Die Gartenlaube (1875)/Heft 39

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[645]
Helene.
Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
(Fortsetzung.)


Den 27. October

Alle diese letzten Tage waren für mich schwer zu ertragen, aber der gestrige doch am schwersten, weil ich mich gern still zurückgezogen und nichts mehr von dieser wunderlichen Welt, in der ich lebe, gehört oder gesehen hätte. Wie Vieles mußte ich statt dessen erfahren!

Gleich nach dem Diner kam Hirschfeldt, um die bewußte Symphonie mit mir zu üben. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen, machte aber doch meine Sache schlecht. Man ließ uns keinen Augenblick allein. Madame geruhte in höchst eigener Person in den Musiksaal zu kommen und sich von dem Capellmeister ihre Lieblingsmelodien vortragen zu lassen. Als er selbst ihren capriciösesten Anforderungen mit spielender Leichtigkeit und sichtbarem Vergnügen genügte, als die perlenden Töne so sicher unter den Fingern ihres Beherrschers hervorquollen, während seine Augen lebhaft strahlten – da fühlte ich mich klein neben ihm. Ein widerwärtiges, mir sonst fremdes Gefühl bemächtigte sich meiner und verkümmerte mir den Genuß an der Musik. Es mißfiel mir entschieden, wenn ich sah, wie Madame Branikow sich wohlgefällig Herrn Hirschfeldt’s Aufmerksamkeiten gefallen ließ, und doch hatte ich kein Recht, sie ihr zu mißgönnen. Was bin ich ihm und wie durfte ich mir anmaßen, über sein Benehmen irgend welchen Aerger zu empfinden?

Als er sich verabschiedete, fand er nur einen Augenblick Zeit, um mir zuzuflüstern: „Von Allem, was ich Ihnen heute sagen wollte, habe ich kein Wort anbringen können; aber ich tröste mich, denn Sie wissen schon genug, und hoffentlich sehe ich Sie schon in den nächsten Tagen wieder.“

Er ging, und Olga, die soeben im Saale erschienen war, sandte ihm einen langen Blick nach, über dessen Bedeutung ich bis jetzt nicht recht zur Klarheit gelangt bin. Mangel an Interesse lag jedenfalls nicht darin. Für den Rest dieses unglücklichen Abends schien die Gouvernante sich den jungen Musiker zum Gegenstande der Unterhaltung auserlesen zu haben. Es ist ihr nunmehr gelungen, glücklich herauszubringen, daß er und der von den Adrianoff’s verbannte Lehrer eine und dieselbe Persönlichkeit sind, und sie trug alle darüber umlaufenden Klatschgeschichten nebst vielen anderen mit ihrer ganzen Beredsamkeit beim Thee vor. Es waren noch mehrere Damen anwesend, und ich mußte Zeuge sein, wie darüber debattirt und gestritten wurde, ob an der Geschichte von Wéra und Hirschfeldt etwas Wahres sei oder nicht.

Madame, die bequem an ihrem gewohnten Platz auf der Chaiselongue ruhte und sich damit beschäftigte, aus einem neben ihr stehenden silbernen Körbchen ein Stück Biscuit nach dem andern hervorzunehmen und zu verzehren, erklärte endlich mit Gemüthsruhe, daß sie den Musiker charmant finde, daß er spiele wie ein Gott, und daß er, nach ihrem Dafürhalten, zuviel Verstand besitze, um sich auf eine Tollheit einzulassen, die ihm nothwendigerweise eines Tages den Hals brechen müsse.

Dem,“ sagte unser Gebieter und strich seinen Schnurrbart, „ist jede Tollheit zuzutrauen, und wenn ich Constantin Feodorowitsch wäre, würde ich meine schöne Schwester sorgfältiger hüten und dem Abenteurer, der sie in’s Gerede gebracht hat, lieber eine Kugel vor den Kopf schießen, als daß ich ihm erlaubte, überhaupt noch ein Wort an sie zu richten.“

Zenaïde Petrowna lachte, daß man alle ihre weißen Zähne sah. Sie meinte, es würde eine schwere Aufgabe sein, Wéra zu hüten, wenn es dieser eben nicht gefiele, sich bewachen zu lassen; übrigens finde sie die Geschichte äußerst amüsant.

Ich stand im Geheimen alle Qualen der armen Seelen im Fegefeuer aus und durfte mir doch keine Blöße geben; ich hielt mit furchtbarer Anstrengung das gleichgültigste Lächeln auf meinen Mienen fest, ertrug das Kreuzfeuer von Olga Nikolajewna’s spähenden Blicken, ohne mit den Wimpern zu zucken, und dankte Gott aus tiefstem Herzen, als der Abend sein Ende erreicht hatte.

Mit welchen gemischten Gefühlen ich unter diesen Verhältnissen dem Donnerstag entgegen sehe, ist leicht begreiflich.


Den 30. October.

Unser Musikabend hat gestern stattgefunden. Er war zahlreicher besucht als der vorige, und Madame schwelgte in Wohlbehagen, denn Jedermann sagte ihr Verbindliches über die Anordnung dieser hübschen Soiréen. Ihre Chaiselongue war stets umringt, und sie sah sich angenehm unterhalten, ohne daß es der geringsten Anstrengung ihrerseits bedurft hätte.

Der Capellmeister kam diesmal früh. Im Bewußtsein alles Dessen, was in meiner Gegenwart über ihn geredet war, klopfte mir das Herz in heftiger Unruhe, als ich ihn erblickte. Er sah düster aus – „préoccupé“ würde Zenaïde Petrowna gesagt haben, wenn sie ihn genauer betrachtet hätte. Ich verstand den unruhig suchenden Blick, den er über die Versammlung gleiten ließ, denn von den Adrianoff’s war noch Niemand da. Er und ich, wir sollten gleich zum Anfang unsere Symphonie vierhändig spielen, und vor Beginn derselben [646] richtete er eine hastige Frage in Betreff der Fehlenden an mich. Ich konnte ihm nur mit Achselzucken die leise Erwiderung geben, daß wir sie bestimmt erwarteten. In der That wurden wir noch vor Beendigung unseres Vortrages dadurch gestört, daß Fräulein Adrianoff am Arme ihres Bruders eintrat. Die Generalin war nicht mit erschienen, und Wéra erklärte sogleich, daß sie nur eine Stunde bleiben könne – dringender Abhaltung wegen, sie habe aber doch, um nicht ganz wortbrüchig dazustehen, wenigstens für die kurze Zeit kommen wollen. Sie war liebreizend wie immer, und ihre Schönheit ist eine derartige, daß man jedesmal zu glauben versucht ist, man habe sie noch nie so bezaubernd gesehen. Sie blieb für einige Zeit so umringt, daß es mir nicht gelingen wollte, mich ihr zu nähern, als sie indeß meiner ansichtig wurde, kam sie zu mir, nahm meinen Arm und begann mit mir auf- und abzugehen.

„Wie kommt es nur, daß Sie nicht bleiben können?“ fragte ich sie.

Ein Schatten glitt über die feinen Züge meiner Begleiterin. „Ich kann nicht; o, fragen Sie mich nicht!“ lautete ihre Antwort. „Und doch, Sie wissen schon so Vieles, daß ich Ihnen auch dieses noch mittheilen muß. Sie haben sicher erfahren, wie geschäftig die Verleumdung sich meiner bemächtigt hat. Gestern war nun eine Dame bei uns, die mich warnte, am Donnerstage zu Branikow’s zu gehen, denn man sage in der ganzen Stadt, meine Eltern hätten Herrn Hirschfeldt das Haus verboten, und weil er nicht zu uns kommen dürfe, hätten wir uns bei Madame Branikow Rendezvous gegeben. Ich bin trotzdem gekommen, damit die Dame nicht glaube, sie habe mich eingeschüchtert, aber Sie begreifen, daß ich nicht bleiben kann.“

„Das ist in der That traurig. Auf die Weise werden Sie uns niemals besuchen können,“ sagte ich, wirklich erschrocken.

Wéra lächelte matt. „Seien Sie ruhig!“ erwiderte sie. „Ich werde wiederkommen, ich werde Mittel und Wege finden es für ein anderes Mal möglich zu machen, aber bitte, Fräulein Helene, helfen Sie mir heute! Ich muß mit Alexis einige Worte sprechen, verschaffen Sie mir die Möglichkeit dazu! Sie können nicht die entfernteste Ahnung davon haben, wie unglücklich ich bin.“

Ihre zierliche kleine Hand schloß sich dabei krampfhaft und leise bebend um die meinige. Ich sagte mir selber, daß ich vielleicht die unverantwortlichste Thorheit, ja sogar ein Unrecht begehe, indem ich ein Verhältniß begünstige, welchem zum wirklichen Wohle der Nächstbetheiligten besser so bald als möglich für immer ein Ende zu wünschen sei; da aber das junge Mädchen mich ansah mit einer so verzweifelten Bitte in der Tiefe ihrer großen seelenvollen Augen, hieß ich meine Bedenken schweigen. Armes Kind! Die Qual im eigenen Herzen ließ mich zu deutlich ermessen, was sie leiden mußte, und das meinige ist doch bereits in harter Lebensschule gestählt, in Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung geübt. Doch sie? Was soll aus ihr werden? Als ich suchend meinen Blick umhersandte, entdeckte ich den Capellmeister, welcher neben der Thür, die vom Musiksaale in den Salon führt, an einem Pfeiler lehnend, auf Olga Nikolajewna hörte, die vor ihm stand und in ihrer quecksilberigen Lebendigkeit auf ihn einredete.

„Halten Sie sich in der Nähe des Flügels!“ sagte ich leise meiner Begleiterin und entfernte mich dann mit einer ceremoniösen Verbeugung von ihr, um nach einer Weile mich Hirschfeldt zu nähern. Ich ersuchte ihn, über die demnächst vorzutragenden Musikstücke Verabredung mit mir zu treffen und er begleitete mich sofort an den Flügel, wo wir in den Notenheften blätterten und wo nach kurzer Zeit auch Wéra sich einfand, um ihre Aufgabe für ein nächstes Mal zu erbitten. Ich überließ die Beiden alsbald sich selber. Sie begannen eine Unterhaltung in deutscher Sprache, von der ich mich bemühte nichts zu verstehen, aber ich sah mit Bewunderung, wie völlig ruhig und unbefangen Hirschfeldt äußerlich blieb und sprach, während doch das Heft in seiner Hand merklich bebte. Wéra, die bei Weitem nicht seine Selbstbeherrschung kennt, erregte mir Unruhe. Ihre Blicke erglänzten mit jeder Minute fieberhafter; ihre Worte nahmen dringendere, betheuernde Accente an; ich hielt es für durchaus gerathen, mich endlich mit einer gleichgültigen Phrase in das Gespräch zu mischen und die junge Dame begriff meine Absicht, demselben ein Ende zu machen auch sofort. Sie fuhr sich mit ihrem duftigen Spitzentuche über die heißen Wangen, preßte es eine Secunde lang auf ihre feuchten Augen und sah mich mit einem Lächeln an, das mir wehe that, da ich verstand, welche furchtbare Anstrengung es sie kostete.

„Dank Ihnen!“ flüsterte sie mir unter einem warmen Händedrucke zu, und in der folgenden Minute bereits durchschritt sie in ihrer unnachahmlich graziösen Weise den Saal, um sich bei Madame Branikow zu verabschieden. Nach allen Seiten grüßend und von ihrem Bruder geführt verließ sie die Gesellschaft. Als ich den letzten Schimmer ihrer feenhaften Gestalt verschwinden sah, dämmerte eine Ahnung in mir auf, klar und immer klarer, daß es ein glänzendes Elend giebt, schlimmer als jedes andere, welches uns doch wenigstens die Freiheit des eigenen Willens im Kampfe mit diesem feindlichen Leben läßt.

Zwei junge Damen sollten jetzt mit Violinbegleitung ein Duett singen. Ich glaubte mich in dem Augenblicke von Niemandem beobachtet und zog mich, gedrückt in meinem Herzen und traurig zum Sterben, in einen Winkel hinter zwei riesige Blumentische zurück, um meinen Gedanken nachzuhängen. Kaum hatte ich jedoch meinen Platz eingenommen, so stand, wie aus der Erde gewachsen, Hirschfeldt vor mir. Er sah nicht oder wollte nicht sehen, daß ich erschreckt zusammenfuhr.

„Sie haben soeben ein gutes Werk gethan,“ sagte er, und jede Fiber meines Herzens zuckte bei dem sympathischen Klange dieser männlich kräftigen und doch in dem Augenblicke weich gedämpften Stimme.

Meine Finger preßten sich mechanisch ineinander, und es gelang mir, ihm in kühl reservirtem Tone zu antworten. „Das ist noch nicht gewiß. Ich selbst bin mit mir durchaus nicht darüber im Klaren.“

Er machte eine Bewegung, und aus seinen Augen glänzte fragendes Erstaunen.

„Aufrichtig gesagt,“ fuhr ich unbeirrt fort, „kenne ich Sie noch nicht genug. Ich suche erst zu enträthseln, ob man sich auf Sie verlassen kann.“

„Auf mich?! Fragen Sie Fräulein Wéra, die wird es Ihnen sagen.“

„Fräulein Adrianoff wird mir nichts Schlimmes von Ihnen sagen,“ entgegnete ich, „aber wissen Sie, daß man übrigens sehr viel Böses von Ihnen spricht?“

„Von mir? Glauben Sie es nicht!“

Ich spielte mechanisch mit meinem Fächer, dann erhob ich meinen Blick zu dem jungen Musiker und sagte mit ruhiger Festigkeit: „Wenn ich Alles glaubte, was man über Sie redet, so spräche ich jetzt nicht mit Ihnen und würde es noch viel weniger Ihnen wiedererzählen. Es sind aber so viele Geschichten von Ihnen im Umlaufe, daß, wenn nur die Hälfte davon auf Wahrheit beruhte, Sie ein gefährlicher Mensch sein müßten.“

Seine Stirn zog sich zusammen. „Sie werden mir Alles wiedererzählen,“ stieß er hastig hervor.

„Das werde ich nicht thun.“

„Doch, als gute Collegin müssen Sie es thun. Sie müssen mir beistehen, Fräulein Helene, denn Sie wissen nicht, von wie viel Feinden ich umringt bin.“

„Das weiß ich, ohne daß Sie es nur sagen,“ antwortete ich, immer bemüht, jedes meiner Worte, jede Miene so zu beherrschen, daß sie keine Spur von der Spannung ahnen ließen, die mein Herz während dieser wunderlichen Unterredung rascher und immer rascher klopfen ließ.

