Die Gartenlaube (1876)/Heft 35

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[577]

No. 35.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Gretchen Frank mochte ungefähr zwanzig Jahre alt sein; sie war durchaus keine zarte, ideale Erscheinung, aber dafür ein wahres Bild von Jugend und Gesundheit. Es lag in ihrem ganzen Wesen etwas von der stattlichen, kräftigen Art des Vaters, und das frische, rosige Gesicht mit den klaren blauen Augen und den blonden Flechten über der Stirn sah jetzt, von dem hellen Scheine der Lampe angestrahlt, so reizend aus, daß man es begriff, daß der Assessor die schnöde Flucht „bis zur Bodenkammer“ vollständig vergaß und eiligst aufsprang, um seine Auserkorene zu begrüßen.

„Guten Abend, Herr Assessor!“ sagte das junge Mädchen, die Begrüßung etwas kühl erwidernd. „Also Sie waren es, der vorhin in den Hof fuhr? Ich setzte das gar nicht voraus, da Sie erst am Sonntage hier waren.“

Der Assessor fand für gut, die letzten Worte zu überhören. „Mich führen diesmal Amtsgeschäfte her,“ entgegnete er, „ein Auftrag von großer Wichtigkeit, den man mir anvertraut hat und der mich einige Tage hier in der Gegend festhält. Ich habe mir erlaubt, die Gastfreundschaft Ihres Herrn Vaters in Anspruch zu nehmen. Wir von der Regierung haben jetzt schlimme Zeit, Fräulein Margarethe. Ueberall dumpfe Gährung, geheime Umtriebe, revolutionäre Bestrebungen – die ganze Provinz ist eine einzige große Verschwörung.“

„Das brauchen Sie uns nicht erst zu sagen,“ meinte der Administrator trocken. „Ich dächte, das hätten wir hier in Wilicza aus erster Hand.“

„Ja wohl, dieses Wilicza ist der eigentliche Herd der Verschwörungen,“ rief der Assessor im Eifer. „In Rakowicz wagen sie das Spiel nicht so offen zu treiben; es liegt dicht bei L. und ist rechts und links von deutschen Colonien eingeschlossen – das genirt den Herrn Grafen Morynski doch einigermaßen, hier dagegen hat er freie Hand.“

„Und das günstigste Terrain,“ setzte Frank hinzu. „Bis zur Grenze Nordeck’sches Gebiet, nichts als Wald und die Förster und Forstaufseher darin zu den Befehlen der Fürstin. Man sollte meinen, die Grenze wäre so scharf bewacht, daß auch nicht eine Katze durch könnte, und doch geht es allnächtlich hinüber und herüber, und wer von drüben kommt, findet offene Thüren in Wilicza, wenn es auch vorläufig nur die Hinterpforten sind.“

„Wir wissen das Alles, Herr Frank,“ versicherte der Assessor mit einer Miene, die zum Mindesten Allwissenheit verkündete. „Alles, sage ich Ihnen. Aber wir können nichts thun, denn uns fehlt jeder Beweis. Es ist absolut nichts zu entdecken. Sobald sich Jemand von unserer Seite naht, ist das ganze Treiben in die Erde versunken. Auch meine Mission hängt damit zusammen, und da Sie die Polizeiverwaltung hier haben, so bin ich zum Theil auf Ihren Beistand angewiesen.“

„Wenn es sein muß! Sie wissen, ich gebe mich nur ungern zu solchen Diensten her, obgleich man im Schlosse darauf besteht, mich für einen Spion und Häscher zu halten, weil ich meine Augen nicht absichtlich verschließe und der Widersetzlichkeit meiner Leute mit voller Strenge entgegentrete.“

„Es muß sein. Es handelt sich um zwei sehr gefährliche Subjecte, die sich hier in der Gegend unter allerlei Vorwänden herumtreiben und womöglich dingfest zu machen sind. Ich bin ihnen übrigens bereits auf der Spur. Bei meiner Herfahrt traf ich mit zwei äußerst verdächtigen Individuen zusammen. Sie gingen zu Fuße.“

Gretchen lachte laut auf. „Ist das ein Verdachtsgrund? Sie hatten vermuthlich kein Geld, die Post zu bezahlen.“

„Bitte sehr um Entschuldigung, mein Fräulein – sie hatten sogar Geld genug für die Extrapost, denn sie fuhren in einer solchen an mir vorüber. Auf der letzten Station aber haben sie den Wagen verlassen und sich in auffälliger Weise nach allen möglichen Einzelheiten über Wilicza erkundigt. Die angebotene Führung dorthin lehnten sie ab und gingen zu Fuße weiter, aber mit Vermeidung der Landstraße, quer durch die Felder. Dem Postmeister wollten sie auf keine seiner Fragen Rede stehen. Ich traf leider erst auf der Station ein, als sie bereits fort waren, und die einbrechende Dämmerung machte für heute den weiteren Nachforschungen ein Ende, morgen aber werde ich sie mit allem Eifer wieder aufnehmen. Die Beiden sind jedenfalls noch in der Nähe.“

„Vielleicht sogar dort drüben,“ sagte Gretchen, in jene Richtung hinauszeigend, von wo die erleuchtete Fensterreihe des Schlosses durch das Dunkel herüberschimmerte. „Es ist ja heute großer Verschwörungsabend bei der Fürstin.“

Der Assessor fuhr in die Höhe. „Verschwörungsabend? Wie? Was? Wissen Sie das genau? Ich werde sie überraschen; ich werde –“

Der Administrator zog ihn lachend wieder auf seinen Sitz nieder. „Lassen Sie sich doch nichts weiß machen! Es ist eine übermüthige Idee von dem Mädchen da, weiter nichts.“

„Aber Papa, Du meintest doch selbst neulich, daß es ganz besondere Gründe hätte, wenn im Schlosse jetzt Fest auf Fest folgte,“ warf Gretchen ein.

[578] „Das meine ich allerdings. Die Fürstin mag Glanz und Pracht lieben, daß sie aber in einer Zeit wie die jetzige nur Sinn für Festlichkeiten haben sollte, traue ich ihr entschieden nicht zu. Diese großen Jagden und Bälle sind der einfachste und bequemste Vorwand, alle möglichen Persönlichkeiten in Wilicza zu vereinigen, ohne daß es besonders auffällt. Jetzt tanzen und diniren sie allerdings – man muß ja den Schein wahren – aber der größte Theil der Gäste bleibt über Nacht im Schlosse, und was geschieht, wenn die Kronleuchter ausgelöscht, möchte nicht ganz so harmlos sein.“

Der Assessor hörte mit gespannter Aufmerksamkeit diesen für ihn so interessanten Erörterungen zu; leider wurden sie unterbrochen, denn man rief den Administrator ab. Ein Krankheitsfall, der sein eigenes, sehr schönes Reitpferd betroffen, drohte eine ernste Wendung zu nehmen. Frank ging selbst, um nach dem Thiere zu sehen, und ließ die beiden jungen Leute allein.

Fräulein Margarethe wurde durch dieses unerwartete Alleinsein mit dem Assessor sichtlich unangenehm berührt; desto angenehmer war es offenbar dem Letzteren. Er drehte wohlgefällig sein Schnurrbärtchen, fuhr sich mit der weißen Hand durch die gekräuselten Haare und beschloß, die günstige Gelegenheit nach Kräften auszunutzen.

„Herr Frank hat mir vorhin mitgetheilt, daß er seine Stellung aufzugeben beabsichtigt,“ begann er. „Der Gedanke, ihn und die Seinigen nicht mehr in Wilicza zu wissen, würde mich unter anderen Umständen schwer getroffen haben, sozusagen wie ein Donnerschlag, aber da ich selbst nicht mehr allzu lange in L. bleiben werde –“

„Wollen Sie denn fort?“ fragte das junge Mädchen verwundert.

Der Assessor lächelte selbstbewußt. „Sie wissen ja, Fräulein Margarethe, daß bei uns Beamten mit der Beförderung meist eine Versetzung verbunden ist, und ich hoffe, nun baldigst Carrière zu machen.“

„Wirklich?“

„Ganz unzweifelhaft! Ich bin bereits Regierungsassessor, und das will in einem Staate wie der unserige Alles sagen. Es ist gewissermaßen die erste Stufe der großen Beamtenleiter, die direct zum Ministersessel empor führt.“

„Nun, bis dahin haben Sie doch noch ein wenig weit,“ meinte Gretchen in ziemlich mißtrauischem Tone.

Der kleine Herr lehnte sich mit einer Würde zurück, als sei der einfache Rohrstuhl, auf dem er Platz genommen hatte, schon der erwähnte Ministersessel.

„In Jahr und Tag läßt sich dergleichen allerdings nicht erreichen, aber für die Zukunft – man muß stets das Große im Auge haben, mein Fräulein; man muß sich immer nur die höchsten Ziele stecken; der Ehrgeiz ist der edelste Sporn des Beamten. Was mich speciell betrifft, so warte ich täglich auf den Regierungsrath.“

„Darauf warten Sie aber schon sehr lange,“ warf das junge Mädchen ein.

„Weil mir überall Neid und Mißgunst im Wege stehen,“ rief der Assessor mit aufwallender Empfindlichkeit. „Wir jüngeren Beamten werden ja von den Herren Vorgesetzten niedergehalten, so lange es nur irgend geht. Mir fehlte bisher die Gelegenheit, mich auszuzeichnen, jetzt endlich hat man die Nothwendigkeit eingesehen, eine Mission von Wichtigkeit in meine Hände zu legen. Seine Excellenz der Herr Präsident hat mir selbst die nöthigen Instructionen ertheilt und mich beauftragt, ihm persönlich Vortrag über das Ergebniß meiner Recherchen zu halten. Wenn es günstig ausfällt, so ist mir der Regierungsrath gewiß.“

Er blickte bei den letzten Worten so vielsagend zu der jungen Dame hinüber, daß sie unmöglich im Zweifel sein konnte, wer zur künftigen Regierungsräthin auserkoren sei, dennoch beobachtete sie ein hartnäckiges Schweigen.

„Dann würde wohl auch meine Versetzung erfolgen,“ fuhr der Assessor fort. „Wahrscheinlich sogar nach der Hauptstadt; ich habe einflußreiche Verwandte dort. Sie kennen die Hauptstadt noch nicht, mein Fräulein,“ und nun begann er das Residenzleben zu schildern, die dortigen Vergnügungen, die einflußreichen Verwandten und wußte das Alles äußerst geschickt um seine Person zu gruppiren. Gretchen hörte mit einem Gemisch von Neugier und Bedenklichkeit zu. Die glänzenden Bilder, die da vor ihr aufgerollt wurden, hatten doch viel Verlockendes für ein junges, in der Einsamkeit des Landlebens erzogenes Mädchen; sie stützte den blonden Kopf in die Hand und sah nachdenklich auf die Tischdecke. Das Bedenkliche der Sache lag für sie augenscheinlich nur in der unvermeidlichen Zugabe des jetzigen Assessors und künftigen Ministers. Dieser jedoch bemerkte seinen Vortheil recht gut und säumte nicht, ihn zu verfolgen; er rüstete sich zu einer Hauptattaque.

„Aber ich werde mich trotzdem einsam und verlassen fühlen,“ sagte er mit Pathos, „denn mein Herz bleibt doch hier zurück. Fräulein Margaretha –“

Gretchen erschrak; sie sah, daß der Assessor, der nach ihrem Namen eine große Kunstpause gemacht, jetzt aufstand, in der ganz unzweifelhaften Absicht, sich vor ihr auf die Kniee niederzulassen, aber die Feierlichkeit und Umständlichkeit, womit er diese Präliminarien der Liebeserklärung in Scene setzte, sollten verhängnißvoll für ihn werden – sie ließen dem jungen Mädchen Zeit, zur Besinnung zu kommen; sie sprang gleichfalls auf.

„Entschuldigen Sie, Herr Assessor – ich glaube – ich glaube, die Hausthür ist soeben in’s Schloß gefallen. Papa kann nicht herein, wenn er zurückkommt. Ich werde ihm öffnen –“ damit flog sie aus dem Zimmer.

Der Assessor stand mit seiner Kunstpause und den halb eingebogenen Knieen da und sah äußerst betroffen aus. Es war heute das zweite Mal, daß seine Auserwählte vor ihm die Flucht nahm, und diese Sprödigkeit fing nachgerade an, ihm unbequem zu werden. Es fiel ihm freilich nicht ein, an einen ernstlichen Widerstand zu denken; es war Eigensinn, Coquetterie, vielleicht sogar – der Bewerber lächelte – Furcht vor seiner Unwiderstehlichkeit. Man wagte augenscheinlich nicht, ihm das Ja zu verweigern, und floh nun in reizender Schüchternheit die Entscheidung. Dieser Gedanke hatte etwas außerordentlich Tröstendes für den Herrn Assessor, und wenn er auch bedauerte, wieder einmal nicht zum Ziele gekommen zu sein, so zweifelte er doch durchaus nicht an seinem endlichen Siege; er verstand sich ja so ausgezeichnet darauf.

Der Vorwand, den das junge Mädchen gebraucht hatte, war nicht ganz aus der Luft gegriffen. Die große Eingangsthür war wirklich, von einer unkundigen Hand geworfen, mit großem Geräusch in’s Schloß gefallen. Der Administrator brauchte nun freilich bei seiner Rückkehr nur vom Hofe aus die Magd zu rufen und sich öffnen zu lassen, aber daran schien seine Tochter gar nicht zu denken, denn sie flog wie der Sturmwind durch das Nebenzimmer in den Hausflur.

Ein Schmerzens- und ein Schreckensruf ertönten zu gleicher Zeit. Gretchen hatte die Thür, welche in den Flur führte, mit voller Gewalt aufgestoßen, gerade in dem Augenblicke, als von draußen Jemand die Hand auf die Klinke legte; der Fremde taumelte, von dem Anprall des Thürflügels getroffen, einige Schritte zurück und wäre wahrscheinlich hingestürzt, wenn sein Gefährte ihn nicht rasch umfaßt und gehalten hätte.

„Mein Gott, was ist denn geschehen?“ rief das junge Mädchen erschrocken.

„Ich bitte tausendmal um Entschuldigung!“ sagte eine schüchterne Stimme, im Tone außerordentlicher Höflichkeit.

Gretchen blickte verwundert auf den Mann, der sich so höflich entschuldigte, weil man ihn gestoßen, und der sich jetzt eiligst wieder emporrichtete, ehe sie aber noch Zeit zur Antwort fand, trat der zweite Fremde näher und wendete sich direct an sie.

„Wir wünschen Herrn Administrator Frank zu sprechen; man sagte uns, er sei zu Hause.“

„Papa ist augenblicklich nicht hier, wird aber sogleich kommen,“ versicherte Gretchen, der dieser späte und unerwartete Besuch eine große Erleichterung gewährte, denn er zeigte ihr einen Ausweg zwischen der Unhöflichkeit, den Assessor bis zur Rückkehr des Vaters allein zu lassen, und der Nothwendigkeit, ihm Gesellschaft zu leisten; sie führte die Fremden deshalb auch nicht in die Arbeitsstube Frank’s, wie es sonst gewöhnlich geschah, sondern dirigirte sie ohne Weiteres in das Wohnzimmer.

„Zwei Herren, die den Papa zu sprechen wünschen,“ sagte sie erklärend zu dem verwundert aufschauenden Assessor; dieser erhob sich; die Fremden traten grüßend näher, während das junge

[579] Mädchen sich freundlich erbot, den Vater benachrichtigen zu lassen, und zu diesem Zwecke nochmals hinausging.

Sie hatte soeben eine der beiden Mägde fortgesandt und war im Begriff, in das Zimmer zurückzukehren als zu ihrer größten Verwunderung der Assessor in dem matt erleuchteten Hausflur erschien und sich eilfertig erkundigte, ob bereits nach dem Herrn Administrator geschickt sei. Gretchen bejahte.

Der Assessor trat dicht an sie heran und sagte im Flüsterton: „Fräulein Margaretha – das sind sie.“

„Wer?“ fragte sie überrascht.

„Die beiden Verdächtigen. Ich habe sie. Sie sind in der Falle.“

„Aber Herr Assessor, das sind doch nun und nimmermehr Polen,“ warf das junge Mädchen ein.

„Es sind die beiden Individuen, die vorhin in der Extrapost an mir vorüberfuhren,“ versetzte er hartnäckig. „Dieselben, die sich später in so verdachterregender Weise benommen haben. Jedenfalls werde ich meine Maßregeln treffen; ich werde inquiriren, nöthigenfalls verhaften.“

„Aber muß denn das gerade in unserem Hause sein?“ fragte das junge Mädchen in sehr ungnädigem Tone.

„Die Pflicht meines Amtes!“ sagte der Assessor mit Würde. „Vor allen Dingen gilt es, den Eingang zu sichern und etwaige Fluchtversuche zu hindern. Ich werde die Hausthür abschließen.“ Er drehte wirklich den Schlüssel um und zog ihn ab.

