was waren das für plastische Gestalten! Diese Gallier in Rom, welche die ehrwürdigen Senatoren auf ihren curulischen Sitzen so höhnisch und frech am Barte zupfen! Dieser Hannibal, getragen von Sieg zu Sieg, voll Haß gegen Rom, das wir mit ihm haßten, dem wir jede Demüthigung schon damals von Herzen gönnten! Dann Scipio und Hannibal vor der Schlacht bei Zama einander gegenüber, in jenen Rhetorstücken und Glanzreden, in welchen sich das Alterthum gefiel, die Situation zeichnend, ehe die blutigen Würfel fielen! Alle diese echt dramatischen Gestalten, fast ohne Schwierigkeit in der Ursprache gelesen und in schönes, fließendes Deutsch übersetzt – denn das Letztere verlangte der Lehrer streng, und reichte, wenn wir aus eigenem Fleiße fertig waren, die treffliche Uebersetzung des Livius von Heusinger – was war das für eine Wonne! Wie viel Geistes- und Gemüthsbildung brachten diese Studien neben der Weckung des Sprach- und Formensinnes!

Unsere Zeit verträgt das einseitige Bildungsideal jener Zeit [286] nicht mehr, aber einen großen Vortheil hatte es entschieden: es verzettelte den jugendlichen Geist nicht in dem Nebeneinander von so vielen und disparaten Dingen, wie es heute betrieben wird. Die Stoffe waren einfacher und gleichartiger; sie ließen dem Geiste die Fähigkeit sich zu concentriren, und beförderten dadurch auch die Bildung des Charakters. Und ich habe immer gefunden: wer die classischen Studien gründlich getrieben hat, so daß sie nicht blos zum schulmäßigen Nothwerk, sondern zur Lust des eigenen, freudigen Schaffens geworden sind, der eignet sich später mit Leichtigkeit von den realen Wissenschaften dasjenige an, was zur Bildung nothwendig ist.

Mit demselben Eifer, wenn auch nicht mit demselben Erfolge – denn das Latein blieb immer die Krone – ergriff ich im zehnten Lebensjahre das Griechische und im zwölften das Hebräische. Das Griechische mit dem üppigen Reichthume seiner Formen machte mehr Schwierigkeit, als die knappe Feldherrnsprache Roms. Aber vollends diese Zeichen und Hauche und verwickelten Accente alle, mit denen die Worte belastet werden, meistens willkürliche Erfindungen eines späten Schriftgelehrtenthums, sind doch eine schwere und, wie mir scheint, unnöthige Plage des Lernenden. Es muß mir schwer eingegangen sein. Wenigstens sind Alpha, Beta, Gamma, Delta (die Anfangsbuchstaben des griechischen Alphabets), vom Haselstocke auf die Finger aufgezählt, die einzige Strafe, deren ich mich aus den fünf Jahren erinnern kann, während ich manches Gröschleins gedenke, das der Lehrer zum Lohne für eine gelungene Arbeit aus dem Beutel nahm, mit der Weisung, mir etwas Gutes zu gönnen. Von griechischen Schriftstellern wurden besonders Isokrates und Lucian mit Vorliebe getrieben. Im Hebräischen lasen wir die leichteren geschichtlichen Partien aus dem alten Testament und übersetzten wöchentlich ein deutsches Stück in die Sprache des Morgenlandes. Die Meisten von denjenigen, welche heute den gleichen Bildungsweg betreten, werden sich wundern, wie weit die Jugend jener Zeit auf der Stufe des unteren Gymnasiums geführt worden ist. Aber wir waren selbst schon Kinder einer sinkenden Periode. Wenn ich die Hefte meines ältesten Bruders, der zwölf Jahre früher auf denselben Bänken gesessen hatte, durchsah, war ich beschämt, die aufgegebenen Stylübungen von einer freiwilligen Zugabe griechischer Distichen begleitet zu sehen, während ich es nur noch zu lateinischen Versen brachte.

Daß bei dieser Lernweise für Erholung und Vergnügungen wenig abfiel, ist selbstverständlich. Auch die zweimaligen kurzen Ferien benutzte ich meist zum Studiren. Die früheren Freuden in Feld und Wiese, im Walde und am Bache hatten um so weniger Reiz für mich, als der Vater seitdem in eine andere Gemeinde übergesiedelt war, in welcher ich die Menschen nicht kannte. Ich durchstöberte immer von Neuem Papas freilich ganz veraltete Bibliothek, aus der ich doch immer wieder Etwas aufspürte, was meine Neugierde reizte. Zum Glück hatten sich auch Schiller’s „Räuber“ in dieselbe verirrt. Das verschlang ich und declamirte daraus im Kämmerlein, wie auf dem freien Felde. Aber das Sentimentale darin ergriff mich mehr, als das Starke, ich schluchzte mit Amalie und seufzte mit Karl.

Ein wahres Fest dagegen war alljährlich der „Maitag“, der die ganze Jugend der Stadt, die sonst so schroff geschiedene deutsche und lateinische, zu Einer erquickenden Feier vereinigte. Den Arm mit Bändern geschmückt, grünes Reis auf dem Hute, sammelte man sich um zehn Uhr erst in der Kirche, wo der zweite Geistliche ein Jubelwort zum Herzen sprach, dann ging’s hinaus in den Wald, der durch eine große Lichtung und angebrachte Rasenplätze ein für alle Mal für diesen Zweck hergerichtet war. Unter den Bäumen waren Tische und Bänke aufgeschlagen. Hier ließen sich die Familien nieder und reichten den Kindern die nöthigen Erquickungen. Man tanzte und spielte nach freier Gruppirung; da war kein ewiges Commandiren und Abzirkeln, wie ich es später bei Jugendfesten gesehen habe, die für Lehrer und Anordner, wie für die Jugend mehr eine Anstrengung und Arbeit, als Lust und Jubel waren. Wenn dann der Höhepunkt des Festes kam und der würdige Decan auf den erhöhten Rasenplatz trat, um die Prämien auszutheilen an Diejenigen, welche sich in den verschiedenen Classen das Jahr durch ausgezeichnet hatten, da schwieg Alles und lauschte dem Worte, und die Gekrönten zogen triumphirend zu den Ihrigen. Am Abende ging man zur Stadt zurück, wieder ohne Commando und Tactstock, in frei gebildeten Gruppen, wann und wie es einer jeden beliebte.

Ein wahres Labsal war es für mich, dann und wann an Feiertagen oder wenn zwei Festtage zusammenkamen, die Großeltern (mütterlicherseits) in R. besuchen zu dürfen. Da konnte man doch wieder einmal aufathmen. Das Landstädtchen lag so romantisch da auf einer Hochebene und gewährte eine weite Fernsicht, aus welcher das Stammschloß der preußischen Fürsten, der Hohenzollern, deutlich hervortrat. Freilich war der Weg nach R. jedesmal beängstigend. Es ging viel durch Wald und an einsam stehenden Hütten vorbei. Ich hielt mir das alte „Cantavit vacuus coram latrone viator“[3] vor und versuchte es auch etwa mit einem kleinlauten Summen und Piepen vor mich hin; aber wenn der Hauptwald kam, half dieser heidnische Trost nicht mehr. Ich wandte mich zum Christengott und betete so anhaltend und inbrünstig, als ich konnte, und versprach ihm allerlei Schönes, wenn er mich unversehrt bis an das Ende des Waldes brächte. Solch ein Hasenfuß war ich doch früher nicht gewesen. Das machte die Gelehrsamkeit, das Hocken hinter den Büchern. Die Bildung verweichlicht, was schon der römische Dichter gewußt hat?[4]

