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Die Gartenlaube (1878)/Heft 8

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[127]
Gebunden.
Erzählung von Ernst Wichert.
(Fortsetzung und Schluß.)


Frau von der Wehr verließ das Zelt und ging mit raschen Schritten nach dem Hause. An der Thür blieb sie aber unschlüssig stehen, kehrte um und schritt im Garten auf und ab, den Kopf gesenkt und öfters die Hand auf’s Herz drückend. „Immer ihr – ihr – ihr Glück!“ grübelte sie in sich hinein, „und ich mag des Glückes darben. Was kommt darauf an, daß ich leide? Und doch – hat er Recht? Darf ich mein einziges Kind …? Ist das meine wahre Empfindung, was da der Schmerz im Augenblick aufwühlt und nach oben treibt? Wer kennt sich selbst? Was für unheimliche Gewalten da unten …“ Sie schüttelte sich wie im Fieberfrost. „Ich könnte mich hassen, daß ich so selbstisch bin. Nein! er kennt mich besser – in meiner Seele soll nicht die Finsterniß Macht haben über das Licht –: ich will ihr eine gute Mutter sein, nichts als eine gute Mutter. Glücklich machen heißt ja auch glücklich sein. O mein schwaches Herz – diesmal sollst du deine Kraft bewähren.“

Ihr bleiches Gesicht verklärte sich. So schön hatte noch keines Menschen Auge es gesehen. Sie trat in’s Haus und suchte Irmgard auf. Das arme Kind saß ganz verschüchtert in einer Ecke des hinteren Zimmers und zitterte am ganzen Leibe.

„Ich habe ihm ja gesagt, Mutter,“ rief sie der Eintretenden entgegen, „daß ich nicht die Seine werden kann. Es ist nicht meine Schuld, wenn er Dich um meine Hand gebeten.“

„Aber Du liebst ihn?“ fragte Frau von der Wehr freundlich.

Irmgard stand auf und glitt neben ihr zur Erde nieder. „Ich liebe ihn, Mutter, ich liebe ihn – lügen kann ich nicht. Und ich werde ihn lieben, so lange Gott mir das Leben schenkt und mein Herz schlägt. Aber ich weiß, daß ich nicht glücklicher sein darf, als Du bist. Bitte ihn, daß er uns verlasse und nie – nie mehr …“

Thränen erstickten ihre Stimme. Frau von der Wehr beugte sich zu ihr nieder, umfaßte sie und hob sie auf. „Das wolle der allgütige Gott nicht,“ sagte sie mild, „daß so aus Unheil weiter und weiter Unheil entstehe! Ich habe Dein Versprechen wohl gehört, aber nicht angenommen; wenn ich es nicht zurückwies, geschah’s, weil ich Dich beruhigen wollte. Wenn ich das Glück nicht gefunden habe, das ich suchte – kann es meiner Seele ein Trost sein, auch mein Kind unglücklich zu wissen? Gewinne ich, wenn Du verlierst? Nein! Du sollst ihn lieben, sollst ihm angehören. Es ist eine Fügung des Himmels, daß gerade sein – Max Werner’s Neffe, für den er sorgte wie für einen Sohn, dem Herzen meines Kindes über Alles theuer werden mußte. Wenn Du Dich mir verschuldet hast – wenn Deine Schuld eine Sühne fordert, so kann es keine geben, die mächtiger wäre zu lösen, als diesem mit Liebe heimzuzahlen, was Liebe schuldig blieb. Ich – ich – verzeihe Dir von ganzem Herzen.“

Irmgard umschlang sie mit beiden Armen und küßte ihr stürmisch Mund und Augen. „Du gute – gute – engelgute –“ wiederholte sie unaufhörlich. „Nun sind wir wirklich versöhnt. Aber darf ich denn Dein großmüthiges Geschenk annehmen? Nein, nein! Du kannst mir verzeihen, ich nicht. Es war ein Gelöbniß, das ich dem Himmel that. Wenn ich’s breche – wie sollte ich meiner Liebe jemals froh werden können? Ja, wenn ich Dir zurückgehen könnte –“

„Das ist verschmerzt. Dein Gewissen kann ganz ruhig sein. Gott weiß, wie zärtlich Du Deinem Vater anhingst –: seine Tochter konnte nicht anders empfinden. Gott weiß auch, daß Du ein Kind warst, dessen Herz nicht verstand, was die Lippen gelobten. Er hat keine Freude an unserer Selbstqual – er ist ein Gott der Liebe. Komm – Robert wartet auf uns. Kannst Du’s nicht überwinden, Dir ein solches Wort zu brechen, dann – liebst Du Robert nicht.“

„Ich liebe ihn, Mutter,“ rief Irmgard, umarmte sie von Neuem und drückte das Gesicht auf ihre Schulter.

Frau von der Wehr faltete die Hände über Irmgard’s Haupte und stand eine Weile in stillem Gebet. „Komm!“ sagte sie dann, „ich führe Dich zu ihm.“ Sie umfaßte sie und zog sie mit sich fort.

Irmgard trocknete ihre Thränen nicht. Als sie sich aber dem Zelt näherten und Robert vor ihnen stand, eine Frage an’s Schicksal in den Augen und auf den Lippen, da hörten diese Bäche zu rinnen auf und das heilige Feuer der Freude flammte aus den eben noch so bleichen Wangen. „Wir dürfen glücklich sein,“ rief sie und legte ihrer Mutter Hand in seine Hand. „Ihr – ihr haben wir’s zu danken.“ – –

Nur wenige Minuten hatten sie Zeit, Worte des innigsten Einverständnisses und Küsse zu tauschen. Der Landbriefträger öffnete die Thür des Staketenzaunes und schritt, aus seiner Tasche einen Brief heraussuchend, auf das Zelt zu. Frau von der Wehr saß am Eingange desselben. Er reichte ihr den Brief und entfernte sich. Robert und Irmgard achteten kaum darauf.

Sie sollten aber schnell aus ihrer zärtlichen Umarmung aufgeschreckt werden.

Frau von der Wehr hatte die Aufschrift des Briefes betrachtet

[128] und verwundert den Kopf gewiegt. „An den Maler Max Werner –“ und Irmgards Handschrift. Und da unten stand sie auch als Absenderin genannt. Ein freudiger Gedanke durchzuckte sie mit Blitzesschnelle. Irmgard hatte sich zu einem herzlichen Entgegenkommen entschlossen, ehe Robert Harder ihr noch seine Liebe gestand. Aber warum kam der Brief zurück? Er trug mehrere Poststempel – er mußte aus der Schweiz zurückgekommen sein. Sie wandte ihn nur und – sank mit einem gellenden Schrei gegen die Lehne des Sessels. Der Kopf fiel auf die Brust; sie war ohnmächtig.