„Aber was fällt Ihnen denn ein?“ protestirte Gretchen. „Papa kann ja nicht in’s Haus, wenn er zurückkommt.“

„Wir stellen die Magd an die Thür und geben ihr den Schlüssel,“ flüsterte der kleine Herr, der in einen fieberhaften Amtseifer gerathen war. „Sie öffnet, sobald Herr Frank kommt, und ruft dann gleich die Knechte herbei, um die Thür zu besetzen. Wer weiß, ob die Delinquenten sich gutwillig fügen!“

Gretchen war und blieb mißtrauisch. „Aber woher wissen Sie denn, daß es überhaupt Delinquenten sind? Wenn Sie sich nun irren?“

„Fräulein Margaretha, Sie haben keinen Polizeiblick,“ erklärte der Assessor mit Ueberlegenheit. „Ich verstehe mich auf Gesichter, und ich sage Ihnen, es sind die echtesten, ausgeprägtesten Verschwörerphysiognomien, die mir je vorgekommen sind. Mich täuscht man nicht, und wenn man auch ein noch so reines Deutsch spricht. Ich werde vorläufig nur inquiriren, bis Herr Frank erscheint. Es ist freilich gefährlich, solche Menschen ahnen zu lassen, daß sie entdeckt sind, zumal wenn man allein mit ihnen ist, sehr gefährlich, aber die Pflicht gebietet es.“

„Ich gehe mit Ihnen,“ versicherte Gretchen beherzt.

„Ich danke Ihnen,“ sagte der Assessor in einem so feierlichen Tone, als habe sich das junge Mädchen mindestens entschlossen, mit ihm zum Schaffot zu gehen, „und nun lassen Sie uns handeln!“

Er rief die Magd herbei, gab ihr die betreffenden Weisungen und kehrte dann in das Zimmer zurück. Gretchen folgte ihm; sie war von Natur ziemlich tapfer und sah daher der Entwickelung der Sache mit ebenso viel Neugier wie Besorgniß entgegen. Die beiden Fremden hatten offenbar keine Ahnung von dem drohenden Ungewitter, das sich über ihren Häuptern zusammenzog, schienen sich vielmehr in vollkommener Sicherheit zu wähnen. Der Jüngere, eine auffallend hohe Gestalt, der seinen Gefährten fast um Kopfeslänge überragte, ging mit verschränkten Armen auf und nieder, während der Aeltere, eine schmächtige Figur mit blassen, aber angenehmen Zügen, den angebotenen Platz eingenommen hatte und ganz harmlos im Lehnstuhle saß.

Der Assessor warf sich in die Brust. Die Ueberzeugung von der Wichtigkeit des Momentes und das Bewußtsein, vor den Augen seiner zukünftigen Braut zu operiren, hatten etwas Erhebendes für ihn. Er sah aus wie das personificirte Weltgericht, als er vor die beiden „Individuen“ hintrat.

„Ich habe mich den Herren noch nicht vorgestellt,“ begann er, vorläufig noch den Ton der Höflichkeit festhaltend. „Regierungsassessor Hubert aus L.“

Die Beiden waren jedenfalls keine Neulinge mehr in der Verschwörung, denn sie erbleichten nicht einmal bei Nennung dieser amtlichen Eigenschaft. Der ältere Herr erhob sich, machte eine stumme, aber sehr artige Verbeugung und nahm dann wieder seinen Platz ein. Der jüngere dagegen neigte nur leicht das Haupt und sagte nachlässig: „Sehr angenehm.“

„Dürfte ich nun auch meinerseits um die Namen der Herren bitten?“ fuhr Hubert fort.

„Wozu das?“ fragte der junge Fremde gleichgültig.

„Ich wünsche sie zu kennen.“

„Ich bedaure – wir wünschen nicht, sie zu nennen.“

Der Assessor nickte mit dem Kopfe, als wollte er sagen: Das habe ich mir gedacht. „Ich bin bei dem Polizeidepartement in L. angestellt,“ betonte er.

„Eine sehr schätzenswerthe Stellung,“ meinte der Fremde, dabei aber glitt sein Blick mit beleidigender Gleichgültigkeit über den Beamten hin und blieb auf dem jungen Mädchen haften, das sich in die Nähe des Fensters zurückgezogen hatte.

Hubert war einen Moment lang verblüfft. Das mußten hartgesottene Verschwörer sein, auch die Erwähnung des Polizei-Departements vermochte es nicht, ihnen ein Zeichen des Schreckens zu entlocken, und doch mußte sie ihnen nothwendig eine Ahnung ihres Schicksals geben. Aber man hatte Mittel, diese Verstocktheit zu brechen; das Verhör wurde fortgesetzt.

„Sie fuhren vor etwa zwei Stunden in einer Extra-Postchaise an mir vorüber?“

Diesmal antwortete der jüngere Fremde gar nicht; die Sache schien ihn zu langweilen, der ältere aber erwiderte höflich: „Gewiß, wir haben Sie gleichfalls in Ihrem Wagen bemerkt.“

„Sie verließen aber die Chaise auf der letzten Station und gingen zu Fuße weiter. Sie wollten ausgesprochenermaßen nach Wilicza –; Sie vermieden die Landstraße und schlugen einen Seitenweg quer über die Felder ein.“ Der Assessor war wieder ganz Weltgericht, als er diese Anklagen, eine nach der anderen, in wahrhaft vernichtender Weise herausschleuderte, und sie blieben diesmal nicht ganz wirkungslos. Der ältere der Verschwörer begann unruhig zu werden, der jüngere dagegen, den der „Polizeiblick“ des Beamten sofort als den Gefährlichsten herausgefunden hatte, trat rasch an den Stuhl seines Begleiters und legte den Arm wie schützend auf die Lehne.

„Wir haben überdies noch unsere Paletots angezogen, als es anfing kühl zu werden, und im Posthause ein Paar Handschuhe vergessen,“ entgegnete er mit unverhehlter Ironie. „Wollen Sie nicht diese beiden Thatsachen Ihren interessanten Notizen über unser Thun und Treiben hinzufügen?“

„Mein Herr, man spricht nicht in solchem Tone mit einem Vertreter der Regierung,“ rief Hubert gereizt.

Der Fremde zuckte statt aller Antwort die Achseln und wandte sich nach dem Fenster.

„Mein Fräulein, Sie ziehen sich so vollständig zurück. Wollen Sie uns nicht durch Ihre Gegenwart von der unerquicklichen Unterhaltung dieses Herrn befreien?“

Der Assessor ergrimmte in gerechtem Zorne; diese Keckheit ging ihm denn doch zu weit, und da der Administrator jeden Augenblick eintreten mußte, so ließ er die bisherige Vorsicht fahren und versetzte in hohem Tone:

„Ich fürchte, es steht Ihnen noch manches Unerquickliche bevor. Zuvörderst werden Sie mir Ihre Namen nennen, Ihre Papiere ausliefern – ich fordere das; ich bestehe darauf. Mit einem Worte: Sie sind verdächtig.“

Das schlug endlich ein. Der blasse Herr fuhr mit allen Zeichen des Schreckens empor. „Um Gotteswillen!“

„Aha, regt sich das Schuldbewußtsein endlich?“ triumphirte Hubert. „Sie haben gleichfalls gezuckt,“ wandte er sich an den Anderen, gebieterisch an ihm in die Höhe blickend. „Leugnen Sie nicht! Ich habe ein Zucken in Ihrem Antlitze gesehen.“

Es war allerdings ein ganz eigenthümliches Zucken gewesen, das bei dem Worte „verdächtig“ um den Mund des jungen Mannes flog, und es wiederholte sich jetzt in noch stärkerer Weise, als er sich zu seinem Begleiter herabbeugte.

„Aber weshalb machen Sie der Sache nicht ein Ende?“ fragte dieser leise und bittend.

„Weil sie mir Spaß macht,“ war die ebenso leise Antwort.

„Hier wird nicht geflüstert!“ fuhr der Assessor dazwischen. „Keine neue Verschwörung in meiner Gegenwart, das bitte ich mir aus. Noch einmal: die Namen – wird man mir nun antworten?“

„Ja so!“ sagte der junge Fremde, sich wieder emporrichtend. „Wir sind also in Ihren Augen Verschwörer?“

„Und Hochverräther,“ ergänzte Hubert mit Nachdruck.

[580] „Und Hochverräther! Natürlich, das pflegt sich meistentheils zu ergänzen.“

Der Assessor stand völlig starr ob dieser Verwegenheit. „Ich fordere Sie zum letzten Male auf, mir Ihre Namen zu nennen und Ihre Papiere zu zeigen,“ rief er. „Sie verweigern mir Beides?“

Der Fremde setzte sich in sehr ungenirter Weise auf die Seitenlehne des Armstuhls und kreuzte die Arme.

„Ganz recht! Das ist ja eben die Verschwörung.“

„Herr, ich glaube, Sie wollen Ihren Spott mit mir treiben,“ schrie der Assessor, kirschroth vor Zorn. „Wissen Sie, daß das Ihren Fall ganz außerordentlich erschwert? Das Polizeidepartement in L. –“

„Muß sich in einer sehr traurigen Verfassung befinden, da es Sie zum Vertreter hat,“ vollendete der junge Mann mit unerschütterlicher Gemüthsruhe.

Das war zu viel; der Beleidigte fuhr wie besessen in die Höhe.

„Unerhört! Also so weit ist es schon gekommen, daß man es wagt, den Behörden offen Hohn zu sprechen, aber das soll Ihnen theuer zu stehen kommen. Sie haben die Regierung in meiner Person beleidigt und angegriffen. Ich verhafte Sie; ich lasse Sie geschlossen nach L. transportiren.“

Er schoß wie ein Kampfhahn auf seinen Gegner los, der ihn ruhig herankommen ließ und ihn dann ohne Weiteres zurückschob. Es war nur eine einzige Bewegung des kraftvollen Armes, aber der Herr Assessor flog wie ein Ball auf das nahestehende Sopha, das ihn zum Glück auffing.

„Gewalt!“ rief er außer sich. „Ein Attentat auf meine Person! Fräulein Margarethe, holen Sie Ihren Vater –“

„Mein Fräulein, holen Sie lieber ein Glas Wasser und gießen Sie es diesem Herrn über den Kopf!“ sagte der Fremde. „Er hat es nöthig.“

Das junge Mädchen fand keine Zeit, den beiden so verschiedenartigen Aufforderungen nachzukommen, denn man vernahm eilige Schritte im Nebenzimmer, und der Administrator, der schon mit äußerstem Befremden die an der Hausthür getroffenen Vorsichtsmaßregeln gesehen und die lauten Stimmen gehört hatte, trat rasch ein.

Der Assessor lag noch im Sopha und zappelte mit Händen und Füßen, um wieder auf die Beine zu kommen, was ihm bei der Kürze derselben und der Höhe des Sophas nicht sogleich gelingen wollte.

„Herr Frank,“ rief er, „wahren Sie den Eingang! Rufen Sie die Knechte herbei! Sie haben die Polizeiverwaltung von Wilicza. Sie müssen mir beistehen. Ich verhafte diese beiden Subjecte im Namen –“ hier schlug ihm die Stimme über; er focht, verzweiflungsvoll mit den Händen in der Luft herum, kam aber nun vermittelst eines gewaltigen Ruckes zum Sitzen.

Der junge Fremde hatte sich erhoben und ging auf den Administrator zu. „Herr Frank, Sie führen in meinem Namen die Polizeiverwaltung von Wilicza, und da werden Sie sich hoffentlich bedenken, Ihren eigenen Gutsherrn auszuliefern.“

„Wen?“ rief der Administrator zurückprallend.

Der Fremde zog ein Papier aus der Brusttasche und reichte es ihm. „Ich komme ganz unerwartet, und Sie werden mich nach zehn Jahren kaum wiedererkennen. So mag mir denn dieser Brief zur Legitimation dienen; Sie richteten ihn vor einigen Wochen an mich.“

Frank warf einen raschen Blick auf das Blatt, dann einen zweiten auf die Züge des vor ihm Stehenden. „Herr Nordeck?“

„Waldemar Nordeck!“ bestätigte dieser. „Der gleich in der ersten Stunde, wo er seine Güter betritt, als ‚Subject‘ verhaftet werden sollte. In der That ein angenehmes Willkommen!“

Er blickte nach dem Sopha hinüber; dort saß der Assessor starr und steif wie eine Bildsäule. Der Mund stand ihm weit offen; seine Arme waren schlaff am Körper niedergesunken, und er starrte den jungen Gutsherrn wie geistesabwesend an.

„Welch ein peinliches Mißverständniß!“ sagte der Administrator in äußerster Verlegenheit. „Es thut mir sehr leid, Herr Nordeck, daß es gerade in meinem Hause vorfallen mußte. Der Herr Assessor wird unendlich bedauern –“

Der arme Assessor! Er war so vernichtet, daß er nicht einmal mehr die Kraft hatte, sich zu entschuldigen. Der Herr und Gebieter von Wilicza, der mehrfache Millionär, der Mann, von dem der Präsident noch neulich gesagt hatte, daß man ihn im Falle eines Besuchs in Wilicza mit besonderer Rücksicht behandeln müsse – und den hatte der Untergebene geschlossen nach L. transportiren wollen! Zum Glück nahm Waldemar keine Notiz weiter von diesem letzteren; er stellte seinen Begleiter dem Administrator und dessen Tochter vor.

„Herr Doctor Fabian, mein Freund und Lehrer. – Wir sahen das Schloß erleuchtet und hörten, daß eine größere Festlichkeit dort stattfindet. Ich bin den Gästen meiner Mutter vollständig fremd, und da meine plötzliche Ankunft begreiflicher Weise eine Störung veranlassen würde, so zogen wir es vor, einstweilen hier einzusprechen, wenigstens bis zur Abfahrt der Gäste. Ich habe überdies noch mit Ihnen zu reden, Herr Frank, hinsichtlich Ihres Briefes, den ich erst vor einigen Tagen erhielt. Ich war auf Reisen, und da ist er mir von Ort zu Ort nachgeschickt worden. Können wir eine halbe Stunde lang ungestört sein?“

Frank öffnete die Thür zu seinem Arbeitszimmer. „Darf ich bitten, hier einzutreten?“

Waldemar, im Begriff zu gehen, wandte sich noch einmal um. „Bitte, erwarten Sie mich hier, Herr Doctor! Hoffentlich gerathen Sie jetzt nicht mehr in Gefahr, als Verschwörer und Hochverräther behandelt zu werden. Ich komme bald zurück.“ Er verneigte sich leicht gegen das junge Mädchen und verließ dann, von dem Administrator begleitet, das Zimmer. Der Assessor schien für ihn nicht mehr zu existiren.

„Herr Assessor,“ sagte Gretchen halblaut, indem sie sich dem unglücklichen Vertreter des Polizeidepartements in L. näherte. „Ich gratulire zum Regierungsrath!“

„Mein Fräulein!“ stöhnte der Assessor.

„Sie halten ja wohl Seiner Excellenz dem Herrn Präsidenten persönlich Vortrag über das Ergebniß Ihrer Recherchen?“

„Fräulein Margaretha!“

„Ja, ich habe nun einmal keinen Polizeiblick,“ fuhr das junge Mädchen unbarmherzig fort. „Wer konnte auch denken, daß unser junger Herr eine so echte und ausgeprägte Verschwörerphysiognomie haben würde!“

Der Assessor hatte bisher mühsam Stand gehalten; den Spott von diesen Lippen ertrug er nicht. Er erhob sich, stammelte, da die Hauptperson nicht mehr zugegen war, eine Entschuldigung gegen den Doctor und schützte dann Uebelbefinden vor, um sich so schnell wie möglich zurückzuziehen.

„Mein Fräulein,“ sagte Doctor Fabian in seiner schüchternen Weise, aber in mitleidigem Tone, „dieser Herr scheint etwas excentrischer Natur zu sein. Ist er vielleicht – –?“ – er griff mit bezeichnender Geberde an die Stirn.

Gretchen lachte. „Nein, Herr Doctor! Er will nur Carrière machen, aber dazu braucht er seiner Meinung nach ein paar Verschwörer, und die glaubte er in Ihnen und Herrn Nordeck gefunden zu haben.“

Der Doctor schüttelte bedenklich den Kopf. „Der arme Mann! Es liegt doch etwas Krankhaftes in seinem Wesen. Ich glaube nicht, daß er Carrière machen wird.“

„Ich auch nicht,“ sagte Gretchen mit aller Entschiedenheit. „Dazu ist unser Staat denn doch zu vernünftig.“

(Fortsetzung folgt.)




Album der Poesien.
Die Fischer auf Capri.

Hast Du Capri gesehn und des felsenumgürteten Eilands
Schroffes Gestad als Pilger besucht, dann weißt Du, wie selten
Dorten ein Landungsplatz für nahende Schiffe zu spähn ist:
Nur zwei Stellen erscheinen bequem. Manch mächtiges Fahrzeug
Mag der geräumige Hafen empfahn, der gegen Neapels
Lieblichen Golf hindeutet und gegen Salerns Meerbusen.
Aber die andere Stelle (sie nennen den kleineren Strand sie)
Kehrt sich gegen das ödere Meer, in die wogende Wildniß,
Wo kein Ufer Du siehst, als das, auf welchem Du selbst stehst.
Nur ein geringes Boot mag hier anlanden; es liegen

[581]

Fischer von Capri.
Originalzeichnung von Louis Schulz.