Der Capellmeister hatte sich gleich zu Anfang auf einen Sessel mir gegenüber niedergelassen. Er rückte mir jetzt um ein Weniges näher, und in seiner Stimme zitterte ein seltsamer Ton innerer Erregung, als er wieder begann: „Handeln Sie als Freundin an mir! Wir sind Collegen und müssen zusammenhalten. Sie können mir große Dienste leisten, wenn Sie mir mittheilen, inwiefern man Nachtheiliges über mich spricht, und mich so meine Feinde kennen lehren, damit ich immer vorbereitet bin. Sie sagen, Fräulein Helene, Sie kennen mich noch nicht genug, ich will Ihnen sagen, wie ich bin. Ich bin ein Mensch,“ fuhr er fort, und seine Stimme ward leidenschaftlicher erregt, „dem es unmöglich ist, in der breit getretenen Bahn des Gewöhnlichen fein still und bescheiden die vorgeschriebene Straße zu ziehen. Es ist ein unbestimmtes, unerklärbares Etwas in mir, das mich vorwärts treibt und stößt, [647] das mich zwingt, nach einem höheren Ziele zu streben, als um das Brod für’s tägliche Leben mühsam zu ringen. Und sehen Sie, ich fühle die Kraft in mir, Ruhm, Stellung und Ehre im Leben zu gewinnen, und darum eben hassen mich diese stolzen Edelleute, die es mir nicht verzeihen können, daß ich mir bis in ihren Kreis Bahn gebrochen habe, die es mir nie verzeihen werden, daß ich – bürgerlicher und jüdischer Abkunft – ihnen doch an Verstand und Wissen überlegen bin, ja, die mich hassen“ – ein seltsamer Ausdruck glitt hier über seine ausdrucksvollen Züge – „des fabelhaften Glückes wegen, welches ich stets bei den Damen gemacht habe. Sehen Sie mich nicht strafend und mißbilligend an, Fräulein Helene, ja – wenden Sie sich nicht von mir. Indem ich es unternahm, mich selbst Ihnen zu schildern, bin ich Ihnen auch in allen Punkten Wahrheit schuldig, und es ist wahr, wo ich mich noch ernstlich darum bemühte, hat kein Frauenherz mir widerstehen können.“

„Aber das ist abscheulich,“ rief ich, meiner Empörung Worte gebend. „Sie rühmen sich noch des frevelhaften Spieles, das Sie zur Kurzweil oder aus Eigennutz getrieben haben.“

„Mich rühmen? Nein,“ sagte er. „Ich führe nur die einfache Thatsache an. Würde ich mich besser bei Ihnen empfehlen, wenn ich die Wahrheit zu vertuschen oder zu beschönigen suchte?“

Als läge in seinem Blicke eine magnetische Gewalt, die den meinen unwiderstehlich und wider Willen zu sich hin zu zwingen verstand, mußte ich das Auge zu dem Antlitze mir gegenüber aufschlagen, und als ich in diese geistig belebten Züge blickte, da ward ich mir bewußt, daß – obwohl meine eben geäußerte Empörung wahrlich nicht erheuchelt war – daß ich ihn liebte wie noch nie, ohne Rettung, ohne Hoffnung, mich je von diesem mich vor mir selber so tief demüthigenden Gefühle befreien zu können. Aber ich biß die Zähne zusammen und legte mir in der einen Secunde tief in meinem Herzen das Gelübde ab, daß er nie, niemals auch nur ahnen solle, wie auch ich zu der langen Liste Derer gehöre, bei denen er „fabelhaftes Glück“ gemacht. Ich zwang meine Stimme zur Festigkeit und bemerkte, ohne auf seine Frage etwas zu erwidern, nur abwehrend: „Wie Sie selber mir jetzt bestätigen, sind alle schlimmen Gerüchte über Sie also doch nicht erdichtet.“

Er zuckte mit den Achseln. „Was wollen Sie? Ich stehe einer Gesellschaft gegenüber, die mich vielfach als Feind behandelt, und im Kampfe gehören, wie Sie wissen, die Kriegslisten nicht zu den verbotenen Dingen. Glauben Sie mir, zarte Hände öffnen auch die unzugänglichsten Pforten im Wege der Güte weit leichter, als rauhe Gewalt. Ueberdies traue ich Ihnen hinreichend Geist zu, Fräulein Helene, um auch in diesem Punkte beurtheilen zu können, wo die Grenze des Erlaubten gezogen ist. Werden Sie mir ein Verbrechen daraus machen, wenn ich diesen jungen Damen, die durchaus nichts Besseres verlangen, als sich von mir den Hof machen zu lassen, den Gefallen thue?“

Ich wollte ihm erwidern, daß diese Art bequemer Moral, die er sich selber geschaffen, meine Billigung entschieden nicht habe und nie erhalten werde, aber er schnitt mir das Wort ab, indem er schnell hinzufügte: „Mit Ihnen freilich ist das etwas Anderes, Fräulein Helene. Ihnen den Hof zu machen, würde ich niemals wagen. Ich biete Ihnen statt dessen meine Freundschaft an und füge nur das Eine hinzu: weisen Sie dieselbe nicht zurück! Denken Sie, wir kennten uns bereits fünfzehn Jahre! Sie können sich auf mich verlassen. Für Diejenigen, die gut mit mir sind, bin ich der treueste Freund, aber für die Falschen –!“ Er ballte die Hand; seine Augen funkelten, und ich war mir nur zu deutlich bewußt, daß kühle Gleichgültigkeit diesem wandernden Vulcane gegenüber eine Unmöglichkeit sei. Ich that also, wozu die innere Nothwendigkeit mich zwang, indem ich meine Hand in seine dargebotene Rechte legte.

„Jetzt sollen Sie auch erfahren,“ nahm Hirschfeldt nach einer kurzen Pause den Faden der Unterhaltung wieder auf, „was Fräulein Wéra mir heute mitzutheilen hatte. Meine schlimmsten Befürchtungen scheinen leider der Verwirklichung nahe. Stellen Sie sich vor, daß ihre Eltern sie verheirathen wollen!“

Er war bei diesen Worten leichenblaß geworden, und seine Züge nahmen einen solchen Ausdruck finsterer Erbitterung an, wie ich sie noch nicht bei ihm kennen gelernt hatte. Ich versuchte, ihm ein Wort der Theilnahme zu sagen, aber er hörte kaum darauf. „So sind diese Menschen!“ sagte er. „Ob ihre Tochter glücklich wird, oder ob sie ihr das Herz brechen, das sind ihnen Fragen von untergeordneter Bedeutung, die sie nicht einmal in Erwägung ziehen. Daß sie eine sogenannte standesgemäße Heirath macht, das ist das Ziel, nach dessen Erreichung sie vor allen Dingen jetzt streben, da sie Verdacht geschöpft haben, Wéra könne kühn genug sein, über ihr Herz und ihre Person selbst verfügen zu wollen.“

Ein unendliches Bedauern erfaßte mich, da ich nur zu gut erkannte, wie die stolze Natur des jungen Künstlers sich aufbäumen mußte, und wie er kämpfte gegen den Schmerz, der ihn doch fast zu überwältigen drohte.

„Ich sage Ihnen,“ knirschte er, „in dem Augenblicke, da Wéra mir mittheilte, daß die Gefahr drohend und nahe sei, daß man sie auf die bevorstehende Ankunft des ihr bestimmten Gatten schon vorbereitet habe, glaubte ich, ich solle niederstürzen.“

„Aber was werden Sie thun?“ fragte ich ihn.

Er sah mich mit seinen blitzenden Augen fast staunend an und erwiderte ohne Bedenken: „Kämpfen bis auf’s Aeußerste. Ich habe Wera beschworen, fest zu bleiben. Vielleicht, daß die Gefahr noch einmal abzuwenden ist und – Zeit gewonnen, Alles gewonnen. Im schlimmsten Falle,“ er war vorhin schon aufgesprungen, und jetzt beugte er, nahe zu mir herantretend, das Haupt tief herab und sagte gedämpften Tones: „Im schlimmsten Falle bleibt uns die Flucht.“

Ich fuhr zusammen und hob erschrocken meinen Blick zu ihm empor. Auf seinem Antlitz lag in diesem Augenblicke eine eiserne Entschlossenheit ausgeprägt.

„Wéra, das verwöhnte Kind des Reichthums, würden Sie wagen, es in eine unbestimmte Zukunft mit hineinzureißen?“

Mein neuer Freund hatte sich wieder aufgerichtet, und während seine Blicke fast durchbohrend den meinigen begegneten, fragte er: „Glauben Sie nicht, daß die volle, ungetheilte Liebe des Mannes eine Frau für Alles, was sie anderweitig aufgiebt, entschädigen kann?“

Ich blickte nieder. Ich empfand zu deutlich bei dieser Frage, wie man im Stande sein müsse, für seine Liebe all jene äußeren Dinge zu opfern, und doch – Wéra, jene zarte Blume, die von der rauhen Prosa des Lebens nicht einmal eine Ahnung hat, und dann –? „Ja, für eine ganze ungetheilte Liebe,“ antwortete ich zweifelnd.

Eine dunkle Röthe überflog plötzlich seine Stirn.

„Sie werden doch hier nicht an jene flüchtigen Tändeleien denken,“ sagte er, „die ich mir mitunter gestattet habe, – Wéra liebe ich.“

Ich gab ihm den stolzen Blick, mit welchem er diese Worte begleitete, ebenso stolz zurück und entgegnete mit Entschiedenheit: „Von dem Manne, dem ich eines Tages mein Herz schenken könnte, würde ich auch nicht die geringfügigste jener Tändeleien dulden.“

Er erwiderte nichts, aber er sah mich lange mit einem Ausdruck in den Augen an, den ich nicht zu deuten wußte. „Ja,“ sprach er dann endlich nachdenklich und langsam, „mit Ihnen ist es etwas Anderes, Sie sind nun einmal gar nicht zu vergleichen mit den übrigen jungen Damen hier, Sie – nun, Sie sind eben ein deutsches Mädchen.“

Ich begriff nicht, ob Herr Hirschfeldt mit dieser Heraushebung meiner Nationalität ein Lob oder einen Tadel aussprechen wollte, und verspürte auch keine Lust, mir solches näher von ihm erklären zu lassen, ich ersuchte ihn vielmehr dringend, sich wieder unter die Gesellschaft zu mischen, und er that es, nachdem er mir noch angekündigt hatte, daß seine Mutter und Schwester in der nächsten Woche wieder abzureisen gedächten und mich noch dringend um einen Besuch am Sonntag bitten ließen. Ich sagte ihm, daß ich, wenn möglich, kommen würde, und begab mich alsdann an den Flügel, um mit Aufbietung aller meiner Kraft noch ein langes und schweres Trio zu spielen.


Den 4. November.

Vorgestern blieb mir nur sehr kurze Zeit, zu Hirschfeldt’s zu gehen und zwar früh, da ich später mit unserer Gebieterin [648] ausfahren sollte. Als ich ankam, waren in Folge dessen die Damen noch bei der Toilette, und der Capellmeister empfing mich mit der Bitte, mich nur kurze Zeit zu gedulden. Wir blieben also für einen Moment allein, und er benutzte ihn sofort, um aus seiner Brieftasche ein zierliches Billet herauszunehmen und es mir zu reichen.

„Lesen Sie, ich bitte,“ rief er beinahe ungeduldig, als ich zögerte, den duftigen Liebesboten zu berühren, denn ich hatte in der Adresse Fräulein Adrianoff’s Handschrift erkannt, von der ich oftmals kleine Briefe empfange. Ich that, wie er geboten, und zwang meine Hand, nicht zu zittern, indem sie das feine Blättchen auseinanderschlug, welches den rückhaltlosesten Erguß schwärmerischer Leidenschaft enthielt und zugleich die Nachricht, daß die Ankunft ihres „Zukünftigen“ sich glücklicher Weise noch um ein Weniges verzögern werde, so daß sie für den Augenblick wieder aufzuathmen wage.

„Freuen Sie sich!“ sagte ich und gab den Brief zurück.

Er zuckte die Achseln. „Es ist eine Henkersfrist,“ erwiderte er finster. „Aber noch Eins, Fräulein Helene,“ – er war plötzlich nahe zu mir herangetreten – „in einer Minute wird meine Schwester hier sein. Sprechen Sie in ihrer Gegenwart nicht von diesen Dingen!“

Ich sah ihn voll Erstaunen an. „Nicht in Gegenwart Ihrer Schwester? Und warum nicht?“

Er zögerte. „Nun, wissen Sie, es ist des Geheimnisses wegen, das bewahrt werden muß, und meine Schwester ist – ist ein Frauenzimmer.“

„Und ich?!“

„Sie! Nun, ich sagte Ihnen schon, – Sie sind eine Künstlerin.“

Er durchmaß mehrmals das Zimmer mit hastigen Schritten, und dann plötzlich trat er wieder dicht vor mich hin und ließ seine Blicke auf mir ruhen, als wolle er im Grunde meiner Seele lesen. „Wunderbar,“ begann er von Neuem, „unfaßlich bleibt es trotz Allem. Erklären Sie mir nur das Eine: wie es doch kommt, daß ich zu Ihnen, ohne Sie weiter gekannt zu haben, so unbedingtes Vertrauen fassen mußte. Ich glaube, es rührt von der sicheren, harmonischen Ruhe in Ihrem Wesen her. Man sieht Sie an und fühlt sich überzeugt, daß alles Unedle, Unüberlegte oder auch Unpassende Ihnen gänzlich fern liegt, Sie –“

Zum Glück machte die Ankunft der Damen in eben dem Augenblicke allen Erörterungen ein Ende, denn – läßt er sie gleich nicht gelten, so war ich mir doch meiner Frauennatur klar genug bewußt, um nicht zu fürchten, daß sie sich nächstens in mir empören werde, wenn der Mann, dem sich nun einmal mein Herz zugewendet hat, noch länger fortführe, mein Ich gleich einer Sache zu zergliedern, die ihm einigermaßen nützlich und darum interessant erschien.

Ich verabschiedete mich nach kurzem Beisammensein mit Freundlichkeit von den Damen und legte während des Nachhausegehens still im Innern das Gelübde ab, mich von dem Herrn Sohn und Bruder in Zukunft auch möglichst fernzuhalten.


Den 25. November.

Es ist wohl recht nachlässig, aber es ist nun einmal so – volle drei Wochen sind vergangen, seitdem ich zuletzt an diesen Blättern schrieb, und so schnell sind sie dahin, daß ich nicht begreife, wo die Zeit geblieben ist. Volle drei Wochen! Und wenn ich an Alles denke, was in der Zeit sich begeben hat, so fühle ich die Unmöglichkeit, ausführlich das Versäumte nachzuholen, und nur um nicht den Faden zu verlieren, will ich das Wichtigste anführen.

Alle zehn Fingerspitzen thun mir weh, so daß ich kaum die Feder halten kann, und zwar von nichts als vom Fortepianospielen. Selbst nicht in den Zeiten meiner anstrengendsten Studien habe ich so mit Eifer gespielt; aber dafür ist uns auch der Triumph geworden, daß unsere musikalischen Abendunterhaltungen glänzenden Aufschwung genommen haben. Man spricht überall in der Stadt davon; es sind förmliche Concerte daraus geworden, und die ganze Gesellschaft plätschert in Musik. Während der vorigen Woche war Hirschfeldt fünf Tage nacheinander hier, immer um zu üben, und am Mittwoch halten wir ordentliche kleine Proben. Madame Branikow, deren Launen weit erträglicher geworden sind, seit sie sich nicht mehr wie im Sommer langweilt „zum Sterben“, hat ein zweites Instrument angeschafft, damit wir zu acht Händen spielen können. Am letzten Donnerstag haben der Capellmeister und ich den Alexander-Marsch auf beiden Instrumenten vorgetragen und, wie ich der Wahrheit gemäß wohl eingestehen darf, Furore damit gemacht.

Wenn ich nur diese thörichte Angst und das Herzklopfen überwinden könnte, mit dem ich immer zu kämpfen habe, wenn der Musikabend herankommt! Sowie ich im Augenblicke des Beginnens vor dem Instrumente sitze, geht Alles gut, zuvor aber quält mich das Mißtrauen in mich selbst, und eine unüberwindliche Unruhe beherrscht mich. Dazu ist schon von verschiedenen Seiten eine Andeutung gefallen, daß durch unsere kleinen Concerte allmählich ein großes für die Armen sich vorbereiten könne, und wenn ich daran denke, wird mir ganz bange um’s Herz.

Fräulein Adrianoff kommt wieder zu unseren Soiréen. Sie hielt sich einige Male zurück, aber Madame vermißte sie beim Spiele und fast mehr noch, weil sie den Verkehr mit der Familie, einer der vornehmsten in Woronesch nach derjenigen des Gouverneurs, nicht wieder entbehren möchte. Sie fuhr also eines Tags zu den Adrianoff’s, wobei ich sie begleiten mußte, lud Wéra auf’s Neue zu den Musikaufführungen ein und sagte den Eltern so viele schöne Dinge mit all’ der Liebenswürdigkeit, die ihr nach Gefallen zu Gebote steht, daß sie alsbald ihren Zweck erreichte.

(Fortsetzung folgt.)


Auf lichter Höhe.
Von Jean Nötzli.

Denn wie drunten in rosiger Ferne
Sonne den Abendhimmel bestrahlt.
Also auch schau’ ich dich
In deiner Zukunft Rosenschein.

Der Dichter dieser Verse, Gottfried Kinkel, wohnt gerade an dem Orte, auf den wir sie am liebsten anwendeten, nachdem Deutschland, auf welches er sie bezog, längst diesen Rosenschein mit dem Tage der Macht und der achtunggebietenden Größe in allen Gebieten vertauscht hat. „Wie herrlich!“ rief der berühmte Mann, als er aus seinem Zimmer hinaustrat auf den Balcon und mit einem Schlage das wundervolle Panorama im lichten Abendglanze vor ihm lag. Ein solches Bild bezaubernder Lieblichkeit und Schönheit, eines weihevollen Friedens, bietet nur eine Stadt, und die ist – Zürich. Wohl hat das „Land der Sehnsucht“, wie Herwegh die Schweiz nennt, überwältigendere, großartigere Naturschönheiten aufzuweisen, aber keine mehr von jenem poetischen Glanze, wie dieses.