Harder sprang auf und ihr zu Hülfe. Irmgard folgte ihm eiligst. Sie sah einen geschlossenen Brief auf der Erde liegen, hob ihn auf und erkannte ihn auf den ersten Blick. „Mein Brief – an Werner –“ rief sie; „o Gott! Mutter – ich wollte ja … liebe Mutter –!“

„Sie kommt zu sich,“ sagte Robert, sie öffnet die Augen. „Was ist’s mit dem Brief?“

Irmgard hatte ihn in der Hand gedreht. Nun starrte sie mit einem Blicke des Entsetzens aus die Aufschrift der Rückseite. Es stand dort von der Hand des Thuner Postboten der Vermerk: „Adressat ist gestern auf dem See verunglückt.“

Todtenbleich wankte sie zurück, bis ihr die Zeltstange eine Stütze bot. „O, nun – bin ich – für alle Ewigkeit – gebunden –“ stammelten kaum vernehmbar die farblosen Lippen.


9.

„Auf dem See verunglückt –“ das war eine grausame Trauerbotschaft.

Und recht als sollte Irmgard für den Bruch ihres Gelöbnisses gestraft werden, brachte sie ihr Versöhnungsbrief. So faßte sie selbst dieses traurige Begebniß auf, und nicht die zärtlichste Zusprache Robert’s, nicht die mildesten Worte ihrer Mutter konnten den schreckhaften Gedanken bannen, daß sie mittelbar an Werner’s Tode schuld sei, daß der Todte selbst sie an ihr Wort mahne, daß sie es ihm halten müsse. Sie erklärte das Verlöbniß für aufgehoben. „Ich bin gebunden – der Tod bindet.“

Frau von der Wehr hatte sich nie eingestehen wollen, daß in ihrem Herzen noch das letzte Fünkchen Hoffnung nicht erloschen sei. Nun es wirklich erlosch, merkte sie erst, wie dunkel es in ihr war. Aber sie fühlte es wie eine Erleichterung, daß Irmgard sich mit Werner ausgesöhnt.

„Gott selbst hat Dir’s eingegeben,“ sagte sie beruhigend, „diesen Brief zu schreiben, traf er ihn auch nicht mehr unter den Lebenden. Von Deiner Seite ist alles geschehen, das Unrecht gut zu machen, das Du ihm zufügtest – mehr konntest Du nicht thun. Hättest Du gezögert, ihm die Hand zu bieten, und seinen Tod erfahren, dann vielleicht hättest Du Dich schwer bekümmern müssen. Jetzt kann es Dir ein reicher Trost sein, daß Du ihn und mich glücklich zu machen wünschtest, ehe Du noch Deines eigenen Glückes gewiß warst.“

Irmgard schüttelte den Kopf. „Es mag alles so sein, Mutter,“ antwortete sie, aber mir kann das nichts bedeuten. Ich fühle in mir die Unmöglichkeit, nach diesem schweren Schlage mein Schicksal von dem Deinen zu trennen. Und auch seinetwegen kann es nicht anders sein. Es ist mir eine Gewißheit, die Nichts erschüttern kann, daß meine Liebe ihn nicht zu beglücken vermöchte.“

Robert fügte sich nicht. „Ich weiß, daß Du mich liebst,“ sagte er, „und gebe Dich nicht frei. Wie sehr Dich auch dieses unerwartete Ereigniß im Augenblicke erschütter, die Zeit wird den Eindruck mildern. Ich dringe jetzt nicht in Dich, aber vergessen darfst Du nicht, daß die Liebe mächtiger bindet als der Tod. Die Liebe überwindet den Tod.“ –

Frau von der Wehr hatte sofort einige Zeilen an ihren Vetter, den Gerichtsrath, geschrieben. Er kam noch denselben Abend und wurde nun in alle Verhältnisse eingeweiht. Vor Allem, meinte er, sei jetzt erforderlich, festzustellen, was das heiße: „auf dem See verunglückt.“ Der Jurist fand diese Nachricht zu unbestimmt, den Nachrichtgeber zu unzuverlässig. „Man muß sofort von den Behörden einen genauen Bericht verlangen.“

„Aber wie läßt sich bezweifeln –?“ wendete Elise ein. „Die Post hätte den Brief nicht mit dieser Aufschrift zurückgehen lassen, wenn es sich nicht um ein stadtkundiges Ereigniß handelte, das die Beförderung an die Adresse gänzlich ausschloß. Nein, nein; es läßt sich dieser Nachricht nur die schlimmste Auslegung geben.“

„Ich bin weit entfernt, Hoffnungen erwecken zu wollen,“ antwortete der Rath, „an die ich unter diesen Umständen selbst nicht glauben kann. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Werner ertrunken, aber man verlangt in solchem Falle Gewißheit. Wollen Sie mich mit den näheren Ermittelungen beauftragen, beste Cousine, so stelle ich meine Dienste zur Verfügung.“

„Ich habe eine größere Bitte an Sie,“ sagte Frau von der Wehr nach kurzem Bedenken. „Schon vor Ihrem Eintreffen hatte ich mir vorgenommen, sogleich selbst nach der Schweiz zu reisen und, wenn ich zum Begräbniß zu spät käme, wenigstens dem Grabe des lieben Geschiedenen die letzten Ehren mit einem Kranz aus der Heimath zu erweisen. Auch in seinem kleinen Haushalt wird Manches zu ordnen sein, was am besten eine weibliche Hand ordnet. Wer auch sein Erbe sein mag, einen Theil seiner Hinterlassenschaft möchte ich gern mir erwerben, namentlich ein gewisses Bild, an das sich gemeinsame Erinnerungen knüpfen. Auch das Haus, in dem er wohnte, möchte ich ankaufen und künftig zu meinem Sommeraufenthalt wählen; von der Gemeinde hoffe ich die Genehmigung zu erwerben, dem Künstler einen Denkstein zu setzen. Bei allen diesen Verhandlungen wäre mir Ihr Beistand wünschenswerth. Würde es Sie nicht zu sehr beschweren, lieber Vetter, mich zu begleiten? Aber schon morgen in der Frühe möchte ich fort.“

Der alte Herr stimmte sofort zu. Es sei der gescheiteste Gedanke, meinte er, an Ort und Stelle selbst zuzusehen, wie die Sachen stünden. Sein Ferienurlaub laufe zwar in den nächsten Tagen ab, aber ein so außerordentlicher Anlaß werde sicher ein längeres Ausbleiben entschuldigen. „Da muß mein junger Freund Hell zur Vertretung heran,“ schloß er, „und er wird mich nicht im Stich lassen, ob ihn schon die zartesten Bande halten. Ich denke, seine Herzensangelegenheit ist geordnet.“

Irmgard blieb in der Stadt. Es geschah nicht nur, weil sie mit Recht erwartete, auch Robert Harder werde nach der Schweiz eilen und ein Zusammentreffen mit ihm an der Unglücksstätte nicht zu vermeiden sein, sie fühlte sich auch so leidend, daß sie ihrer Mutter bei der eiligen Reise nur ein Hinderniß gewesen wäre.