[582]

Felsige Trümmer umher, und es braust die beständige Brandung;
Auf dem erhöhteren Fels erscheint ein zerfallenes Vorwerk,
Mit Schießscharten versehn; sei’s, daß hier immer ein Wachtthurm
Ragte, den offenen Strand vor Algiers Flagge zu hüten,
Die von dem Eiland oft Jungfrauen und Jünglinge wegstahl;
Sei’s, daß gegen den Stolz Englands und erfahrene Seekunst
Erst in der jüngeren Zeit es erbaut der Napoleonide,
Dem Parthenope sonst ausspannte die Pferde des Wagens,
Ihn dann aber verjagte, verrieth, ja tödtete, seit er
An’s treulose Gestad durch schmeichelnde Briefe gelockt ward.
Steigst Du herab in den sandigen Kies, so gewahrst Du ein Felsstück
Niedrig und platt in die Wogen hinaus Trotz bieten der Brandung;
Dort anlehnt sich mit rundlichem Dach die bescheidene Wohnung
Dürftiger Fischer; es ist die entlegenste Hütte der Insel,
Blos durch riesige Steine beschützt vor stürmischem Andrang,
Der oft über den Sand wegspült und die Schwelle benetzt ihr.
Kaum hegt, irgend umher, einfachere Menschen die Erde;
Ja kaum hegt sie sie noch, es ernährt sie die schäumende Woge.
Nicht die Gefilde der Insel bewohnt dies arme Geschlecht; nie
Pflückt es des Oelbaums Frucht; nie schlummert es unter dem Palmbaum:
Nur die verwilderte Myrthe noch blüht und der wuchernde Cactus
Aus unwirthlichem Stein, nur wenige Blumen und Meergras;
Eher verwandt ist hier dem gewaltigen Schaumelemente
Als der beackerten Scholle der Mensch und dem üppigen Saatfeld.
Gleiches Geschäft erbt stets von dem heutigen Tage der nächste:
Immer das Netz auswerfen, es einziehn, wieder es trocknen
Ueber dem sonnigen Kies, dann wieder es werfen und einziehn.
Hier hat frühe der Knabe versucht in der Welle zu plätschern,
Frühe das Steuer zu drehen gelernt und die Ruder zu schlagen,
Hat als Kind muthwillig gestreichelt den rollenden Delphin,
Der, durch Töne gelockt, an die Barke heran sich wälzte.
Mög’ Euch Segen verleihen ein Gott, sammt jeglichem Tagwerk,
Friedliche Menschen, so nah der Natur und dem Spiegel des Weltalls!
Möge, da größeren Wunsch Euch nie die Begierde gelispelt.
Möge der Thunfisch oft, Euch Beute zu sein, und der Schwertfisch
Hier anschwimmen! Es liebt sie der Esser im reichen Neapel.
Glückliche Fischer! wie auch Kriegsstürme verwandelt den Erdkreis,
Freie zu Sclaven gestempelt und Reiche zu Dürftigen, ihr nur
Saht hier Spanier, saht hier Britten und Gallier herrschen,
Ruhig und fern dem Getöse der Welt, an den Grenzen der Menschheit,
Zwischen dem schroffen Geklüft und des Meeres anschwellender Salzfluth,
Lebet! Es lebten wie ihr des Geschlechts urälteste Väter,
Seit dies Eiland einst vom Sitz der Sirene sich losriß,
Oder die Tochter August’s hier süße Verbrechen beweinte.

August von Platen.




Christliche Liebe der römischen Clerisei.


Da sich unser hochwürdiger Clerus so gern als den Geschäftsträger der Religion der Liebe und Bevollmächtigten des milden Erlösers aufspielt, auch sehr namhafte Verdienste um die Erziehung und Bildung der christlichen Nationen zu haben behauptet – welche sich freilich in der geringen Erleuchtung der italienischen, spanischen, französischen, tirolischen, ober- und niederbaierischen, westphälischen, brasilianischen, mexikanischen, überhaupt sämmtlicher katholischer Volksmassen nicht recht klar herausstellen – so möchte es vielleicht als heilsames Correctiv seiner Einbildung dienen, wenn hin und wieder einzelne Acte seiner Liebe, seiner Erziehungs- und Bildungskunst aus dem localen Dunkel, in welches sie sich gern hüllen, zu allgemeiner Betrachtung hervorgezogen werden.

So fand vor wenigen Wochen zu Schruns im Montavon ein eigenthümliches Begräbniß statt. Das Montavon ist ein interessantes Thal, das im Süden des Landes Vorarlberg liegt, von der Ill durchströmt und durch eine hohe Gebirgskette von dem bündnerischen Prätigau getrennt wird. Der vordere Theil der Landschaft, wo die Dörfer Schruns und Tschaguns zu finden, ist warm und fruchtbar; die inneren Thäler sind kühler und weniger ergiebig, aber mit schönen Almen gesegnet. Die Montavoner wandern vielfach in die Fremde und kommen namentlich als Krautschneider bis an den Niederrhein hinunter. Zu Hause sind sie fleißig, betriebsam, mitunter etwas tiefsinnig und grüblerisch. Es sollen sich unter diesen Bauern verhältnißmäßig mehr Leute finden, welche Bücher lesen, als in manchen Städten. Gegen die Fremden erweisen sie sich sehr zuvorkommend und höflich. Auch ist das Talent, eine Wirthschaft einzurichten und gut zu führen, hier oft zu treffen. Die Gasthöfe zu Schruns haben zwar den ländlichen Typus, der allen unverdorbenen Menschen so sehr behagt, noch weislich beibehalten, sind aber innerhalb dieser Schranke – ohne Unter- und Oberkellner, ohne „Bougies“ und „Service“ – vortrefflich zu nennen. Der Ruf von den seltenen Reizen dieses Thales und von der Liebenswürdigkeit seiner Bewohner scheint in jüngster Zeit bis in die Mark gedrungen zu sein, denn unter den heurigen Fremden stellte sich plötzlich auch für längeren Aufenthalt der preußische Culturkampfsminister ein, welcher zu seiner mehr und mehr hervortretenden Beliebtheit gleich anfangs einen guten Grund legte, indem er Allen, die ihn mit „Excellenz“ ansprachen, sofort bedeutete, er habe seine sämmtlichen Titel in Berlin gelassen und sei lediglich als Dr. Falk in’s Montavon gekommen.

In dem wohlgebauten und wohlhabenden Schruns lebte nun unter ärmlichem Dache ein wackerer Schmiedegeselle, der sich Johann Josef Zudrell nannte, im Dorfe aber allgemein „das Schmidli“ hieß. Er war im Jahre 1814 geboren und heirathete mit dreiundzwanzig Jahren eine einundzwanzigjährige Montavonerin, der er mit inniger Liebe ergeben blieb, bis sie eine Woche vor ihm starb. Ursprünglich war er Schmiedemeister gewesen, aber da er als solcher unter seinen mächtigen Genossen ohne Capital nicht gedeihen konnte, so verkaufte er seine Werkstätte und ging bei seinem Vetter als Geselle in die Arbeit. Er hatte sich namentlich mit der Verfertigung von Hobeleisen für jene Krautschneider zu beschäftigen, welche, wie wir oben erzählt, in die fernsten Länder gehen. Damit verdiente er täglich einen Gulden; ein kleiner Grundbesitz, den er sehr gut zu behandeln wußte, gewährte einigen Zuschuß, und seine Frau, die eine geschickte Blumenzüchterin war, brachte auch etliches Geld in’s Haus. So lebte das Schmidli arm, aber ehrlich dahin. Seine Dürftigkeit hielt es nicht ab, zu seinem eigenen Sohne noch den einer verstorbenen Schwester in Pflege zu nehmen, ihn studiren zu lassen und mitunter auch neue Bücher zu kaufen. In seinem Innern gährte es nämlich ohne Unterlaß; er meditirte immerdar über Staat und Kirche und konnte vor lauter Nachdenken manche Nacht nicht einschlafen. Um nun zu erfahren, was andere Denker über dieselben Dinge herausgebracht, verwandte er seine Mußestunden am liebsten auf die neue deutsche Literatur, namentlich auf Journale und populär philosophische Werke. Er wollte aber über seine geistigen Errungenschaften auch mit andern Leuten reden, ja trotz seiner Bescheidenheit sogar mit ihnen disputiren.

Zu diesem Ideenaustausch wählte er immerhin lieber die Studirten als die Ungeschulten, und wie früher mit dem verstorbenen Dr. Vonbun, dem Sammler der evangelischen Sagen, so pflog er später seine wöchentlichen Colloquien auch mit dessen Nachfolger, dem vielbelesenen Dr. Huber zu Schruns, ja es war ihm keine kleine Freude, wenn er sich zuweilen auch mit gebildeten Touristen auseinandersetzen, sie widerlegen oder von ihnen lernen konnte. In den letzten Sommern mehrten sich diese Gelegenheiten, denn sein leiblicher Sohn hatte sich als Fremdenführer aufgethan. Die Alpenfahrer, die ihn suchten, und unter ihnen oft sehr bekannte Namen, kamen seitdem gern in das unansehnliche Häuschen, durchstöberten die Büchersammlung und plauderten lange mit dem Alten, dessen Wissen sie Alle überraschte.

Auch in religiösen Dingen pflegte das Schmidli selbst zu denken und sich eine gewisse Freiheit der Forschung einzuräumen, was ihn den geistlichen Herren, die ja weder denken, noch forschen dürfen, sehr verdächtig machte. Das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit wollte ihm so wenig einleuchten, wie dem weisen Hefele, dem großen Ketteler und den anderen deutschen Bischöfen, nur daß der Montavoner Schmiedgeselle weniger Schmiegsamkeit bewies – er hatte keine Pfründe zu verlieren. Da er seine Meinung über jene katholische Errungenschaft offen aussprach, so entstand ein Anstoß mit der Priesterschaft und deshalb ging Zudrell heuer nicht mehr zur österlichen Beichte. Er war aber in allen Stücken ein gerader, wahrheitsliebender Mann, der für seine Ueberzeugung überall offen eintrat, obgleich er nur vom Taglohn lebte. Drum wurde er auch von allen Schrunsern geachtet, von seinen engeren Freunden hochgeschätzt. In seiner Art war er der einzige im Lande Vorarlberg.[1]

[583] Aber auch er kam zu sterben, und man meldete dem Herrn Pfarrer den Todesfall. Dieser faßte Bedenken und meinte, das Schmidli sei, wenn nicht ein Heide, doch ein arger Ketzer und „Verfassungsfreund“ gewesen; sei neulich hinter die österliche Beichte gegangen, habe lasterhafte Bücher gelesen und auch manche neuere Glaubenswahrheiten nicht sehr fest geglaubt. Er müsse nach Brixen telegraphiren; von dort gehe alle Weisheit aus. Aber die Brixener fordern das Jahrhundert gern in die Schranken. Es erging daher der Bescheid, dem todten Schmidli, wenn er zu Grabe getragen würde, die clericale Begleitung gänzlich zu versagen.

Der selige Zundrell hatte aber zwei Söhne hinterlassen, einen leiblichen, welcher, wie schon gemeldet, Fremdenführer, dazu Holzschnitzler, aber leider auch ein Bücherleser, und den Pflegling, Namens Tschugmel, welcher Lehrer an der Lehrerbildungsanstalt zu Innsbruck geworden ist. Beide nahmen das Brixener Orakel mit Ruhe entgegen, schrieben aber sofort mit eigener Hand drei sogenannte Partezettel, hefteten sie an drei Schrunser Häuser an und luden „nur auf diesen Wege“ zum Leichenbegängniß ihres Vaters ein, das am Freitag, den 28. Juli, Nachmittags halbzwei Uhr stattfinden sollte.

Indessen lief die Kunde von diesen Vorgängen bald nach Bludenz und nach Feldkirch, den beiden gebildeten und freisinnigen Städten des Walgaues. Die Freunde des Verstorbenen und der Verfassung waren rasch entschlossen, sich zusammen zu thun, dem theuern Landsmanne die letzte Ehre zu erweisen und, so weit es blinden Laien möglich, dem Begräbnisse Anstand und Würde zu verleihen. Drum zeigte sich auch am besagten Freitag auf dem einzigen Sträßchen, das in’s Thal führt, ein ungewöhnliches Leben. Viele Landleute, Männer und Weiber in feiertäglicher Tracht, sowie eine große Anzahl von Gefährten, waren in Bewegung und strebten gegen Schruns in seinem grünen Winkel.

Zur angesagten Stunde versammelten sich die Leidgäste vor des Schmidli anspruchsloser Behausung. Es mochten ihrer hundert erschienen sein, was für Manche, namentlich jene aus dem Dorfe, immerhin ein Wagniß, denn die Vergeltung wird nicht auf sich warten lassen. Die Bürgermusik von Bludenz, in gleicher schmucker Tracht, eröffnete den Zug und stimmte, statt des versagten Glockengeläutes, Beethoven’s Trauermarsch an. Ihr folgte der Sarg, den sechs ehrenfeste Bürger von Schruns auf die Schultern genommen hatten; nach diesem gingen der Kreuzträger mit dem umflorten Kreuze, der Sohn und Pflegesohn und die Leidtragenden aus Nah und Fern, darunter der Reichstagsabgeordnete Rudolf Ganahl, der Bezirkshauptmann Kenner von Feldkirch und andere angesehene Herren und Frauen.

Als sie im warmen Sonnenscheine auf dem Friedhofe angekommen waren, trat Herr Dr. Huber aus Schruns vor das offene Grab, erhob seine Stimme und dankte allen, die durch ihr Hiersein zeigten, daß sie den von der römischen Kirche Verstoßenen nicht als Verstoßenen aus der Christenheit betrachteten, allen, die dem für das Recht der freien Ueberzeugung mit der Fahne in der Hand gefallenen Kämpfer das letzte Geleit gegeben. Er schloß mit der Aufforderung, für den Dahingeschiedenen das Vaterunser, „das gemeinsame Gebet der Christen“, zu beten, worauf alle Anwesenden mit lauter Stimme seinen Ansinnen entsprachen. Hierauf legte Herr Rudolf Ganahl, „als Führer und Vertreter der liberalen Partei im Lande“, einen von den Bludenzer Verfassungsfreunden gespendeten Kranz auf das Grab „des wackern, unerschrockenen Streiters für Freiheit, Wahrheit und Recht“. (Einen zweiten Kranz hatte eine geistreiche Dame gespendet, die Wittwe des überall geliebten und verehrten, edlen J. Sh. Douglaß, der vor zwei Jahren am Spullers-See durch einen Sturz vom Felsen verunglückte.) Als dritter Grabredner trat Herr Kaufmann, ein junger Ingenieur von Bludenz, auf. Man möge, sprach er, kühn und offen mitkämpfen den Kampf gegen die clericale Vergewaltigung; dann werde das Andenken an den heimgegangenen Zudrell niemals der Vergessenheit anheimfallen.

Nach diesem setzte Herr Heim, der Redacteur der Feldkircher Zeitung, das umflorte Kreuz in die Erde, „das Zeichen der Liebe und der Versöhnung“, worauf Christian Zudrell, der Sohn, der Fremdenführer und Holzschnitzler, mit bewegter Stimme allen Anwesenden für ihre ehrenvolle Theilnahme dankte. So endete ein Leichenbegängniß, dem zwar der Pfarrer und das Glockengeläute, nicht aber Andacht, Ernst und würdige Feierlichkeit fehlten. Ersterer war an diesem Tage in die Berge gegangen, um nicht zuschauen zu müssen, wie sein Verstoßener geehrt wurde.

Uebrigens lag es sehr nahe, bei dieser Gelegenheit an eine Geschichte zu denken, die sich vor zwei Jahren zu Hillisau im Bregenzer Wald ereignet hat. Dort lebten damals zwei Lehrer, welche bei allen Processionen am lautesten vorbeteten und in den ultramontanen Casinos die glühendsten Reden gegen die „Freimaurer“ abließen. Nun traf es sich aber, daß mehr als ein Dutzend Schulmädchen ihren Eltern offenbarten, die frommen Herren Lehrer hätten sich verbrecherischer Angriffe gegen sie schuldig gemacht. Der eine derselben ging nun sofort in den Wald und erhängte sich, war aber kaum abgeschnitten, als der ehrwürdige Clerus von Hillisau den Selbstmörder auch schon mit außergewöhnlicher Feierlichkeit bestattete. Es liegt allerdings im Interesse der Brixner Geistlichkeit, die Angriffe auf Feiertagsschülerinnen und schöne Knaben unter der gewöhnlichen Taxe zu halten, dagegen aber den Zweifel an die Unfehlbarkeit des Papstes als die schwärzeste Verworfenheit zu brandmarken, obgleich der Glaube daran auch den deutschen Bischöfen nur par ordre du Moufti eingetrieben worden ist.