Und wenn man da mitten drinn steht, und der trunkene Blick über all die Anmuth der Landschaft streift, da tritt der Wunsch von der „Zukunft Rosenschein“ unwillkürlich vor die Seele. Wohl ist Zürich eine glückliche Stadt. Gebettet in einen göttlichen Fleck Erde, schafft der rührige, ameisenartige Fleiß seiner Bürger in Handel und Gewerbe beneidenswerthen Wohlstand, und den Namen von „Limmatathen“ hat es sich auch mit großen Opfern erkämpft. Wie in wenigen Städten des In- und Auslandes, legt ein Kranz von Schulen und hohen Lehranstalten Zeugniß ab von regem, selbstbewußtem Geiste, und eine ganze Reihe trefflich ausgerüsteter wissenschaftlicher Anstalten sammelt einen Kreis von Gelehrten, unter denen manch stolzer Name glänzte und glänzt und den Namen Zürich mit dem seinen berühmt und geachtet macht. Universität und Polytechnikum geben jedes Jahr Schaaren tüchtig gebildeter junger Männer an die Gelehrtenwelt oder den Beruf in’s praktische Leben ab, und die Volks- und Fortbildungsschulen thun das Ihre, die Bildung in alle Schichten der Bevölkerung zu tragen.

Alle diese Verhältnisse nun bringen Zürich eine große Zahl

[649]

Auf dem Uetliberge bei Zürich.
Nach der Natur aufgenommen von Weber in Zürich.

[650] temporär sich aufhaltender Fremder, im Sommer noch bedeutend verstärkt durch die über den Bodensee in die Schweiz eintretenden Reisenden, deren Ziel das Herz des Alpenlandes ist. Allein trotz alledem und trotz der Unmasse der lohnendsten Ausflüge, die sich von hier aus zu Fuß, zu Wagen oder per Schiff und per Eisenbahn machen lassen, war die Stadt bis heute nie eigentlich ein beliebter Aufenthalt der Reisenden, und erst die neueste Zeit fängt an, das dicke Fremdenbuch aufzulegen. Wohl zählt die Stadt eine Anzahl gut renommirter Gasthöfe; aber das war auch Alles; man scheute lange Zeit die Kosten, den Fremden das Leben angenehm zu machen, bis man endlich die ersten Schritte dazu that, denen bald andere folgten. Denn kaum trat der „Verschönerungsverein“ in’s Leben, um die reizenden Umgebungen Zürichs zugänglicher und die schönsten Aussichtspunkte zu angenehmen Ruhepunkten zu machen, so wird dessen Thätigkeit noch weit durch den Plan der großartigen Quais übertroffen, welche die Seeufer der Stadt bis weit über die Gebiete der nächsten Gemeinden hinaus zu einer prachtvollen Anlage umgestalten sollen.

Während diese Unternehmungen noch in der Ausführung begriffen sind, stellen sich als vollendet im Laufe dieses Jahres zwei große Schöpfungen dar, welche unsere Theilnahme um so mehr beanspruchen, als auch sie vollständig Kinder jener Idee sind, Zürich zu einem Lieblingsaufenthalte der Fremden zu machen. Es ist dies die Uetlibergbahn und die Errichtung der Neubauten auf dem Uetliberge selbst.

Der Uetliberg, im Südwesten der Stadt bis zu einer Höhe von zweitausendachthundert Fuß über Meeresspiegel sanft ansteigend, wurde bisher wie ein echtes Familienstück der Züricher betrachtet. Wohl hatte die geschäftige Hand einen guten Fußsteig hinauf geebnet und die Speculation ein kleines Wirthshaus hinaufgebaut. Aber der Besuch dieses geradezu herrlichen Aussichtspunktes blieb ein äußerst unbedeutender und ein außerordentlich geringer von Seite der Fremden. Der nahe Rigi machte seine magnetische Kraft geltend und seinem Modeglanze gegenüber scheute man zurück vor einer zweistündigen Fußtour auf einen Berg, der nicht in Mode war und von dem es nur einfach hieß, er biete eine schöne Rundsicht. Vergeblich mühten Geologen und Alterthumsforscher sich ab, den Urbau und die Urgeschichte dieser Kuppe zu einer wissenschaftlichen Merkwürdigkeit zu erheben, und wen vermochte es dahin zu treiben, die Ueberreste jener Uetliburg zu betrachten, welche die Züricher unter Rudolf von Habsburg eroberten und zerstörten und damit den Gipfel der Verwilderung preisgaben, bis mit dem achtzehnten Jahrhundert eine neue Zeit für ihn begann; wer wollte es riskiren, das gefährliche, halsbrecherische „Leiterchen“ zu erklimmen, eines Blickes wegen auf See und Stadt; wen endlich interessirte es, den romantischen „Kindlistein“ zu besuchen, an dem sich die Sage freundlich emporrankt und der seither für die Stadt Zürich an die Stelle des kinderbringenden Storches trat? Das Alles vermochte den verkannten Berg nicht zu Ehr und Ansehen zu bringen; nur eine mit Actien und Obligationen überkleisterte Straße konnte ein solches Wunder bewirken.

Der Gedanke der Erbauung einer Bahn auf den Uetliberg, oder wie man ihn nennt den Uto, tauchte im Jahre 1872 auf und schritt, nach der Lösung der Frage über das anzuwendende System, außerordentlich rasch seiner praktischen Verwirklichung entgegen. Seit Mai 1875 dampft die Locomotive in regelmäßigen Fahrten die 9,16 Kilometer lange Linie hinauf und hinunter.

Der Bau der Bahn hatte verhältnißmäßig mit wenig Schwierigkeiten zu kämpfen, weder bedurfte es großer Erdbewegungen, noch hinhaltender und theurer Kunstbauten, das einzige Fatale dabei war der große Umweg bis zur Kopfstation des Berges. Vom Sellnau, dem Westend der Stadt, ausgehend, setzt die Linie gleich außerhalb des Bahnhofes über die linkufrige Seebahn und die oft wilde Sihl hinweg, gewinnt dann allmählich ansteigend den Fuß des Berges, setzt, sich westlich hinziehend, ihren Weg durch herrliche Landschaft fort, bis sie endlich, in den Wald tretend, in gewaltigen Bogen den Berg umschlingt und, scharf ansteigend, in kleineren Curven auf der Höhe des Berges anlangt. Die Steigung beträgt bis zu sieben auf hundert Fuß und wird von der gewöhnlichen Locomotive überwunden. Man dankt diese sich bis zur Stunde vortrefflich bewährende Anwendung den eigenthümlichen Terrainverhältnissen. Bis zum Fuße des Berges ist die Steigung so gering, daß sie ganz bequem mit Locomotiven nach dem gewöhnlichen Princip bewältigt werden kann. Die Anwendung eines besondern Bergbahnsystems war also nicht am Platze, weil unnöthig theuer. Zur Ersteigung des eigentlichen steilen Bergabhanges dagegen wären solche Systeme wohl anwendbar gewesen. Für praktisch noch unerprobte Systeme aber konnte man sich nicht entscheiden, und so entschied man sich denn für dreigekuppelte Tendermaschinen mit Luftbremse und mit Backenbremsen für Vorder- und Hinterachse. Die Maschine befindet sich stets auf der Thalseite des Zuges, um Unfälle durch Brüche von Kuppelungen zu vermeiden, und auf diese Art ist die Fahrt vollkommen sicher, denn wenn sie im Stande war, den Zug hinaufzuschieben, so muß sie ihn in Folge dessen auch bei der Thalfahrt erst recht sicher halten können. Für alle Fälle ist übrigens jeder Wagen mit einer kräftigen Schraubenbremse versehen, welche ihn auch auf der stärksten Steigung anzuhalten gestattet.

So schiebt nun die zischende Locomotive die eleganten vierzigplätzigen Waggons den Berg hinauf, ruhig, ohne Stoß und in anhaltend gleicher Geschwindigkeit. Der Reisende hat Zeit genug, die verschiedenen schönen Ausblicke und Waldlandschaften, die sich ihm während der Fahrt bieten, zu genießen. Kein erschreckender Viaduct, keine beängstigende Böschung, kein beklemmender Einschnitt, kein düsterer Tunnel zieht seine Aufmerksamkeit ab, und in wenig mehr als dreißig Minuten steht er oben auf der Kuppe des Berges, inmitten der herrlichsten Rundsicht. Jeder Train kann achtzig bis hundertzwanzig Personen befördern, und wird der Zudrang stärker, so ist Material genug vorhanden, rasch Alles zu befördern. Zwischen der einen Kopfstation bis zur andern giebt es keinen weitern Halt, und das kleine Lustspielchen fliegt wie unter den Händen gewandter Schauspieler nur so vorüber. Man hat der Uetlibergbahn ein kurzes Leben zugesprochen: ein kurzes, rasches Aufleuchten, ein langsames, stetes Zusammensinken, ein trostloses Erlöschen. Dieses Prognostikon steht schon jetzt gänzlich widerlegt da. Der Besuch der Bahn übertraf die kühnsten Erwartungen: zweitausend bis zweitausendfünfhundert Personen wurden an einzelnen Tagen befördert, Einheimische, wie Fremde, die rührige Stadt und die halblebende Saison stellten die anerkennenswerthesten Contingente. Und wo die Aussicht nicht lockte, da that der fabelhaft billige Fahrpreis das Seine; für drei Franken fährt man hin und her und hat dabei zwei Tage gültige Retourbillets.

Genug: das lustige Pfeifen der Locomotive brachte Leben in die Scenerie. Auf der Bergkuppe wimmelt es an schönen Tagen von Besuchern; die trostlose Einsamkeit des Vergessenseins hat der frisch-lebendigen Emsigkeit der Luftkneipanten Platz gemacht. „Selbst von den fernsten Bergespfaden winken uns farbige Kleider an.“ Und daß es so kommen werde und kommen mußte, das sah der weitere Blick voraus und „der kluge Mann baut vor“. Das kleine Schweizerhaus auf dem Gipfel des Berges hat über Winter einen im gleichen Styl ausgeführten Anbau erhalten, hohe, lichte, freundliche und aussichtreiche Säle geben den zuströmenden Schaaren ein Plätzchen der Ruhe und Erquickung. Gelungene, allegorisch-humoristische Malereien in den Füllungen, in den Zwickels etc. bieten dem Auge wohlthuende Abwechslung, und wie draußen die Heerdenglocke läutet, so klingt drinnen nicht minder lustig Gläserklang fideler Gesellschaft.

Aber das Haupt sucht auch das Plätzchen, wo es sich hinlegt. Wenige Minuten oberhalb des Bergbahnhofs steht, inmitten schöner Anlagen das großartige „Hôtel und Pension Fürst“, Eigenthum des Mannes, dessen rastlosem Eifer wir die Bahn und diese ganze neue Welt verdanken. An zweihundert Personen vermag das im elegantesten Schweizerstyl ausgeführte großartige Hôtel bei comfortabelster Einrichtung zu beherbergen. Es giebt kaum ein zweites Berghôtel in der Schweiz, das diesem an geschmackvoller und praktisch schöner Eintheilung gleichkäme; man nahm bei den Zimmern für die Familien, wie bei denjenigen für den Alleinstehenden gleich sorgfältig Bedacht darauf, daß der Besucher die Schönheit der Aussicht genießen will. Wo immer man in ein Zimmer oder auf einen der zahlreichen Balcone tritt, steht vor uns stets die reizendste Fernsicht, sei es hinunter auf See und Stadt und hinaus über den Bodensee bis [651] zu den Höhen des Hegaus oder sei es hinein in die majestätische Alpenwelt, auf deren schimmernden Firnen der goldene Strahl des sinkenden Tagesgestirns liegt. Freundliche Spaziergänge führen uns vom Hôtel aus auf alle Seiten der Berggruppe, hinunter in ein Stück heerdenglockenbelebter Alpenwelt, hinan zu dem romantischen Wildparke und noch weiter auf grüne Matte, wo eben eine Anzahl Sennhütten als Privatwohnsitze entstehen. Oder man setzt sich in den unheimlichen Schatten des Kindlisteins oder in der lauschigen „Stille“ auf das angebrachte Bänklein, wenn es uns nicht behagt, in den splendiden Sälen des Hôtels der Unterhaltung zu pflegen, oder eine Kegelpartie zu machen. Was immer der Curgast sucht, das findet er hier; und treibt es das Wetter schlimm mit ihm, dann nimmt ihn die Bahn auf und führt ihn hinunter in die nahe Stadt, wo er findet, was das Herz begehrt. Morgen und Abend sind die Tageszeiten für die Berggäste, und in der Zwischenzeit wandert der Fuß ruhelos umher von einem Punkte zum anderen. Da die Bahn auch den Winter über ihre regelmäßigen Fahrten ausführt, so wird der Uetliberg eine das ganze Jahr dauernde Saison haben; denn wie schön der Sommer, so schön ist auch der Winter; ein Blick hinunter auf das Nebelmeer, aus dem nur die Berge hervorragen, oder ein Blick in die glitzernde, schimmernde Schneelandschaft, beide stellen sich keck dem Sommer an die Seite. Und wenn die Sonne hinuntersinkt in die Flammenröthe des Abends, wenn allmählich die Nacht hereinbricht mit ihrer wunderbaren Stille und dann die Mondscheibe majestätisch hineintritt in die Sternenwelt und ihr Licht ausgießt über die schweigende Erde – dieses Bild ist so erhebend schön im Winter wie im Sommer.

Und da steht man oben auf der höchsten Höhe des Berges, und der Blick schweift von dem malerischen Vordergrunde hinaus zur Säntiskette, zu den Schwyzer- und Glarneralpen, zu dem Bergfürstenpaare Rigi und Pilatus, hinein in die Berneroberalpen, die den gewaltigen Stock des Finsteraarhorns, die Schreck- und Wetterhörner, den Mönch, den Eiger und die Jungfrau leuchtend an die Wolken schieben, hinaus zu den langgedehnten Zügen des Jura bis hinein in den Schwarzwald und die Höhen des Hegaus. Und darüber weg zieht die Sonne in strahlender Schönheit und das Herz weitet sich auf dieser lichten Höhe, und noch einmal tritt das Wort auf die Lippe:

Also auch schau’ ich dich
In deiner Zukunft Rosenschein!





Ein Besuch in Drake’s Atelier.

Im Berliner Thiergarten, rechts von der breiten Allee, die nach Schloß Bellevue führt, liegt unter schattigen Bäumen das Atelier des berühmten Bildhauers Friedrich Drake. Wer hat nicht gehobenen Herzens vor seinen vielen öffentlichen Werken gestanden, namentlich seinen Portraitbüsten und ganz besonders vor seiner Kolossalstatue Friedrich Wilhelm’s des Dritten mit dem Reliefschmucke des Fußgestells von bezaubernder Composition? Die Berliner Bildhauerschule ist stolz auf diesen Meister. Ein großer, roher Marmorblock neben der Thür weist uns den Eingang zu seinem vielbesuchten Atelier. Es war im Frühlinge 1872, als wir den Künstler dort besuchten. Der Faulbaum blühte; goldene Sonnenlichter spielten im jungen Grüne, Alles war in Duft und Glanz getaucht, frisch und kühl, Vogelsang und Finkenschlag rings umher – die stimmungsvollste Umgebung, die man einer Künstlerwerkstatt wünschen kann.

Drake trat uns in bequemer, rother Flanelljacke, ein faltiges Barett aus braunem Sammet auf silbernem Lockenhaare, entgegen und führte uns zuerst zur Büste unseres großen Physiologen Helmholtz, die die Universität Leyden seinem ebenbürtigen holländischen Collegen, dem berühmten Professor Donders in Utrecht, als Festgabe zu dessen Jubiläum bestimmt hatte. Die Arbeit – wohl eine der vorzüglichsten, die Drake im Portraitfache geleistet hat – war eben im Thonmodell vollendet und gab, bei frappanter Aehnlichkeit und meisterhafter Ausführung, die ganze geistige Größe und Bedeutung des Helmholtz’schen Kopfes wieder, der allerdings selbst ein Muster von Plastik ist. Ich äußerte Drake meine Freude an seiner Arbeit.