Aber wie bald waren die Schreckgestalten der Phantasie, die feurigen Augen hinter jedem Busche, die bärtigen Räubergestalten vergessen, wenn ich nun bei den Großeltern saß in dem reinlichen Stübchen des obersten Stockes, den sie sich für ihr Alter vorbehielten, als der Sohn, der weitgereiste und gewandte Gastwirth, mein Onkel, den Gasthof übernahm. Es waren herzgute Alte: der „Aehni“ mit gemessenem würdevollem Schritte, der den einstigen Stadtrath verrieth im Sammetwams, mit kurzen Beinkleidern, die unter dem Knie gebunden waren, mit langen Strümpfen und silbernen Schnallen auf den Schuhen. Die „Ahne“ sehe ich noch, wie sie in der Morgenhaube am geöffneten Fenster saß und wohl eine halbe Stunde ihr Gebet aus dem abgegriffenen Büchlein mit großem Drucke hersagte. Einmal waren wir auch bei ihr auf Besuch, des Präceptors Buben und ich; wir waren Morgens im Bette schon früh munter und begannen unseren Tag mit Singen und Pfeifen; das störte sie in ihrer Andacht. Sie rief zur Thür herein: „Ihr … (hier gebrauchte sie einen der saftigsten Volksausdrücke, mit dem ich das zartere Ohr der heutigen Leserinnen verschonen muß), Ihr … was pfeift Ihr schon? Habt Ihr auch schon gebetet?“

Bald hernach starb sie. Ich durfte nicht mit ihrem Sarge gehen, der Stundenplan verbot es damals. Aber eine Woche später oder zwei durfte ich gehen; ich weinte viel auf dem Wege und meinte, die ganze Natur müsse mit mir trauern. Als ich mit überlaufenden Augen in die Stube trat, grüßte mich der Onkel in seiner barschen, kurzangebundenen Manier, als wäre nichts geschehen, und weinte nicht. Das war mir unbegreiflich, und als er vollends für ein Brod, das der Großvater für mich bestellte, von diesem das Geld annahm, da war ich untröstlich vor Schmerz. Ach! das empfindsame Herz kannte den Lauf der Welt noch nicht.

In demselben Städtchen wohnte auch eine verheirathete Tante, die Schwester meiner Mutter, mit ihrem einzigen Töchterlein, das ein oder zwei Jahre älter war, als ich. Aber das Haus blieb mir fremd, ich weiß nicht warum. Die Tante, die ich erst später in ihrer ganzen Vortrefflichkeit kennen lernte, hatte etwas Herbes in ihrem Tone, und ich fürchtete sie als ein böses Weib. Anders war’s freilich mit dem Bäschen, mit dem „Lisle“. Ich schmachtete nach einem Blicke aus den dunkeln Augen; ich bewarb mich auf alle Weise um ihre Gunst; ich hätte gerne so Etwas wie Romantik einer Jugendliebe angesponnen. Aber diese Augen leuchteten nur Verstand und Muthwillen, und von Empfindsamkeit hatte dieses frische Naturkind keine Spur. Was half da dem Lateiner sein Cicero!

Die Schulzeit neigte ihrem Ende zu. Zwei wichtige Dinge erwarteten mich an ihrem Schlusse: die Confirmation und das Landexamen. Die Confirmation fällt in lutherischen Landen in’s vierzehnte Altersjahr; ich hatte erst dreizehn vorüber. So wie sie gewöhnlich gehalten wird, ist es gut, daß sie so frühe fällt, in ein Alter, in welchem von selbstständiger religiöser Erfahrung und eigenem Nachdenken kaum bei Einigen die Rede [287] sein kann. Denn dieses kirchliche Bekenntniß vom Falle Adam’s an bis zum Amte der Schlüssel, das die Macht haben soll, Sünden zu vergeben und zu behalten, und dieses Gelübde, dem Teufel und allen seinen Werken zu entsagen, dürfte man sechszehn- oder siebenzehnjährigen Jünglingen und Jungfrauen – in dieses Lebensalter fällt die Confirmation in Ländern reformirten Bekenntnisses – sich kaum mehr erlauben abzunehmen.

Den zweijährigen Unterricht erhielt ich mit etwa hundert Knaben und Mädchen, die im gleichen Schulzimmer zusammengedrängt waren, von dem rechtgläubigen – das versteht sich im Schwabenlande von selbst – aber milden, gemüthsreichen und humanen Decan der Stadt. Man befand sich freilich im Allgemeinen im Dunstkreis der Orthodoxie, aber ihre Spitzen und Kanten verbargen sich in einem leichten Nebel. Der Unterricht war vorherrschend gemüthlich und erbaulich, die Ansprache an’s Herz, an den Willen die Hauptsache, unterstützt von schönen Erzählungen aus dem Lebensgange hervorragender Männer und Frauen. Die Confirmationshandlung selber wollte der Vater an mir vollziehen. Denn die Confirmation ist, wie die Taufe, zugleich ein Familienfest. Leider brachte nur ich selbst kein festliches Gefühl in mir zuwege. Ich war gar nicht zur Andacht zu stimmen. Am Morgen des Festtages stieß man mich in ein Zimmer und gab mir Gebetbuch und Gesangbuch in die Hand; da sollt’ ich lesen und beten. Aber es wollte nicht gehen; Augen und Gedanken schweiften über die grünende Landschaft. Als die Glocken erschallten, ging ich, den entlehnten Cylinder, der auf den Kopf nicht paßte, in der Hand, in die Kirche und reihte mich in die Schaar der nahezu zweihundert Söhne und Töchter, von denen ich Niemand kannte. Das Hersagen des Confirmandenbüchleins, das sehr geschickt und populär die ganze Kirchenlehre in Frage und Antwort gestellt hat, wobei auf ein jedes Kind die ihm vorher bestimmte, in Schlaf und Wachen, unter Angst und Zagen oft repetirte Antwort fiel, dann das Vortreten an den Altar, das Knieen auf der untersten Stufe, der Denkspruch und der Segen, hundertsiebenzig Mal wiederholt – das Alles war nicht geeignet, das Herz fromm zu stimmen. Aber als vollends die Reihe an mich kam und der Vater mir den Denkspruch aus 1. Timoth. 6, 20: gab: „Meide das Gezänke der falschberühmten Kunst“ etc., da war ich im tiefsten Herzen beleidigt. Wodurch hatte ich mir denn diese Warnung vor der Philosophie zugezogen? Am andern Tage reiste ich wieder zur Schule, zu Fuß einen Weg von sieben bis acht Stunden. Hier war mein Damaskus; hier vollzog Gott selbst in der Einsamkeit die Confirmation an mir. Ein ganzer Himmel von seligen und niederbeugenden Gefühlen drang auf mich ein. Lust und Weh wogte in der Brust auf und ab; ich betete und weinte im Gehen. Die Welt lag so groß und weit vor mir. Baum und Feld vernahmen die heiligsten Schwüre und die heißesten Gelübde.