Damals betrat der Beneficiat von Wilburger zu Hillisau die Kanzel, bejammerte das unverdiente Schicksal seiner „edlen“ Freunde und verwünschte jene Eltern, welche die fluchwürdige Anzeige bei Gericht gemacht. Nur ihre teuflische Bosheit habe das entsetzliche Unglück herbeigeführt!! Das ländliche Publicum ist durch die dermalige clericale Erziehung und Bildung schon dermaßen corrumpirt, daß es nach der Predigt die armen Eltern schadenfroh verhöhnte: „Heute hat er’s ihnen hineingesagt.“

Der andere Lehrer wurde übrigens damals eingefangen und bald darauf zu Feldkirch zu acht Jahren schweren Kerkers verurtheilt. Er hatte sich mit ekelhafter Scheinheiligkeit zu vertheidigen und alle seine Schandthaten abzuleugnen versucht. Auch der Herr Beneficiat erhielt für seine schönen moralischen Sprüche wegen Aufwiegelung eine Gefängnißstrafe von acht Tagen.

Bei diesem Leichenzuge zu Schruns kam uns aber noch ein anderer in Erinnerung, der vor fünf Jahren in einer Stadt am Eisack die Gemüther beträchtlich erregte. Am 21. Juni 1871 verschied nämlich im „Elephanten“ zu Brixen ein junger Ingenieur protestantischer Confession, Herr Leopold von Razynski aus Altona, der in Meran keine Genesung gefunden und sich daher wieder nach der Heimath gesehnt hatte.

Mutter und Schwester, die bei ihm waren, gedachten nun, an den protestantischen Pastor in Meran zu telegraphiren und ihn zum Begräbniß zu laden, allein der hochwürdige Stadtpfarrer war auch schon da und erklärte, daß nach einem Beschlusse des noch hochwürdigeren Ordinariates ein protestantischer Geistlicher in Brixen überhaupt keine kirchliche Function vollziehen dürfe. Seine passive Assistenz sagte der Herr Stadtpfarrer allerdings zu, was die erwähnten Damen in Ermangelung eines Besseren annahmen – aber Seine Hochwürden zogen später dennoch vor, durch ihre Abwesenheit zu glänzen. In der Stadt des heiligen Cassian kennt man die Liebe, wenigstens die christliche, nicht. Eigentlich wollte man die Ketzerleiche auch in der christkatholischen Todtencapelle nicht zulassen; da jedoch der Elephantengasthof überfüllt war, so mußte es gleichwohl geschehen, wobei sich denn etliche schon weidlich gehetzte Brixner gar christlich darüber aufhielten, daß man „den crepirten Lutheraner“ in ihr Heiligthum einlasse. Endlich kam es zum Leichenzuge, welcher sich still und feierlich zur „Grabstätte der Akatholiken“ begab. Diese ist ein kleiner Pferch, der an den katholischen Friedhof angeleimt ist, mit einem ärmlichen Mäuerlein umgeben, mit einem ärmlichen Gatter, und einem ärmlichen Schilde, auf welchem jene Aufschrift steht. Der „Elephant“ hatte die Leuchter geborgt, das Crucifix und andere Nothwendigkeiten aber waren im Laden gekauft worden, weil weder das Spital noch die Pfarrkirche die geweihten Gegenstände zu solchem Gebrauche herleihen wollte. Zufällig war nun damals der Feldmarschalllieutenant Graf von Castiglione auf der Durchreise in Brixen, bekanntlich ein edler, geistreicher Mann. Dieser stellte sich, indignirt über solches Treiben, in voller Uniform an die Spitze des Zuges und warf auch die erste Schaufel Erde auf den Sarg. Darauf trat die Gemahlin des Bezirkshauptmanns von Chizzali muthig hervor und betete mit lauter Stimme ein Vaterunser am Grabe, und alle Anwesenden stimmten gehobenen Herzens ein. Und wie die leicht bewegliche Menge ist [584] – als sie gewahrt hatte, daß sich solche Leute an der Trauerfeier betheiligt, und daß die Frau Bezirkshauptmännin vorgebetet, brach neuerdings ein Murren aus. „Die katholischen Pfaffen hätten der Leiche doch etwas mehr Ehre erweisen können, denn ein Protestant ist doch auch ein Christ, so zu sagen.“

Das marmorne Grabmal, das bald nachher aufgerichtet wurde, ist übrigens seitdem von fanatischen Händen schon öfter beschädigt worden. Dazu finden sich in diesen Kreisen immer Kräfte.

Solche seltsame Geschichten sind im Bisthum nicht selten zu erleben.

Der jetzige Fürstbischof von Brixen, H. Vincenz von Gasser, ist ein geistreicher Mann, der in aller Wissenschaft auf der Höhe des Jahrhunderts steht. Er lebt in seiner Burg fast ohne Fehl und Sünde, pflegt in seinem Haushalte ascetische Einfachheit und verwendet alle Einkünfte, die ihm nach seinem geringen Bedarfe übrig bleiben, auf Zwecke, die er für heilsam hält. Im Umgang beobachtet er eine Feinheit, welche seine Landsleute nur selten erreichen. Er hat selbst unter den Männern keinen persönlichen Gegner, und die Weiber bitten alle knieend um seinen Segen, wenn er würdevoll durch Brixens stille Gassen wandelt. Es geschieht zwar selten. Immer ist es schade, wenn ein solcher Mann jetzt Bischof wird. Je mehr Verstand er besitzt, desto mehr muß er ja opfern.

Wie schön ist der Vorsatz, einem blinden, verwahrlosten Volke die Augen zu öffnen, seine Erziehung und Aufklärung zu übernehmen, eine unwissende träge Clerisei für Wissenschaft und geistige Thätigkeit zu erwärmen, die gebildeten Männer und Frauen, die „den Pfaffen“ ausweichen, wieder mit ihnen zu versöhnen, alle für die Gemeinsamkeit des christlichen Zieles, die Veredlung der Menschheit, zu begeistern, auf diese Art den ganzen Sprengel umzuformen und ihn voll neuen erfreulichen Lebens dem Nachfolger zu hinterlassen; allein die Parabel von dem vergrabenen Pfunde scheint im Katholicismus gleichwohl den geistigen Fortschritt nicht zu verbieten. Oder soll die Kanzel immer nur zu politischen Hetzereien, nicht auch zu vernünftigen Zwecken verwendet werden? Wäre es nicht des Versuches werth, nach unzähligen Milliarden abgeleierter Vaterunser einmal auch eine neue Idee in diese verödeten Geister zu leiten? Der gestirnte Himmel, der Bau der Welt und der Erde, der Thiere, der Pflanzen, sie sind ja auch lauter Wunder, die von der Weisheit Gottes zeugen und das menschliche Herz nicht minder erheben, als die Wunden der Jungfer Lateau und andere Jesuitenschwänke; durch solche Bestrebungen würde der Stand der Priester allen Menschenfreunden theuer werden; er würde wieder wie vor Zeiten nicht nur der erste, sondern auch der geachtetste im Lande sein.

Zur Zeit wird freilich jeder neue Bischof, der aus dem stillen Bücherleben in die geistliche Praxis tritt, schon in den Flitterwochen wahrnehmen, daß das Christenthum in seinem Sprengel noch gar nicht angebrochen ist, Gottvater lebt bekanntlich „im Austrag“; der heilige Geist hat seine Functionen eingestellt (daß er beim Vaticanum mitgewirkt, wird ja allgemein als Fabel anerkannt); von dem Herrn Jesu Christ geht noch mitunter die Rede, aber er hat, gleichsam sich auch in’s Privatleben zurückzuziehen, in dem Herzen der Mamsell Alacoque eine Commandite auf Erden gegründet, deren Actionäre mehr himmlische Vortheile ziehen sollen, als er selbst zu gewähren im Stande wäre. Die Weltregierung hat die Mutter Gottes übernommen; wo ihre Fürsicht nicht ausreicht, treten die lieben Heiligen ein, welche durch Gelübde, Geschenke, Processionen und Wallfahrten bestochen werden müssen. Eine Andacht, eine Feierlichkeit folgt der andern; die beste Arbeitszeit geht in der Kirche auf, und das Volk wird trotz seiner Heiligkeit täglich ärmer und bedauernswerther.

„O du grundgütiger Himmel!“ sagt der neue Bischof nach solchen Betrachtungen seufzend zu sich selber. „Abgesehen von einigen Handgriffen, welche unsere Priester für specifisch christlich ausgeben, leben wir doch Alle noch mitten in der blödesten Vielgötterei, im blindesten Heidenthume. Aber es soll Licht werden. Herr Generalvicar, lassen Sie sofort einen aufgeweckten Hirtenbrief hinausgehen, sagen Sie, daß der bischöfliche Stuhl auf die bisherige Naivetät seiner Diöcesanen verzichte! Sie sollen lernen, aufgeklärt, gebildet werden. Nicht die Freimaurer sind das größte Uebel, sondern die Dummheit ist es. Fort mit dem heidnischen Trödel! Laßt uns endlich Christen werden!“

Aber der Generalvicar reist zuerst über die Berge nach Rom, wo der heilige Vater vor dem Bambino kniet, während der Vatican sein Medusenhaupt schüttelt und dann spricht: „Lassen wir’s lieber beim Alten! Jetzt pickt noch Alles zusammen, aber wenn wir z. B nur das Märlein von Adam und Eva wegblasen, so rumpelt das ganze künstliche Gerüst über einander. Wenn wir die Bauern so klug machen wollten, müßten wir zuerst selbst etwas lernen. Wir haben uns bisher mit Messelesen und Sündenvergeben kunstlos, aber anständig durchgeschlagen. Sollen wir nun selbst den Ast absägen, auf dem wir sitzen? Fort, ja fort, aber nicht mit dem süßen Heidenthume, das uns nie geschadet, sondern, wie die Honoratioren des Ober-Innthales schon längst begehrt, fort mit der infernalischen Intelligenz, die uns jenes nie ersetzen kann!“

So mag es seiner Zeit Herrn Vincenz Gasser ergangen sein. Auch er gedachte vielleicht, den schlummernden Geist seiner Herren und Ritter, seiner Bürger und Bauern zu wecken und im Brixener Bisthume ein geläutertes Christenthum einzuführen, aber auch er wurde von der römisch-heidnischen Strömung fortgerissen. Um volles Vertrauen zu gewinnen, schritt er aber im heidnischen Geiste bald ebenso energisch einher, wie er’s ursprünglich im christlichen gewollt. Am vollständigen Opfer seines Intellects sollte Niemand zweifeln.

So ließ er denn seine Bischofsjahre in lauter unnützen Bestrebungen verlaufen. Hauptsächlich lag ihm der Widerstand gegen jede Verbesserung im Schulwesen und die Glaubenseinheit am Herzen. So verlor er seine Zeit mit Hetzereien, welche bei den Denkenden nur Mitleid erregt hätten, wenn sie nicht dem Lande so schädlich geworden wären. Wie seine bairischen Kampfgenossen hat aber auch er nur eine Niederlage nach der andern zu verzeichnen. Auf seiner Seite ist seit zwanzig Jahren nicht der mindeste Fortschritt zu bemerken; Alles, was etwa bessere Zeiten verspricht, geht von den Liberalen aus. Von Allem, was er angestrebt, hat er nichts erreicht. „Qui nihil fecit!“ werden eines Tages selbst seine Verehrer von ihm sagen.




Bayreuther Festtagebuch.
Nr. 2 Vom 14.–17. August.


14. August.     

Die Bezeichnung „Sommerfrische“ klingt wie ein Spott, wenn man sie auf unsere Bayreuther Festtage anwenden will. Wenn der Regen in Strömen vom Himmel fiele, so könnte man nicht mehr aufgespannte Schirme erblicken, als sie auf den Straßen gegen die liebe Sonne gebraucht werden. Mein scherzhaftes Bonmot vom „artistischen Calvarienberg“ macht also mit Glück die Runde, und da ich zu den bestaccreditirten Verehrern des Meisters zähle, auch als solcher bekannt bin, so dürfen mich die Torquemadas und Peter Arbues der „Zukunftsmusik“ nicht einmal deshalb verbrennen. Es wäre auch zu heiß, um noch Scheiterhaufen anzuzünden. Ist aber ein „schlechter Witz“ einmal in die Welt gesetzt, so ist er fruchtbar und mehrt sich, und ein grimmiger Gegner Wagner’s will meinen „Calvarienberg“ bereits mit Erbsen pflastern und uns auf den Knieen zum Theater hinaufrutschen lassen. Der Vorschlag war eines Hanslick oder Bernuth oder Gumprecht würdig, aber von diesen Dreien hat ihn keiner gemacht, denn es wäre gefährlich ihn zu machen. In solchen Situationen darf es nur die Selbstironie wagen, die Wahrheit zu sagen, und mein Humor schützt mich vor allem Fanatismus der orthodoxen Wagner-Verehrer.

Das materielle Leben in Bayreuth wird mit jedem Tage schlechter. So weit ich gereist bin, nie habe ich miserabler gegessen und getrunken. Der Mensch, auch der enthusiastischste, lebt nicht allein von „Motiven“ aus Wagner’s Musikdramen. In der Theaterrestauration auf dem „Calvarienberg“ ist es besser. Sie könnten für fünf Mark eine leidlich civilisirte Table d’hôte finden, aber mit Hindernissen, bei welchen, meines Erachtens, die Qualität [585] der Getränke vor Trunksucht schützt. Man wird in Bayreuth also mit Geschick immer mehr entmaterialisirt, und so fuhr ich heute per Droschke zur Table d’hôte auf den Calvarienberg, um wenigstes nicht total kampfunfähig zu sein, wenn die Vorstellung um vier Uhr beginnen würde.

Glauben Sie mir, es erquickt Leib und Seele, wenn nach den materiellen Misèren des Tages das Reich Wagner’s beginnt und nach den Heuschrecken- und Wildhoniggenüssen der Quell dieser seltenen Kunstoriginalität sprudelt. Was poesievoll ist, versteht Freund Wagner auch im Aeußerlichen einzurichten. Kurz vor Beginn jedes Dramas wird das Pubicum durch eine Fanfare zum Eintritt in das Theater aufgefordert, und höchst sinnig wird jedesmal ein „Motiv“ aus dem darzustellenden Stück geblasen. So im Rheingold das „Rheingoldmotiv“, in der Walküre das „Schwertmotiv“, im Siegfried das „Siegfriedmotiv“, in der Götterdämmerung das „Walhallamotiv“. Es setzen uns diese Signale unwillkürlich in eine andere Stimmung. In zehn Minuten ist, dank der vortrefflichen praktischen Einrichtungen, das Haus gefüllt. Zu spät darf Keiner kommen, um die Anwesenden nicht zu stören, und ohne Gedränge füllt und leert sich das Haus.

Die „Walküre“. – Die Fanfare wiederholt sich. Der deutsche Kaiser tritt ein. Ein begeistertes Hoch empfängt den greisen Imperator; er grüßt freundlich zurück; die Lampen verdunkeln sich und das unsichtbare Orchester fällt ein.

Wie ein Orgelton.

Es ist eigenthümlich, wie tolerant ich hier gegen die Gegner Wagner’s werde. Nicht, daß ich muß; die Menschen sind verschiedenartig organisirt und verschieden empfänglich. Das ist es nicht allein. Nein, ich begreife jetzt vollkommen, daß selbst poesievolle und phantasiebegabte Naturen sich ablehnend der Wagner’schen Musik gegenüber verhalten können, denn das ganze Wesen dieser Musik – ist nicht für das moderne Theater gemacht. In diesem ist eine andere Akustik als hier in Bayreuth. Die Blasinstrumente erdrücken den Gesang; es kommen immer neue Einzelheiten zur Geltung, und ich verstehe es vollständig, daß auf der eine Seite die Gegnerschaft eine aufrichtige, auf der andern Seite der Enthusiasmus zum großen Theile ein affectirter sein konnte.

Man sehe und höre die Walküre im Wagner-Theater, und man wird die „unendliche Melodie“ nicht mehr für eine Phrase halten. Man sehe und höre sie in unseren modernen Theatern, und die Gegnerschaft wird vielleicht berechtigter sein als der Enthusiasmus. Eine mächtig anziehende Poesie athmet durch den ganzen ersten Act. In der stark-mythologischen Liebesscene zwischen Bruder und Schwester (Siegmund und Siegelinde) erreichen das Melodiöse und die orchestrale Interpretation ihren Höhepunkt. Wir fühlen uns mitten in die Göttersagen hineinversetzt und rechten nicht mehr mit dem Texte. Der dämonische Gesang der Walküren auf dem Walkürenfelsen im zweiten Acte regt, verbunden mit der Scenerie und dem vielbewegten Leben auf der Bühne, dem Jagen der Wolken, dem Zucken der Blitze, unsere Phantasie so gewaltig auf, daß wir ganz vergessen würden, im Theater zu sein, wenn nicht – in der Scene des bezeichneten Walkürenrittes ganz miserable Pappfiguren als wildes Heer in der „Wolfsschlucht“ vorüberzögen, eine Scene, die in München durch als Walküren verkleidete Reiter zehnmal besser dargestellt wurde. Ueberhaupt hat der Maschinist Brand die vorangegangenen Reclamen nicht gerechtfertigt. Horizont und Himmel, Gewitter und Sturm sind vorzüglich. Der Maschinismus im Uebrigen läßt viel zu wünschen übrig, und die Scene, wo Hunding den Siegmund tödtet, indem das Schwert des Letzteren an Wotan’s Speer zerspringt, ging durch schlechtes Manöver der Wolken total in die Brüche. Ebenso war der „Feuerzauber“ am Schlusse ziemlich bescheiden. Alles Andere, Musik und Gesang, war großartig schön in diesem Theater.