Frau von der Wehr und Rath Pfaff fuhren Tag und Nacht ohne Aufenthalt. Harder folgte zwölf Stunden später nach, um sie durch keinerlei Rücksichtnahme auf seine Person zu binden. Er hatte es natürlich gefunden, daß die verehrte Frau einen älteren Mann und Verwandten zum Reisebegleiter wählte.

Noch nie war ihr eine Eisenbahnfahrt so qualvoll lang erschienen. Im Hotel zu Thun erkundigte sie sich sogleich nach dem Unglücksfall. Man wußte ihr dort wenig mehr zu sagen, als daß die Zeitung einen kurzen Bericht gebracht habe, bei dem heftigen Sturm, der auch sonst viel Unheil angerichtet, sei ein Maler Namens Werner um’s Leben gekommen, der stets waghalsig in seinem kleinen Boot Wind und Wellen zu trotzen liebte. Es solle schon längere Zeit mit seinem Verstande nicht ganz richtig gewesen sein. Im Gasthause fand der traurige Vorfall kaum Beachtung.

Frau von der Wehr bestellte, ohne sich auch nur eine Stunde Ruhe zu gönnen, einen Wagen und dirigirte ihn nach der einsamen Villa am See hinaus. Sie ließ ihn eine Strecke vor dem Hause auf der Wiese halten und ging den Rest des Weges zu Fuß, auf den Arm des Rathes gestützt. Alle ihre Kraft mußte sie zusammennehmen, nicht umzusinken. Daß der Rath voraus Erkundigungen einziehe, wollte sie nicht leiden.

Die Thür war verschlossen. Sie gingen um das Haus herum nach dem hinteren Eingange. In der Küche fanden sie die alte Ursel. Sie erkannte nach aufmerksamem Betrachten die Dame wieder, die sie nur das eine Mal gesehen hatte, als sie in Begleitung ihres Herrn kam und ihr freilich auch viel zu denken gab. „Ach, liebe gnädige Frau,“ sagte sie, „warum sind Sie nicht früher gekommen? Ich glaube, Herr Werner hat immer auf Sie gewartet – und nun ist’s zu spät. Gott habe ihn selig!“

„Ich weiß das Schlimmste,“ antwortete Frau von der Wehr, sich mit größter Anstrengung fassend, „und komme deshalb –“

[129] „Ach, wohl aus dem Briefe,“ fiel Ursula ein, „den ich zurückschicken mußte, weil mein armer Herr ihn doch nicht mehr lesen konnte. Der Postbote sagte, daß Ihr Name darauf angegeben sei, und daß er schon seinen Weg zurückfinden werde. Er wollte draufschreiben, was Sie wissen müßten. Ja, es war ein grausiger Sturm; im Sommer haben wir ihn selten so stark; das Dampfboot ist sogar in Gefahr gewesen.“

„Theilen Sie uns Alles mit, was Sie über den Unfall wissen,“ nahm der Rath das Wort. „Die Dame war die beste Freundin Ihres Herrn.“

„Weiß wohl, weiß wohl,“ knurrte die Alte, „und vielleicht noch etwas mehr. Es war nicht seine Art über solche Dinge zu sprechen, aber ich sah doch damals, was auch blöde Augen sehen mußten, und mehr als einmal hat er mir später aufgetragen, Ihnen das Bild zu schicken, wenn er gestorben sei, und dabei Ihren Namen oft wiederholt, daß ich ihn fest im Gedächtniß behalten sollte. Nun können Sie’s ja gleich selbst in Empfang nehmen. Ich dachte wohl, daß Sie sich melden würden auf den Brief.“

Elise weinte still. Die Alte betrachtete sie wehmüthig und nickte mit dem grauen Kopf dazu. „Ja, ja – es ist den Menschen manchmal nicht bestimmt,“ sagte sie. Sie nahm einen Schlüssel vom Handbrett. „Kommen Sie! Das Zimmer sieht noch so aus, wie es zu Ihrem Empfang hergerichtet wurde. Vielleicht erweisen Sie heut’ dem Hause die Ehre, ein Glas Wein zu trinken.“

Sie ging voran und öffnete die Thür. Widerspruch wäre vergebens gewesen. Da stand wirklich noch der gedeckte Tisch. Auf Tellern und Gläsern lag Staub; die Alte begann ihn mit ihrer Schürze fortzuwischen. Elise trat nicht über die Schwelle. „Lassen Sie uns drüben eintreten!“ bat sie, kaum noch fähig sich aufrecht zu halten.

„Wie die Herrschaften befehlen,“ sagte Ursel, „aber es sieht da recht unordentlich aus, wie er das Zimmer verlassen hat. Ich wollte nichts rühren, damit ich’s vor Gericht mit gutem Gewissen beschwören könnte, wenn sich die Erben melden würden. Nur die Thüren hab’ ich verschlossen.“

Im Atelier stand die verhängte Staffelei vor dem Sopha. Elise setzte sich ganz erschöpft, und die Alte sagte, wieder kopfnickend: „Ganz recht, ganz recht – das war für Sie.“

„Wo ist er begraben?“ fragte Frau von der Wehr nach einer Minute stillen Nachsinnens.

„Wo ist er begraben?“ wiederholte die Alte achselzuckend. „Das ist ja das Traurigste, daß er nicht einmal ein ordentliches Grab hat, wo man für ihn ein Vaterunser sprechen kann. Der See ist sein Grab. Er ist unergründlich tief, und wen er gefaßt hat, den giebt er nicht wieder.“

„Und wie weiß man denn, daß er ertrunken ist?“ mischte sich der Jurist ein.