Die Confirmation war vorüber. Noch ein halbes Jahr, und das Landexamen stand vor der Thür. Landexamen, du Donnerwort, in wie viele Schulen und Familien hast du alljährlich Hoffnung und Furcht, Glück und Schrecken gebracht! Landexamen? Aber wurde denn das ganze Land examinirt? Nein! nur die Nasiräer, die von Kindheit an für das Reich Gottes im Dienste der Kirche bestimmt waren. Aber bei der hohen Stellung, welche einst die Kirche einnahm, war dies eine wichtige Staatsaction, die wohl verdiente, daß sich die Aufmerksamkeit des ganzen Landes darauf richtete, während von einem Jünglinge, der sich auf die Medicin oder die Jurisprudenz oder auf die Naturwissenschaft vorbereitete, natürlich kein Mensch sprach und keine Zeitung berichtete. Und weil, die befähigt erfunden wurden, ihre Studien unentgeltlich auf Kosten des Staates vollenden konnten, drängten sich alljährlich Hunderte aus allen Landestheilen herbei, und in den Schulen schaffte es, und in den Pfarrhäusern zumal und in vielen andern Familien betete es auf dieses wichtige Ereigniß hin. Und damit der Stoff recht tüchtig gerathe, mußte er früher eine dreimalige, zu meiner Zeit nur noch eine zweimalige Durchsiebung passiren; der entscheidenden Prüfung, die in’s vierzehnte Lebensjahr fiel, gingen Vorprüfungen im zwölften und im dreizehnten Jahre voran. Da kamen sie denn im Omnibus und in Landkutschen von allen Farben in die Residenz angefahren, die hoffnungsvollen Adepten der Gottesgelehrsamkeit mit ihren Lehrmeistern, und die Jungen der Hauptstadt riefen den Ankömmlingen ihr höhnendes: cujas es? cujas es? (woher bist Du?) entgegen. Da war ein Gerusel und Gedränge im Gasthofe zum Hirschen, der als das privilegirte Hôtel der Landgeistlichkeit galt. Das war ein Händeschütteln und Grüßen der alten Studienfreunde, die einander ihre Söhne vorstellten und ihre Lebensgeschichte erzählten, nachdem sie sich seit den Universitätsjahren nicht mehr gesehen. Dann ging’s in die Prüfungssäle; die Prüfungen waren mündlich und schriftlich; die biblische Geschichte und die Sprachen bildeten die Hauptgegenstände. Draußen auf den Corridoren warteten die Väter und Präceptoren. Kam der Junge nach Ablieferung seiner Arbeit heraus, so stürzten sie auf sein Concept los und verschlangen’s mit ihren Augen, ob er’s recht gemacht habe.

Da ist mir beim ersten Landexamen etwas Schlimmes passirt. „Ich weiß nicht, wie es kommt, aber die Erfahrung bestätigt es, daß …“, so begann das Stück, das uns zum Uebersetzen in’s Lateinische vorgelegt worden war. Lange hatte ich geschwankt, ob ich das „daß“ abhängig machen sollte von dem Satze: „Ich weiß nicht, wie es kommt,“ oder von dem andern: „Die Erfahrung bestätigt es;“ endlich entscheide ich mich für das Erste, betrachte das Zweite nur als Parenthese und setze ut.

„Um Gotteswillen, was hast Du gethan?“ rief der Präceptor, nachdem er mir beim ersten Heraustreten das Blatt aus der Hand gerissen und den Blick auf den ersten Satz geworfen hatte. „Ut nach einem Verbum sentiendi und declarandi? Man möchte aus der Haut fahren!“

All’ mein Erklären und Entschuldigen half Nichts; er kratzte im Haar; er stampfte mit dem Fuße und beruhigte sich erst, als er das Uebrige fehlerfrei und in gutem ciceronischem Latein fand.

So Etwas durfte zum zweiten Male nicht vorkommen. Darum wurde darauf los geschafft, auch die dreiwöchentlichen Sommerferien wurden geopfert und Roth’s lateinische Stylübungen bis zu Ende durchgepaukt. Die Scheidestunde kam – ich sollte mit dem Vater in R. zusammenstoßen und mit ihm nach Stuttgart gehen. – Der Präceptor, der diesmal nicht mitging, las mir vor der ganzen Schule im Stolz auf seine Leistungen die Noten herunter, die ich im Examen erhalten würde (Latein: recht gut, Griechisch: gut bis recht gut, Hebräisch: gut bis recht gut), dann begleitete er mich beim Abschied. Als ich die Thränen aus den Augen gewischt hatte und von der Höhe des Hügels den letzten Blick auf die Stadt da drunten warf, in der ich fünf Jahre zugebracht hatte, war mein Herz voll Dankes; denn es war doch trotz Allem schön gewesen.




Eine Nacht auf dem Moor.


Zu beiden Seiten der kürzlich eröffneten Bahn von Bremen nach Hamburg breitet sich etwa auf der Mitte des Weges, zwischen den Stationen Scheeßel und Tostedt ein bedeutendes Moorgebiet aus, dessen östlich gelegener abgeschlossener Theil fiscalisches Eigenthum ist, im Volksmunde den Namen „Königsmoor“ führt und mit den Mooren der angrenzenden Ortschaften einen Flächenraum von mehr als einer Quadratmeile umfaßt. Eingeschlossen wird diese weite ebene Flüche von niedrigen Ausläufern des Lüneburgischen Haiderückens, an deren Fuße sich im Norden und Westen die trübe, braune Wümme, im Süden die kleine Fintau, ein Nebenflüßchen jener, herumwinden und so die engere Einfassung bilden.

Auf diesem öden Landstriche habe ich vor mehreren Jahren eine Nacht verlebt, die nie aus meinem Gedächtnisse schwinden wird und deren einzelne aufregende Augenblicke noch heute ebenso klar wie damals vor meiner Seele stehen. – Aber ehe ich zu [288] der Schilderung dieser bangen Nacht übergehe, sei mir zu besserem Verständnisse meines Abenteuers ein Wort über die Natur der Moore überhaupt gestattet.

Die Moore Nordwestdeutschlands, welche von der Meeresküste bis fünfundzwanzig Meilen landeinwärts auftreten, finden sich theils als längere schmale Uebergänge vom Geestlande zu den Marschen, theils dringen sie als weite Tieflandsbuchten in den Landrücken ein, wie die ausgedehnten Moore in Ostfriesland, Oldenburg und im Herzogthum Bremen, häufig aber bilden sie auch weite, durch höher gelegene Landrücken eingeschlossene und im Laufe der Jahrhunderte mit Torfmasse ausgefüllte Thalmulden.

Das „Königsmoor“ zählt, seiner äußeren Gestaltung nach, zu den Mooren letztgenannter Art. Gegenüber dem oft scharf ausgeprägten Charakter anderer Moore weist dasselbe innerhalb seiner Grenzen fast alle verschiedenen Formen und Uebergänge auf, die man unter dem Begriffe „Moor“ vereinigt. Wo das Moor sich im Laufe der Zeit über das Niveau des stehenden Wassers empor gehoben, da sind die eigentlichen Torfbildner – Algen, Torfmoose, Myriophyllen, Schilfrohre, Sumpfgräser und andere Wasserpflanzen – abgestorben. Das Moor ist ein fertiges, todtes geworden und unsere beiden nordischen Haide-Arten, die Strauchhaide (Calluna vulgaris L.) und die Glockenhaide (Erica tetralix L.) haben das Terrain völlig für sich erobert und geben diesen Strichen den Charakter des Hochmoors. Den Uebergang zu den feuchteren Stellen bezeichnet das Verschwinden der erstgenannten Haide-Art und das Auftreten des deutschen Gagels (Myrica Gale L.) und der Rosmarinhaide (Andromeda polifolia L.). Die niedrigst gelegenen Strecken zeigen die oben genannten eigentlichen Torfbildner mehr oder weniger noch in voller Thätigkeit und bedingen diejenige Stufe der Moorbildung, welche man mit den Namen Unterwasser-, Grün- und Sumpfmoore bezeichnet. Hier tritt das braune Moorwasser überall zu Tage, besonders in den Abzugscanälen und den zur Torfgewinnung gemachten Einschnitten der Torfgräber, welche allein oft an die Nähe der Menschen erinnern. Auch finden sich bereits vor Jahrzehnten verlassene Torfgruben, in welchen der Torfbildungsproceß auf’s Neue begonnen hat und welche sich in Folge dessen mit einer dünnen trügerischen Pflanzendecke überzogen haben, deren Betreten meistens ein rettungsloses Versinken in dem oft unergründlichen Schlamme zur Folge haben würde. – Die Fauna des Moores ist diejenige der anstoßenden Haide, nur ärmlicher, als diese. Die höher gelegenen Stellen werden auch als Weidetriften für die Haideschnucken nutzbar gemacht.