Nach jedem Acte eine Stunde Pause. In abgekühlter freier Luft promenirt man draußen, stärkt sich durch einen Imbiß, plaudert, und der ganze Platz bietet den Anblick einer hocheleganten Soirée à la stella dar.

Die Vorstellung war vorüber. Erschöpft gingen wir zur Stadt zurück. Ich fastete eine Cotelette zum Souper, das ich nicht mehr bekommen konnte, begnügte mich mit Brod und Käse und legte mich zur Ruhe.

15. August.     

„Siegfried“. Heute Morgen reiste der Kaiser ab, aber das „Kaiserwetter“ blieb. Der alte Herr hat ohne jegliche Ostentation alle Herzen gewonnen. Eine Französin von Distinction, welche sonst nicht gerade für uns Deutsche schwärmt, sagte mir doch ganz plötzlich, als sie den Kaiser sah:

„Je comprends, c’est un homme qu’il faut estimer!“

Und ich war so malitiös galant, zu bedauern, daß Seine Majestät dieses „Hochachtungszeugniß“ aus so schönem Munde nicht persönlich habe entgegennehmen können.

Flüchtig sah und sprach ich gestern Abend Liszt im Theater. Es ist erstaunlich, wie dieser grand seigneur der Kunst, je älter er wird – schöner wird. So wenig die Profile einander ähneln, macht die ganze Erscheinung doch einen Eindruck, der an Dante erinnert, als er noch in Florenz weilte und die Düsterkeit des Exils noch keine Wolken auf seine Stirn gelagert hatte. Franz Liszt ist ja so recht eigentlich der Lord-Protector der „Zukunftsmusik“ gewesen, wie Hans von Bülow, der leider nicht hier ist, ihr geistig bedeutendster Kämpfer war.

Daß mit Liszt zugleich Schaaren von Clavierjünglingen und -Jungfrauen nach Bayreuth geströmt sind, versteht sich von selbst. Liszt braucht ja nur zu einem musikalische Nebenmenschen „Guten Tag“ zu sagen, und der „Schüler“ oder die „Schülerin Liszt’s“ ist fertig. Die „Männchen“ sind kenntlich an den langen Haaren à la Liszt, und die „Weibchen“ zeichnen sich durch einen keck-schief aufgesetzten Hut à la Tirolienne aus. Aber auch sonst blitzt manche originelle Erscheinung aus dem Menschengewühl auf. So ein Russe, dessen „Nam’ und Ort“ Niemand kennt, und der – eine Art von Damenfederhut auf dem Kopfe trägt. Ein anderer Quidam, ein Yankee, höchst modern gekleidet, trägt – Sandalen. Was solche exceptionell sein wollende Existenzen eigentlich bezwecken, mögen die Götter wissen.

Zwischen zwölf und ein Uhr annectirten mich zwei Hamburger Kaufleute, ein Paar alte Freude von mir. Ohne Widerstand zu leisten, ließ ich mich in ihren Wagen setzen und wir dinirten leidlich auf dem Calvarienberge, als uns der Champagner verdorben wurde durch das Gerücht, die Vorstellung werde heute nicht stattfinden, indem der Sänger Betz heiser geworden sei. Anfangs sträubte sich Jeder, an die Nachricht zu glauben. Der Castellan des Theaters, bei dem wir anfragen ließen, wußte von Nichts. Da kam ein Bekannter aus der Stadt und bestätigte die Nachricht. Er hatte die Absageplakate selbst gelesen.

„Und Wagner hat bei einer so wichtigen Sache nicht für eventuellen Ersatz gesorgt?!“

Das war die Frage, die ringsum laut wurde.

Ich schließe meine heutige Aufzeichnung mit dem ersten Worte, mit welchem sie begann: Was wir heute nicht zu sehen und zu hören bekamen, war –

„Siegfried.“

16. August.     

Zur gewohnten Zeit, gegen zwei Uhr, fuhr ich wieder den Calvarienberg hinauf, der auch heute ein Blumenbeet von Namen war und wo sogar – die orientalische Frage vertreten war. Die Vertretung hatte eine Dame von junonischer Schönheit am Arme und hieß – Graf Andrassy. Sie sehen also, der Friede ist vorläufig als gesichert zu betrachten. So lange Andrassy in Bayreuth weilt, gehen die Uchatiuskanonen nicht los. Ich habe den Grafen einst auch persönlich gekannt. Das war in jenen Tagen, wo der Strick und die Kugel sich den Patrioten als Verlobte empfohlen, in jenen Tagen schöner, aber gefährlicher Jugend-Illusionen. – Der Graf hat sich wunderbar conservirt. Wenn sein glänzend schwarzes Haar Original und kein Nachdruck ist, so beneide ich ihn darum. Er ist ein vollendeter Elegant, ohne geckenhaft zu sein, und bewegt sich auf dem Boden der Bayreuther Kunstrepublik so sicher, als sei er mit anderen Noten ebenso vertraut, wie mit den diplomatischen. Die Egalité herrscht übrigens vollständig. Man spricht Jeden an und wird von Jedem angesprochen. Die Großherzöge von Mecklenburg und Weimar, die Herzöge von Anhalt und Meiningen promeniren und plaudern unter der Menge und mit ihr. Die schönen Frauen schimmern wie Blumen, obgleich man nicht leugnen kann, es sind eine Menge welker Lilien mit künstlichen Rosen gefärbt darunter. –

„Fragen Sie doch nicht, wer hier ist, fragen Sie: wer ist [586] nicht hier?“ rief ein exaltirter Wiener recht bezeichnend aus.[2] Bodenstedt, , Wilhelmj, Liszt, Makart, Hellmesberger – ich greife auf’s Gerathewohl in’s volle Leben hinein und an allen Fingern sitzen die Namen – Rothschild (der Chef der Wiener Firma).

Apropos, dem Letztgenannten soll bei der Aufführung der „Walküre“ ein Malheur passirt sein. Er kam zu spät und mußte den ganzen ersten Act draußen bleiben, denn sowie die zweite Fanfare geblasen ist, werden die Eingangsthüren geschlossen, damit die Zuschauer durch Nichts mehr in ihrer Illusion gestört werden, damit ihnen kein Ton, kein Wort verloren gehe. Die Freiheit hört auf; die Gleichheit beginnt. Uebrigens ist dies eine neue nachahmungswerthe Strenge.

Mit dem Drama „Siegfried“ – – – (ich muß hier eine Parenthese machen und bemerken, wenn ich es nicht bereits gethan habe, daß das Wort „Oper“ für die Werke Wagner’s gar nicht in Anspruch genommen wird, weshalb denn auch billiger Weise manches müßige Parteigezänk ohne Gegenstand wird) – also mit dem Drama „Siegfried“ verschwindet immer mehr Alles, was an den Charakter des Liedes nur noch erinnern könnte, des Liedes oder der selbstständigen „Melodie“. Die Sänger müssen streng als Schauspieler auftreten; der Gesang wird zur gesungenen Rede, welche wie die Sprache den Tanzrhythmus der Melodie nicht mehr gestattet. Der Gesang bedeutet das Pathos der Rede. Faßt man diese Werke von diesem Gesichtspunkte auf, so haben wir eine große culturgeschichtliche Erscheinung vor uns: die Umgestaltung des Drama. Es wird uns dann leichter, die Harmonie schön zu finden, als wenn wir den Begriff der Oper nicht fahren lassen. Leider wird es nur den Parteien auch in der Kunst leichter zu streiten, als sich ruhig zu verständigen.

Die musikdramatischen Effecte im „Siegfried“ sind großartig, aber sie strengen die Nerven des Zuschauers auf’s Höchste an. Man braucht nur die Herren unseres Berufs der Feder hier anzusehen. Das Schreiben wird ihnen meistens schwer, denn die Hand zittert vor Ueberspannung der Nerven. Der Styl, den die „Paulusse“ des Meisters in ihren Episteln schreiben, gestaltet sich schwülstig; was die „Saulusse“ in die Welt schicken, ist eckig und holperig, und ich behaupte dreist, erst nach Monden wird es möglich sein, beiderseitig eine wirkliche Stellung zu der Erscheinung von Bayreuth zu nehmen.

Denken Sie sich z. B. den „Gesang des Waldvögleins“ im „Siegfried“, den der Held in Folge eines eingenommenen Tropfens Drachenblut versteht. Ein gesungenes Zwitschern mit einer orchestralen Begleitung, das Sie förmlich träumerisch macht. Vorher aber haben Sie die Ausgeburt einer hitzköpfigen decorativen Phantasie gesehen. Einen Kampf mit einem Drachen! Das Vieh kommt wirklich auf die Bühne, und die mächtige Stimme des Herrn von Reichenberg, der durch ein Sprachrohr die Worte, welche der Drache zu sagen hat, singt, dröhnt durch das Haus und macht uns, was der biedere Pappdrache nicht im Stande wäre, „gruselig“. Dann die Geistererscheinung der Mala, die dem Wotan den Untergang der Götter verkündigt. Am Schlusse wieder die Feuerlohe aus der „Walküre“. Siegfried dringt durch die Gluthen, erblickt die schlafende Brunhilde und – „lernt das Fürchten“. Die Schönheit des Weibes macht den Helden zaghaft. Die Fülle von Motiven und Reminiscenzen, welche jetzt aus dem unterirdischen Orchester zum Ausbruch kommen, wie aus einem Vulcane, der klingende Blumen auswirft, ist unbeschreiblich großartig, aber sie ist ein Phänomen, eine Elementarerscheinung, über welche nur die Eitelkeit ein absolutes Urtheil zu fällen sich vermessen kann.

17. August.     

Wie es scheint, geht es bei Richard Wagner nicht ohne eine Schlußdissonanz ab.

Nachdem das letzte Drama des Cyclus, „Götterdämmerung“, mit einem Beifalle aufgenommen war, wie es bei einem so unerhört auserlesenen Publicum noch nie dagewesen ist, sprang am Schlusse der Aufführung ein Enthusiast auf seinen Sitz und forderte die Versammlung auf, dem Meister ein „dreifach donnerndes Hoch“ zu bringen. Was thun? Obgleich Wagner sehr tactvoll erklärt hatte, es würden keine persönlichen Auszeichnungen gewünscht, damit der Rahmen der Kunst völlig sachlich bleibe, „donnerten“ wir drei Mal los, und dieser moralische Zwang, den ich durchaus mißbillige, und mit mir wohl die meisten der Anwesenden, brachte den Meister zum Erscheinen – im Paletot, ganz einfach. Er dankte für die Theilnahme, aber es entschlüpften ihm zum Schlusse die Worte: „Was wir können, haben Sie gesehen. Es liegt in Zukunft an Ihnen, ob Sie eine Kunst haben wollen.“

Das war stark! So generell zu sprechen, als ob bisher der Begriff Kunst nur eine Fabel gewesen wäre! Das Auditorium war geradezu verblüfft, als der Meister wieder abtrat. Zum Glück befanden sich im Hause eine Anzahl Jünglinge, die glaubten, sie brauchten sich für ihr Geld Nichts entgehen zu lassen. Die Bahn des Hervorrufens schien gebrochen und die Nimmersatten machten jetzt einen recht niedlichen Lärm, daß man sich in die italienische Oper versetzt glaubte. „Alle!“ „Capellmeister Hans Richter!“ jodelte es durch den Saal. Aber es kam keiner der Gerufenen, und nachdem der See zehn Minuten „gerast“ hatte, ohne sein „Opfer“ zu finden, floß er in’s Freie.

Meine Mißstimmung ist heute zu groß, als daß ich wieder die Nacht durch schreiben könnte. Der decorative Theil des Drama, auf den Wagner ein so großes Gewicht legt, daß er böse wird, wenn wir ihn für nicht ebenso wesentlich halten, wie seine Dichtung und Musik und wie den Gesang – dieser decorative und maschinistische Theil hatte heute Momente, die erbarmungswürdig waren und auf keiner Bühne vorkommen dürften.

Lassen Sie mich also ein wenig „Mosaik“ plaudern!

Ich habe heute auf dem Corso des artistischen Calvarienberges recht herzlich lachen müssen. Denn das Bayreuther Bühnenfestspiel wird ein Resultat haben, das sich in die Worte zusammenfassen läßt: „Keine Heiserkeit mehr!“ Wer ist jener hochgewachsene elegante blonde Herr? Sänger und Sängerinnen umgeben ihn. Er ist ein Chemiker aus Hamburg und hat – „Bronchial-Pastillen“, glaube ich, heißen die Dinger – erfunden. „Also auch hier ist man nicht sicher vor Johannes Hoff!“ rief ich aus. Da kam ich aber schön an. Niemann, Betz, Siehr, Nachbaur, Franz Abt, Clara Ziegler und unzählige andere Celebritäten schwören „den heiligen Schwur der Rache“, daß die Dinger probat sind, und – gebrauchen sie. Nun, meinetwegen! Der Chemiker ist ein Gentleman; er ist gern gesehen in allen Kreisen unserer Gesellschaft. Franz Liszt soll sich anschicken, der Erfindung seinen Segen zu geben; der Meister soll sie als neues Moment für das Gedeihen der Zukunftsmusik prüfen wollen. Unser Zukunftsdrama-Hofchemiker regalirt die Sänger und Sängerinnen gratis, und mein unverbesserlicher Unglaube, die Erkenntniß, daß ich es nie dahin bringen werde, weder das hohe noch das tiefe C singen zu müssen, treibt mich nun zu der Erklärung: Schön schmecken die Pastillen gerade nicht. –

Da ich heute erfuhr, daß mein Bonmot vom „artistischen Calvarienberge“ in Aller Munde ist, so gebietet es mir das Gerechtigkeitsgefühl, diesem Witze die Spitze abzubrechen. Wagner konnte sein Theater an keinen andern Ort bauen. Der Schloßgarten war ihm zur Verfügung gestellt, allein er brauchte fünfundvierzig Fuß Tiefe zu dem Raume unter der Bühne und man stößt hier bei fünfundzwanzig Fuß auf Wasser. Sogar auf dem „Calvarienberge“ mußten Bergmannsarbeiten vorgenommen werden, um das Grundwasser abzuleiten. Dies zur Steuer der Wahrheit. – Aber noch ein anderes Malheur ist dem Meister hier passirt, ein Malheur, das einen reizenden Stoff zu einer Causerie auf der Bühne geben würde, wenn die Bühne nur nicht stets ein theoretisches Heirathsbüreau wäre. Ich kaufte mir heute die Namensliste der mitwirkenden Kräfte und fand auf der Hausflur einen Briefkasten mit der lateinischen Inschrift „Richard Wagner“. Nun war dieser „Richard Wagner“ der Inhaber einer alten Kaufmannsfirma, und die Briefe der Kunst – da der Meister alle Titulaturen abwirft – gingen mit postalischer Gewissenhaftigkeit bis vor Kurzem in heilloser Confusion an die Adresse des Kaufmanns.

Aber die Uhr zeigt schon wieder Mitternacht. Es ist Zeit, daß ich soupire. Also morgen mehr über die „Götterdämmerung“!

Wilhelm Marr.

[587]

Nürnbergs Volksbelustigungen im 16. und 17. Jahrhundert.
Ein Culturbild nach authentischen Quellen von Karl Ueberhorst.

Zu Anfang des sechszehnten Jahrhunderts galt Nürnberg, und zwar mit Recht, für eine der ersten Städte deutscher Nation. Alle Schriftsteller damaliger Zeit einigen sich in dem Lobe dieser Perle Deutschlands, und nicht allein Hans Sachs ist es, welcher uns in einer poetischen Beschreibung Nürnbergs deutlichen Einblick in die Größe und Bedeutung der Stadt, in ihre musterhafte Verwaltung, in das behäbige, fast prunkvolle Leben seiner Bürger gewährt.