„Er ist nicht wiedergekommen, Herr.“

„Das ist noch kein Beweis.“

„O doch, Herr – bei dem Unwetter! Ich habe abgerathen, so viel ich konnte. Der Sturm stieß wohl von den Bergen herunter auf das Wasser, daß es an den Ufern fußhoch übertrat; der ganze See war ein Schaum. Und auf der Nußschale von Boot mit zwei schwachen Rudern –! Aber er hörte nicht auf mich; es war immer, als ob es ihn im Sturm am liebsten hinauszog, und oft genug ist’s ja auch geglückt.“

„Hat man ihn auf dem See in Todesgefahr gesehen?“

„Nicht daß ich wüßte, Herr. Wer das Unwetter kommen sah, eilte an’s Land. Er blieb allein auf der Höhe – zu seinem Verderben.“

„Das ist nur Muthmaßung.“

„Aber man hat ja am anderen Tage das Boot auf dem See gefunden. Es war ganz voll Wasser geschlagen – da ist’s doch gewiß.“

Der Rath wagte keinen weiteren Einwand. Es war spät geworden und Weiteres von der Alten nicht zu erfahren. Sie fuhren nach der Stadt zurück. –

Am andern Tage fand sich auch Robert Harder ein. Während der Gerichtsrath die Behörden ermittelte, mit denen nach den Gesetzen des Landes zu verhandeln war, und mit der dem Juristen eigenen Zähigkeit Nachforschungen in allen Ortschaften am See anordnete, um mindestens doch einen Zeugen zu entdecken, führte Harder Frau von der Wehr wieder zur Villa hinauf. Er durfte sich als den Erben betrachten, und nahm daher auch keinen Anstand, im Atelier und Schlafcabinet des Malers aufzuräumen und seine Papiere zu durchsuchen. Es fand sich eine Art von letztwilliger Verfügung in einem offenen Briefe an seinen Neffen. Es war darin gesagt, daß das Staffeleibild Elise von der Wehr gehöre und daß ihm das Medaillonportrait in der Tischschublade unter dem Spiegel in’s Grab mitgegeben werden solle.

Ueber diesem Medaillonportrait flossen wieder reichliche Thränen. Auf der Rückseite war von des Malers Hand jener bekannte Vers aus Uhland’s „der Wirthin Töchterlein“ aufgeschrieben:

„Dich liebt’ ich immer, Dich lieb’ ich noch heut’,
Und werde Dich lieben in Ewigkeit.“

Es befand sich darunter das Datum seines Todestages: er hatte das ihm so theure Bild vor seinem letzten Gange betrachtet und, von der Ahnung seines nahen Endes ergriffen, diesen Abschied genommen.

Auch Irmgards Visitenkärtchen war aufbewahrt worden.

„Versenken wir das Bild in den See!“ entschied Elise. „Es war sein letzter Wille, daß es ihm ins Grab mitgegeben werden sollte. Der See, auf dem wir die glücklichste Stunde unseres Lebens genossen, ist sein Grab geworden. Diese Aufschrift bezeugt, daß er mich seitdem betrauert hat wie eine todte Geliebte.“

Gegen Abend, aber früher als er erwartet wurde, kam der Enkel der alten Ursula von den Bergen herunter, wo er mit dem Sohn eines der Gebirgsbauern dessen Vieh gehütet hatte. Er war gelaufen und noch ganz außer Athem, erzählte auch seiner Großmutter eine lange Geschichte, die von ihr mit Spannung angehört wurde, von der aber die Fremden wegen des schweizer Dialekts kein Wort verstanden. Die Alte schien beunruhigt, forschte ihn näher aus, schüttelte bedenklich den Kopf und überlegte, was zu thun sei. Endlich wendete sie sich doch an die Dame und ihren Begleiter. „Ich glaube nicht daran,“ sagte sie; „es ist gewiß wieder ein unnützes Gerede, aber wissen sollen es die Herrschaften doch.“

„Um was handelt es sich?“ fragte Robert.

„Ich bin eine alte Frau,“ fuhr Ursel fort, „und habe immer hier am See gewohnt. Da ist’s in manchem Jahr passirt, daß ein Boot umgeschlagen und der Fährmann verschwunden ist, weil der See die Ertrunkenen nicht zurückgiebt. Da hat’s denn jedesmal hinterher geheißen, man hat ihn da oder dort gesehen; das hat sich herumgesprochen, und wenn man ordentlich nachgeforscht hat, ist’s nichts gewesen.“

Frau von der Wehr wurde aufmerksam. „Und auch diesmal spricht man …? Sagen Sie uns Alles!“

„Mein Enkel hütet bei einem Bauer, den Herr Werner oft besucht hat, um dort zu zeichnen, und sein Sohn hat ihm persönlich den Malkasten und Schirm getragen. Die Knaben sind zusammen auf der Weide gewesen; dabei ist der Bauer zurückgekommen und hat ihnen allerlei erzählt. Er hat nämlich einen fremden Herrn über den Singriswyler Grat und den Beatenberg geführt. Kurz vor Neuhaus hat er ihn verabschiedet und den bequemeren Weg am Seeufer entlang für die Rücktour eingeschlagen, vorher aber in einem Wirthshause Station gemacht, in dem die Fischer und Schiffer viel verkehren. Da ist von dem Schaden gesprochen worden, den der letzte Sturm angerichtet, und so hat auch einer gesagt, nicht weit von dort liege ein Todtkranker, den sie aus dem See aufgefischt hätten, sie wüßten aber nicht, wer er wäre, denn er könne kein Wort hervorbringen. Indem sei einer auch von Neuhaus gekommen, den das Dampfboot von Thun dahin brachte; der habe gesagt, daß er sich überall nach einem verunglückten Maler erkundigen solle, und nun hätten sie sich’s gleich zusammengereimt, daß das wohl der Kranke sein könne. Der Bauer ist nun nach Hause geeilt und hat meinem Enkel aufgetragen, mir’s mitzutheilen. Es ist aber sicher nur unnützes Gerede: wen der See hat, den giebt er nicht heraus.“

So ruhig die Alte dies vortrug, Frau von der Wehr wurde doch dadurch in fieberhafte Aufregung versetzt. „Tausendmal mag ein solches Gerücht lügen,“ sagte sie mit bebender Stimme, „einmal kann’s doch guten Grund haben. Unmöglich ist eine solche Rettung nicht, und warum sollte nicht Werner …“ Der Ton versagte ihr, sie brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus.