Und nun zu meinem Jugenderlebniß!

An einem schönen Julimorgen des Jahres 1867 traf ich mit der Post von Harburg in Tostedt ein, von welchem Orte aus ich noch an demselben Tage das im Südosten des Königsmoores gelegene Kirchdorf F…, meine Heimath, zu erreichen gedachte. Da sich in Tostedt keine Fahrgelegenheit darbot, so war ich genöthigt, die Strecke von etwa drei Wegstunden zu Fuße zurückzulegen.

Unter Gelegenheitsbesuchen bei Freunden und Bekannten, deren ich in Tostedt verschiedene besaß, war mir der Tag rasch dahingeschwunden und die Sonne bereits dem Untergange nahe, als ich den freundlichen Ort verließ, und durch den „Düwelshöpen“, das Schützenholz der Tostedter, den Weg zum Moore einschlug, obschon man mir gerathen, die Nacht im Orte zu bleiben, oder wenigstens doch auf dem gebahnteren Wege das Moor zu umgehen. Ich befolgte diesen Rath nicht, weil ich dann einen Umweg von mehr als zwei Stunden hätte machen müssen. Schon als Kind war ich zu verschiedenen Malen über das Moor gekommen, und ich glaubte, mir damals die Merkmale des einsamen Weges zur Genüge eingeprägt zu haben.

Bei einbrechender Dunkelheit hatte ich bereits die Oste – hier noch ein winziges Bächlein – überschritten und befand mich auf den Otterer Bergen, einem etwa hundert bis hundertfünfzig Fuß hohen Hügelzuge, welcher ein Stück Wasserscheide zwischen Oste und Wümme, im weiteren Sinne zwischen Elbe und Weser bildet. Ich schaute über die Wümme und ihre schmale Wieseneinfassung hinweg, und vor mir lag das weite düstere Moor. Jener dunkle, noch eben zu erkennende Streif im Süden desselben kündete mir die Heimath an. Nach weiterer, kurzer Wanderung gelangte ich an die Wümme. Schläfrig wälzten sich ihre trüben braunen Wasser durch die Wiesen, die ein leichter Nebel deckte, in welchem die verkrüppelten Erlen und Bruchweiden geisterhaft zu schweben schienen. Nur wenige Schritte noch, und ich stand auf dem Moore.

Vor mir lag die öde kahle Fläche, die ich durchwandern mußte; der dunkle, graue Streif am südlichen Horizonte, der mir vorhin noch das Ziel meiner Wanderung anzeigte, war verschwunden; die untergegangene Sonne hatte ihn meinen Blicken entzogen.

Rüstig schritt ich vorwärts. Ob auch der Mond von Wolken verdeckt war, so konnte ich doch, nachdem sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt, recht gut eine Strecke des vor nur liegenden Weges erkennen. Ringsum herrschte eine Todtenstille, die nur durch das Knistern des Haidegestrüpps unter meinen Füßen und dann und wann durch den melancholischen Ruf des Regenpfeifers oder des Kibitzes unterbrochen wurde.

Allmählich beschlich mich ein leises Gefühl der Aengstlichkeit und Besorgniß. Wie leicht konnte ich den wüsten, kaum sichtbaren Weg verfehlen! Ich schaute hinter mich; noch glaubte ich deutlich die Wümme mit ihrer Einfassung und die dahinterliegende Hügelkette zu erkennen; noch konnte ich umkehren. Doch nein! Unmuthig über die Schwäche, die mich anwandelte, verfolgte ich den einmal gewählten Weg. Mancherlei selten benutzte und halbvernarbte Moor- und Haidewege kreuzten meine Straße, die sich oft kaum von ihnen unterschied. Dies beunruhigte mich jedoch kaum, da ich bestimmt wußte, daß ich stets die gerade Richtung inne zu halten und erst nach etwa halbstündigem Marsche bei einem am Wege stehenden Schafstalle mich links zu wenden habe. Auch bekümmerte es mich nicht, daß mein Weg ein immer wüsteres und unwirthlicheres Aussehen bekam; ich wußte, daß er nur sehr selten von den Fuhrleuten benutzt wurde, da diese meistens den bequemeren Weg um das Moor wählten. Von ungefähr in die Tasche greifend, fand ich noch einige Hamburger Cigarren vor, die mir um so willkommener waren, als sich bereits eine mißmuthige Stimmung meiner bemächtigt hatte, die an Langeweile grenzte. Ich zündete mir eine der edlen Havaneserinnen an, und mein Geist gelangte alsbald in ein lebhafteres Fahrwasser. Ich gedachte der Eltern und des Bruders, die ich nach langer Trennung wiedersehen sollte, auch die ferne Holde, noch so ziemlich die erste Geliebte, spielte eine nicht unbedeutende Rolle in meinen wachen Träumen.

Endlich wurde ich jedoch unruhig, da sich nirgends ein Gebäude zeigen wollte, nach welchem ich Richtung hätte nehmen können, und der Weg vor mir kaum noch diesem Namen verdiente. Ich führte die glimmende Cigarre an das Zifferblatt meiner Uhr und erschrak – ich mußte bereits über eine Stunde Weges von der Wümme entfernt sein. Es war zweifellos – ich hatte mich verirrt. Aber nein! Neue Hoffnung erfüllte mich; vor mir tauchte eine unförmliche Masse aus dem Dunkel auf. Es war ein Schafstall, eines jener einfachen Behältnisse, denen man in der Haide häufig begegnet, und die sich am besten als auf den Boden gesetzte Strohdächer niedersächsischer Bauernhäuser bezeichnen lassen. Mit erleichtertem Herzen nahte ich mich, doch leider nur, um mich abermals zu täuschen. Vergebens spähte, ja, tastete ich mit den Füßen nach einem links abschwenkenden Pfade. Es war überhaupt kein anderer Weg vorhanden, als derjenige, welcher mich hergeführt hatte; ich hatte mich doch verirrt!

Heftig pochte ich nun an die Thür des Gebäudes; vielleicht waren Schafe darinnen, und dann konnte möglicherweise der Hirt bei den Thieren übernachten – kein Laut antwortete mir, als das dumpfe Echo von den Schlägen meiner Hand. Ich versuchte hineinzudringen, um drinnen auf der Streu den Morgen zu erwarten, allein die Thür war mit einem Vorhängeschloß von überraschendem Umfange wohl verwahrt. An jedem Auswege verzweifelnd, lehnte ich mich an die Lehmwand des Gebäudes und versank in dumpfes Brüten.

Lange mochte ich so dort gestanden haben, als ein lauter Schrei mich aus meinen Träumereien aufschreckte. War es der Schrei eines Thieres oder eine Einbildung meiner erhitzten Phantasie – ich vermag es nicht zu sagen. Eine alte Geschichte wurde plötzlich in mir lebendig, die ich in meiner Kindheit von älteren Leuten oft hatte erzählen hören. Vor langen Jahren, so berichteten sie, wachte einmal ein alter Schäfer auf dem

[289]

Das verhexte Vieh. Originalzeichnung von Van der Venne.