„Ja,“ meinte er, „sie ist mir auch schwer genug geworden! Tüchtig habe ich mich dabei plagen müssen und hätte wohl manches Mal zu meinem Doctor Helmholtz sagen können, wie Mephisto zum Faust: ‚Ihr habt mich weidlich schwitzen machen.‘“

Drake macht überhaupt kein Geheimniß daraus, daß er oft mit Anstrengung arbeitet. Seine Frau versicherte mich sogar: einmal zum Mindesten pflege er an jeder seiner Schöpfungen zu verzweifeln; doch wären es unter diesen nicht die schlechtsten, bei denen jene Krisis sich am heftigsten einstelle. Auch sprach er es an jenem Morgen selber aus, wie unverständlich ihm die Sicherheit sei, mit der er viele Künstler ihre Aufgabe ergreifen und ausführen sehe. Zaghaftigkeit der Natur und den Anforderungen gegenüber, die der Gewissenhafte an ihre künstlerische Wiedergabe mache müsse, habe ihn bei seinen Arbeiten noch nie verlassen. Das hindere ihn freilich nicht, unvernünftigen Wünschen, wie Unkenntniß und Unverstand sie oft an die Plastik stellten, entschieden abweisend zu begegnen. „Und da kommt man denn in den Ruf der Anmaßung und Unbeugsamkeit, wo man doch demüthig und bescheiden, eben nur der Kunst selber wegen, nicht anders entscheiden kann,“ fügte er launig klagend hinzu.

Wir standen noch vor dem Helmholtz’schen Modell. „Meine nächste Arbeit,“ sagte Drake, „wird sich in weniger großen Formen bewegen. Eben war Graf Moltke bei mir, mich die Maße zu seiner Büste nehmen zu lassen. Das sind lauter kleine, feine, kniffliche Züge, bis auf die Ohren – die haben mich überrascht! Es ist beinahe unglaublich, ich habe solches Ohrenmaß wirklich noch nie verzeichnet.“ Und dabei durchblätterte er ein großes Buch, das die Maße seiner Portraitköpfe enthielt.

„Es erschien mir beim Niederschreiben so unmöglich,“ fuhr er fort, „daß ich glaubte, mich geirrt zu haben. Aber der Graf, der mein Zögern bemerkte, sagte gleich: ‚nein, es ist richtig so, ich habe merkwürdig große Ohren.‘ Darauf erzählte er mir, wie vor Jahren bei militärischen Uebungen in der Provinz, als er noch eine weniger hervorragende Stellung eingenommen, Jemand dringend gewünscht habe, ihn vor der Front herauszufinden, um ihm eine wichtige Meldung zu machen. Der Suchende sei deshalb vorher zu seiner damals noch lebenden Gemahlin gekommen und habe rathlos gefragt. ‚Aber woran erkenne ich denn Herrn von Moltke?‘

‚Er reitet einen Schimmel,‘ habe die Dame erwidert, ‚und hat die größten Ohren, die Sie sich denken können. Sehen Sie nur nach den Ohren, dann ist kein Irrthum möglich.‘ Und wirklich, das Zeichen trügte nicht. Der Schimmel gab es mehrere im Regimente, aber die Ohren waren einzig. Die Meldung kam an den Rechten.“

Drake erfreute die kleine Geschichte, besonders weil sie unmittelbar an der Quelle geschöpft war. – Er zeigte uns ein Gypsrelief in Medaillonform mit dem Profil des Architekten Klenze. Ein ungewöhnlich häßlicher Kopf. Kleine, nur halb geöffnete blinzelnde Augen, ein faltenumlagerter Mund, wirr aufsteigende Haare. Am Rande war neben dem Datum „sechsundfünfzig Minuten“ verzeichnet.

„Ich habe diese Skizze noch in Rauch’s Atelier gearbeitet,“ erzählte Drake. „Klenze kam zum Besuche, hastig, ruhelos wie immer.

‚Ich möchte Ihren Kopf skizzirt haben,‘ sagte Rauch.

‚Ich habe keine Zeit,‘ versicherte der Eilende, der nur zu einer bestimmten Besprechung gekommen war.

‚Nun, so lange wir eben sprechen,‘ erwiderte Rauch. – Darauf nahm ich, ohne mich zu besinnen, Thon und Meißel, sah nach der Uhr, und in sechsundfünfzig Minuten war dies Portrait entstanden.“ Drake wies auf die natürlich flüchtige, aber keck charaktervolle Behandlung des Haares. „So etwas,“ sagte er, „bringt man oft mit allem Studiren, aller Mühe nicht heraus. Es ist das Geschenk des Augenblicks.“

Auf den Brettern, Staffeln und Consolen, die regellos hier und da in Drake’s Werkstatt angebracht sind, standen [652] Gypsabgüsse aller Art. Dazwischen mehr als eine bekannte Persönlichkeit: Lepsius, Ranke, ein paar schöne Frauenköpfe, ein rundes Kindergesicht. Allerliebst erschien mir eine genreartige Composition: „Friede, Friede!“ hatte Drake sie bezeichnet. Es ist ein kleines, sehr niedliches Kind, das zwanglos im bloßen Hemdchen am Boden sitzt, die eben eingetroffene Friedensdepesche mit ausgestrecktem Aermchen hoch über dem Kopfe schwingend.

Mag sein, daß die strahlende Genugthuung auf diesem Gesichtchen mehr dem Knattern des Papieres, als dem noch unverstandenen guten Inhalt desselben gilt. Immerhin trifft hier ein rein natürliches Moment sehr glücklich mit einer höheren Empfindung zusammen, und nicht unmittelbarer, nicht reizender kann der Jubel über eine endlich gnädige Wendung der Geschicke sich ausdrücken, als auf diesem seligen Kindergesichte. Das Motiv zu der Darstellung meint Drake bei einem Besuche in einer ihm befreundeten Familie erfaßt zu haben; auch will er nur die Natur, wie sie sich im Momente gestaltete, ohne viel eignes Hinzuthun wiedergegeben haben.

Neben diesem bereits in Marmor sehr frisch und zierlich ausgeführten Figürchen stand eine andere Composition ganz verschiedenen Inhaltes. Sie bringt uns die Stelle der römischen Elegie Goethe’s zur Anschauung:

„Oftmals habe ich schon in ihren Armen gedichtet
Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand
Ihr auf dem Rücken gezählt –“

und zeigt uns den Dichter in idealer Gewandung, halb aufgerichtet, auf antikem Ruhebette, an seiner Seite das Mädchen, deren weichgerundete Schulter sein Arm umschlingt. Nichts Schöneres als diesen in aller Wonne des Genusses rein durchgeisteten, jugendlichen Goethe-Kopf. In den blühenden Formen der weiblichen Gestalt aber welche Anmuth und Unschuld, in ihrem hingesunkenen Köpfchen welche Hingabe voll Reinheit!

Edel, zart und poetisch hat die feinste Behandlung hier alles Verletzende des Stoffes entfernt. Dennoch hat Engherzigkeit und Vorurtheil Anstoß an der schönen Arbeit genommen. Drake wußte auch davon eine Geschichte zu erzählen:

„Ich hatte in früheren Jahren schon einmal, flüchtiger und unvollständiger als hier, diesen Stoff behandelt und die Skizze ausgestellt. Sie wurde im Allgemeinen wenig beachtet und war bald wieder vergessen. Später arbeitete ich eine kleine Madonna, die sich einer guten Aufnahme erfreute und so viel Reproduktionen erlebte, daß ich ihr durch ganz Deutschland, bis nach Italien hinein, auf den Brettern begegnete, die die Statuettenhändler damals noch schwankend auf dem Kopfe herum zu tragen pflegten. Ein katholischer Verein beabsichtigte in einer Kirche eine Madonna zu stiften und trug mir an, ob ich mein kleines Modell dazu vergrößern und ausführen wolle. – Der Auftrag wurde fest gegeben, ich ging bereits an die Arbeit. Da hört einer der Herren des Comités meinen Namen, der damals noch wenig bekannt war. ,Drake? Drake?’ besinnt er sich. ‚Welche Arbeit habe ich doch schon einmal von einem Drake gesehen?’ Und richtig, mein Goethe-Relief fällt ihm ein. ,Was?’ heißt es jetzt, ,der Verfertiger so unzüchtiger Darstellungen – eine Madonna für unsere Kirche? Nun und nimmermehr!’ – Ohne Weiteres wurde die Sache rückgängig gemacht, und meine Madonna blieb unausgeführt.“

Drake lachte noch heute über sein damaliges Mißgeschick. Nun wandert das prachtvoll ausgeführte Relief als Geschenk an die Akademie in Antwerpen, die den Künstler zum Ehrenmitglied ernannt hat.

Es hört sich Drake gut zu, wenn er seine kleinen humoristischen Geschichten erzählt, deren er in einer langen Künstlerlaufbahn gar manche erlebt hat. Aber es muß womöglich in seinem Atelier, in seiner eigensten Kunstatmosphäre zu diesen Mittheilungen kommen. Eine andere Umgebung, der glatte Boden der Geselligkeit besonders, erwirbt einem so anspruchslosen Auftreten, wie dem Drake’s, die Geltung nicht, die hier das Talent verdient. Im Salon mag er sich von gespreizter Unbedeutendheit, die sich breit zu machen versteht, leicht verdunkeln lassen. Unter seinen Marmorgestalten, seinen Gypsen und Thonmodellen wird Keiner im Zweifel bleiben, wem er in dieser schlichten, beinahe unscheinbaren Persönlichkeit gegenüber steht. Da sagen seine Werke selber aus, was sein Mund bescheiden verschweigt.

Die Schwester der Malerin Caroline Bardua erzählt in ihren tagebuchartigen Aufzeichnungen aus dem Jahre 1835, Rauch habe gegen sie geäußert: „Ein Talent wie das seines jungen Schülers Drake tauche nur von Jahrhundert zu Jahrhundert in der Kunstwelt auf.“

Was Drake ist, verdankt er einzig und allein sich selbst. Die Verhältnisse haben ihm nicht vorgearbeitet; er war armer Leute Kind. In seiner Wohnung fand ich zwei Bilder einander gegenüber aufgehängt. Das eine, eine flüchtige Zeichnung, stellt die dürftige Hütte dar, in der er geboren worden; das andere das Schloß, in dem seine Gemahlin als Fürstentochter das Licht der Welt erblickt hat. Ueber die breite Kluft, die dazwischen liegt, hat Talent und Charakter ihm die Brücke gebaut; aber welche Höhe er auch erreicht, er ist einfach, schlicht und bescheiden geblieben, und das ist ein Blatt mehr im Kranze seines Ruhmes.

Wir verweilten an jenem Morgen lange in seiner Werkstatt. Mit freundlicher Bereitwilligkeit wies er uns alle Schätze, die sie barg; führte uns auch in den auf der anderen Seite des Hauses liegenden Raum, in dem seine Gehülfen arbeiteten. Hier stand die geistvoll-feine Kolossalfigur des Melanchthon für Wittenberg, die Gruppe der sterbenden Soldaten für Aachen und Stücktheile der Victoria zum Berliner Siegesdenkmal. Er zeigte uns erklärend und erzählend Alles, ohne auf irgend Etwas darunter besondern Werth zu legen. Ja, schließlich nahm er beim Abschiede unsern Besuch fast wie eine Freundlichkeit hin, die wir ihm erwiesen und für die er zu danken sich verpflichtet fühlte.

Als ich bald darauf Helmholtz sah und ihm meine Freude über seine vortrefflich gelungene Büste aussprach, erwähnte ich auch, wie wohlthuend und angenehm mich das bescheidene Wesen des Meisters berührt habe, das sich der Kraft so wenig rühme, die ihm innewohne.

„Das darf uns nicht verwundern,“ sagte Helmholtz. „Nur die verdorbenen Genies haben die Prätension, ihre Künstlerschaft zur Schau zu tragen. Wer recht von der seinigen erfüllt ist, denkt an etwas ganz Anderes, als sich eine äußere Geltung zu verschaffen, die wenig genug bedeutet.“

Ja, es ist wahr! Für ein unverdrossenes Wandern auf oft mühevollen Wegen, für die ernsteste Arbeit, die gethan werden muß, legt immer das sicherste Zeugniß jene schlichte Einfachheit ab, in der jedes wahrhaft geistige Leben gipfelt.

Walter Schwarz.




Der Sieger von Aachen.
Ein Culturbild der vagirenden Künstlerschaft.

In Aachen war’s, der alten Krönungs-, Congreß-, Reliquien- und Badestadt, wo im Herbste des Jahres 1818 vor den Augen der Kaiser und Könige der heiligen Allianz, der Gesandten und Minister Großbritanniens und Frankreichs, sowie vieler Fürsten und hohen Damen des deutschen Bundes und eines unermeßlichen Volkes zwischen Deutschland und England ein Wettkampf in der Luft auf Leben und Tod entschieden wurde.

Auf dem großen Platze spannt ein langes Seil, an dem Gittereisen eines Kellerlochs befestigt, queraufsteigend sich bis wo es in ein Fenster hineingeht und verschwindet. Vom Seile zu dem hohen Thurme auf der andern Seite des Platzes aus, hängen mehrere Paare von Stricken bis zum Boden nieder, von starken Männerfäusten gefaßt, welche durch Anziehen das Schwanken des Seils zu verhindern haben. Die lange Bahn unter dem Seile ist frei, aber zur Linken und Rechten drängt Kopf an Kopf, und Kopf über Kopf schaut aus jedem Fenster und von den abgedeckten Dächern herab, und selbst die Balcone, auf welchen die mächtigsten Fürsten, Staatsmänner und Frauen [653] Europas all ihren Glanz entfalten, zeigen sich fast plebejisch gefüllt.

Auf diesem Seile stieg ein Mensch vom Kellerloche unten bis hinauf zum Thurmfenster – und wieder zurück. Diese höchste Seiltänzerleistung war damals etwas Neues, und weil Jack Badred, der sie hier zu den unentbehrlichen Congreßfeierlichkeiten ausführte, ein Engländer war, so wurde sie von den Deutschen um so höher angestaunt, und keine Seele wagte die Behauptung sämmtlicher anwesenden Briten, daß „so Etwas“ nur einem Engländer möglich sei, im Geringsten zu bezweifeln. Und doch hatte schon zehn Jahre früher in Anderer dieses hohe Kunststück erfunden und sogar noch waghalsiger zu machen gewußt. Aber Nachrichten von solchem Inhalte fanden damals noch eine gar langsame Verbreitung. Man muß selbst im Zeitalter der hölzernen Buchdruckerpresse, der wenigen und meist kleinen Zeitungen und der Thurn und Taxis’schen Postwagen gelebt haben, um jetzt, in den Tagen der Dampfdruckmaschinen, Telegraphen und Eisenbahnen, zu verstehen, daß das Aufsehen-Erregen damals nicht so geschwind gehen konnte, wie jetzt. So kam es, daß die Thurmseilbesteigung den ganzen Rhein entlang bis an’s Meer noch als etwas Unerhörtes galt, während es für viele Städte Süd-, Ost- und Westpreußens, Schlesiens und auch für Berlin bereits „eine alte Geschichte“ war. Nur zwei der große Herren auf dem Balcone, von welchen der eine in der vordersten Reihe saß, wo sie die größten Sterne trugen, kannten den andern Meister dieser Kunst, und dieser Andere war da, war auf ihren Wink gekommen und in diesem Augenblick bereit zu einem nie in der Welt dagewesenen Wettkampf.

Denn als nun das Zeichen zum Anfang gegeben war, Jack Badred, in einem glänzenden Turnierrittercostüme mit Harnisch und Helm und die lange Balancirstange handhabend, fast die Hälfte des Seils erstiegen hatte und die über sein kühnes und sicheres Ausschreiten entzückte Menge ihm Beifall zuklatschte – da stieg plötzlich eine dunkle Gestalt aus dem Thurmfenster auf das Seil, und als sie den langen Mantel abwarf, stand dort ein Jüngling in blühendstem Alter und in der damaligen Studententracht, der flotten Pikesche. Und ohne Balancirstange, nichts als die freien Arme ausstreckend und mit ihnen allein das Gleichgewicht haltend, schritt er von der schwindelnden Höhe herab, wie auf einem dünnen Faden, dem Engländer entgegen. Wie mit einem Schlage machte der rauschendste Jubel athemloser Stille Platz – Jack Badred, der bis dahin das Auge scharf nur auf das Seil gerichtet hatte, fühlt in demselben Augenblicke die Erschütterung des Seils von einem zweiten darauf Gehenden und blickt vorwärts. Da kam die Gefahr für Beide. Beim Anblick des so frei gegen ihn Herannahenden erfaßt den Engländer ein Schauder, er zittert, das Seil geräth in Bewegung, das unregelmäßige Tempo der Tritte Beider vermehrt das Schwanken – und Stehenbleiben ist schon an sich viel schwerer, als das Gehen auf dem Seile: sie müssen Beide vorwärts! – „Umwenden oder rückwärts gehen!“ ruft Der von oben dem Unteren zu. Weder das Eine noch das Andere ist ihm möglich; er muß – sollen nicht Beide in die Tiefe stürzen – eiligst thun, was der Andere hierauf gebietet: er kniet nieder, umklammert mit den Händen das Seil und bückt den Kopf so tief als möglich – und der Andere? Noch wenige Schritte, dann ein Sprung auf Leben und Sterben – und das rasende Wagniß gelingt! Während vom Abstoße das Seil wogt, fliegt er in hohem Bogen über den Knieeden dahin, und wirklich – hat’s das glückliche Auge, hat’s der glücklichere Zufall gethan? – die Füße finden drüben das Seil wieder, und der Gewandtheit und Unerschrockenheit des Waghalses gelingt es, auch das Gleichgewicht wieder zu gewinnen – und von donnerndem Jubel aus jedem Munde begleitet, vollendete er die Bahn und verschwand vom Schauplatze. Auch der Engländer erreichte, nachdem er die Beruhigung des Seils abgewartet und dann sich wieder erhoben hatte, mit seiner langen Balancirstange glücklich das Thurmfenster – aber sein Glanz war verblaßt.