Robert Harder erbot sich sogleich, mit dem Enkel der alten [130] Frau den Bauer herbeizuholen, damit man ihn näher ausforschen könne. Nach zwei Stunden kamen sie in seiner Begleitung zurück. Er wußte freilich nicht viel mehr, als was er schon dem Knaben mitgeteilt hatte, erklärte sich aber bereit, die Herrschaften zu dem Wirthshause zu bringen und ihnen bei weiteren Nachforschungen zu helfen. „Ich hätte schon selbst den Kranken aufgesucht,“ schloß er, „aber es hieß, daß sie Niemand zu ihm einlassen wollten.“

Man begab sich nun sofort nach Thun hinab. Der Gerichtsrath hatte auch schon von seinem Boten aus Neuhaus einen Zettel mit der vorläufigen Nachricht erhalten und schickte ihnen entgegen. Leider ging ein Dampfboot nicht mehr ab; man mußte sich entschließen, zu Wagen um den See zu fahren. Die Herren baten Frau von der Wehr zurückzubleiben und abzuwarten, bis sich Sicheres ergebe; sie war nicht dazu zu vermögen.

„Wenn er’s wäre,“ sagte sie, „und ich hätte ihn noch lebend antreffen können …! Nein, nein! Ich muß zu ihm.“

Es war Nacht geworden, als man in Neuhaus anlangte. Dennoch wurde der Weg ohne Rast fortgesetzt, das Wirthshaus am See und nach den dortigen Weisungen das Fischerhaus aufgesucht, in dem eine halbe Stunde weiter der Kranke liegen sollte. Sie begegneten einem Geistlichen und fragten ihn aus. Er bestätigte die Nachricht und fügte hinzu, die Leute hätten ihn geholt, um dem Sterbenden den letzten Trost zu spenden; er scheine aber schon das Bewußtsein verloren zu haben.

„An den Arzt hat das Volk wahrscheinlich wieder zuletzt gedacht,“ murrte der Rath.

Sie beeilten sich. Hinter den Fenstern des kleinen Hauses war nur matter Lichtschein zu bemerken. Von einigen Männer- und Frauenstimmen wurde ein geistliches Lied gesungen – vielleicht die Todtenklage. Von Angst getrieben, eilte Elise, Allen voran, in’s Zimmer.

Der Gesang verstummte plötzlich. Die Leute, die in der Nähe der Gardinenbettstelle knieten, erhoben sich und schauten verwundert auf die Dame, die sofort den Leuchter vom Tische nahm und mit hastigen Schritten auf das Bett zueilte.

„Max!“ schrie sie auf und sank neben demselben nieder.

Es war nicht ein Todter, der durch diesen Schrei erweckt zu werden brauchte. Werner athmete noch, aber freilich unruhig und ungleichmäßig wie ein Sterbender. Nun schien der Laut einer lieben Stimme sein inneres Ohr zu erreichen; er schreckte zusammen und öffnete die schweren Augenlider. Robert hatte das Licht schnell aus Elisens Hand genommen und leuchtete vom Fußende her. Sie richtete sich mit aller Anstrengung am Stollen auf und beugte sich über den Kranken. Er erkannte sie; über das marmorbleiche Gesicht verbreitete sich ein freundliches Lächeln. Die Lippen bewegten sich zitternd – Elise glaubte ihren Namen zu verstehen. Dann schien er wieder in Schlaf zu versinken. – –

Frau von der Wehr wachte die ganze Nacht am Krankenlager. Sie hielt die Hand des geliebten unglücklichen Mannes und blickte ihn unverwandt an, stille Gebete sprechend, für die das Herz unaufhörlich neue und innige Worte fand. Das Athmen des Kranken wurde von Stunde zu Stunde leichter und sanfter, der röchelnde Ton setzte öfter aus. Ging es zum Ende?

Harder war nach Neuhaus zurückgekehrt und von da nach Interlaken gegangen, um mit dem Frühesten Aerzte herbeizuschaffen. Der Gerichtsrath hatte sofort als guter Praktiker eingegriffen, die Fischerleute vermocht, das Zimmer zu räumen, und es gegen gute Belohnung der Dame zu überlassen, bis sich’s wegen des ihr sehr theuren Kranken entschieden habe. Man erzählte ihm nun auch, wie die Rettung gelungen sei. Der Fischer hätte sich an jenem Sturmtage auf dem See befunden und anfangs gemeint, das Unwetter vorüberziehen lassen zu können. Bei steigender Gefahr hätte er aber das Segel aufgesetzt und irgendwo mit günstigem Winde das Ufer zu erreichen gesucht. Da sei sein Boot gegen etwas Hartes angestoßen und wegen des Widerstandes beinahe umgeschlagen. Nun habe er seinem Buben das Steuer überlassen und, unter dem Segel durchkriechend, nachgeschaut. Ein kleines Boot, mehr als zur Hälfte mit Wasser gefüllt, sei von den Wellen auf- und abgetrieben worden. Es habe darin ein Mann gesessen, ohne Hut, die Arme übereinander geschlagen, lachend wie ein Toller. Indem sei sein Kahn mit dem Vordersteven wieder gegen die Langseite des kleinen Fahrzeugs gestoßen worden, dasselbe habe einen argen Ruck erhalten, vollends Wasser geschöpft und den Mann ausgeworfen. Doch sei zum Glücke sein Rock mit der Tasche an dem eisernen Ruderhaken hängen geblieben, sodaß er nicht gleich versinken konnte. Trotz der Gefahr für ihn selbst habe der Fischer über Bord gegriffen, den Rand des Bootes erfaßt und dasselbe zu wenden gesucht, bis er den Menschen packen und hinaufziehen konnte. Darüber sei allerdings einige Zeit vergangen, sodaß er viel Wasser geschluckt. Mit Mühe und Noth habe man das Land erreicht und dann den Ertrunkenen in’s Haus geschafft. Der sei zwar wieder zu sich gekommen, habe aber verboten, eine Anzeige zu machen und bald kein Wort mehr sprechen können oder wollen. Sie hätten noch immer gewartet, daß er sich bessern möchte, aber von Tag zu Tag sei’s schlechter geworden, und nun werde er wohl den Morgen nicht mehr erleben.