[290] Königsmoor des Nachts bei seiner Heerde. Am nächsten Morgen fand man den Stall erbrochen, den greisen Schäfer aber und seinen treuen Hund erschlagen und blutig darinnen. Die besten Hammel waren gestohlen; die übrigen Schafe irrten hirtenlos auf dem weiten Moor umher. Kein Nachforschen half; der Arm der irdischen Gerechtigkeit vermochte den Raubmörder nicht zu erreichen. Jahre waren vergangen. Da fand man eines Tages einen wildfremden bärtigen Mann, einen Zigeuner, am Thürpfosten des Stalles aufgeknüpft und in seiner Tasche das Geständniß des Mordes. Fern auf dem Moore, nahe dem Orte seiner That scharrte man ihn ein. Der ewigen Gerechtigkeit, der Qual des Gewissens und der Verzweiflung war er nicht entgangen. Im Stalle aber und in der Nähe desselben sah und hörte man seit jener Zeit entsetzliche, haarsträubende Dinge, so daß der Besitzer ihn verschloß und verfallen ließ.

Eine unter einer abergläubischen Landbevölkerung verlebte Kindheit hat leider allzuoft eine große Empfänglichkeit des Geistes für Geister- und Schauergeschichten zur Folge, die selbst im reiferen Jünglingsalter noch nicht ganz verschwindet. Auch mich hatte die Furcht vor dem Uebernatürlichen ergriffen. Die Angst, der einsame Schafstall könne der gefürchtete, jener Schrei der Todesschrei des Gemordeten sein, ergriff mich dermaßen, daß ich wie toll davonrannte, ohne mich umzusehen, ohne weiter auf Weg und Steg zu achten.

Als ich einigermaßen wieder zur Besinnung gekommen war, hatte ich jeden Anhaltspunkt in der Wildniß verloren. Ein Stoicismus der Verzweiflung überkam mich; ohne noch irgendwie um Moor und Sumpf, um Weg und Richtung mich zu kümmern, schritt ich in die Nacht hinein. Kaum spürte ich, daß ich stellenweise bis über die Kniee in den Morast einsank. Oft mußte ich mit aller Anstrengung von einem Riedbüschel zum andern springen, um nicht rettungslos in einer halbüberwachsenen Torfgrube zu verschwinden.

Rascher und rascher schritt ich vorwärts, so daß mir der Schweiß von der Stirne troff. Unmöglich war es mir, den Weg aufzufinden, den ich seit Verlassen des unheimlichen Stalles genommen. Mein Geist war in der seltsamsten Verfassung; die barocksten und wunderlichsten Einfälle jagten sich in meinem Hirne. Wie lange dieser traumartige Zustand andauerte – ich weiß es nicht. Nach der Uhr sah ich längst nicht mehr: auch die Zeit war mir gleichgültig geworden.

Der erste klare Eindruck, der mir nach solcher Wanderung zum Bewußtsein gelangte, war der, daß ich mich wieder auf trockenem Boden befand. Ich verweilte einige Augenblicke, um Luft zu schöpfen und mir die Stirn zu trocknen. Da vernahm ich plötzlich hell und deutlich das Gebell eines Hundes. Wunderbar erfrischend wirkte die Wahrnehmung, daß ich mich wieder in der Nähe menschlicher Wohnungen bewegte. Hatte die Aufregung meine Sehkraft verdoppelt, oder begann schon die Nacht dem jungen Tage zu weichen: ich sah in nicht allzuweiter Entfernung vor mir ein Dorf liegen. Meine Heimath war es nicht, das erkannte ich schon an dem geringen Umfange; es mußte, meiner Ortskenntniß nach, die Moorcolonie Horst sein. Mit neuem Muthe schritt ich darauf los, fühlte jedoch plötzlich wieder den Boden unter meinen Füßen schwinden und sank ein bis an die Kniee. Nur die gewaltigste Anstrengung machte es mir möglich, wieder auf’s Trockene zu gelangen.

Das war der letzte Moment, dessen ich mich klar entsinne. Vor Ermattung muß ich umgesunken und eingeschlafen sein.

Wilde Träume umgaukelten mein Hirn. Bald war mir’s, als sei ich jener einsame Wanderer eines alten Volksliedes, den die Geister mit ihrem bezaubernden Gesange weit, weit in das Moor gelockt, und der wohl nimmer das Sonnenlicht wiedergeschaut hätte, wäre nicht sein eilender Fuß gestrauchelt und er ermattet am Rande einer bodenlosen Torfgrube niedergesunken.

Dann wieder war mir’s, als sei ich jener Hirt im einsamen Stalle, als hole schon der Mörder aus zu dem tödtlichen Schlage; – schon fühlte ich, wie die wuchtige Keule mir den Schädel zerschmetterte – und erwachte, von Fieberfrost geschüttelt.

Leuchtend stand bereits die Sonne im Osten; es mochte etwa sechs Uhr Morgens sein. Kaum vermochte ich mich vom kalten Erdboden zu erheben; meine Glieder waren wie gelähmt und zerschlagen. Mühsam machte ich mich auf den Weg zu meiner kaum eine Stunde entfernten Heimath. Die Leute, welche mir begegneten und zur Arbeit wollten, starrten mich an, als sei ich ein dem Grabe Entstiegener. Als ich endlich völlig erschöpft das Vaterhaus betrat, erschraken meine Eltern nicht wenig vor meinem leichenblaßen Gesicht, meinen starren und übernächtigen Augen und meinen wirr um’s Haupt hängenden, Haaren. – Schon am Abende lag ich im heftigsten Fieber. –

Niemals werde ich die Erlebnisse dieser entsetzlichen Nacht vergessen.

August Freudenthal.




Aus den Frankfurter Parlamentstagen.
Stammbuchblätter deutscher Abgeordneter.
Von J. Loewenberg.


In der Handschriftensammlung, die aus dem Nachlaß des Generals von Radowitz an die königliche Bibliothek in Berlin übergegangen ist, befindet sich eine Anzahl Gedenkblätter von Abgeordneten der constituirenden Nationalversammlung, des deutschen Parlaments, das 1848 bis 1849 in Frankfurt am Main getagt hatte. Die Blätter stammen zum größten Theil aus der Zeit, in welcher die Hoffnungen auf außerordentliche Erfolge schon ziemlich herabgestimmt waren. Es ist zwar nicht anzunehmen, daß sie gerade für Herrn von Radowitz selbst bestimmt waren; die Parteistellung der meisten Männer zu ihm ist für diese Annahme zu verschieden, – Itzstein widmet sein Denkblatt ausdrücklich „unserem H. Mager“, dem würtembergischen Studienrath – immerhin aber sind sie zur Charakteristik der Männer, die sie geschrieben haben, interessant genug, um in unseren Tagen als heitere Erinnerung an überstandene Mißstände mitgetheilt zu werden.

Die Mittheilung ist wörtlich, nur daß den Namen der einzelnen Männer Heimath und Stand, Wahlkreis etc. zu leichterer Erinnerung hinzugefügt wurden.

Bassermann, Buchhändler aus Mannheim, Reichs-Unterstaatssecetär (Gestaltenseher in Berlin; Bassermann’sche Gestalten): Wer für die Menschen wirken will, der muß sie lieben und verachten zugleich. Frankfurt a. M., 21. December 1848.

Bauer, aus Bamberg: Nie verzagen! Auch heute nicht verzagen, wenn auch hier die Hoffnungssterne bleichen. In der Paulskirche am verhängnißvollen 21. Mai 1849.

von Beckerath, aus Crefeld, Reichsfinanzminister: Die Erinnerung, mitgewirkt zu haben zum Wohl des Ganzen, ist der edelste Besitz des Einzelnen. Frankfurt a. M., 9. Januar 1849.

Berger, aus Wien. Abg. für Schöneberg, Mähren: Der Zwiespalt der deutschen Vertreter ist die Einheit der deutschen Fürsten – das Grab der deutschen Freiheit. Frankfurt a. M., 22. März 1849.