Es ist selbstverständlich, daß durch den Reichthum der Patricier und großen Kaufherren, durch die alle Bürgerkreise durchdringende Wohlhabenheit auch das Verlangen nach Lustbarkeiten und Vergnügungen, und zwar in hohem Maße, hervorgerufen wurde. In der That hat es denn auch an dergleichen Belustigungen nicht gefehlt, und wie um diese Zeit Nürnberg fast in allen Dingen für das übrige Deutschland tonangebend war, so auch in seinen Volksfesten. Gar viele der hier eingebürgerten Belustigungen haben sich von Nürnberg aus über ganz Deutschland verbreitet, und wenn die Städtechroniken von Augsburg, Frankfurt am Main, Köln, Lübeck etc. fast zu derselben Zeit von ähnlichen Volksbelustigungen zu erzählen wissen, so sind wir doch im Stande, den Ursprung fast aller dieser Feste auf Nürnberg zurückzuführen. Will uns der Leser auf dieses Gebiet folgen, so wird er neben vielem Bekannten auch manches Neue und Interessante finden, vorausgesetzt, daß eine aus zuverlässigen Quellen gezogene Beschreibung jenes fröhlichen Treibens unseres Volkes, seiner ungebundenen Sitten und Gebräuche ihn überhaupt interessirt.

I. Waffenspiele und Fechterinnerungen.
Marxbrüder und Federfechter.

Ein Grundzug des deutschen Volkes war von den ältesten Zeiten her die Lust am Waffenspiel. Daß in den emporblühenden Städten der waffentüchtige Bürger eine Hauptbedingung für die Existenz dieser Gemeinwesen war, ist selbstverständlich, und so sehen wir denn auch schon in der allerfrühesten Zeit zu Nürnberg Vornehm und Gering, theils auf dem Marktplatze der Stadt, theils auf dem grünen Anger vor den Thoren sich an allerhand Waffenspielen ergötzen. Während die Patricier ihre Gesellenstechen halten, ahmt die weitberühmte Gilde der Plattner oder Harnischmacher dieses ritterliche Vergnügen insofern nach, als sie, geharnischt auf hohen mit Rädern versehenen Stühlen sitzend, von ihren Lehrjungen geschoben, mit Stangen gegen einander rennen und sich so gegenseitig „abzuräumen“, das heißt in den Sand zu strecken suchen. Die Messerer und die Klingenschmiede, eine ebenfalls hoch angesehene Zunft des alten Nürnberg, ehren durch zierlich verschlungene Tänze, wobei Messer und Klingen die Stelle der Guirlanden vertreten, ihr Handwerk. Armbrustschießen, die Vorläufer unserer Schützenfeste, gehörten bekanntlich zu den Hauptbelustigungen des deutschen Volkes; in Nürnberg gelangten dieselben zu solcher Ausdehnung, daß der Rath es für nöthig erachtete, ein besonderes Schießhaus für diese Uebungen zu erbauen, wo denn in späterer Zeit die Kugelbüchse den zierlichen Schnepper sowohl, wie die massive Eyben (Armbrüste verschiedener Art) bald verdrängen sollte. Trotzdem aber hat der Nürnberger eine besondere Vorliebe für die mittelalterliche Armbrust sich erhalten; noch im 17. Jahrhundert finden vielfach Vogelschießen mit Schnepper und Eyben statt, und noch heutigen Tages kann der Fremde auf seinem Rundgange durch die interessante Stadt im sogenannten „Schnepperergraben“ am Thiergärtnerthor fröhliche Männer unter blühenden Bäumen erblicken, welche mit dem Schnepper die Schießkunst ihrer Aelterväter durch fortwährende Uebung in Ehren halten.

Eine merkwürdige Art bürgerlicher Waffenübung bilden die um die Mitte des 16. Jahrhunderts auftretenden Fechterspiele. Ob die Fechter im Allgemeinen (wir finden deren schon in den ältesten Handschriften erwähnt) Nachfolger der römischen Gladiatoren gewesen, lassen wir dahingestellt; Fechter, welche für Geld ihre Künste zeigten, gehörten ursprünglich zu den fahrenden Leuten und konnten schon deshalb keine Gemeinschaft mit den Fechterinnungen haben, welche sich lediglich aus Handwerkern, und zwar aller Zünfte bildeten. Gegen 1600 nahmen die städtischen Fechtschulen Eintrittsgeld, in dessen Ertrag sich dann die siegende Partei theilte. Vor dieser Zeit galt bei den Nürnberger Fechtschulen das Ehrenkränzlein als höchster und ritterlicher Preis.

Die ersten regelrechten deutschen Fechtschulen sind zweifelsohne in Nürnberg gehalten worden. Während vor 1500 keine Stadt ähnlicher Schulen urkundlich erwähnt, beweisen schon Nürnberger Rathserlasse von 1477 bis 1492, daß hier, und zwar von Handwerkern, Fechtschulen gehalten worden sind. Sie standen in solchem Ansehen, daß Friedrich der Dritte den „deutschen Meistern des Schwertes zu Nürnberg“ einen Privilegiumsbrief ausstellte. Derselbe datirt vom 10. August 1487 und sichert den Nürnberger Meistern zu, „daß nun hinfür allenthalben in dem heiligen reiche sich niemand ein meister des schwerts nennen, schul halten noch um geld lernen soll, er sei denn zuvor von den meistern des schwerts in seiner kunst probirt und zugelassen.“[3]

Von Nürnberg aus verbreiteten sich Meister des langen Schwerts über ganz Deutschland. Wie bei den Zünften, so geschah auch hier die Aufnahme in die Innung unter allerhand Ceremonien. Es bildete sich eine Bruderschaft, welche um die Mitte des sechszehnten Jahrhunderts ihren Sitz in Frankfurt am Main hatte und sich nach dem Evangelisten St. Marcus die Marxbrüder nannte. Zur Zeit der Herbstmesse schlug der Hauptmann der Marxbrüder hier den Schüler nach abgelegtem Probestück zum Meister des langen Schwertes, und erhielt dieser hierdurch das Recht, überall im deutschen Reiche Fechtschulen zu halten, das heißt öffentlich fechten zu dürfen.

Die Marxbrüder sollten bald in den Federfechtern ebenbürtige Gegner erhalten. Dieselben erwählten den Prager Heiligen St. Veit zu ihrem Schutzpatrone und nannten sich Sancti-Viti-Fechter, woraus Viterfechter (Federfechter) entstanden sein mag. Da sich ihre Fechtwaffen von denen der Marxbrüder in nichts unterschieden, so ist die vielfach verbreitete Annahme, als ob das Wort Feder eine nur bei ihnen gebräuchliche Waffe bedeute, vollständig aus der Luft gegriffen. Kaiser Rudolf gab ihnen zu Prag 1607 Privilegium und Wappen, welch letzteres zur näheren Bezeichnung eine Schreibfeder im Schild führte.

Die Hauptwaffe beider Bruderschaften war das lange, zweihändige Schwert, wie es sich noch in vielen städtischen Rüstkammern vorfindet. Bei ihren öffentlichen Aufzügen wurde dasselbe, gewöhnlich mit Kränzen behangen, voraufgetragen und hieß deshalb das Prunkschwert. Es ist dieselbe zweihändige Waffe, welche das erste Glied des Landsknechthaufens beim Angriffe führte und in dessen Handhabung Georg von Frundsberg, der vielgenannte Vater der Landsknechte, ein hochgepriesener Meister war. Die zweite, vielgebräuchliche Hiebwaffe war der Dussak oder Tessak, ein kurzer, plumper Säbel mit höchst primitivem Griffe. Als unter Karl dem Fünften die spanische Mode in Deutschland einriß, kam auch der leichtere Korbdegen – in den Fechtbüchern schon damals Rappier genannt – in Aufnahme, konnte aber das lange deutsche Schwert und den Dussak nicht verdrängen.

Mit der Handhabung des Rappiers war vielfach die des Messers oder Dolches insofern verbunden, als der Fechter mit der rechten Hand das Rappier, mit der linken aber den Dolch und zwar wohl hauptsächlich zum Pariren der Hiebe führte. Ebenso finden wir Abbildungen, wo der kurze spanische Mantel, über den linken Arm geworfen, zur Abwehr der Streiche gebraucht wird. Das Gefecht um Dolchen allein, welche, um nicht tödtliche Wunden herbeizuführen, an der Spitze mit einem runden Knopf versehen waren, scheint mehr ein Ringkampf gewesen zu sein, wie denn schon Leküchner’s alte Handschrift über das Messerfechten dabei des Ringens, namentlich aber eines Handgriffs erwähnt, vermittelst dessen man den Gegner wehrlos zu machen und in den bereit gehaltenen Sack zu stecken vermag. „Will er nicht darein kriechen (in den Sack), so greif mit deiner rechten hand auswendig in seyn rechte kniepug und wirf ihn in gottes namen darein!“ So lautet der wohlgemeinte Rath des [588] alten Fechtmeisters; ob es ihm selbst jemals gelungen, seinen Gegner auf solche Art in den Sack zu bringen, verschweigt er bescheiden.

Eine weitere Fechterwaffe war die Stange und Hellebarde. Erstere diente lediglich zum Stoß und zu kunstvoller Parade, war also unschädlicher, als die wuchtige Hellebarde, welche zwar gleich der Stange geführt wurde, durch ihre Eisenbarde aber gefährliche Wunden verursachen konnte und auch wohl verursacht haben mag. Mit dem Haken, welcher sich auf der entgegengesetzten Seite der Barde befand, den Gegner beim Fuß zu ergreifen und niederzureißen, war eines der Hauptstücke bei dieser Fechtweise.

Gefochten wurde stets barhäuptig, sehr oft mit abgelegten Oberkleidern; die einzige Schutzwehr war die Waffe selbst, und unzählige Kniffe und Pfiffe finden wir in den alten Fechtbüchern zum Angriff, zur Auslage und Abwehr angegeben. „Alber“, „Ochs“, „Tag“ und „Pflug“ heißen seltsamer Weise die verschiedenen Auslagen (Leger). Von Hieben nennen wir den Ober- und Unter-, den Mittel- und Flügelhau. Für besonders subtil galten der Zorn- und Krummhau, sowie der Zwerg- und Scheitelhau. Eine Hauptparade beim langen Schwert, der imposanten Stellung halber vielfach als Titelvignette abgebildet, war die sogenannte „Krone“.


Fechten mit dem Langschwert.
Aus Joachim Meyer’s Fechtbuch von 1570 facsimile nachgebildet.


Sie diente zum Pariren des Scheitelhiebes und entstand, indem der Fechter das Schwert bei Klinge und Griff wagerecht über den Scheitel erhob und so den gefährlichen Hieb auffing.

Die Nürnberger Fechtschulen wurden unter freiem Himmel in einem von hölzernen Galerien umzogenen Hofe abgehalten. Der „Heilsbronner Hof“, auf dessen Stelle die königliche Bank hingebaut wurde, sowie das Gasthaus zum „güldenen Stern“, dicht am neuen Thore gelegen, dienten bis 1628 zu diesen Spielen. Da sich aber das Bedürfniß zu einem besonderen Fechthause, welches zugleich Bären- und Ochsenhetzen, sowie die Aufführung von allerhand Komödien zuließ, geltend machte, so ließ der Nürnberger Rath um das Jahr 1628 auf der Insel Schütt ein besonderes Fechthaus errichten, welches denn auch so lange zu Fechtschule, Bärenhatzen etc. benutzt wurde, bis ein verfeinerter Geschmack die Darstellungen guter Schauspielertruppen, beispielsweise der berühmten Veltheimischen, diesen blutigen Actionen vorzog und letztere so allmählich in Vergessenheit brachte.

Es erübrigt uns noch, das Abhalten einer Nürnberger Fechtschule nach vor uns liegenden Quellen zu beschreiben, und wenn auf der einen Seite heutigen Tages auch nur der Rohe und Ungebildete an den blutigen Kraftstücken der wackeren Handwerksgesellen Gefallen finden dürfte, so wird andererseits doch auch der feiner Geartete sich höchlichst ergötzen können an der ungeschminkten, derben Lust des Volkes, vor Allem aber an dem bunten Bilde, welches die stolze Reichsstadt in ihrer pittoresken Bauart sowohl, wie in dem farbigen Gepränge der Aufzüge und dem bunten Wechsel der Trachten geboten haben mag.

Es ist Sonntag. Der Fechtmeister (Schulhalter) hat vom Rathe die Erlaubniß zur Abhaltung einer Fechtschule erhalten und schon einige Tage vorher durch Anschlagzettel Ort und Zeit der Schule verkünden lassen. Zugleich ladet er durch den Zettel alle guten Gesellen, wie ehrliebenden Meister des langen Schwertes ein, mit ihm einen Gang zu thun, „truck oder naß“ (blutig), dabei des Schwertes nit zu schonen, sondern ihn zu treffen zu suchen „zwischen den Ohren, wo das Haar am dicksten steht“.

Vom großen Marktplatze aus, wo sich die Gegner – Marxbrüder und Federfechter – einträchtiglich versammelt haben, geht, unter Vorantragung des großen Prunkschwertes, an dem die den Siegern bestimmten Kränze hängen, der Zug zum Hofe des „güldenen Sterns“ hinauf. Ein freundlicher Junitag lacht auf die bunte Menge in den Straßen, auf die blonden Mädchenköpfe herab, welche neugierig und kichernd aus den Erkern der Häuser (in Nürnberg „Chörlein“ genannt) in das lustige Getümmel hinabschauen. Unter Trommel- und Pfeifenschall ziehen die Fechter in den mit Sand bestreuten Hof des „güldenen Sterns“ ein und theilen sich alsbald nach ihren Bruderschaften in zwei Parteien. Die Galerien ringsum sind dicht mit Schaulustigen aller Stände besetzt und auf besonderen Plätzen sehen wir Abgeordnete des Rathes, welche über strenge Handhabung der Fechtordnung zu wachen haben.

An beiden Enden des Platzes liegen Langschwerter und Dussaken, Rappiere, Stangen und Hellebarden in buntem Haufen durcheinander. Sie sind Eigenthum der einzelnen Bruderschaften, und jeder Fechter greift, sobald er den angebotenen Gang annimmt, seine Waffe heraus.

Abermaliger Trommel- und Pfeifenklang verkündet den Beginn des Spiels, und mit mächtigem Sprunge erscheint der Fechtmeister alsbald auf dem Plane. Er weiß, was er seinem Amte, seiner Würde schuldig ist. Mit gespreizten Beinen, das Haupt anmuthig hin- und herwiegend, umschreitet er den Fechtplatz und kehrt dann mit hohen „Fechtersprüngen“ auf den ersten Standort zurück. Allerlei artige Männchen, als Wiegen in den Hüften, Armschwingen, tänzelnder Schritt etc., begleiten diese Evolutionen, und auch der eitelste Tambourmajor der alten Kaisergarde hätte beim Anblick dieser unzähligen Stellungen, [589] Sprünge und Verrenkungen gestehen müssen, daß seine Grazie und Gewandtheit nur Stümperei sei gegen die zünftigen Fechtersprünge.

Nach dieser fast burlesken Einleitung ertönt seine Aufforderung, mit dem Fechten zu beginnen. „Jedoch,“ so warnt er nach Fechterordnung, „sollten etliche Gesellen vorhanden sein, welche Haß, Feindschaft oder Neid auf einander haben aus alter Zeit, so sollen sie selbigen hier abthun, auch nicht aus Neid oder Mißgunst auf einander schlagen, sondern aus ritterlicher Kunst fechten, ohne Gift und Groll, wie es der Brauch, und somit:

Heb’ auf, geh’ nit lang umleiern,
Rüst Dich und laß die Wehr nit feiern!
Wohl her, wohl her, frisch, frei zu mir
Und zwägst Du mir, so schir ich Dir!
(Und wäschst Du mich, so scheer’ ich Dich!)“


Fechten mit dem Dussak.
Aus Joachim Meyer’s Fechtbuch von 1570 facsimile nachgebildet.


Mit diesem poetischen Spruche aber ist Apollo bei den Fechtern noch nicht abgethan. Jeder hervorspringende Geselle, Marxbruder sowohl wie Federfechter, wirft seinem Gegner einen Trutzreim entgegen, und daß derselbe oft derbster, nicht immer wiederzugebender Art ist, liegt im Geschmacke jener Zeit.

Es scheint heute eine „große, das heißt heiße Schul“ werden zu sollen. Trotz der Aufforderung, jeden Privatstreit hier zu vergessen, gährt es arg zwischen den zwei Bruderschaften. Drohende Blicke fliegen hin und her; Trutzreime erschallen schon jetzt über den Platz, und die beiden Rathsherren, einen stürmischen Ausgang voraussehend, winken schon jetzt den Platzwärteln, die ledernen Dussake zum Auseinandertreiben des Volkes bereit zu halten. Dem Fechtmeister aber dünkt eine nochmalige und zwar ernste Ansprache nothwendig. Warnend ruft er den aufgeregten Parteien zu:

Der Tod ist gewiß, ungewiß der Tag,
Die stund auch niemand wissen mag.
Drum fürcht Gott und denk darbei,
Daß jede stund die letzte sei!