Die Aerzte konnten wenig Hoffnung geben, trafen aber die sorgfältigsten Anordnungen. Da der Kranke nicht transportirt werden konnte, quartierte Elise sich ganz in dem Hause ein. Der Fischer holte mit seinem Kahne herbei, was für einen längeren Aufenthalt notwendig war. Kaum konnte sie vermocht werden, einige Stunden zu schlafen, um ihre Kräfte nicht gänzlich zu erschöpfen. Dann saß sie wieder am Bette des Kranken, streichelte seine Wange, hielt seine Hand und beobachtete seine Athemzüge. Gegen Mittag erwachte er. Wie er die Augen aufschlug, fiel sein Blick auf Elise. Er schien anfangs erstaunt über ihre Nähe; dann war’s, als ob eine Erinnerung in ihm aufdämmerte, und er lächelte wieder selig. Mit leisem Drucke der Finger prüfte er, ob er etwas Greifbares halte. Er winkte nach einer Weile mit den Augen; sie beugte sich über ihn, und er flüsterte leise, aber vernehmlich: „in Ewigkeit.“ Sie konnte die Thränen nicht zurückhalten. Thränen der Freude und des Schmerzes, senkte das Gesicht noch tiefer und küßte seine Stirn.

Das that ihm wohl. Er athmete kräftiger und wendete den Kopf zur Seite, um sie besser sehen zu können. Nach einigen Minuten fühlte sie ein Ziehen seiner Hand. Sie näherte wieder das Ohr seinem Munde. „Irmgard –“ sagte er kaum vernehmlich.

„Sie ist nicht hier,“ antwortete Elise, „aber sorge nicht ihretwegen! Sie ist ganz versöhnt und würde Dich jetzt mit aller Herzlichkeit begrüßen. Wie glücklich wird sie sein, wenn sie von diesem Wiedersehen erfährt, auf das sie nicht hoffen konnte! Sie hatte Dir geschrieben, aber der Brief kam zurück. Und daß Du ganz ruhig sein kannst, sollst Du gleich erfahren: sie ist Robert’s Braut. Aber nun sprich kein Wort mehr! Ich bin Dein Arzt und darf’s nicht leiden.“

Er schien nur langsam den ganzen freudigen Inhalt ihrer Worte fassen zu können. Dann verklärte sich sein Gesicht mehr und mehr; seine Augen ließen nicht von den ihrigen, bis er zuletzt sich doch wieder dem Schlafe ergeben mußte, aber seine Gesichtszüge waren nun sanft und auf den eingefallenen Wangen zeigte sich eine leise Röthe.

Einige Tage vergingen zwischen Furcht und Hoffnung. Die Aerzte wechselten einander ab; es geschah, was geschehen konnte. Der Zustand von Schlaftrunkenheit wich, aber nun zeigte sich oft Beängstigung und fieberhafte Unruhe. Das Bewußtsein nahm eher zu als ab. Er war meist bei klarer Besinnung und schien nun den Tod zu fürchten, der ja ein Scheiden von der geliebten Frau bedeutete.

Der Gerichtsrath hatte sofort an Irmgard geschrieben und Robert ein Briefchen eingelegt. Nun kam umgehend die Antwort zurück: „Gott wolle ihm das Leben schenken und die Liebenden vereinen! Ich habe keinen Wunsch über diesen.“ Der alte Herr, so schwer ihm zu Muthe war, mußte doch dazu lächeln. „Keinen Wunsch über diesen? Freilich – wenn er sich erfüllt, findet sich das Andere von selbst.“

Ob Werner’s Leben zu erhalten sein würde, stand allerdings ganz in Gottes Hand, aber „die Liebenden zu vereinen …“ dazu bedurfte es nur eines raschen Entschlusses, und es war vielleicht gut, wenn er gefaßt wurde. Nach reiflicher Ueberlegung nahm der Rath mit der Erklärung, daß er ihr etwas Wichtiges zu sagen habe, Elisens Arm und führte sie in’s Freie hinaus. „Wir wissen nicht,“ sagte er, „ob wir lange Zeit zum Abwarten haben; so fest wir an der Hoffnung halten wollen, müssen wir doch auf den schlimmsten Ausgang gefaßt sein. War es nun Ihre Absicht, beste Cousine, Werner Ihre Hand zu

[131]

Am Burgfenster.
Originalzeichnung von J. Munsch in München.

[132] reichen, warum wollen Sie nicht jetzt noch thun, was zu allseitiger Beruhigung gereichen muß? Werner wird sich am Ziele seiner Wünsche sehen. Sie werden als seine Frau hier ganz an Ihrer Stelle sein, und Irmgard wird das nächste Hinderniß ihrer Vereinigung mit Robert hinweggeräumt sehen; die Zeit und ihre tiefe Neigung werden das Uebrige thun. Vergessen Sie nicht Ihre Mutterpflicht!“

Elise mußte ihm zustimmen, und sie that es ohne Vorbehalt.

Als der Entschluß feststand, wurde schleunigst zur Ausführung geschritten. „Ich habe nicht darum zu bitten gewagt,“ sagte Werner, als er darüber verständigt wurde, „aber daß es nun ohne meine Bitte geschehen soll, macht mich unendlich glücklich.“ Der Rath besorgte alles Erforderliche bei den Behörden; ein würdiger Geistlicher erklärte sich bereit, die kirchliche Trauung zu vollziehen, auch wenn nicht alle Formalitäten erledigt werden konnten. So kam die bestimmte Stunde heran.

Sie brachte einen unerwarteten Hochzeitsgast. Irmgard hatte ihre Unruhe nicht länger bezwungen. Ohne ihre Ankunft zu melden, hatte sie in der Gesellschaft einer alten Dame ihrer Verwandtschaft, die der Arzt an den Genfer See schickte, die Reise angetreten, um ihrer Mutter bei der Krankenpflege Beistand zu leisten. Es war ihr eine unverhoffte Freude, so zur rechten Zeit einzutreffen und Zeugin des feierlichen Actes sein zu können.

Am Krankenbett sank sie nieder und küßte des Malers Hand. „Können Sie mir verzeihen?“ fragte sie sehr bewegt.

Er streichelte ihr seidenweiches Haar und sagte nur wieder und wieder: „Mein liebes gutes Kind –“

Als der Trauungsact vorüber war, wandte sich Elise, nachdem sie ihren Mann lange umarmt gehalten hatte, an Irmgard und flüsterte ihr zu: „Nun bin ich gebunden, und Du bist frei.“

Sie wollte antworten, aber Werner, der die leisen Worte verstanden hatte, hob die Hände und winkte ihr und Robert näher zu treten. „Frei,“ sagte er, „um Dich binden zu können für’s ganze Leben. Gebt mir in dieser ernsten Stunde euer heiliges Versprechen, einander mit Leib und Seele angehören zu wollen für alle Zeit! Was sich liebt, soll Eins werden aus Zweien. Lernt von uns, wie das Leben verkümmert in unerfüllter Sehnsucht! Zwar kennt die Liebe kein Zuspät, aber ihr glücklichstes Loos ist frühes Vereinen und langes Halten. Euch schenkt es der gütige Himmel – seid dankbar!“

Er fügte ihre Hände zusammen und sank dann ermattet in die Kissen zurück. Sie bückten sich zu ihm nieder, um ihm Mund und Stirn zu küssen, und dabei berührten ihre Wangen sich. Er legte den Arm um ihren Leib und zog sie an sich, sie aber litt es nun ohne Widerstreben. So standen sie eine Weile neben dem Kranken, der freundlich zu ihnen aufsah. Dann fiel Irmgard ihrer Mutter, die hinzugetreten war, um den Hals und rief: „Mutter – er will es, daß wir glücklich sind.“ – –

Die nächste Nacht war schlecht, der Zustand des Kranken mußte die größte Besorgniß erregen. Der Arzt, der am Abend gekommen und nicht fortgegangen war, verbarg den Freunden nicht, daß dieses Leben vielleicht nur noch nach Stunden zähle. Sie machten sich auf den traurigsten Ausgang gefaßt.