Der andere Seiltänzer war ein Deutscher. König Friedrich Wilhelm der Dritte erinnerte sich seiner, als er den Engländer in Aachen triumphiren sah, und veranlaßte den Minister von Hardenberg, ihn durch Courier aus Neisse in Schlesien, wo derselbe damals seine Kunst ausübte, nach Aachen zum Wettkampfe mit dem ausländischen Rivalen zu berufen. In wenigen Tagen war er da, er mußte einen Tag ausruhen und den Engländer auf dem Seile beobachten. Für den Tag der Entscheidung hatte Hardenberg dafür gesorgt, daß von all’ den höchsten und hohen Herrschaften Niemand fehlte. Sobald die Trompeten das Zeichen zum Beginne des Schauspiels gaben, eilte unser Künstler in den Thurm, lockte den Mann, der oben das Seil zu besorgen hatte, „im Namen des Herrn Ministers von Hardenberg“ von seinem Posten, nahm dessen Stelle ein und gab selbst dem Engländer das Zeichen „Alles fertig!“ Nur so konnte er die Begegnung auf dem Seile ausführen, aber nun glückte es ihm auch wörtlich wie Cäsar: Er kam, sah und siegte.

Dieser Sieger von Aachen ist Wilhelm Kolter. – Damals war er ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren; jetzt ist aus ihm „der alte Kolter“ geworden, ein achtzigjähriger Greis.

Während wir dies niederschreiben, durchläuft die Kunde von der Verunglückung einer englischen Seiltänzerin, der Miß Victoria Sandersen, durch den Sturz von einem Thurmseil in Berlin alle Blätter und regt, wie dies jedes derartige Unglück von Neuem thut, das öffentliche Urtheil gegen all solche Waghalsigkeiten auf, die nicht einem höheren Zwecke dienen, als dem der gruselseligen Schaulust. Und wie nicht selten wird auch da das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Betrachten wir deshalb einige Augenblicke die gesammte vagirende Künstlerschaft ein wenig näher, um dem inneren Wesen derselben, das sie im Leben so eigenthümlich dahintreibt, auch nach seinen äußeren Erscheinungen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Unseren Lesern sind schon einmal „Wandernde Künstler“ vorgeführt; Freund Leutemann nahm bei einem seiner trefflichen Thierbilder, der Darstellung einer „Kunstproduction“ von Kameel- und Bärenführern (Jahrgang 1863, Nr. 7 und 8) die Gelegenheit wahr, über die untere Schicht dieser Künstler nach seinen Erfahrungen in den Leipziger Meßbuden sich in seiner liebenswürdigen Weise zu verbreiten. Er belehrt uns, daß die Höhe des Entrée der beste Maßstab dafür sei, ob das dort Dargebotene von ernster oder heiterer Seite aufgefaßt werde müsse. Noch schärfer, als nach ihren Eintrittspreisen, unterscheidet die vagirende Künstlerwelt sich nach den Haupt-Eigenschaften und -Erfordernissen für ihr Auftreten, und auch in dieser Beziehung zerfällt sie in zwei Hauptclassen: die höhere ist die des Muthes und der Kunstfertigkeit, die niedere die der List und – wir kennen keinen bezeichnenderen Ausdruck – „Unverfrorenheit“. Neben beiden ist allerdings noch ein Fach „für die Anderen“ nöthig.

Wer aber zählt die Häupter und nennt die Namen derer, die durch ihre „Arbeits“-Art auf diesem Felde als zunftberechtigt gelten? – Phantasie und Erinnerung arbeiten sich vergeblich ab, eine Liste derselben aufzustellen, jede Messe, jeder Jahrmarkt, jedes Vogelschießen und sonstige Volksfest bringt Neues, immer Unerhörteres, Erstaunlicheres, und das Alte verschwindet wie Nebel in der Ferne. Es sähe schlimm damit aus, wenn nicht ein deutscher Dichter und Schriftsteller auf diesem Gebiete mit ungewöhnlicher Sachkenntniß, ja als förmlich Eingeweihter gearbeitet hätte: der alte edle Karl von Holtei. Seine Selbstbiographie „Vierzig Jahre“, vor Allem aber sein Roman „Die Vagabunden“ sind unschätzbare Führer durch diese bunte Welt, die mitten im bürgerlichen Alltagstreiben sich bewegt, von diesem lebt und sich doch nie mit ihm vereinigt. Sein Vagabunden-Buch gewinnt einen besondern culturgeschichtlichen Werth dadurch, daß es das Leben dieser Kinder der Freiheit noch vor der Zeit der neuen Völkerverkehrsmittel schildert. Für beide Werke sind Tausende von Lesern dem alten Holtei Dank schuldig geworden, und wir wollen ihn dem Breslauer Dichter-Veteran hiermit recht warm darbringen.

Es darf weder den alten Herrn, dessen Andenken diesen Artikel veranlaßt hat, noch sonst irgend Jemanden, den die Bezeichnung mit trifft, verdrießen, daß Karl von Holtei das Gesammtbild der vagirenden Künstlerschaft, zu welcher er nicht bloß Menageriebesitzer und Bärenführer, sondern auch die „reisenden“ Sänger, Tänzer, Musiker, Schauspieler, Declamatoren und sich selbst rechnet, unter dem Titel „Die Vagabunden“ darstellt. Er versichert ausdrücklich, daß er den Begriff „Vagabunden“ [654] nicht polizeilich, sondern poetisch nehme: „Es sind lauter Leute,“ sagt er, „die ihr oft recht hartes Stück Brod redlich verdienen und nur hinsichtlich ihres an keine Scholle gebundenen Lebens zwischen dem seßhaften Bürger und dem Zigeuner stehen.“ Solche „Künstler“ meinte er, als er auf ein Stammbuchblatt schrieb:

„Die Künstler irren durch die Welt
Wohl unter’m weiten Himmelszelt.
Bald ist es heiß, bald ist es kalt,
Der Eine jung, der Andere alt,
Mit schwarzem Haar, mit grauem Bart,
Ein Jeder eben in seiner Art:
Der Eine spricht, der Andre geigt,
Der Dritte singt, der Vierte zeigt,
Was eines Fünften Hand erschuf, –
Verschieden ist der Armen Beruf.
In Einem sind sie sich gleich gestellt:
Sie trachten All’ nach Glück und Geld,
Sie schlagen sich mühsam durch die Welt.“

Wie arg in der bekannten guten alten Zeit der Begriff des Vagabundenthums an Allem klebte, was zu seinem „Kunst“-Erwerbe sich öffentlich für Geld sehen lassen mußte, dafür zeugt die Thatsache, daß sogar die Ankunft des Weimar’schen Theaterpersonals, wenn es dem Hofe und Karl August und Goethe nach Lauchstädt folgte, dort mit dem Nothschrei verkündigt wurde: „Ihr Leute, die Wäsche weg! die Bande kommt!“ – Geschah dies gegen Solche, die man doch zu den Thaler-Entrée-Künstlern zu zählen hatte, so läßt sich daraus auf die sociale Stellung der Groschen-Vagabunden schließen.

Lassen wir nun die Schaar, soweit sie erhaschbar war, an uns vorübermarschiren, in bunter Folge, wie wir sie auf der Leipziger Messe in den Ecken und Winkeln bis zu den großen Aufbauten für ihre Productionen postirt sehen. Wie bei allen Aufzügen die Kleinen, gehen auch hier die Groschen-Menschen voraus. Der Vergangenheit gehören jetzt schon die „Nordischen Herculesse“ an; weniger die „Steinfresser“ und die „Feuerfresser“. Ebenso blühen noch die „Bauchredner“ und die „Meerschweinchen“, die vagirenden Komödiantengesellschaften. Gewöhnlich wird die Aufführung durch den Hanswurst antrompetet und der Komödienzettel vorgelesen. Hinsichtlich der Eintrittspreise heißt es da nicht selten: „Männer zahlen einen Groschen, Weiber einen halben, Kinder drei Pfennige, ganz kleine Kinder bringen ein Ei mit!“ –

Die „Flohgespanne“ überbot der Schweizer Jeantet mit „abgerichteten Canarienvögeln“, die er nach ihren Kunstleistungen dem hochgeehrten Publicum als Professoren, Studenten und Schuljungen vorstellte. – Einen höheren Rang behaupten „gelehrte Hirsche und Hasen“. – Unsterblich ist das „Puppentheater“. Teufel, Tod und Hanswurst bleiben die Freunde der Gassenjugend. Gleich neben ihnen stehen die herrlichen Bilder und Lieder von den „Morithaten“, die von den Männern erklärt und von den Weibern zur Drehorgel ergreifend gesungen werden. Sie thun’s am billigsten, begnügen sich mit den Pfennigen ihres Publicums. Zum Großen empor steigt wieder der „Künstler“, welcher „Kaffern“ herumführt, die lebendige Hühner zerreißen und roh verschlingen, oder „Eskimos“, die fürchterlich nach Thran riechen müssen, wenn man an sie glauben soll. Schon die höhere „Unverfrorenheit“ bewies ein „Menageriebesitzer“, der von seinem ausgestopften „Seebären“ und anderem Gethier kühn behauptete, daß es lebendig gewesen sei. Noch höher stieg ein Anderer: er zeigte einen Bastard von einem Karpfen und einem Kaninchen, das heißt man sah eine dunkle klumpige Masse in einer Spiritusflasche und daneben die werthen Eltern, das Kaninchen im Käfig und den Karpfen in einer Schüssel voll Wasser. Aber – konnte man für einen Groschen ein wahrhaftiges Naturwunder beanspruchen?

Ein guter Geschäftszweig sind „fette Damen“ und „schwere Kinder“; ihnen gesellte sich neuerdings ein „lebendes Gerippe“ zu. Ebenso profitabel zeigen sich „Riesen“ und „Zwerge“. Wer hat nicht mit Vergnügen den großen Admiral „Tom Pouce“ gesehen, wenn er, im schwarzen Frack auf seines Dieners Handteller stehend, dem Publicum seine Visitenkarte überreichte?

Ein wahres Genie von Vagabunden und Riesen zeichnet uns Holtei in seinem Freunde Schkrampel. Schon als fünfzehnjährigen Jungen konnte sein ebenfalls vagirender Vater ihn als einen Riesen zeigen. Die Speculation schlug bei ihm an. Nach einigen Jahren heirathete er eine „Frau ohne Arme“ – ein treffliches Geschäft! Sie schrieb mit den Füßen – „echte Kalligraphie“, die gut bezahlt wurde und reißend abging. Und als sie guter Hoffnung wurde, schwelgte der glückliche Vater in der Erwartung, daß sie ihm mindestens einen Riesen ohne Arme oder mit vier Händen schenken werde. Wirklich gebar sie ein Kind mit zwei Köpfen, aber das Kind war todt und die Mutter starb. Er verkaufte letztere für tausend Gulden und das Kind für fünfhundert Ducaten an ein anatomisches Cabinet in Holland, und als er daheim das Geld zählte, war er untröstlich darüber, daß er nicht Beide lieber behalten und als unschätzbaren Grundstock zu einer „Raritätensammlung“ benutzt habe. Der Riese kaufte sich nun drei Zwerge, einen „Husaren“ in Turin und zwei Schwestern in der Schweiz – eine wahrhafte „internationale“ Gesellschaft – die ein „eigenes Zimmer“ seines „Hauses“ bewohnten. Wer kennt nicht diese Häuschen auf vier Rädern, aus welchen der Küchenschlot dampft, die wandelnde Herberge ganzer Familien? Eine Kiste auf der Decke desselben war das Zwergenzimmer. Schkrampel’s Eltern starben beide in ihrem Berufe. Seine Mutter arbeitete als „starke Frau“. Als sie wieder einmal, nur mit Kopf und Füßen auf zwei Stühle gestützt, den Amboß auf der Brust trug, auf welchem ihr Mann hämmerte, zerbrach ein Stuhl und die Last drückte sie todt. Schkrampel, der Vater, aber war weltberühmt als „Gesichterschneider“, er schnitt die merkwürdigsten Gesichter noch auf dem Sterbebette und ward mit dem letzten geschnittenen Gesicht, das er nicht mehr gerade richten konnte, begraben.

Weil wir nun einmal beim Begraben angekommen sind, so wollen wir die Aufstellung dieser niederen Abtheilung der vagirenden Künstler, deren Verzeichniß wir doch nicht complet machen können, mit einem merkwürdigen Begräbniß schließen. In Paris starb vor einiger Zeit ein amerikanischer Zwerg, genannt „General Dot“. Die kleine Leiche hatte in einem Kindersarge Platz. Zur Beerdigung kamen seine vertrautesten Schicksalsgenossen herbei: ein gewaltiger Riese, sein intimster Freund, nahm den Sarg unter den Arm und trug ihn laut weinend fort, und hinter ihm gingen als Leidtragende des Generals „Cornac“, der Zuckerhutmensch, eine Jahrmarktsheiterkeit wegen seines langen spitzen Kopfes, der Skeletmann, ein Weib mit drei Armen und ein Paar abgerichtete Hunde des todten Generals. So ward dem armen Vagabunden noch die letzte Genugthuung zu Theil, daß selbst Paris seinem Leichenbegängnisse mit Verwunderung nachschaute.

Diese Sorte der wandernden Künstler ist die zahlreichste, sie nimmt auf Messen und Volksfesten lange Budenreihen ein, während die höhere Classe nur in einzelnen hervorragenden Bauten, in Theatern und Sälen oder auf den großen Plätzen der Städte paradirt.

Diese zweite Classe der vagirenden Künstler, die Leute mit dem Mark-, Gulden- und Thaler-Entrée, bilden auch im Leben derselben die höhere Gesellschaft. Bei ihnen hat die Familienehre hohen Werth, und in vielen Familien, die fest an ihrer „Kunst“ halten und Generation um Generation ihr erblich sich weihen, herrscht trotz des ewigen Wanderns gute Erziehung und edle Sitte. So bei den Chiarinis, von denen Holtei in den „Vagabunden“ uns ein rührend schönes Familienbild zeigt. Sie waren, wie Kolter und die Seinen, Seiltänzer und Equilibristen. Diese und die Kunstreiter, bei denen Bach, Guerra, Tourniaire, Renz etc. berühmte Familiennamen sind, vertreten die Classe derjenigen dieser „Künstler“, deren Productionen durch die möglichst vereinte Darstellung von Muth, Kraft und Grazie des Menschen das Gebiet des wahrhaft Schönen erreichen. Wir können deshalb hier absehen von den Besitzern der großen Menagerien und anatomischen Cabinets, die auf den Messen einen breiten Raum einnehmen; ebenso von den sogenannten Affentheatern und sonstigen Schaustellungen, in welchen der Mensch nichts mit seinem Körper leistet; wir halten uns auch hier an den alten Holtei, welcher, bei seinem Zorn gegen allen öffentlichen Dilettantismus, ebenso unbedingt seine Verehrung für Alles ausspricht, was in seiner Art vollendet auftritt, und der ebendeshalb vor der Kunstreitertruppe Lejars und Cuzent ausrufen konnte: „Hier fand ich glänzende Productionen und Talente, die bei allem äußeren Kraftaufwand Geist und Poesie athmeten.“ Hierher gehören auch die anmuthigen Leistungen [655] von Taschenspielern, wie Bosco etc., und selbst der Kanonenkönig Holtum mag hier noch mitgehen.