Beseler, Wilhelm, aus Schleswig Holstein: Thue recht und scheue Niemand!

Beseler, G., aus Greifswalde: Langsam im Rath, schnell in der That. St. Paulskirche, den 23. März.

Biedermann, Professor aus Leipzig: Zum großen Werke auch das Kleinste beigetragen zu haben, ist belohnendes Gefühl. Frankfurt a. M., den 16. November 1848.

Buß, Professor aus Freiburg in Baden: Treue für die deutsche Nation – und Gerechtigkeit vor Allem.

Dahlmann, Professor aus Bonn, Abg. für Schleswig-Holstein: Die Freiheit ist kein Zustand des Genusses, nein, die spätreifende Frucht mannigfacher Entsagung und Arbeit. Frankfurt a. M., 5. December 1848.

Droysen, Joh. Gust., Professor in Kiel, Abg. für Schleswig-Holstein: Magnae molis erat Romanam condere gentem. (Es war ein schweres Stück, das römische Volk zu einen.) Ein Trost für Deutschland. In der Paulskirche, 23. Mai 1849.

[291] Eisenmann, Dr. med., aus Nürnberg, Abg. für Würzburg: Der brave Mann denkt an sich zuletzt. Frankfurt a. M., 18. December 1848.

Eisenstuck, Bernhard, Kaufmann aus Chemnitz, Abg. des achtzehnten sächsischen Wahlkreises: Die Freiheit der Völker ist die Mutter des Muthes – nur in der Wiege des Absolutismus wird die Feigheit gedeihen. Frankfurt a. M., 21. Mai 1849.

Freudentheil, Dr. jur., aus Stade, Abg. für Hannover: An’s Vaterland, an’s theure, schließ’ dich an, das halte fest mit deiner ganzen Kraft! Frankfurt a. M., 16. November 1848. Zur Erinnerung an die großen Tage in Frankfurt.

Fröbel, Julius, aus Grießheim, Abg. für Reuß jüngere Linie: Für die, welche nicht an der Souveränetät des Staates Antheil haben, sind die Gesetze nichts Anderes, als die Methodik der Gewalt. Frankfurt a. M., 14. December 1848.

Giskra, Dr., aus Wien, Abg. für Mährisch-Trübau: Die Einheit Deutschlands muß uns werden, und sollten darüber alle Kronen ihren Glanz verlieren, sollten darüber alle Throne brechen. St. Paulskirche, 20. October 1848.

Gombart, Oberappellationsrath aus München:

Laetus in praesens animus quod ultra est
Oderit curae, et amara lento
Temperet risu. Nihil est ab omni
          Parte beatum.

     (Wer sich der Gegenwart freut, sorgt nicht in’s Weite, er mildert das Herbe; nichts befriedigt vollständig.) Frankfurt a. M., 21. December 1848.

Hartmann, Moritz, Abg. für Leitmeritz in Böhmen: Die Freiheit ist ein Kampf – die Liebe ist ein Kampf – der Kampf ist das Glück – ist das Leben.

Heckscher, Advocat aus Hamburg, Reichsminister des Aeußeren: Lassen Sie uns in dem ehrlichen Kampfe für ein ganzes Deutschland beharren! Frankfurt a. M, 23. März 1849.

Hermann, Dr. jur., Abg. für Bautzen: Die Reden in der Nationalversammlung sind zu oft nur zur Verhüllung dessen gehalten, was man sagen will, und sie müssen dann zwischen den Worten gehört werden. Frankfurt a. M., 23. December 1849.

Hildebrand, Bruno, Professor aus Marburg, Abg. für Kurhessen: Die sociale Aufgabe ist die größte, welche jemals dem Menschengeschlechte vorgelegen hat; ihre Lösung ist aber nur auf dem Boden voller politischer Freiheit möglich. Frankfurt a. M., 10. November 1848.

Jacoby, C. Wilhelm, aus Hersfeld: Sero sapiunt Phryges, dummodo sapiant. (Die Phrygier werden spät klug, wenn sie überhaupt jemals klug werden.) Frankfurt a. M., 20. Mai 1849.

Jordan, Sylvester, Legationsrath aus Marburg, Abg. für Kurhessen: Die wahre Freiheit besteht in der Selbstbeherrschung. Frankfurt a. M., 5. Februar 1849.

Jordan, W., von Berlin, Abg. für Oberbarnim (der Marinerath): Der Menschheit bester Freund ist just der böse Feind. Frankfurt a. M., 7. Nov. 1848.

Itzstein, J. A., Hofgerichtsrath in Mannheim: Mich beruhigt ein alter Spruch: „Ulrich Zwingli starb den Tod für’s Vaterland; alte Eichen und eingewurzelte Radicale (die einzigen echten) fallen wohl, doch fliehen nie.“ – Diese Worte unserem H. Mager zum Andenken an den alten Itzstein aus Mainz, Frankfurt a. M., 22. Mai 1849.

Jucho, Advocat in Frankfurt a. M.: Quidquid delirant reges, plectuntur Achivi. (Was die Fürsten verschulden, die Völker müssen es büßen.) Ein alter Spruch, der auch in neuer Zeit wahr bleibt, wenn es auch keine Könige von Gottes Gnaden mehr giebt. Die Könige von Volkes Willen, die souveränen Vertreter des souveränen Volks lassen es an Sünden auch nicht fehlen und wie von je muß sie das Volk bezahlen. Zur Erinnerung. Frankfurt a. M., 15. Dec. 1848.

Kirchgeßner, Advocat aus Würzburg: Der Geist lebt fort, ist auch der Körper todt. Frankfurt a. M, in der Paulskirche, 21. Mai 1849.

Löwe, Dr. med. aus Calbe, Abg. für den Wahlbezirk Calbe und Jerichow I: Mitten im Staube der Arbeit ist es schwer, sich den Blick frei zu erhalten, und doch ist das Leben nichts werth, ohne ein freies Herz und ohne freien Blick. Paulskirche, 10. November 1848.

Mittermaier, C., Geheimerath und Professor aus Heidelberg: Es ist besser zu hoffen und, von diesem Gefühl beseelt, zu handeln als zu verzweifeln.

Mohl, Moritz, Dr. der Staatswissenschaft aus Stuttgart: Gott rette das schwer bedrohte Vaterland! Paulskirche, 23. März 1849, im Augenblick drohender Gefahr für Deutschland.

Mohl, Robert, Professor aus Heidelberg, Reichsjustizminister: Fais ce que tu dois, advienne que pourra. (Thu’ was du sollst, komme was will!) Zur Erinnerung. Frankfurt a. M., 22. Februar 1849.

Nauwerk, N., aus Berlin, Abg. für den fünften Brandenburger Wahlkreis: Aus dem Blute der Wiener erblüht die Rose der Freiheit. Frankfurt a. M., 7. November 1848.

Rank, Joseph, Schriftsteller aus Prag: Einer, der es durch’s Leben, Wissenschaft und Kunst hindurch zu einem vortrefflichen Menschen bringen möchte. Frankfurt a. M., 14. December 1848.

Raveaux, Franz, Kaufmann aus Köln: Halt fass am Rich, do Kölsche Boor, No mag et falle söös of sor! (Halt fest am Reich, du kölnischer Bauer, wie es auch werde, süß oder sauer!) – Frankfurt a. M., 22. Februar 1849.

Reh, Th., Advocat aus Darmstadt, Abg. für Offenbach: Sein oder Nichtsein? – Das ist jetzt die Frage! Geschrieben in den entscheidenden Tagen des Monats März 1849. Zur freundlichen Erinnerung. Frankfurt a. M.