Aber eine jener wunderbaren Wendungen, die mitunter bei schweren Krankheiten auch den fachkundigsten Heilkünstler in Staunen setzen, vollzog sich auch hier am andern Tage. Es war, als ob das befreite Gemüth alle Plage des Leibes bändigte. Das Fieber hatte den Höhepunkt erreicht und nahm nun rasch ab. Nach einigen Tagen konnten die Aerzte die beruhigende Versicherung geben, daß baldige Genesung zu hoffen sei.

Nach zwei Wochen durfte die Uebersiedelung nach Interlaken erfolgen. Dort machte die Besserung des Kranken rasche Fortschritte. Den Herbst und Winter brachten die Ehegatten in Italien zu. Irmgard begleitete sie dahin, während Robert in die Heimath zurückkehrte, dort für sein neues Hauswesen vorzusorgen.

Der Bau des Hospitals wurde aufgegeben, aber Elise vermachte mit ihrer Tochter freudigster Zustimmung in ihrem Testament einen sehr ansehnlichen Theil ihres Vermögens ihrer Vaterstadt zu dem gleichen wohlthätigen Zweck. Hoffentlich vergehen noch viele Jahre darüber, bis es einmal nach ihrem Tode zu eröffnen sein wird; die Armen werden ihr ein langes Leben wünschen.

Im Frühjahr hat das junge Paar seine Hochzeit gefeiert. Den schönsten Sommermonat genoß es in dem stillen Rauschen, das sein Glück begründete. Max Werner und Elise aber wohnten in der einsamen Villa am Thuner See, die nach Robert’s Anweisungen wohnlich hergerichtet war. Sie fühlten sich nicht einsam darin.



Ritters Heimkehr.
Mit Abbildung.

Im Burghof blühte der Schlehdornbusch;
Die Brunnen plätscherten leise;
Es zogen die Tauben in Hui und Husch
Um Giebel und Thurm ihre Kreise.

5
Ringsum auf der Gärten blühendem Kranz

     Lag Sonnenglanz,
Und droben, als blickt’ sie aus rosiger Wolke,
Im Blumenfenster die Burgfrau stand,
Brosamen streuend dem Taubenvolke

10
Mit ihrer jungen, weißen Hand.


Nun schwirrten sie alle, die flinken, daher;
Es rauschten im Fluge die Schwingen.
„Du weiße, es grämt mein Herz sich so sehr –
Auf! fliege, ihm Grüße zu bringen!

15
Du silberschimmernde, flatt’re geschwind,

     Wie der Frühlingswind!
Und schlicht und farbig, ihr Täubchen alle,
Schweift über die Berge und Flüsse weit
Und schmeichelt ihn her in des Schlosses Halle

20
Aus dem wilden, heldenzerschmetternden Streit.“


Da plötzlich vom Thurme Wachthornstoß!
Der schreckt die Tauben von hinnen.
Und Hufschlag naht, und Halloh bricht los
Und hallt in Nischen, um Erker und Zinnen.

25
Es sprengen die Reiter mit Kling und Klang

     Die Brücke entlang – –
Wie lächelt so sonnig der Burgherr heute,
Wie sitzt er so herrlich auf schäumendem Roß!
Heim kehrt er als Sieger – und um ihn die Beute

30
Und Ritter und Knappen ein glänzender Troß.


Er winkt hinauf zu dem trauten Gemahl.
„Gott grüß’ Dich, Frau Adelgunde!“
Und die Treppen hinab, von Saal zu Saal,
Durch der Zimmer prunkende Runde

35
In den Burghof eilt sie in athmender Luft

     An des Gatten Brust.
Er küßt sie – sie reicht ihm mit glühender Wange
Des Willkomms prächtigen, güld’nen Pokal –
In der Halle dann lauschen dem Sänger sie lange;

40
Der Abend sinkt dämmernd herab auf das Thal. –


Nun aber – was stiehlt sich die Treppen hinan
In der heimlich dunkelnden Stunde?
Wo um’s Fenster die wilde Rose sich spann,
Weilt wieder Frau Adelgunde.

45
Sie neigt sich hinaus durch Rosenduft

     In die Abendluft:
„Ihr Täubchen ihr treuen, verkündet im Thale,
Daß Wonne mir blühte aus sehnendem Harm!
Es sonnt sich mein Herz in des Glückes Strahle,

50
Wenn mich stürmisch umfängt sein Heldenarm.“


          Ernst Ziel.

[133]
Das Nachtwandeln.

Der Uebergang vom Wachen zum Schlafe ist kein plötzlicher; der Geist umschleiert sich, aber seine vollkommene Ruhe tritt nicht so bald ein; erst nach und nach werden die Wahrnehmungen unserer Sinne weniger empfunden, und nur bei dem festen, traumlosen Schlafe erlischt die Mittheilung der äußeren Sinnesorgane an die Seele vollständig. In diesem Zustande sind wir bewußtlos, und nur der Herzschlag und die Athmung verrathen das noch vorhandene Leben. Ist nun den ersten Forderungen der Natur, der absoluten Ruhe, Genüge gethan, so kommen wir allmählich wieder zu uns selbst; der Körper bleibt zwar noch leblos, aber der Geist wird wieder rege; die Sinne machen ihm auf’s Neue Mittheilung ihrer Empfindungen, und zuletzt werden wir in eine Welt der Phantasie versetzt – wir beginnen zu träumen. Wir befinden uns nun plötzlich in irgend einer Umgebung, in irgend welcher Situation, ohne uns aber einen Aufschluß geben zu können, wie wir da hinein gekommen sind; wir werden plötzlich aus der einen in eine andere Situation versetzt, ohne daß wir begreifen, wie, ohne logischen Zusammenhang; denn nur die Einbildung, die Phantasie ist im Traume thätig, nicht aber die Vernunft. Die Verhältnisse zwischen Raum und Zeit, zwischen Ursache und Wirkung werden dabei nicht berücksichtigt, und es herrscht nur der Zufall und das regellose, bunte Durcheinander. Zuweilen wird diese Zusammenhangs- und Regellosigkeit so auffallend, daß wir selbst im Traume wissen, daß wir nur träumen, und daß wir uns gleichsam als passive Beobachter von den Bildern unserer Phantasie trennen. Oft aber gestalten sich unsere Träume in sehr geregelten Formen; Dinge, welche uns während des Tages beschäftigten, sie treten dann auch des Nachts im Schlafe vor unser inneres Ich; wir arbeiten im Schlafe an der Lösung von Problemen, und nicht selten stellt sich träumend der Gedankengang in so logischer Weise dar, daß wir träumend das vollenden, woran wir im Wachen vergebens arbeiteten.