Nicht diese Darstellungen von einem möglich hohen Grade und Vereine von Muth, Kraft, Grazie und Geschicklichkeit des Menschen haben zu den „Halsbrechereien“ geführt, welche in unseren Tagen die Entrüstung der Presse erregen, sondern die Sucht, in Tollkühnheiten und häßlichen Gefahren einander zu übertreffen, und der Frevel, Gefahren zu wagen, gegen welche dem Menschen keine Abwehr, keine Rettung beim Mißlingen möglich, wo der Mensch lediglich dem Zufalle, einem stockblinden Glücke überlassen ist, wie an dem Turnrecke des fliegenden Luftballons oder mit dem Velocipede auf dem Thurmseile. Man konnte vollkommen genug haben an dem Muthe, den die einfache Besteigung des Thurmseils erfordert. Wer sich davon überzeugen will, der blicke aus dem Fenster oder vom Rundgange eines hohen Thurmes hinab in die Tiefe; selbst Männer, die ihr Leben oft gewagt haben, vielleicht an schwindelnden Felswänden und Abstürzen des Hochgebirges, kann hier ein Grausen bei dem Gedanken befallen, über diesen Abgrund hinaus auf ein dünnes schwankendes Seil treten zu sollen. Und wenn mit noch so starkem Kopfschütteln über die Anwendung dieses Muths, wir dürfen die Größe desselben, wie Wilhelm Kolter ihn so oft gezeigt hat, ehrlich bewundern und nicht kurzweg den Stab darüber brechen, daß es Geister giebt, die eine Befriedigung des Ehrgeizes in der Bewältigung von Gefahren finden, durch die sie mit dem Bewußtsein der Kraft, Gewandtheit und Unerschrockenheit eine freie Berufsarbeit vollbringen.

Wenn aber diese männlichen Eigenschaften nicht bloß der Schaulust der Menge dienen, sondern in Noth und Gefahr des Nächsten ihre rettende Kraft bewähren, wie dies Kolter und die Seinen so oft bewiesen, dann wird auch der strengste Moralist und Gegner der gesammten vagirenden Künstlerschaft die Ausnahme gestatten, auch einem solchen Verdienst ein Blatt der Gartenlaube nicht zu versagen.

Wer in Deutschland kennt den alten Kolter nicht? Er ist der populärste deutsche Seiltänzer. Jahrzehnte war er der Glanzpunkt der Leipziger Messen, von wo die Zettel mit seinem Bild und seinen Leistungen überallhin verbreitet wurden; und wer ihn nicht selbst noch gesehen, der hat von ihm gehört, denn jeder spätere Seilkünstler weckte die Erinnerung an Kolter wieder auf.

Kolter’s Vater gehörte schon der vagirenden Künstlerschaft an. Er war der erste Kunstbereiter, der sein Geschäft in’s Großartige betrieben hat. Aus England herübergekommen, hatte er als „Königlich Preußischer privilegirter Kunstbereiter“ die alleinige Concession für Preußen erhalten, und da Warschau damals (bis 1807) preußisch war, so nahm er dort seinen Wohnsitz. Auch Wilhelm Kolter, der 1795 zu Großwardein in Ungarn geboren ist, wurde Kunstreiter und ging erst nach dem Tode seines Vaters zur Seiltänzerei über, weil seine Mutter die Reitergesellschaft nicht länger führen wollte.

Wenn auch nicht so bedeutend, wie bei der Kunstreiterei, war der Rüstzug einer solchen Gesellschaft doch nicht gering, weil der gesammte Apparat, Taue, Drahtseile, Balancirstangen, namentlich aber das Thurmseil und eine glänzende Garderobe überall mit hingenommen werden mußten. Und doch machten die Vorbereitungen der Aufführungen, von der Erlangung der Erlaubniß bis zur Sicherung der Einnahme, oft mehr Schwierigkeiten, als die beschwerlichsten Reisen, so daß, wie Kolter erzählte, das Besteigen seines Thurmseiles ihm nach all der Pein noch als das Leichteste erschien.

Der Einfall, auf dem Seile zu Thurmhöhen hinaufzusteigen, kam dem zwölfjährigen Knaben schon im ersten Jahre seiner Seiltänzerei. Da das kleine Tanzseil, vom Kreuzstocke an bis da, wo es an die Bodenpflöcke befestigt ist, ebenfalls schräg abfällt und bestiegen werden muß, so versuchte er dies auch auf einem längeren Seile. Die ersten Versuche mißlangen, weil das Seil zu sehr schwankte; da verfiel er auf die Befestigung desselben durch die Anzugsleinen, und nun ging’s. Der erste derartige Aufstieg geschah zu Neumarkt in Schlesien auf einem geborgten Zimmermannsseile.

Von da an hat Kolter unzählige Thürme bestiegen und konnte sie schließlich für seinen Uebermuth nicht hoch genug finden. Nur ein Thurm, kein besonders hoher, bleibt ihm dennoch ewig im Gedächtniß: der zu Waldenburg in Schlesien. Dort war das Seil am obersten Theile des Thurmes befestigt, so daß es oberhalb der mit Kupfer gedeckten, ziemlich schräg abfallenden Kuppel hinlief. Kolter war, damals schon ohne Balancirstange, glücklich bis oberhalb der weitvorspringenden Kuppel angelangt, wo die letzten Anzugsleinen niedergingen, als er das Gleichgewicht verlor und auf die Kuppel fiel. Zwar kam er auf die Füße und stand, aber vergeblich bemühte er sich, die Glätte und Abschüssigkeit der Bedachung zu überwinden und sich aufwärts zu arbeiten. Mit jeder Bewegung rutschte er tiefer. Er schreit, die Anzugsleine loszulassen. Es geschieht, aber er kann sie Nicht erreichen. Jetzt ist’s der letzte Augenblick, die nächste Bewegung führt zum Abgrund, – da schleudert der Aufwärter im Thurme ihm die Leine zu, Kolter erfaßt sie, schwebt nun über der schwindelnden Tiefe, aber mit fester Faust sich zum Seile und zur Kuppelspitze emporarbeitend. Kaum ein wenig verschnauft, ging er auf dem Seile über dieselbe Stelle hin, nun mit zwei Pistolen bewaffnet, die er unterwegs abschoß, wieder hinab.

Dieser unfreiwillig bestandenen äußersten Lebensgefahr folgte dann die freiwillig gesuchte in Aachen, die dem Mann seinen Siegerruf verschaffte und welcher seine glücklichste Zeit folgte, 1819 bis 1824, wo er am Hofe eines Herzogs von Württemberg im Schlosse Karlsruh bei Oppeln sogar als Ballettänzer mit seiner Schwester Aufsehen machte und ein so glückliches Talent für Komik zeigte, daß Devrient ihn bei der Bühne behalten wollte. Da aber König Friedrich Wilhelm der Dritte ihn ebenso gern zu Potsdam auf dem Thurmseile sah, so blieb er bei seiner Kunst. Da trieb die Wanderlust den Sieger von Aachen in seinen russischen Feldzug. Mit einer starken Gesellschaft war er in das Reich des Czaren eingedrungen, als derselbe starb. Dieser Tod, dem das Verbot aller öffentlichen Kunstleistungen folgte, war sein brennendes Moskau, und da auch er, wie sein Vorgänger Napoleon, den Rückzug zu spät antrat, so ward der Eisgang der Berezina auch sein Unglück. Endlich kam er mit den Trümmern seines Glücks nach Kreuzburg in Schlesien, wo er die Seinen durch Tanzunterricht erhielt. „Was thut der Mensch nicht in der Noth!“ So schließt Kolter die Erzählung dieser Erlebnisse.

Außer Rußland hat er mit seinem Rüstzug ganz Deutschland, Ungarn, Polen, Italien und Frankreich durchzogen. Auch Wunden genug hat er sich auf dem Felde seiner Ehre geholt, Rippen-, Arm- und Beinbrüche und Brandwunden; den alten Seiltänzertrieb hat jedoch keine Cur mit wegheilen können.

Aber auch sein Wohlthätigkeitstrieb, sein Helfer- und Rettersinn ist ihm treu geblieben. Er, wie seine Schwiegersöhne, scheuten keine Gefahr, wo es Feuers- und sonstige Noth zu überwinden galt. In Polen, Schlesien, Sachsen und Brandenburg erzählt manche Stadt noch heute von W. Kolter’s rettenden Thaten, wie oft er sein Leben gewagt, wo Hunderte und Tausend schreiend und zagend Stätten des Verderbens umstanden; Kinder und Frauen trug er aus den Flammen und aus verheerender Fluth; wie viel Hab’ und Gut ist durch seine und Waitzmann’s Unerschrockenheit und Kraft vor der Vernichtung gewahrt, ja, wie manches Haus, ja manche Straße durch ihre Opferfähigkeit, ihre Ausdauer in Gefahren und Mühen erhalten worden! Städte-Chroniken, Ehrenmedaillen, Silberbecher und Belobungsschreiben erinnern noch heute den Greis daran, was er als Jüngling und Mann im Dienste seiner Menschenliebe vollbracht hat.

Um so mehr ist, es zu bedauern, daß all’ sein treues Sorgen für seine Familie, seine alten Tage und die Zukunft der Seinen, durch welches er ein schönes Vermögen und eigenes Haus als letzte Heimstätte erworben, ohne seine Schuld vergeblich war. Eine fallirende Bank und der Tod, der ihm die Gattin, zwei Schwiegersöhne, drei Töchter und zwei Enkel raubte und die Last der Versorgung der Verwaisten auf ihn lud, haben ihn zum armen Manne gemacht, der, nun wieder ohne Heimstätte für das müde graue Haupt, den Wanderstab, der schwerer wird mit jedem Tage, fortschleppen muß – ohne Hoffnung und Aussicht auf eine andere Erlösung, als die allbekannte der Zeit. Es wäre hübsch, wenn alte Dankbarkeit und Zuneigung sich jetzt in edler Weise für „den alten Kolter“ erneuern möchten.

Fr. Hofmann.

[656]
Plaudereien aus Rom.
Von Hermann Oelschläger.
V.
Die Deutschen in Rom. – Der deutsche Künstlerverein an der Fontana Trevi. – In den römischen Ateliers. – Die Schaar der Copistinnen. – Verbannte Götter. – Der classische Boden Roms. – Senator Rosa. – Die Ausgrabungen auf dem Palatin. – Häuser, Sarkophage und Inschriften. – Das Auditorium des Mäcenas. – Die „neue Venus“. – Unter den Kaiserpalästen auf dem Palatin. – Ausklang.

Das deutsche Element, von welchem ich bereits sprach, war in Rom während des verflossenen Winters und namentlich um die Osterzeit so stark vertreten als man es nur wünschen mochte, und wer Neigung dazu hatte, vermochte hier, im Mittelpunkte Italiens, die theuern heimatlichen Dialektlaute, vom schnarrenden Jargon des Stockberliners bis zum breitbehäbigen Geplausche des Oesterreichers so gründlich zu studiren, wie jenseits der Alpen. Am leichtesten bot sich die Gelegenheit dazu bei Carlin in der Via delle quattro Fontane, einem wackern deutschen Wirthe, dessen tüchtige Restauration wohl von den meisten Deutschen in Rom besucht wird und auch allen deutschen Romfahrern des kommenden Winters hiermit angelegentlichst empfohlen sei. Um so mehr ist es zu verwundern, daß noch immer keine deutsche Buchhandlung der schon wiederholt gegebenen Anregung, eine deutsche Zeitung wenigstens für die Wintersaison herauszugeben nachgekommen ist. Die wenigsten der vielen in Rom lebenden Deutschen dürften in der Lage sein, sich in eine italienische, eine römische Zeitung mit nennenswerthem Erfolg zu vertiefen; die der Regierung nahestehende und französisch geschriebene „Italie“ schenkt den localen Tagesfragen nur geringe Aufmerksamkeit, und so habe ich nach den von mir gesammelten Beobachtungen die feste Ueberzeugung, daß eine deutsche Zeitung in Rom, die den deutschen Interessen sich widmen und den deutschen Leser über die Fragen und Begebenheiten des Tages immer genau unterrichten würde, ohne Mühe zahlreiche Abnehmer finden werde. Es liegt hier ein wirkliches Bedürfniß vor, von dem nur zu wünschen ist, daß seine Befriedigung von einer geschickten und mit dem nöthigen Capital versehenen Hand baldigst in Angriff genommen werde. Spithöver wäre wohl am ersten in der Lage dazu.

Einen Sammelpunkt für das deutsche Element in gewissem Sinne bildet der deutsche Künstlerverein, der sich bekanntlich der besondern Protection des deutschen Kaisers erfreut, und der redlich bemüht ist, die vielen deutschen Männer und Frauen, welche seine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen, an heiteren Abenden in froher Geselligkeit zu versammeln und zu vereinigen. Selbstverständlich haben die immer tanzlustigen und lebensfrohen Künstler auch den Carneval nicht unbenützt vorübergehen lassen und namentlich wird der glänzende Costümball, den der Verein in seinem Palazzo an der Fontana Trevi gab, allen Mitgliedern der deutschen Colonie, die an ihm Theil genommen haben, trotz des mehr als kindlichen Festspieles, das sie vor dem Beginne des eigentlichen Balles auszustehen hatten, in bester Erinnerung bleiben.

Der Sprung von dem Palazzo Poli an der Fontana Trevi – er ist heutzutage bekannter unter dem Namen „Sala Dante“ – in die Ateliers der Künstler wäre leicht genug. Aber in meinen „Plaudereien“, die schon schwatzhaft genug geworden sind, ist kein Raum mehr für die letzteren. Denn was wäre aus und von ihnen nicht Alles zu berichten! Die deutschen Künstlerveteranen in Rom: Wolf, Riedel, Achtermann, Seitz, arbeiten noch immer rüstig fort, während sich an Lindemann-Frommel, Kopf, Gebrüder Cauer, Gerhard, Pollack, Karl Voß, Heilbuth, die beiden Müller von Coburg, Ernst Meyer, Ziehlke, ein jüngerer Nachwuchs, wie: Dausch aus Oberschwaben, Nathanael Schmitt aus Heidelberg, Hübner, Henneberg, F. Schulz aus Schleswig, der von dem während des Winters in Rom gleichfalls anwesenden Georg Scherer ein ganz treffliches Medaillonbild gefertigt hat, und Andere, würdig anreiht.

Und neben diesen bedeutungsvoll schaffenden Künstlern, welche endlose Reihe mehr oder minder talentvoller Copisten und Copistinnen, die sich in den Sälen drängen und, von Neugierigen umgafft, alle jene berühmteren Bilder, die gerade in der Mode sind – denn auch hier schwingt die Mode ihren Zauberstab, wie die von Copisten tausendfach mißhandelte Beatrice Cenci und die in allen Läden schaugestellte, seltsamer Weise so sehr beliebte Büste des jungen Augustus beweisen – im Schweiße ihres Angesichts vervielfältigen!

Die Copistinnen, überhaupt die Malerinnen scheinen nicht überall freundliche Beurtheilung zu erfahren. Ein deutscher Maler hat sich unlängst in einer römischen Zeitung ziemlich herb gegen die Leistungen der Frauen auf dem Gebiete der Kunst ausgesprochen und sich dabei bis zu der Behauptung verstiegen, wenn man die ganze künstlerische Thätigkeit der Frauen mit einem Male streiche, so sei dies nicht anders, als wenn man von einem großen Palaste eine seiner kleinen Verzierungen wegnehme. Auch dann stehe der Palast so groß und köstlich wie zuvor, und kein Auge werde das Verschwinden und Fehlen des weggenommenen Steines vermissen. Aber, fährt der große Unbekannte, der sich selbst offenbar als gewaltigen Quader im herrlichen Tempelbaue der Kunst fühlt, fort, aber warum hat Rafael so Großes, so Schönes, so Anmuthiges geschaffen? Einfache Antwort: weil ihm die schönsten und holdseligsten Frauen als Modelle dienten, und so hat jene berühmte Fornarina der Kunst mehr geleistet, als alle Künstlerinnen zusammen genommen, welche jemals in Oel, Aquarell oder Pastell gearbeitet haben. Ecco, ruft unser Maler bei dieser Entdeckung den malenden Frauen fröhlich zu, welch anderes und reicheres Feld der Thätigkeit eröffnet sich Euch hier! Werft Pinsel und Palette weg, ahmt das schöne Beispiel von Rafael’s Frauen nach (die Rafaele, meint er offenbar, werden sich dann schon von selbst einstellen), und wie ganz anders wird Euch die wahre, die echte Kunst zu wirklichem Danke verpflichtet sein!