Reichenbach, Oskar, Graf von, Gutsbesitzer auf Domeczko in Schlesien: Wer den Kampf nicht scheut, aber auch die Mäßigung nicht vergißt, gelangt zum Ziele.

Reinhard, L, Rector aus Boytzenburg, Abg. für Boytzenburg: Das Herz sollte in allen Dingen souverain sein, selbst in politischen. Frankfurt a. M., 18. December 1848.

Rießer, Gabriel, Dr. jur., aus Hamburg, Abg. für Lauenburg: Durch Nacht zum Licht. Zur freundlichen Erinnerung. Frankfurt a. M., in der Paulskirche, 22. März 1849.

Röder, Gymnasial-Director aus Neustettin: Im Großen muß es oft genügen das Gute gewollt zu haben. Frankfurt a. M., 22. März 1849.

Rödinger, Fr., Advocat aus Stuttgart, Abg. für Oehringen-Künzelsau: Die Freiheit ist nicht ein Recht, die Freiheit ist eine Pflicht. Frankfurt a. M., 12. December 1848.

Rühl, Oberbürgermeister von Hanau: Das Leben eines Mannes kann nur dadurch Werth erlangen, daß es aufgeht für die Freiheit und Wohlfahrt Aller. Verschmelzen auf diese Weise die Individuen in der Gesammtheit, so wird das Leben zugleich eine Lust sein und mehr werth als jetzt. Frankfurt a. M., 17. December 1848.

Schaffrath, Stadtrichter, Abg. für Stolpen in Sachsen: „Durch die Freiheit zur Einheit!“ Frankfurt a. M., 7. Dec. 1848.

Schloeffel, Friedrich Wilhelm, Gutsbesitzer aus Halbendorf, Abg. für den Kreis Hirschberg in Schlesien: Friedrich Wilhelm der Vierte sagte den Deputirten von Breslau: „Meine Feinde sind gewesen, wie immer; sie sind feig gewesen.“ Königsworte sollen Wahrheit sein – machen wir es künftig besser! In der Paulskirche, Frankfurt a. M.

Schoder, Adolph, Regierungsrath aus Stuttgart: Bald wird das deutsche Volk Gelegenheit erhalten zu zeigen, ob es für die Märztage so wenig Gedächtniß hat, wie die Mehrzahl des preußischen Volkes in den letzten Tagen gezeigt. Frankfurt a. M., 18. December 1848.

Schüler, Abg. aus Jena, Ober-Appellationsgerichts-Rath: Nur wenn das Recht der Freiheit zur Unterstützung dient, kann diese bestehen (90. Sitzung in der Paulskirche). Frankfurt a. M., 14. December 1848.

Simon, Heinrich, Stadtgerichts-Assessor aus Breslau, Abg. für Magdeburg: Joe wel en zie nit om. (Frisch vorwärts, und schau nicht um.) Frankfurt a. M., 18. December 1848.

Simon, L., Advocat in Trier: Wie der Sturm sich bricht am festen Gebäude, so bricht sich Völkerschmerz an Despotenfreude. Frankfurt a. M., 17. December 1848.

Tellkampf, Prof. aus Breslau: Wenn es diesmal auch nicht gelingen sollte, so haben wir doch Etwas gelernt und wissen das nächste Mal die eigentlichen Feinde der Einheit zu finden. Wir wollen dabei nicht fehlen. Frankfurt a. M., 21. December 1848.

[292] Temme, aus Münster: In der Paulskirche machen wir zwar die Geschichte nicht; wir sind aber verantwortlich dafür, daß sie sich gut mache. Geschrieben zu Frankfurt a. M. in der Paulskirche am 23. März 1849.

Uhland, L., aus Tübingen: Untröstlich ist’s noch allerwärts, doch sah ich manches Auge flammen und klopfen hört’ ich manches Herz. Paulskirche, 21. Mai 1849.

Umbscheiden, Ph., Friedensrichter aus Dahn in Baiern: Projectirte Ueberschrift der Paulskirche: „Primo unitatem, modo cum libertate sese ipsos prodidere.“ (Hier haben sie erst die Einheit, dann mit der Freiheit sich selber verrathen.) Frankfurt a. M., 21. Mai 1849.

Venedey, J., Schriftsteller aus Köln, Abg. für Hessen-Homburg: Man muß selbst dem lieben Herrgott helfen, gutes Korn zu machen. Paulskirche, August 1848.

Vogt, Karl, Prof. in Gießen, Abg. für Gießen: Die Monarchie kann – die Republik will – wann wird das Können wollen und das Wollen können? 23. December 1848.

Waitz, Georg, Professor in Göttingen, Abg. für Kiel: Deutschland ist nie eine volle staatliche Einheit gewesen und wird schwerlich je ein Einheitsstaat werden. Frankfurt a. M., 5. December 1848.

Welcker, E, Geheimer Rath aus Heidelberg: Das ganze Deutschland soll es sein! Zum freundschaftlichen Andenken. Frankfurt a. M., 18. December 1848.

Wesendonk, H., Advocatanwalt aus Düsseldorf: Auch jetzt noch hoffnungsvoll und doch schon so oft betrogen. Frankfurt a. M., 18. December 1848.

Wigard, Franz Jacob, Professor aus Dresden: Alles für das Volk nur durch das Volk selbst. Frankfurt a. M., 9. December 1848.

Würth, Joseph, aus Sigmaringen: Wie auch die Wolken sich thürmen, ich verzweifle nicht an Deutschlands Zukunft. Gott läßt Deutschland nicht verfallen. Frankfurt a. M., 5. März 1849.

Wuttke, Heinrich, Privatdocent aus Leipzig, Stellvertreter für Robert Blum: Für den Politiker – und überhaupt im Leben – ist Beharrlichkeit die nothwendigste Eigenschaft. Manchen begünstigt bei seinem ersten Wurfe das Glück, aber wer nicht von der Laune des Glücks gehoben wird, von dem gilt das Wort des Dichters: „Was du in der Jugend erstrebst, das hast du im Alter die Fülle,“ nur dann, wenn er unverrückt, fest und zäh seinen Zielpunkt im Auge behält. Und was langsam erreicht wurde, das ist am sichersten gewonnen. Frankfurt a. M., 7. Februar 1849.

Wydenbrugk, v., Abg. aus Weimar, Minister: Der Freiheit eine Gasse – alles Andere folgt. Frankfurt a. M., 15. December 1848.

Zimmermann, Wilhelm, Professor aus Stuttgart: Begeisterung und Besonnenheit sind die Pole des Lebens. Frankfurt a. M., 21. December 1848.

Zitz, Advocat aus Mainz: Und hätte auch die erste deutsche Nationalversammlung, wie vielfach gefürchtet wird, keinen durchgreifenden Erfolg, so wird sie immer die Wirkung haben, daß sich die Männer, welche es aufrichtig mit Freiheit und Volksglück meinen, kennen und verstehen gelernt haben. Frankfurt a. M., 9. Februar 1849.

Wir fügen diesen Denkblättern noch eins hinzu, das zwar nicht zu dieser Sammlung gehört, aber als ein gleichartiges hier in Erinnerung gebracht zu werden verdient. Es ist ein Gedenkblatt Alexander von Humboldt’s, mit dem es folgende Bewandtniß hat. Der Buchhändler Strodtmann gab Anfangs der fünfziger Jahre „Stimmen der Zeit“ heraus, Aeußerungen der hervorragendsten Männer über die damaligen Verhältnisse in kurzen Aussprüchen, die in facsimilirter Urschrift zu einem historischen Album vereint wurden. Das Blatt Alexander von Humboldt's enthält in höchst sorgfältiger, selten deutlicher Schrift folgende Aussprüche:

„Am meisten ärgert sie, sobald wir vorwärts gehen!