Den Messerer (Messerschmied) aber, welcher jetzt hervortritt und mit kräftigem Arme das emporgeraffte Schwert durch die Luft schwingt, scheint der ernste Spruch nicht zu kümmern. Er ist Federfechter und ruft den Marxbrüdern zu:

Ich bin ein Kaufmann; klein ist mein Gewinn;
Schläg und Stöß, die geb ich hin.
Streich und Püff nehm ich davon;
Mit eisernem Flederwisch kehr’ ich den Staub darvon.
Schwing Dich, Feder, sieh, wie man thut,
Schreib gern mit Dinten, die sieht wie Blut!

Der ihm mit dem Langschwert entgegenspringende Marxbruder, ein Kürschnergesell, ist galanter Natur, und zweifelsohne hat der Trutzreim, den er dem Gegner zuruft, seine gute Bedeutung:

Ein schönes Maidlein hab ich gefunden;
Die hat mir meinen Kranz gebunden
Und dermalen mich fleißig gebeten,
Ich sollt ihn keinem Federfechter geben.
Mit ihm zu streiten bin ich bereit –!
Frisch her und dran, denn es ist Zeit.

Während Kürschner und Messerer in gewaltigen Hieben und kunstvollen Paraden ihre Kräfte messen, und zwar:

Daß es zusammen ging kling kling,
Ein zwitzert (klirrend, schmetternd) Schwert an’s andre ging,
Knopf an Knopf zu beiderseits,
Faust gegen Faust, Kreutz gegen Kreutz,

springen vom entgegengesetzten Ende des Platzes zwei andere Kämpen gegeneinander. Der eine, Schuhknecht und Federfechter, nimmt das Maul gar voll:

Frisch her, Ihr Marxbrüd’, zu mir g’schwind,
So viel als Eurer zu Nürnberg sind!
Mit Euch zu fechten steht mein Begier;
Drum hebt auf und fecht tapfer mit mir!

[590]

So woll’n wir einand’ ausklopfen das Leder.
Dieweil Ihr stets naget an der Feder
Und wollt die gar zureißen,
So muß man Euch auf die großen mäuler schmeißen,
Daß darüber läuft das Blut.
Solche Kappen sind Euch Marxbrüder gut.

Ihm antwortet sogleich ein Altreiß (Altflicker) und Marxbruder:

Die Marxbrüder mit ihrer Kunst
Haben bei Fürsten und Herren Gunst.
Drum frisch her, Ihr Federfechter, ohn’ allen Scherz!
Und wer dann hat ein Mannesherz,
Der komm herauf auf diesen Plan!
So wöll’n wir sehn, wer’s am besten kann,
Und einand’ um den Kopf gehn, wie d’Büttner um’s Faß.
Wer’s nit wohl kann, der lerne es baß!

Bald kracht und klingt es an allen Ecken und Enden. Feuerfunken sprühen auf aus den stählernen Waffen, wohin man blickt. Immer verbissener werden die Kämpfer, und der Bader hat nicht genug Hände, die blutigen Köpfe zu verbinden, denn

Die zuvor gute Gesellen gewesen seindt,
Ist jetzt keiner des andern Freund,
Zusammenstoßen Kopf an Kopf,
Und Stirn an Stirn zusammenknallt,
Bis einer gar zu Boden fallt.

Das zuschauende Volk drängt aus der Straße immer weiter in den Hof. Der von den überfüllten Galerien bei jedem guten Hiebe herabtönende Zuruf erhitzt die Fechter immer mehr. Staub und Gedränge, wohin man blickt, dazu das Klirren und Schmettern der Waffen, der wilde Kampfruf der Fechtenden – wahrlich ein Bild, den römischen Fechterspielen an Wildheit wenig nachstehend.

Jetzt scheint der Zeitpunkt gekommen, wo den Rathsboten das Einschreiten der „Platzwärtel“ nöthig erscheint. Auf ihren Wink springen letztere mit dem ledernen Dussak in das dichteste Gedränge, und so wild der Kampf bis jetzt gewesen, so humoristisch, ganz im Sinne des derartige Späße liebenden Volkes, ist der Ausgang desselben. Links und rechts fliegen die Hiebe des ledernen Prügels; Geschrei, Gelächter überall, wo dieselben Platz fassen, denn Niemand wird geschont, der im Wege steht; selbst der Fechtmeister bekommt seinen gehörigen Theil ab. Der Platzwärtel

Schmieret zu ohn’ alls Gefehr
Und kommt gleich hinter ihm auch her.
Trifft ihn so weidlich über’n Rücken,
Daß er sich mußte darnach bücken:
Er schmirzte ihn in seinem g’wissn,
Mußt’s han, als hätt’ ihn ein Hund g’biss’n.

In kürzester Zeit ist Ruh und Ordnung hergestellt, denn der noch Widerstrebende wird in’s Loch (Gefängniß unter dem Rathhause) gesteckt. Diesmal sind die Federfechter Sieger geblieben. Sie tragen vier Kränze davon, während die Marxbrüder nur einen gewinnen. Nach und nach leert sich der weite Hof, und das lebhaft über den Kampf debattirende Volk verliert sich in den Straßen. Der wilde Grimm der Fechter aber scheint verdampft, denn die sich noch eben so blutig bekämpft, ziehen jetzt, vorausgesetzt, daß die erhaltenen Schrammen es erlauben, einträchtig ihren Herbergen und Trinkstuben zu.

Wir wissen nicht, was bei diesen blutigen Spielen mehr anzustaunen, die Körperkraft der Fechter oder die Dicke ihrer Schädel. Wahrscheinlich fielen die meisten Schwerthiebe flach, und nur unter dieser Voraussetzung können wir uns die verhältnißmäßig geringe Anzahl tödtlicher Verwundungen erklären, obgleich einzelne Glieder, wie Nasen, Augen, Arme etc., der Kampfeswuth genügend zum Opfer gefallen sind. Abraham a Sancta Clara schreibt hierüber sehr bezeichnend: „Gleichwohl geschieht es gar oft, daß aus dem Marksbruder ein Merksbruder wird, so er etwann ein Aug’ verliert, aus dem Federfechter ein Lederfechter, wann er mit zerrissener Haut ein Kehraus tanzet.“

Mit dem verfeinerten Geschmacke bürgerten sich allmählich andere und edlere Belustigungen in Nürnberg ein, obschon derartige Fechterspiele bis zu Ende des siebenzehnten Jahrhunderts abgehalten worden sind und auch da noch eifrige Verehrer gefunden haben. Die letzte Nürnberger Fechtschule fand am 21. November 1698 statt; auf wiederholte Vorstellungen der Geistlichkeit sollen derartige Schauspiele von da an gänzlich abgestellt worden sein.




Wie ich das Unions-Jubiläum feierte.
Von Theodor Kirchhoff.
Paris in Texas, am 6. Juli 1876.     

Der Morgen des 4. Juli, an welchem Tage die große Republik des Westens bekanntlich ihren hundertjährigen Geburtstag feierte, fand mich, auf der Missouri-, Kansas- und Texas-Eisenbahn im Territorium der indianischen Nationen lustig gen Süden kutschirend, in der frohen Hoffnung, noch am Nachmittage desselben Tages die Stadt Denison, das neue Emporium des nördlichen Texas, zu erreichen. Ich hoffte wenigstens noch die letzten Pelotonfeuer vom Geknatter der fire-crackers, Schrotflinten, Pistolen, chinesischen Bomben, Amboßsalven etc. und all den obligaten Skandal und Festlärm, womit Amerika seinem übersprudelnden Patriotismus Ausdruck zu geben liebt und der an diesem Tage hundertfach verstärkt sein sollte, miterleben zu können. Aber meine christliche Geduld und meine Anhänglichkeit an mein Adoptivvaterland sollten an diesem Tage seiner Säcularfeier auf eine harte Probe gestellt werden.

Es hatte während der letzten Woche geregnet. Was das im Süden heißen will, weiß Jeder, der in diesen Gegenden einem solchen Naturereignisse beigewohnt hat. Der Regen fällt nicht etwa tropfenweise, sondern in förmlichen Wasserschichten vom Himmel herab; fortwährendes Blitzen flammt dabei durch die Wolken, und der Sturmwind heult wie rasend dazwischen: ein Aufruhr der Elemente, der sich vom Fenster eines trockenen Hauses pompös ausnimmt, der aber unter freiem Himmel nichts weniger als gemüthlich ist. Die Fahrstraßen und Schienenwege, und namentlich die Brücken haben bei einem solchen Sündfluthregen erklärlicher Weise viel zu leiden, und der Verkehr auf den Eisenbahnen wird oft auf längere Zeit ganz unterbrochen.

Auf unserem Zuge ging das Gerücht, daß der Regensturm die Brücken über den Arkansas- und den Canadianfluß und namentlich die über den wilden Red River etwas beschädigt hätte; Genaueres war vorläufig über den Umfang der „Beschädigungen“ nicht zu erfahren. Wir Reisenden ließen uns also deshalb just keine „grauen Haare“ wachsen und genossen mit voller Lust das herrliche Wetter und den warmen Sonnenschein, den tiefblauen Himmel und das saftige Grün der Prairien und Urwälder, durch welche unser Dampfzug im Gebiete der halbcivilisirten indianischen Nationen – der Cherokees, Creeks und Choctaws – dahineilte.

Der hoch angeschwollene Arkansasfluß lag glücklich hinter uns. Unser Dampfzug erreichte das Ufer des South-Canadian, dessen finstere Fluth von einer langen Eisenbahnbrücke überspannt wurde, die jedoch von dem Hochwasser etwas aus den Fugen gerathen war. Langsam fuhr unser Zug, nachdem die Locomotive allein den Bau erst geprüft, über die Brücke. Daß die Mehrzahl der Passagiere es vorzog, zu Fuß hinüber zu marschiren, wird uns der Leser hoffentlich nicht als ein Zeichen von Hasenfurcht auslegen, denn der wild brausende Fluß, auf dessen schlammigen Wogen eine Menge von entwurzelten Baumstämmen trieb, die öfters mit Gewalt an den Brückenpfeiler stießen, ließ uns die Passage zu Fuß etwas sicherer erscheinen, als im Waggon eingepfercht hinüber expedirt zu werden.

Einige hundert Choctaw-Indianer, welche am Ufer des Canadian zur Feier des Tages ein „Barbecue“, eine Art Piknik, wobei am Spieß gebratene unzerlegte Ochsen als Festmahl die Hauptanziehungskraft bilden, arrangirt hatten und die sich gerade mit Ballspiel belustigten, brachten Leben in das malerische Bild unseres Flußüberganges. Ein solches indianisches Ballspiel ist ein Unicum im Vergnügen des Ballwerfens. Die Bälle dürfen dabei nicht mit der Hand berührt, sondern müssen mit Korbgeflechten, die in Form einer Kelle am Ende eines Stabes befestigt sind, von denen jeder Ballspieler zwei in Händen hat, [591] gepackt und fortgeschleudert werden. Eine allein stehende hohe Stange ist das Ziel, welches die siegende Partei mit dem Balle treffen muß. Die Streitenden sind bis auf einen Lendengürtel Alle in Adam’s Costüm. Dem oft erstaunlich weit durch die Luft fliegenden Balle stürzen sich beide Parteien schnell wie Windhunde nach. Wenn sich dann über dem Ball die schlanken braunen Gestalten, monoton gurgelnde Kehllaute von sich gebend, balgen und stoßen, sich durcheinander schieben und drängen, bis ein Glücklicher denselben mit seiner doppelten Korbschleuder erwischt hat und weithin fliegen macht, so ist das ein ganz außerordentlich erregendes, wildes Schauspiel.

Unser Dampfzug war glücklich wieder auf festem Grund und Boden; hinter uns erscholl der Lärm des Ballspiels, und weiter eilten wir dahin durch die grünen Wälder und Prairien, zwischen denen die Farmen der wohlhabenderen Choctaws anmuthig zerstreut dalagen. Nach einer Fahrt von etwa dreihundert englischen Meilen hatten wir gegen Abend das Indianergebiet durchkreuzt und hielten am Ufer des Red River, der hier die nördliche Grenze des Staates Texas bildet.

Welch ein Anblick bot sich unseren erschreckten Blicken! – Die prächtige Eisenbahnbrücke über den Red River, sowie eine in Sicht liegende starke Wagenbrücke waren von der Hochfluth gänzlich in Trümmer gerissen worden; zwischen uns und dem texanischen Ufer brausten die rothbraunen Wogen des über fünfhundert Ellen breiten Stromes, der in achtundvierzig Stunden zwanzig Fuß gestiegen war; seine Fluth war überfüllt von mächtigen losgerissenen Baumstämmen und großen Feldern von dickem, schmutzig weißem Schaum, die schnell darauf vorüberglitten.

Bald befand sich die ganze etwa fünfhundert Köpfe starke Reisegesellschaft – Männer, Frauen und Kinder – am hohen Flußufer, und man debattirte lebhaft über die Möglichkeit, noch heute über den Strom zu gelangen und die nur sechs englische Meilen entfernte Stadt Denison in Texas zu erreichen, wo das „Centennial“-Fest, wie uns die Zeitungen berichtet hatten, gerade jetzt mit allem Glanze texanischer Festglorie gefeiert wurde. Die Eisenbahnconducteure schüttelten bedenklich den Kopf und schlugen ein Bivouak im Urwald für die Männer und ein Unterkommen in den Waggons für die Frauen und Kinder vor: ein lächerlicher Vorschlag, der allerseits sofort mit Entrüstung abgelehnt wurde. Wir mußten über den Fluß, heute noch, um in Denison das „Centennial“ mitzufeiern – das war die Parole. Der Vollmond erhob sich soeben über den finsteren Wäldern jenseits des Red River und würde uns Licht genug zur Ueberfahrt geben, wenn der Tag geschieden. Also frisch an’s Werk! – In einer halben Stunde waren drei Nachen gefunden, in denen wir den Flußübergang wagen wollten.

Eine Schaar der waghalsigsten Texaner bewerkstelligte zuerst den Uebergang. Wohlbehalten gelangten sie über den Strom, und starke Arme brachten die Kähne glücklich zurück an’s diesseitige Ufer. Jetzt wurde der Uebergang systematisch in’s Werk gesetzt. „Zuerst die Frauen und Kinder,“ hieß es. Die Kleinen, denen die in Aussicht gestellte Bootfahrt Spaß machte, wurde von Hand zu Hand das abschüssige Felsufer hinunter in die Kähne expedirt, acht in jeden Kahn. Die Mütter mußten vorläufig zurückbleiben, um durch ihre Aengstlichkeit nicht ein Umwerfen der Böte hervorzurufen. „Drei leichte Männer, einer in jeden Kahn,“ lautete nun das Commando, „um die Kleinen unterwegs in Obhut zu nehmen!“ Mancher Junggeselle schüttelte bedenklich den Kopf und dankte für die Ehre. Der Conducteur unseres Zuges wählte jedoch ohne weitere Umstände drei Passagiere als besonders „leichte Waare“, worunter auch mich, zu Bootführern aus, welchem Befehle wir uns selbstverständlich ohne Murren unterwarfen. Meine Bemerkung, ich sei ein vorzüglicher Schwimmer und könnte nöthigenfalls mit einem halben Dutzend Kindern in den Armen zur Feier des „Centennial“ über den Red River schwimmen, wurde von den Texanern mit lautem Beifall entgegengenommen.

Im Zwielichte kletterte ich den Felsabhang hinab in’s Boot und hieß unseren Charon abstoßen, einen herculischen Neger, der sich im Sonntagsputze mit hellblau carrirter Hose, scharlach- und weißgestreiftem Rocke, langer zeisiggrüner Weste mit große Metallknöpfen daran, halbfußlangen eckigen Vatermördern, rothem Halstuche, dicker plattirter Uhrkette und einer riesigen, mit falschen Steinen besetzten Brustnadel famos ausnahm. Meine acht Schutzbefohlenen im Alter von etwa vier bis sieben Jahren, worunter zwei niedliche flachshaarige deutsche Mädchen, sahen in ihren hellen Sonntagskleidern und den mit rosa Bändern geschmückten Strohhüten allerliebst aus. Sie verhielten sich während der Ueberfahrt ganz ruhig und guckten, da ich ihnen befohlen, auf den Boden des Kahns sich hinzusetzen, nur eben mit ihren Köpfen über den Bootrand hervor, ein Bild, das sich, als wir langsam die schäumenden blutrothen Fluthen durchkreuzten, vom steilen Ufergelände aus ganz eigenthümlich ausnehmen mußte und Stoff zu einem ansprechenden Gemälde gegeben hätte. Mit welchen Gefühlen die Mütter der Kleinen unserer gefährlichen Bootfahrt vom Ufer aus nachschauten, läßt sich denken. Als wir fast die Mitte des Stromes erreicht hatten, erhob sich ein warnendes Geschrei vom Ufer; ein riesiger Baumstamm kam die tobenden Fluthen, gegen unser Boot zu, herabgeschwommen, den mein Neger jedoch bei Zeiten erspähte; er steuerte den Kahn durch eine geschickte Wendung kaum zehn Schritte von dem drohenden Koloß vorbei. Ohne Unfall erreichten wir das jenseitige Ufer, und es fiel mir eine schwere Last vom Herzen, als ich die Kleinen sämmtlich wieder auf sicherem Boden sah.