Dieser Vorschlag des Malers, so beredt vorgetragen, hat offenbar etwas Verführerisches. Wer indessen bei einem Gange durch die bilderreichen Säle den fleißigen Copistinnen eine mehr als flüchtige Aufmerksamkeit widmet, wird bei aller Galanterie, die ihm sonst eigen sein mag, doch bald zu der Einsicht kommen, daß die Theilung der Arbeit auch auf diesem Gebiete wie bisher das Ersprießlichste sein, daß es sich auch fernerhin empfehlen werde, wenn von den kunstthätigen Frauen die Einen nur malen und nur die Andern sich malen lassen, und daß Goethe, wie immer, auch hier Recht hat. Eines schickt sich nicht für Alle. –

Bei den Wanderungen durch die Galerien und Sammlungen Roms drängen sich Einem oft genug die berechtigten Klagen auf über die mangelhafte Aufstellung und schlechte Beleuchtung, unter der mitunter gerade die kostbarsten Gegenstände zu leiden haben. Selbst im Vatican, selbst im Belvedere kann man diesem Uebelstande begegnen, der dem Beschauer am ausgeprägtesten wohl in der Villa Ludovisi entgegentritt, wo überhaupt den hohen Bildwerken Griechenlands wie wahren verbannten Göttern ein geradezu unwürdiger Aufenthalt angewiesen ist.

Da auch die Sammlungen des Capitols in dieser Hinsicht viel zu wünschen übrig lassen, wie man sich leicht schon im ersten und berühmtesten Zimmer, das von dem sterbenden Fechter seinen Namen führt, zu seinem Leidwesen überzeugen kann, so liegt etwas Tröstliches in dem Gedanken, daß die italienische Regierung den Bau eines monumentalen Museums, das alle ihre Schätze in sich vereinige und das hinsichtlich der Aufstellung und Beleuchtung derselben Nichts mehr zu wünschen übrig lasse, auf die Dauer vielleicht doch nicht werde umgehen können. Denn noch immer ist der classische Boden Roms unerschöpft, seit Jahrhunderten schon durchwühlt und durchforscht, spendet seine geheimnißvolle Tiefe noch immer neue Schätze, die, nachdem sie fast zwei Jahrtausende schon im dunklen Schooße der Erde geruht haben, dennoch nicht der ewigen Vergessenheit anheim fallen sollten; sondern sich nun plötzlich wieder an das strahlende Licht des Tages gestellt finden, um von einer längstversunkenen Herrlichkeit, von einer längst untergegangenen und nie wieder erreichten Culturblüthe neues beredtes Zeugniß abzulegen.

Namentlich seit die Ausgrabungen unter der rastlosen Leitung des gelehrten Senator Rosa systematisch betrieben werden, sind dieselben von staunenswerthem Erfolge begleitet gewesen; fast jede Woche brachte neue Bereicherungen, und so

[657]

In der Abendstille der Sahara.
Nach der Natur aufgenommen von Albert Richter in Biskarah.

[658] ist z. B. gar nicht abzusehen, welche Wunder dem Boden Roms noch entsteigen werden, wenn nur erst einmal die Villa Mils auf dem Palatino oder das Kloster der Salesianerinnen daselbst hinweggeräumt sind.

Wie unerschöpflich in Wirklichkeit der römische Boden ist, beweist am sichersten der statistische Ausweis, welchen jüngst die städtische Commission für Archäologie hinsichtlich ihrer Funde und Ausgrabungen veröffentlicht hat. Danach umfaßte das Ergebniß der Arbeiten im Jahre 1874 allein: 17 Statuen, 10 Torsi, 47 Köpfe oder Büsten, 5 Sarkophage oder Aschenurnen, 12 Weihgegenstände, 6 kostbare gravirte Steine, 11 Reliefs in Knochen oder Elfenbein, 5 Gegenstände aus Gold, 6 aus Silber, 30 aus Bronze, 11 Silbermünzen, 8925 Bronzemünzen, 75 verschiedene Gegenstände aus Terracotta, 11 Architecturfragmente, 39 Inschriften etc. So sind z. B. hier die unzähligen Utensilien jeder Art nicht mit aufgeführt, welche man gefunden hat und von denen einige sehr merkwürdig und beachtenswerth sein sollen.

Am ergiebigsten sind die Ausgrabungen auf dem Esquilin, die daselbst auch am energischsten betrieben werden. Erst im Laufe dieses Frühjahrs hat man daselbst das Pflaster des Forums des Esquilins bloßgelegt, sowie die Reste eines Privathauses mit schwarz-weißem Mosaikboden. Die Wände der Mauern sind mit Fresken geschmückt, die nicht ohne Werth sind. In einer der Zellen fand man zwei Thonlampen, welche die Reliefs der drei Gottheiten des Capitols zeigen, ebenso eine Statuette des Hausgottes, in Bronze und zehn Centimeter hoch.

Da wo die Via Merulana sich mit der Via Labicana kreuzt, förderte man einen Marmorsarkophag an’s Licht, etwas mehr als zwei Meter lang und achtundsechszig Centimeter breit. Sein Deckel war nie geöffnet worden. Ein Leichnam war in dem Sarkophage und zwar der einer Porcia Posilla, wie der auf die Stirnseite des Sarkophags eingegrabene Name besagte.

Bedeutungsvoller ist, daß man – gleichfalls erst im Laufe des April – nicht weit von den Mauern, welche zur Zeit der Könige Rom umgaben, eine massive Mauer bloßgelegt hat, die mit zahlreichen Votiv-Inschriften bedeckt ist. Diese sind aber darum merkwürdig, nicht allein, weil sie wiederholt einer Stadt erwähnen, deren Name bisher nicht auf uns gekommen war, sondern auch, weil sie auf einen bisher unbekannten Jupiter-Cultus hindeuten. Die meisten dieser Inschriften stammen nämlich von Soldaten der fünften und sechsten Legion, die von der Niederdonau nach Rom gekommen und vermuthlich im Lager der Prätorianer eincasernirt waren; diese Barbaren hatten zwar den Cultus ihrer heimatlichen Götter bewahrt, bald aber in der steten Berührung mit der römischen Civilisation seine genaue Ausübung verlernt und eine Art von gemischtem Cultus erfunden, der heimatliche und lateinische Elemente verträglich zusammenwarf und die barbarischen Götter ohne Weiteres mit den hochtönenden Epitheten der Olympier schmückte. In den Inschriften flehen die Prätorianer die Götter an, über das Wohl des Kaisers zu wachen, über seine Gemahlin, seinen Sohn, oder sie nehmen die Hülfe des Himmels für ihre eigenen Angelegenheiten bittend in Anspruch. Was den Inschriften den höchsten Werth verleiht, ist der Umstand, daß dieselben nicht allein die Namen der Consuln geben, zu deren Amtszeit die jeweilige Inschrift gemacht wurde, sondern zugleich noch die genaueste Angabe des Tages, des Monats und des Jahres. Wie wichtig der Fund darum gerade für die Archäologen ist, springt leicht genug in’s Auge. Die Ausgrabungen – gegen Ende April hatte man etwa siebenundzwanzig Säulenbasen aufgefunden – sollten fortgesetzt werden, weil man die Mauer ganz bloßzulegen hoffte, die vielleicht den Rest eines Jupiter-Tempels bildet. Einer Statuette des Jupiter, die man zugleich mit ausgrub, fehlte leider der Kopf. Die Inschriften waren zum größten Theile gut erhalten, fast alle vollständig, und man wird sie inzwischen längst schon in das Capitolinische Museum geschafft haben, wo sie geeignet sind, für die Archäologen der Gegenstand interessanter Studien zu werden.

Am meisten Aufsehen und Bewegung im Lager der Archäologen rief im verflossenen Jahre wohl die Bloßlegung eines Häuserrestes auf dem Esquilin hervor, den man gegenwärtig als das Auditorium des Mäcenas bezeichnet, und die Auffindung mehrerer Marmorstatuen ebendaselbst, deren bedeutendste seit Ende Januar bereits auf dem Capitol als „neue Venus“ aufgestellt ist. Sie steht gleich rechts an der Glasthür, welche von der Treppe in den Corridor führt. Das sogenannte Auditorium des Mäcenas ist ein mit Mosaik belegter, oblonger Raum, dessen rothbemalte Wandnischen früher wohl mit Marmorstatuen geschmückt gewesen sein mögen. Der Hintergrund ist von amphitheatralisch erhöhten Sitzreihen eingenommen, deren Zahl etwa sechs betragen mag. Man weiß, daß Mäcenas auf dem Esquilin eine Villa gehabt hat, und man weiß, daß er es liebte, sich hier im Kreise vertrauter Freunde und Hausgenossen von den großen Dichtern seiner Zeit deren neueste Schöpfungen vorlesen zu lassen. Der Raum, wie man ihn hier aus der Tiefe an das Tageslicht gefördert hat, legt die Vermuthung nahe genug, daß man es hier wirklich mit dem Auditorium des berühmten Dichterfreundes und Kunstbeschützers zu thun haben könne.

Was indessen die „neue Venus“ auf dem Capitol betrifft, so denke ich zwar nicht im Entferntesten daran, dem Urtheile und der Meinung der gewiß grundgelehrten Herren irgendwie zu nahe zu treten. Verschweigen will ich indessen nicht, daß mir die Statue, trotz des Kruges und des Tuches, die ihr beigegeben sind, auch nicht im Geringsten den Eindruck einer Venus macht. Das ist ein Mädchenleib, der noch im Aufknospen begriffen ist, der der Blüthe erst entgegenreift, und hart und streng in der Form, in der Linie, ist er noch weit entfernt von dem voll und reich entfalteten Körperreiz einer Venus, die wir uns als den Typus höchster Formenschönheit und als die Göttin der unbezwingbaren, Alles umfassenden Liebe vorstellen. Muß es denn durchaus eine Venus sein? Oder wäre es nicht möglich, daß wir vielleicht die Portraitstatue einer jugendlich schönen Freigelassenen vor uns haben, die ihr Gebieter in Marmor bilden ließ, dem Bade entsteigend, die Haare schlingend, und der er in Bewunderung des jungen Leibes die Attribute der Venus beigeben zu lassen den Einfall hatte? Im ersteren Falle würde diese „neue Venus“ hinter den zahlreichen anderen und weltberühmten Darstellungen der Liebesgöttin weit zurückstehen, im anderen würde sie ihrer, wenn auch nicht tadellosen, doch im Ganzen schönen und anmuthigen Ausführung halber unsere vollste Beachtung und unser regstes Interesse verdienen. ...

Was Menschenschicksal, was Völkerschicksal sei, auf dem Palatin, in den sarnesischen Gärten erfährt und empfindet das wohl Jeder am besten. Dort, unter den gigantenhaften Trümmern der Kaiserpaläste umrauscht und umklingt es die Seele geisterhaft, und glücklich ist Derjenige, dem es nur einmal vergönnt war, ungestört und sich selbst überlassen da, wo einst die stolzen Imperatoren in marmornen, goldstrahlenden, statuengeschmückten Säulenhallen den Geschicken des weiten Römerreichs in unbeschränkter Machtvollkommenheit geboten, eine einsame Stunde zu verleben und zu verträumen.

Von den vielen Tausenden von Fremden, welche alljährlich die Trümmerstätten des alten Rom durchwandeln, wird der Eindruck, den wir hier am Riesengrabe des größten und mächtigsten Culturvolkes der Erde empfangen, nur Wenigen voll und ganz zum Bewußtsein kommen. Bädecker oder, wenn sie ihre Aufgabe ernster nehmen, Gfell-Fels in der Hand, suchen sie an Ort und Stelle die reichen Lücken ihres Wissens eilfertig zu ergänzen, suchen sie sich über die Bedeutung jeder einzelnen noch ungebrochen in die Luft ragenden Säule, jedes einzelnen Tempelrestes zu unterrichten, eilen sie voll Wißbegierde vom Einen zum Andern, und versäumen über das Einzelne das Ganze, dessen großartige, überwältigende Erscheinung ihre Seelen für das Leben lang füllen müßte mit den erhabensten Bildern, mit den nachhaltigsten Vorstellungen.

Ein Sonntagsmorgen in der Mitte des Februars brachte mir einmal das Glück, nach welchem ich mich so oft und immer vergeblich gesehnt hatte, allein und einsam durch die sarnesischen Gärten, durch die Kaiserpaläste mit ihren gewaltigen Erinnerungen zu wandeln; von dem immer zudringlichen, schwatzhaften Schwarme der Fremden war noch keine Spur zu sehen, denn es hatte mehrere Tage lang geregnet, kein unwillkommener Laut unterbrach die unendliche Ruhe, in welcher die sonnenbestrahlten classichen Ruinen vor mir lagen, der Himmel leuchtete im reinsten Blau und eine einzige Nacht hatte die Mandelbäume mit rosa Blüthen überschüttet. Die schlanke Pinie schaukelte sacht bewegt ihr breites Blätterdach, im dichten Dunkel des Lorbeerbaumes sang da und dort ein munteres Vöglein dem nahenden Frühlinge seinen hellen Gruß entgegen.

[659] An den hochgethürmten Caligulabauten und der aus gewaltigen Tuffblöcken aufgeführten Ringmauer der Roma quadrata vorbei, kam ich zur langen Reihe jener Gemächer, welche man wohl mit Recht als die Wohnungen des palatinischen Gesindes und der diensthabenden Soldaten bezeichnet, deren Namen noch heute in den guterhaltenen Wänden eingekratzt zu lesen sind, und weiter zu den malerischen weitgedehnten Ruinen der Paläste des Commodus und des Septimius Severus. Geschosse um Geschosse sind hier vier-, fünffach aneinander getürmt, gewaltige Mauern, wie für die Ewigkeit gebaut, ragen schwarz in die Höhe, die Wände der Parterregemächer sind zum Theil noch bemalt, die Gewölbe zeigen kunstvolle Cassetirungen, aber oben auf den Mauern, auf den Decken der Gewölbe, die dem Sturme der Zeit widerstanden haben und noch nicht zusammengebrochen sind, wuchert munter junges Grün, blühen Büsche, haben sogar Bäume ihre Wurzeln geschlagen – unten, halbbedeckt vom Schutte oder von jungen Zweigen umrankt, liegen gestürzte Capitäle, zerbrochene Friese und Gesimse, liegen gewaltige Säulentrümmer umher, und das mußte ein Tag voll schwerem unglückseligen Verhängnisses gewesen sein, da diese leuchtenden Marmorriesen, die einst den prachtstrahlenden, mit den schönsten Schöpfungen der griechischen Kunst angefüllten Palast getragen und zwischen welchen Cäsaren, Senatoren Könige prunkvoll dahin gewandelt waren, in Feuer und Brand donnernd zusammenbrachen, von schwarzen Rauchwolken umhüllt und die ganze Herrlichkeit des alten Römerreiches im Sturze mit sich begrabend.

Auf langgestreckten Treppen, deren Stufen noch die Reste früherer Marmorbekleidung zeigen, gelangt man in die Höhe zu neuen Ruinen, zu neuen Trümmern. Während man auf dem breitgewölbten Dache eines Palastflügels hinzuschreiten glaubt, zeigen große Mosaiküberreste auf dem Boden, deren Zeichnung noch fast unversehrt ist, daß wir uns nur in einem neuen Geschosse befinden; aber die Wände sind gebrochen, zerfallen, verschwunden und nur ein Mauerrest in der Ecke scheint übrig geblieben zu sein, um noch nach fast zweitausend Jahren von der stolzen Höhe des ungeheuren Saales, auf dessen Boden wir wie auf einer Plattform wandeln, Zeugniß zu geben.

Die Aussicht, die sich von hier einst den Augen der römischen Imperatoren bot, muß entzückend gewesen sein: drüben zur Rechten die weitgedehnten, gigantischen Marmorbauten der Caracallathermen, dieser „prachtvollsten Luxusbäder der Welt“, mit ihren kühngewölbten verschwenderisch ausgestatteten schimmernden Sälen, mit ihren dunkelgrünen Hainen, mit ihren stolzen Portiken, mit ihren zahllosen Bild- und Kunstwerken jeder Art; dort zur Linken das Colosseum, eines der großartigsten von Menschenhand gebildeten Werke und noch heute aus den Häusern, aus der Landschaft ringsum in unvergleichlicher Hoheit zum Himmel ragend. Zwischen beiden hin der herrliche Blick über die römische Campagna mit ihren Aquäducten, mit ihren Gräberstraßen, heute eine melancholische, ruinenerfüllte Einöde, zur Zeit der Cäsaren bedeckt von immergrünen Hainen und Gärten, von leuchtenden Villen und Palästen, deren marmorne Giebel und goldene Kuppeln das Bild einer zweiten Stadt boten, das sich nicht minder schön und groß, als das unermeßliche Rom selbst, dem bewundernden Blicke endlich im violetten Duft des Albanergebirges verlor.