Goethe.“

„Quo magis socordiam eorum irridere libet, qui praeeunti potentia credunt extingui posse etiam sequentis aevi memoriam. Nam contra, punitis ingeniis, gliscit auctoritas; neque aliud reges, aut qui eadem saevitia usi sunt, nisi dedecus sibi, atque illis gloriam peperere.

Tacit. Annal. IV. 35.“

Man möchte über den Stumpfsinn Derjenigen um so mehr lachen, die, weil sie augenblicklich die Gewalt in Händen haben, nun auch glauben, das Gedächtniß der Nachwelt ausmärzen zu können. Aber im Gegentheile, bestraft nur die Geister, und es wächst ihre Geltung; Könige und Alle, die Zwingherren gewesen, haben doch nichts anderes Dauerndes zu Stande gebracht, als ihre eigene Unehre und die Verherrlichung Jener.)

Berlin, den 29. Januar 1852.
Al. v. Humboldt.




Blätter und Blüthen.

Porcia im Schleier. (Mit Abbildung. S. 281.) Ob wir in den Gärten von Tiflis oder an den Seen Skandinaviens, am Ebro oder im schottischen Hochlande das Ideal weiblicher Schönheit zu suchen haben, oder ob die grethchenhafte Anmuth eines deutschen Mädchens den Preis verdiene – wer kann es entscheiden! Aber immer und immer wieder taucht bei Künstlern und Frauenkennern die Frage auf: Ist nicht Italien das gelobte Land der weiblichen Schönheit? Die Gestalten Rafael’s und Tizian’s, die bleichen Madonnen und blühenden Lavinien, sie wandeln noch heute unter dem lachenden Himmel Hesperiens. Die Anmuth italienischer Frauen war und ist ein unerschöpflicher Gegenstand für die bildende Kunst aller Zeiten.

Wir bringen heute eine „Bellezza“ der Romagna.

Porcia, das anmuthige Original unseres Bildes, lebt in Rom und gilt in den dortigen Künstlerkreisen für eine der liebreizendsten Schönheiten von ganz Italien. Wer von unseren Lesern dankte nicht mit uns unserm liebenswürdigen Landsmanne – wir verrathen seinen Namen nicht –, daß er uns durch Ueberlassung von Porcia’s Photographie in den Stand setzte, mit der schönen Blume vom Strande der Tiber für das wohlgelungene Bild sorgte der treffliche Neumann – unser Blatt zu schmücken! Wie gefährlich mögen diese großen Augen in der Wirklichkeit sein!


Das verhexte Vieh. (Mit Abbildung, Seite 289.) Die Kapuziner in Schwaz (Tyrol) besitzen in der Hinterrieß ein kleines Kloster – Kirche, Klosterzellen, Wirthshaus, Kuh und Saustall, Alles friedlich unter einem und demselben Dache vereinigt. Zu den frommen Vätern kam eines Tages ein reicher Bauer von Lengrieß, welchem sein Vieh krank geworden war. Er sagte, es sei verhext, und bat, man möge ihm helfen.

Als der Kapuziner, welcher mit dem Bauern ging, in den Stall getreten war, meinte er: „Ja, die Thiere sind so stark verhext, daß ich unter vierzig Gulden nichts machen kann.“ Der Bauer kratzte sich den Kopf und zahlte das Geld. Der Pater aber beräucherte und besprengte die vierbeinigen Patienten mit Weihwasser und las die üblichen Zauberformeln. Das Resultat war, daß noch mehr Vieh erkrankte und der Bauer bei Gericht wegen Unterlassung der Anzeige Strafe zahlen mußte.

Solche Zustände sind kaum glaublich, und doch stehen sie in Tyrol und Baiern in voller Blüthe. Wir haben gedruckte Beweise. Guttenberg würde sich wohl im Grabe umkehren, wenn er wüßte, daß seine edle Kunst, die Befreierin des Geistes von Nacht und Dunkel, sich zur Herstellung eines Productes leihen mußte, welches unter dem Titel „Dreiundachtzig Geheimnisse für Jedermann in landwirthschaftlichen und häuslichen Verhältnissen“ in Landshut erschienen ist. Kein Wunder daher, wenn, wie der obige Fall zeigt, in Ställen gegen Hexerei Mittel zur Anwendung kommen, wie sie in den „Dreiundachtzig Geheimnissen“, gedruckt 1873, zu finden sind. Einige derselben lauten:

„Pulver für das Vieh, wenn es bezaubert ist: Teufelsdreck, Drachenblut, Meisterwurzel, Baldrianwurzel, Teufelsabbiß, schwarzen Kümmel, Salz, Alles zu Pulver gestoßen, Montags und Donnerstags ein halb Loth eingegeben“; oder: „Rothen Knoblauch, Weihrauch, Kampher, in ein Säcklein genäht, in das Brühfaß gezweckt“; oder: „Hole drei weiße Kieselsteine aus einer Leichenpforte, mache sie heiß, gieße die Milch darauf und drei Pfund Teufelsdreck und Eberwurzel, laß dieses drei Tage stehen in dem Stall, darnach thue sie wieder in der Stunde dahin, wo Du sie geholt hast. Alles im †††“; oder Gebetformeln: „Es giengen drei Frauen über den Berg Sinai, die erste sprach: ‚Meine Küle hat’s heisch‘; die andere sprach: ‚Es kann seyn‘; die dritte sprach: ‚Es kann seyn, oder es ist, so helfe dir der Name Jesu Christ †††‘“; oder: „Abt und Abtin, Drach und Drachin, Zauberer und Zauberin, du sollst stille steh’n, du sollst zu Gott, deines Herrn Geboten geh’n, du sollst mir mein Vieh meiden, bis der heilige Ritter St. Georg vorüber reit’t, das verbiete ich dir bei dem lebendigen Gott, dazu helf’ mir Gott †††“; oder: „Man nehme einen Zettel und schreibe, und lege ihn über die Thür des Stalles, wo er aus- und eingeht: Trottenkopf, ich verbiete dir mein Haus und Hof, daß du nicht über mich tröstet, oder trägst in ein ander Haus, bis daß du alle Berge steigest und alle Zaunstecken zählest und über alle Wasser steigest, so kommt denn der liebe Tag wieder in mein Haus! †††“.

Dieser und viel anderer Blödsinn – gedruckt 1873 in Baiern, kaum zehn Wegstunden von der Residenzstadt entfernt – arbeitet in den Hütten des Landvolkes und in den Bauern- und Bürgershäusern an der Volksbildung, zu deren Förderung neuerdings für nöthig befunden wurde, den früheren Klöstern ungefähr hundertneunzig weitere hinzuzufügen. Das heißt denn doch den gesunden Sinn im Volke mit Kolben todtschlagen und den frechen Uebermuth der Pfaffen nähren. So ist es begreiflich, daß ein frommer Pater, als ein Bauer sich bei ihm beklagte, daß trotz seiner Beschwörungsformeln ihm vieles Vieh gestorben sei, antworten konnte: „Es hat doch genützt; sonst wäre ihm alles Vieh krepirt.“ Der Bauer glaubte es und ging beruhigt heim.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Siehe Gartenlaube von 1873, Nr. 23, „Der Garten auf dem Hause“, sowie von 1865, Nr. 22, „Der Lustgarten im Hofe“.
  2. Siehe Nr. 6 und 7 dieses Jahrgangs.
  3. Wer kein Geld in der Tasche hat, kann vor dem Räuber singen.
  4. Didicisse fideliter artes emollit mores.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Fitus
  2. Vorlage: erschallt