Während voller vier Stunden setzte auf oben beschriebene Weise alle Passagiere glücklich über den wilden Red River, während der Vollmond sein bleiches Licht malerisch auf die seltsame Scene herabgoß. Dann waren wir gezwungen, zwei Meilen weit auf dem von den Fluthen vielfach arg beschädigten Bahndamme zu Fuß durch die Urwälder zu marschiren, ehe wir den Eisenbahnzug, der uns weiter bringen sollte, erreichen konnten. Stellenweise mußten die Kinder über lange wackelige Baumstämme getragen werden, welche uns als Fußpfad über zerrissene Brücken dienten, wo ein Fehltritt die Betreffenden einige zwanzig Fuß tief in den Sumpf hätte hinabstürzen lassen. Im finstern Walde ertönten zu beiden Seiten das Geschwirre, Zirpen, Pfeifen und Schnarren von Kätydids (Art Grashüpfer), Spottdrosseln und anderen Insecten und Nachtvögeln; Eulen schrieen dazwischen, und Schaaren von Fröschen quakten im Sumpflande – ein Gemisch thierischer Töne, eine seltsame „Centennial“-Musik zu unserm gefährlichen Nachtmarsche. Etwas vor Mitternacht erreichten wir Alle wohlbehalten das ersehnte mit Flaggen geschmückte Denison, sahen noch die letzten Festraketen in den nächtlichen Himmel sausen und ergötzten uns am Knattern der letzten fire-crackers und chinesischen Bomben, womit die Bevölkerung den Tag über ihrem übersprudelnden Patriotismus Ausdruck gegeben hatte.

Das war meine „Centennial“-Feier des vergangenen 4. Juli. Die Erinnerung daran möchte ich nicht mit der von Hunderttausenden in den Großstädten der Union vertauschen! Die brausenden rothen Fluthen des seine Fesseln zersprengenden wilden Stromes, die Nachtmusik der Urwälder waren gewiß imposanter als die laut tönenden Musikchöre und der Gesang in den Festhallen und Kirchen des weiten Landes. Die über den finsteren Wäldern schwebende silberne Scheibe des Vollmondes gab wohl eine prächtigere Beleuchtung, als die Illumination von Straßen, die Gluth von Fackeln und von funkensprühenden Feuerwerken, und das Gefühl, eine große Gefahr mit kaltem Blute glücklich bemeistert zu haben, war ein schönerer Lohn, als der Stolz von Festmarschällen, die auf ihren schnaubenden Rossen an den mit Bannern geschmückten Processionen als Helden des Tages auf- und abgesprengt waren, als das Selbstgefühl amerikanischer Festredner, die den Vogel der Freiheit mit den Wolken als Turban auf dem Haupte von Meer zu Meer hatten flattern lassen.


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Blätter und Blüthen.

Eine Kritik über Wagner’s Musik. Da unser Bayreuther Referent ausdrücklich auf eine Beurtheilung der musikalischen Seite der Wagner’schen Festspiele verzichtet, so glauben wir der Vollständigkeit unserer Mittheilungen halber nach dieser Richtung hin eine andere Feder citiren zu sollen. Es dürfte Keiner berufener und befähigter sein, in dieser Angelegenheit ein vollgültiges Urtheil abzugeben als der anerkannt erste deutsche Musikkritiker unserer Tage, der bekannte E. Hanslick in Wien. In Nr. 4305 der „Neuen Freien Presse“ spricht er sich über die Bayreuther Aufführungen unter Anderem folgendermaßen aus:

Bayreuth, 18. August.     

Gestern hatten wir die „Götterdämmerung“ als Schluß des ganzen Cyclus. Mit der nunmehr vollständigen Ausführung des Bayreuther Programms ist die Musik der Zukunft eine Macht der Gegenwart geworden. Aeußerlich wenigstens und für den Augenblick. Auf kunstgeschichtliche Weissagungen läßt der Kritiker sich ebenso ungern ein, als ernsthafte Astronomen auf das Wetterprophezeien; so viel jedoch hat uns jetzt die größte Wahrscheinlichkeit: daß der Stil von Wagner’s „Nibelungen nicht die Musik der Zukunft sein wird, sondern höchstens eine von vielen. Vielleicht auch nur ein Gährungsferment für neue, zum Alten wieder rückgreifende Entwicklungen. „Denn Wagner’s jüngste Reform besteht nicht in einer Bereicherung, Erweiterung, Erneuerung innerhalb der Musik, in dem Sinne, wie es die Kunst von Mozart, Beethoven, Weber, Schumann gewesen; sie ist im Gegentheil ein Umdrehen, Umzwängen der musikalischen Urgesetze, ein Stil gegen die Natur des menschlichen Hörens und Empfindens. Man könnte von dieser Tondichtung sagen. Sie hat Musik, aber sie ist keine. Um gleich Eines zur vorläufigen Orientirung des Lesers hervorzuheben: Wir hören durch vier Abende auf der Bühne singen, ohne selbstständige, ausgeprägte Melodie, ohne ein einziges Duett, Terzett, Ensemble, ohne Chöre oder Finales. Dies allein beweist schon, daß hier das Messer nicht an überlebte Formen, sondern an die lebendige Wurzel der dramatischen Musik gelegt ist. Opernfreunde, welche „Tristan“ und den „Nibelungenring“ nicht kennen, geben sich meistens dem Argwohne hin, die Gegner dieser Spätgeburten Wagner’s seien Gegner Wagner’s überhaupt. Sie denken dabei immer nur an den „Holländer“ oder „Tannhäuser“, welche doch von Wagner’s neuester Musik so fundamental verschieden sind, als zwei Dinge innerhalb derselben Kunst nur sein können. Man kann den „Tannhäuser“ für eine der schönsten Opern und trotzdem die „Nibelungen“ für das gerade Gegentheil halten, ja eigentlich muß man es dann. Denn was das Glück von Wagner’s früheren Opern machte und zu machen noch fortfährt, ist die stete Verbindung des schildernden, specifisch dramatischen Elements mit dem Reiz der faßlichen Melodie, die Abwechselung des Dialogs mit musikalisch gedachten und geformten Ensembles, Chören, Finalen. Alles, was an diese Vorzüge mahnt, hat Wagner in den „Nibelungen“ bis auf die Spur getilgt. Selbst die „Meistersinger“, in welchen die abgeschlossene Gesangsmelodie seltener, aber dafür in einigen Prachtexemplaren auftritt (Preislied, Quartett, Chöre im letzten Act), erscheinen daneben als ein musikalisch reizvolles und gemeinfaßliches Werk.

Wagner’s „Nibelungenring“ ist in der That etwas völlig Neues, von allem Früheren Grundverschiedenes, ein für sich allein dastehendes Unicum. Als ein solches, als ein geistreiches, für den Musiker unerschöpflich lehrreiches Experiment wird das Werk seine bleibende Bedeutung haben. Daß es jemals in’s Volk dringen werde, wie die Opern Mozart’s oder Weber’s, scheint mir aus der Natur desselben ganz unwahrscheinlich. Drei Hauptpunkte sind es, welche diese Musik von allen bisherigen Opern, auch von Wagner’schen, principiell unterscheiden. Erstens: das Fehlen der selbstständigen, abgeschlossenen Gesangsmelodien, an deren Stelle eine Art erhöhter Recitation tritt, mit der „unendlichen Melodie“ im Orchester als Basis. Zweitens: die Auflösung jeglicher Form, nicht blos der herkömmlichen Formen (Arie, Duett etc.). sondern der Symmetrie, der nach Gesetzen sich entwickelnden musikalischen Logik überhaupt. Endlich drittens: die Ausschließung der mehrstimmigen Gesangsstücke, der Duette, Terzette, Chöre, Finales, bis auf einige verschwindend kleine Ansätze.

Hören wir des Meisters eigene Worte über seine neue musikalische Methode in den „Nibelungen“. „Er habe,“ sagt Wagner (IX. Bd., S. 366), „den dramatischen Dialog selbst zum Hauptstoff auch der musikalischen Aufführung erhoben, während in der eigentlichen ‚Oper‘ die der Handlung um dieses Zweckes willen eingefügten Momente lyrischen Verweilens zu der bisher einzig für möglich erachteten musikalischen Ausführung tauglich gehalten wurden. Die Musik ist es, was uns, indem sie unabhängig die Motive der Handlung in ihrem verzweigtesten Zusammenhange uns zur Mitempfindung bringt, zugleich ermächtigt, eben diese Handlung in drastischer Bestimmtheit vorzuführen; da die Handelnden über ihre Beweggründe im Sinne des reflectirenden Bewußtseins sich uns nicht auszusprechen haben, gewinnt hier der Dialog jene naive Präcision, welche das Leben des Dramas ausmacht.“ Das liest sich sehr schön, aber in der Ausführung ist Wagner’s Absicht keineswegs erreicht und die totale Verschmelzung von Oper und Drama nach wie vor ein Wahn. Wagner unterbindet durch diese angebliche Gleichberechtigung von Wort und Ton gleichmäßig die Wirkung des einen wie des andern. Der Ton will sich ausbreiten, das Wort weiterdrängen, darum gehört naturgemäß der fortlaufende Dialog dem Drama, die singende Melodie der Oper. Diese Scheidung ist nicht das Widernatürliche, im Gegentheile ist Wagner’s Methode, beide Kunstgattungen in Eine aufzuheben, widernatürlich. Das unnatürliche Singsprechen oder Sprechsingen der Wagner’schen „Nibelungen“ ersetzt uns weder das gesprochene Wort des Dramas, noch das gesungene der Oper. Ersteres schon darum nicht, weil man bei den meisten Sängern den Text gar nicht versteht, und selbst bei den besten nur stellenweise. Da aber der scenischen Wirkung wegen der Zuschauerraum des „Festspielhauses“ gänzlich verfinstert wird, so entfällt jede Möglichkeit, im Textbuche während der Vorstellung nachzusehen. Wir sitzen daher rathlos und gelangweilt diesen unendlich langen Dialogen der Sänger gegenüber, gleichzeitig dürstend nach der deutlichen Rede, wie nach der allzeit verständlichen Melodie. Und was für ein Dialog! Niemals haben Menschen so mit einander gesprochen (wahrscheinlich auch Götter nicht). Hin- und herspringend in entlegenen Intervallen, immer langsam, pathetisch, übertrieben, und im Grunde Einer genau wie der Andere. – – – – – –

Unsere (vorwagnerischen) Meister gaben uns in der „Oper“ Musik, die durch die Einheit verständlich, durch ihre Schönheit erfreuend und dabei durch ihre innigste Uebereinstimmung mit der Handlung dramatisch war. Sie haben hundertfach gezeigt, daß die von Wagner verpönte „absolute Melodie“ zugleich eminent dramatisch sein und in mehrstimmigen Sätzen, namentlich in den Finales, die fortschreitende Handlung energisch zusammenfassen und abschließen kann. Den mehrstimmigen Gesang, Duette, Terzette, Chöre, als angeblich „undramatisch“ aus der Oper entfernen, heißt die werthvollste Errungenschaft der Tonkunst ignoriren und um zwei Jahrhunderte zurück wieder in die Kinderschuhe treten. Es ist der schönste Besitz, der eigenthümlichste Zauber der Musik, ihr größter Vortheil vor dem Drama, daß sie zwei und mehrere Personen, ganze Volksmengen kann zugleich sich aussprechen lassen. Diesen Schatz, um den der Dichter den Musiker beneiden muß, wie dies Schiller bei der Dichtung seiner „Braut von Messina“ so tief empfand, hat Wagner als überflüssig zum Fenster hinausgeworfen. Es mögen im „Nibelungenring“ zwei, drei oder sechs Personen auf der Bühne nebeneinander stehen, niemals singen (von verschwindend kleinen Ausnahmen abgesehen) zwei zugleich; immer nur, wie bei einer Gerichtsverhandlung, Einer nach dem Andern. Welche Qual es ist, diesen gesungenen Gänsemarsch den ganzen Abend zu verfolgen, weiß nur, wer es selber erlebt hat. Indem aber Wagner durch vier Abende hinter einander die Tyrannei dieses monodischen Styls fortsetzt, zwingt er uns mit fast selbstmörderischer Deutlichkeit, den Widersinn seiner Methode zu begreifen und nach der vielgeschmähten alten „Oper“ uns zurückzusehnen. Dazu kommt noch der Uebelstand der unerhört langen Ausdehnung der einzelnen Scenen und Gespräche.

Wir verkennen nicht den neuen Zug von Größe und Erhabenheit, den Wagner seinem Werke dadurch verleiht, daß jeder Act nur zwei bis drei Scenen enthält, die sich in ruhigster Breite entfalten, ja häufig als plastische Bilder still zu stehen scheinen. Von dem unruhigen Scenenwechsel und der Ueberfülle an Handlung in unserer „großen Oper“ unterscheidet sich der „Nibelungenring“ am vortheilhaftesten gerade durch diese Einfachheit. Allein eine geradezu epische Breite darf das Drama nicht dergestalt auseinanderzerren. Es ist schwer zu begreifen, wie ein so theaterkundiger, dramatischer Componist plötzlich allen Sinn für Maßverhältnisse verlieren kann und nicht empfindet, daß Gespräche, wie die des „Wotan“ mit „Fricke“, mit „Brunhilde“, mit „Mime“ etc., die Geduld des Hörers auf’s Aeußerste foltern, ihn durch ihre unersättliche Redseligkeit nachgerade gänzlich abstumpfen müssen. Für die unerhörte Länge der Wallhalla-Scenen im „Rheingold“, aller Gespräche im zweiten Acte der „Walküre“, der „sechs Fragen“ im „Siegfried“ etc. sucht man vergebens nach einem dramatischen oder musikalischen Grunde. – – – – –

Beim Anhören des „Nibelungenring“ gewannen wir die Ueberzeugung, daß jede Scene die ausgiebigsten Striche ohne den mindesten Nachtheil vertrüge, daß sie jedoch andererseits in diesem Stile auch noch beliebig länger ausgesponnen werden könnte. Die neue Methode des „dialogischen Musikdramas“ weist nämlich jedes musikalische Maß von sich; sie ist das formlos Unendliche. Wagner protestirt freilich dagegen, daß man seine „Bühnenspiele“ vom Standpunkte der Musik beurtheile. Aber warum macht er dann Musik, und sehr viel Musik, ganze vier Abende lang Musik? An vielen Stellen tauchen allerdings musikalische Schönheiten von hinreißender Wirkung auf, Starkes wie Zartes – es ist, als ob sich da der neue Wagner an den alten erinnerte. Wir werden die glänzendsten dieser Einzelheiten noch aufzuzählen Gelegenheit haben und erinnern vorläufig nur an die Rheintöchter im ersten und vierten, an das Lenzlied Siegmund’s und den Feuerzauber im zweiten, an das Waldweben und den Anfang des Liebesduetts im dritten Stück. In der Bayreuther Vorstellung konnte man beobachten, wie jede solche Knospe einer aufblühenden Melodie von den Zuschauern mit sichtlichem Entzücken wahrgenommen und förmlich an’s Herz gedrückt wird. Erscheint gar nach zweistündiger monodischer Steppe ein Stückchen mehrstimmigen Gesangs – die Schlußaccorde der drei Rheintöchter, das Zusammensingen der Walküren die paar Terzen am Schlusse des Liebesduetts im „Siegfried“ –, da geht es wie ein freudiger Erlösungsschauer nach langer Gefangenschaft über die Mienen der Hörer. Das sind sehr beachtenswerthe Symptome. Sie geben lautes Zeugniß, daß die musikalische Natur im Menschen sich auf die Länge nicht verleugnen, nicht knebeln läßt, daß die neue Methode Wagner’s nicht eine Reform überlebter Traditionen, sondern ein Angriff auf die uns eingeborene und durch jahrhundertelange Erziehung ausgebildete musikalische Empfindung ist. Und mag dieser Angriff auch mit den glänzendsten Waffen des Geistes unternommen sein – die Natur widersteht ihm und wirft den Belagerer gelegentlich mit einigen Rosen und Veilchen zurück.



Kleiner Briefkasten.

Berlin. Chloralhydrat. Sie werden binnen kurzem Ihr Nervensystem gänzlich zerrütten. Vermindern Sie täglich die Dosis des Medicamentes! Zur Stärkung der Nerven diene Morgens eine kalte Abreibung, Abends ein ableitendes Sitzbad! Viel Bewegung in frischer Luft!



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Doch nicht! Wir erinnern nur an den Bregenzer Volksdichter Michael Felder. (s. Gartenlaube 1867, Nr. 15.)
    Die Red.
  2. Eine treffende Antwort auf diese Frage findet der Wiener unseres Herrn Referenten in dem geistvollen Artikel von Karl Frenzel in Nr. 389 der „National-Zeitung“.
    D. Red.
  3. Wir geben die Urkundenauszüge zur Bequemlichkeit des Lesers in einer verständicheren Rechtschreibung.