Drüben zur Linken lag der eigentliche Mittelpunkt des weltherrschenden Rom, lag das Forum mit seinem einzigen Prachtwald von Tempeln, Triumphbogen, Säulen, Statuen, ragte das Capitol, dessen goldstarrende Zinnen allerdings hier, zugedeckt von den gewaltigen Palastbauten des Caligula, nicht sichtbar gewesen sein mögen. Von der Höhe zur Rechten aber, vom Aventin schimmerten die Tempel und Heiligthümer des alten Plebejer-Quartiers herüber. Dazwischen in der Tiefe dehnte sich der Circus Maximus mit seinen 250,000 Sitzplätzen, mit seinen staubaufwirbelnden Wagenrennen, mit seinen blutigen Faustkämpfen, mit seinen Läufer- und Ringspielen. Dort boten die Cäsaren, die Gunst der Masse zu gewinnen, ihrem nach immer neuen Genüssen, nach immer neuen Aufregungen lechzenden Volke ein glänzendes Schauspiel um das andere, und das Beifallsgebrülle der bis zur Tollheit erregten Menge hallte donnergleich bis herauf zu den Marmorpalästen der Kaiser.

Jetzt ist keine Stätte Roms öder, einsamer und stiller, als diese. Verweht ist der Staub der Cäsaren, die, vom Taumel der absoluten Macht trunken und schon von Haus aus mit krankhafter Geistesanlage behaftet, hier in Wahnsinn und Raserei gehaust, hier über ein inmitten des ungeheuerlichsten Luxus und der ungeheuerlichsten Laster selbst immer am Rande des Wahnsinns hintaumelndes Volk geherrscht haben, das, nachdem es in der Politik, der Kunst, der Poesie, der Philosophie eben sein Höchstes erreicht hatte, nun rasch seinem Niedergange zustrebte. In Ruinen liegen die kaiserlichen Paläste, das Forum ist zerstört, die Campagna ist verödet. Da und dort auf dem Palatin und in seiner Nähe liegt ein Klosterhof, den die Mönche hier auf der Stätte früherer Kaiserherrlichkeit erbaut haben, in seinem Hofe schaukelt eine vereinzelte Palme ihren Wipfel, und nur die ewige Sonne strahlt noch immer so voll, so göttlich wie früher auf diese Welt von Trümmern und Ruinen.

Was ist Menschenschicksal? Was ist Völkerschicksal?




Blätter und Blüthen.

Wüstenbild. (Mit Abbildung S. 657). Wie tobte und lärmte es in den Straßen von Biskarah, der algerischen Stadt, an welcher vorüber die große Straße von Constantine nach der Sahara führt! Welch reges Leben herrschte an den zahlreichen Kaffeehäusern der Hauptstraße von diesem „Paris der Wüste“, wie es Baron Maltzahn nannte! Wie wild klangen die dumpfen Töne der Negertrommeln und die schrillen Töne der aus Geierknochen geschnittenen Pfeifen der Araber durcheinander! Auf den Straßen gingen unter allen Stämmen der Sahara und der Gebirge auch die verschleierten Söhne vom Stamme der Twaregg, weit aus dem Süden der glühenden Wüste. Wie gesagt, alle Stämme waren hier vertreten und Alle hatte ein gleicher Zweck hierher geführt, Alle wollten genießen!

Auf den Straßen vor ihren Häusern und hauptsächlich an den zahlreichen Kaffeehäusern traf man überall auf die reichgeschmückten unverschleierten Töchter der Freude, die Naïlijah, sogenannt von ihrem Stamme, den Ulad-Naïl, dem sie fast ohne Ausnahme angehören. Sie sind die unübertrefflichen, sinnberauschenden Tänzerinnen in diesem modernen Babel der Wüste.

Wochenlang lebte ich bereits in Biskarah, täglich und täglich hatte ich das tolle Leben mitgemacht, mitdurchkostet, oft aber auch mich still in einen Winkel irgend eines Kaffeehauses zurückgezogen, um meine Skizzen und Studien zu vermehren. Kaum dürfte es wohl einen zweiten Ort in der Welt geben, der solches Interesse für den Künstler böte.

Wirr und wüst war schließlich mein Kopf. In dem ganzen Orte kein Plätzchen, wohin nicht gegen Abend und die halbe Nacht hindurch das Gelärme und Getöse gedrungen wäre. Ich sehnte mich nach Ruhe. – So ließ ich mir denn oft gegen Abend mein Pferd satteln und ritt dann hinaus, hinaus in die große, schöne, heilige Wüste. Langsam im Schritt vorwärts reitend, ließ ich dann Ton um Ton zurück in Biskarah, bis nur noch, als ich schon weit, weit draußen war, die Schläge der wilden Trommel schwach zu mir herübertönten. Und auch diese verwehte bald der leise Zugwind; nur noch ganz vereinzelt, in langen Pausen ließ sich manchmal ein loser dumpfer Schlag hören und dann auch dies nicht mehr.

Es war ringsum Ruhe, ewige große Grabesruhe. Kein Vöglein ließ seine Stimme hören, Nichts! Meines Pferdes Schritte waren unhörbar auf dem weichen Sandboden und nur zuweilen, wenn es den schöngeformten Kopf mit den großen blauen Augen emporwarf, klangen die Ketten des Gebisses fast unheimlich in der tiefen Stille. Dann gab ich wohl auch meinem guten Thiere die Schenkel und sagte vorwärts! vorwärts! hinein in das unendliche Nichts, stundenlang. Ach! es war ein so wohliges Gefühl, von dem Abendwinde in dieser Jahreszeit umspielt zu sein, und auch mein Renner mochte dieses fühlen, denn ohne Aufmunterung jagte er fort und fort, immer wilder, immer schneller, bis manchmal schon tiefe Dunkelheit auf die stille Wüste herabgesunken war. Dann zügelte ich mein gutes Thier und stieg ab, legte mich auf den weichen schmeichelnden Sandboden und träumte oft noch stundenlang von Deutschland und Deutschlands neuerstandener Herrlichkeit. Mit gesenktem Kopfe wartete dann mein Pferd, Siroko hatten wir es genannt, bis sein Herr ausgeträumt, und oft mußte ich dann Feuerzeug und Compaß zur Hand nehmen, um den Rückweg zu finden. Von weit, weit draußen sah man aber schon die Lichter Biskarahs blinken und näher und näher rückte dann auch wieder die wilde, sinnverwirrende, eigentümlich packende Musik.

So ritt ich denn eines Tages wieder durch die Wüste, Sidi Akba zu. Ein Brief aus der lieben Heimath hatte mich verstimmt, und Siroko den Zügel auf den Hals gelegt, ritt ich still dahin und träumte. Durch ein „El Hamd-ul Ilah“ (Lob sei Gott) aus meinen Betrachtungen geweckt, schaute ich auf, und ein, wenn auch oft gesehenes, doch immer wieder wunderbar schönes Bild bot sich meinen Augen. Aus fernen Gegenden kommend, zog eine Karawane auf mich zu. Langsamen, gezogenen Schrittes mit schwanenartigen Halsbewegungen ging Kameel um Kameel vorbei, unter den hochbeinigen Schiffen der Wüste manch schwerbepacktes Eselein, das trippelnd Schritt zu halten suchte. Ich hatte mein Pferd angehalten, und freundlich gegrüßt von Jedem der kindlichen Araber, zog so die ganze Karawane an mir vorüber. Es mochten wohl weit über hundert Kameele sein. Neugierig schaute jedes mit seinen klugen Augen den einsamen Wanderer an, auch blieb wohl das eine oder andere einen [660] Moment stehen, und dann zog es gemessenen, elastischen Schrittes weiter, seinen vorangegangenen Gefährten nach.

Das letzte der Thiere war verschwunden; ich hatte mein Skizzenbuch hervorgezogen und war beschäftigt, das schöne Bild auf dem Papiere zu fixiren. Der Mond, welcher schon lange bleich am Horizonte gestanden, fing bereits an zu leuchten und seltsame Lichter zuckten über die weite Wüste und über das Skelet eines seiner schweren Pflicht erlegenen Kameels. Ich bestieg mein liebes Thier, und als ob es wüßte, daß ich heute eile, jagte es in wilder Flucht durch die todtenstille Ebene, Sidi Akba zu.

Albert Richter.




Seelenwanderung, wie se mei Nachber Traugott sich denkt.[VL 1]

Völmals ha ech schonn gedacht:
Was werd aus d’r Seele ware[1],
Wenn se kömmt, de gruße Nacht,
Un se muß von hinnen fahre?

5
Denn das stiht doch bombenfest,

Wenn se hier ’n Leib verläßt,
Muß se a änn neien arbe[2],
Denn was labt, das kann nech[3] starbe.

Un wo werd se nachen[4] sei?
In dar Walt ös se nech merre[5],
Un se kann doch meiner Trei’
Nech in’s Blaue komm su erre,
Un das ös ju a gewöß,
Daß se noch nech fertig ös,
’s muß doch wo ä Flackchen gabe,
Wo se weiter fort kann labe.

No, es göbt ju Walten satt,[6]
All die klänn un grußen Starne;
Jeder Platz de Menge hat,
Un ech denk’ mir’sch gar zu garne:
Miß mer[7] von d’r Arde fort,
Kriech’ mer salt[8] änn annern Ort,
Bis mer alle met’n Jahren
Oemmer haller, besser waren[9].

Sim mer[10] aber fertig erscht[11],
Nachen giht es off de Sonne,
Wo De Dich verwonn’re werscht[12],
Da ös lauter Licht un Wonne,
Da ös alle Nuth vorbei,
A vorbei de Starberei,
Nachen in änn schönnern Leibe
Warn mer höbsch beisammen bleibe.





Der Schwindel vor Gericht. In Nr. 12 der Gartenlaube rügten wir den Schwindel, welcher von Guben aus mit einem angeblichen Mittel gegen die Trunksucht getrieben werde. Die Verfertiger und Verkäufer dieses Mittels, welche der Volkswitz „Saufdoctoren“ genannt hatte, sind vom königl. Kreisgericht zu Guben wegen unbefugten Arzneimittelverkaufs in Untersuchung und Strafe genommen worden. Dabei hat sich herausgestellt, daß von den sieben Angeklagten nicht ein einziger Droguist ist, daß aber von dreien derselben einer wegen Hehlerei und unbefugten Arzneiverkaufs, der Andere wegen Diebstahls und der Dritte wegen Betrugs Geld-, Gefängniß- und Ehrverlustsstrafen erhalten haben. Alle Angeschuldigten sind zu einer bis fünf Wochen Haft verurtheilt worden. Ihr Mittel, das nicht blos die Trunksucht, sondern auch die Lungenschwindsucht vertreibt, besteht lediglich aus Enzianpulver oder -Extract, ist in jeder Apotheke für wenige Groschen zu haben und hilft weder gegen Trunk- noch Schwindsucht. Aber der Aufwand von 2000 Thalern Insertionskosten in einem Vierteljahre lockte so viel Dumme herbei, daß nur vom 1. bis 10. März das kaiserl. Postamt zu Guben an die Beklagten für 900 Arzneisendungen gegen 3000 Thaler Postvorschuß auszuzahlen hatte; eine ganze Jahreseinnahme derselben würde demnach weit über 100,000 Thaler betragen haben.




Drei theure Wochen. Man schreibt uns: „In Ihrem Blatte Nr. 30 veröffentlichen Sie den ‚rügenswerthen Usus‘, daß in klimatischen Curorten Südtirols die Wirthe für Betten, auf welchen ein Curgast gestorben, unverhältnißmäßige Entschädigungen beanspruchten. Dem dort Aufgeführten reiht sich folgende Rechnung an:

F. W. von B. wohnte vom 21. Juni an in einem Hôtel Creuznachs, das wir vorläufig noch nicht nennen wollen, und starb dort am 12. Juli. Für diese circa drei Wochen wurde von dem Hotelbesitzer folgende Rechnung präsentirt:

1
Bettstelle
Thlr.
60 –. –.
1
Sprungrahmen
15. –. –.
1
Matratze
30. –. –.
19
Bettücher à 3 Thaler
57. –. –.
8
kleine Tücher à 1 Thaler
8. –. –.
Tapeten
60. –. –.
Anstrich
20. –. –.
1
Waschtisch
30. –. –.
1
Nachtschrank mit Geschirr
20. –. –.
1
Plumeau
20. –. –.
Teppiche
34. –. –.
Entschädigung für Nichtvermiethbarkeit des Zimmers
1500. –. –.
1
Rechnung für Beköstigung und Logis vom 21. Juni bis 13. Juli
214. –. –.
Rechnung für Auslagen
18. 16. 6.
zusammen Thlr      2087. 12. 6.

Die Hinterbliebenen weigerten sich natürlich, diese übertriebene Forderung zu zahlen, und einigten sich schließlich mit dem Wirthe, indem sie 800 Thaler boten, die dieser annahm.“




Marlitt. Ueber die von uns bereits angekündigte „namenlose Geschichte“ der genannten Dichterin empfingen wir gestern von Marlitt’s Bruder nachfolgende Mittheilung, die wir wörtlich und als Antwort auf die vielen Anfragen zur Kenntniß unserer Leser bringen:

„Meine Schwester beklagt es tief, ihr Ihnen gegebenes Wort auch jetzt noch nicht einlösen zu können, weil ihr Kranksein während des Sommers sie gezwungen hat, ihre Feder oft monatelang feiern zu lassen. Die bisher namenlose Geschichte, welche nunmehr ihren eigentlichen Titel: ,Im Hause des Commerzienraths erhalten noch nicht so weit vorgeschritten, daß die Verfasserin mit Ruhe den Druck sofort beginnen lassen könnte; indeß darf ich Ihnen doch mittheilen, daß die Erzählung nunmehr ihrer alsbaldigen Vollendung entgegengeht.

Mit bestem Gruß                  Ihr

Alfred John.“


Kleiner Briefkasten.

J. H. in Tondern. African von Spir ist am 15. November 1837 im Gouvernement Cherson (Südrußland) geboren, studirte in Odessa, diente dann in der Marine als Officier. Seit 1867 in Deutschland, studirte er in Heidelberg und gab in Leipzig sein erstes philosophisches Werk, „die Wahrheit“, unter dem Namen Prais heraus, dem später mehrere kleine Schriften folgten. Sein Hauptwerk ist „Denken und Wirklichkeit“, dem sich neuerdings „Moralität und Religion“ anreihte. Spir lebt jetzt (verheirathet) in Stuttgart.



Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Außer der Fortsetzung der im dritten Quartal begonnenen Erzählung „Helene“. Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben, liegen für das vierte Quartal noch an Novellen vor: „Der Doppelgänger“ von Levin Schücking und „Vineta“ von E. Werner, Verfasser von „Am Altar“ und „Glück auf“.

Mit Bezug auf die in der heutigen Nummer abgedruckte Mittheilung dürfen wir wohl zugleich die Hoffnung aussprechen, daß unsere verehrte Mitarbeiterin Marlitt noch im Laufe des kommenden Quartals uns und unsere Leser mit Anlieferung der neuen Erzählung überraschen wird. “Im Hause des Commerzienrathes“.

Außerdem eine Reihe interessanter, belehrender und unterhaltender Artikel, deren Titelanzeige wir heute unterlassen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennige erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennige anstatt 1 Mark 60 Pfennige). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

Die Verlagshandlung.

  1. werden;
  2. erben;
  3. nicht;
  4. nachher;
  5. mehr;
  6. genug;
  7. müssen wir;
  8. dort;
  9. werden;
  10. sind wir;
  11. erst;
  12. wirst.

Anmerkungen der Vorlage

  1. Probe aus dem in diesem Jahre erscheinenden sechsten Hefte der „Bilder und Klänge aus Rudolstadt“ von A. Sommer.

    Worterklärungen: 1) werden; 2) erben; 3) nicht; 4) nachher; 5) mehr; 6) genug; 7) müssen wir; 8) dort; 9) werden; 10) sind wir; 11) erst; 12) wirst.