Wenn die wache Vorstellung erloschen ist, kann sich der Geist unumschränkt bewegen die vielen schwächenden und ablenkenden Momente, welche ihn im Wachen benachteiligten, haben nun aufgehört zu wirken; die Phantasie hat ein freies Feld gewonnen, und in diesem Zustande geschieht es, daß wir Gedichte machen, daß wir Lieder componiren, an deren Aufführung oder Vollendung wir im Wachen verzweifelten. Auf diese Weise beendete Farini seine „Teufels-Sonate“; umsonst bemühte er sich, die Arbeit zum Abschluß zu bringen, und schlief mit dem Gedanken an dieselbe ein. Da erscheint ihm im Traume der Teufel und verspricht ihm seine Sonate zu vollenden, wenn er ihm dafür seine Seele verschreibe. Farini geht auf den Vorschlag ein, und der Teufel trägt ihm nun das Ende seines Stückes in bezaubernder Weise auf der Violine vor; der Musiker erwacht und bringt die Melodien, welche er soeben träumend hörte, auf das Papier. Aehnliche Beispiele giebt es noch viele.

Die Lebhaftigkeit des Traumes kann sich sogar so steigern, daß der Schlafende sein Lager verläßt und die Arbeiten des wachen Lebens wieder aufnimmt. Das Gedächtniß, die Gewohnheit und die Einbildungskraft spielen auch hier, bei dem Somnambulismus, wie in jedem anderen Traume, die erste Rolle, und nur diesen drei Factoren allein ist die Sicherheit zuzuschreiben, mit welcher der Nachtwandler seine begonnenen Arbeiten fortsetzt, neue beginnt, oder sich auf seine nächtlichen Spaziergänge macht. Der ganze Unterschied zwischen dem Somnambulismus und denn einfachen Traume besteht nur darin, daß der Nachtwandler das, was er träumt, auch wirklich thut, während der gewöhnliche Träumer sich nur mit den Bildern seiner Phantasie abgiebt und sich in Situationen versetzt glaubt, in denen er sich in der That nicht befindet.

Die räthselhafte Erscheinnung des Nachtwandelns wird meistens in der späten Jugend beobachtet. Der Schläfer erhebt sich dabei gewöhnlich nach dem ersten festen Schlafe, kleidet sich an, macht Licht und beginnt auf’s Neue seine unterbrochenen Arbeiten; er geht ebenso sicher wieder auf sein Lager zurück und hat am nächsten Morgen beim Erwachen keine Erinnerung mehr an seine nächtlichen Erlebnisse. Solche Nachtwandler sind im Ganzen harmlos; sie schaden weder sich noch Anderen. Die Entschlüsse, welche sie im Wachen gefaßt hatten, die Gedanken, welche ihnen während ihrer Arbeit auftauchten, sie verfolgen sie auch im Traume, und die Eindrücke, welche sie wachend in ihre Erinnerung aufnehmen, wirken auch im bewußtlosen Zustande auf sie ein. Sie haben ihrer Einbildungskraft eine gewisse Spannkraft auferlegt, und die letztere kommt dann zur Geltung, wenn der freie Wille, vom Schlaf umfangen, nicht dagegen wirkt, und es folgt der Schlafende willenlos einem Antriebe, einem Vorsatze, den er bereits wachend faßte. Die Erinnerung an gewisse Dinge beschäftigt ihn auch im Traume und treibt ihn von seinem Lager auf; er beginnt im Wahne der Einbildung zu gehen und zu sprechen; er bedarf zu dieser Thätigkeit durchaus nicht der freien Vernunft und des freien Willens; Handlungen und Bewegungen, welche wir von Jugend an lernten, wie das Gehen und das Sprechen nahmen unsere Aufmerksamkeit nur während unserer ersten Versuche in Anspruch, als wir aber jene zusammengesetzten Bewegungen begriffen und gelernt hatten, geschahen dieselben auch ohne unseren vorgefaßten Willen. Die Vernunft und der Wille übergaben die Herrschaft über jene Thätigkeiten an gewisse Theile des Gehirns, an die sogenannten Coordinationscentren (wahrscheinlich im Kleingehirn und im verlängerten Mark gelegen) und diese überwachen nun jene combinirten Bewegungen und bringen sie zur Thätigkeit unter der Wirkung jedes Antriebes, auch eines solchen, welcher nicht von der freien Vernunft hergeleitet ist. Diese Antriebe können äußere Sinneseindrücke sein, sie können aber auch aus dem Gedächtniß und aus der Einbildung hervorgehen.

Selbst wachend verrichten wir oft ohne Bewußtsein Handlungen, an die wir gewöhnt sind; so lesen wir mechanisch in einem Buche weiter oder phantasiren auf dem Claviere ruhig fort, wenn auch unsere Aufmerksamkeit durch andere Dinge in Anspruch genommen wird. Wenn wir bei einem Schreck aufschreien oder die Flucht ergreifen, so geschieht dies ohne, oft sogar gegen unseren Willen. Dasselbe gilt auch vom Nachtwandler; auch er geht herum; er spricht und singt gleichsam gegen, wenigstens ohne seinen Willen. Die Vernunft ist vom Schlafe befangen, aber das Gedächtniß übernimmt hier die Rolle des freien Willens und läßt ihn im bewußtlosen Zustande sogar oft Dinge vollbringen, an deren Gelingen er im Wachen verzweifelte. Die Handlungen eines Schlafwandlers sind bewußtlos, aber durchaus logisch.

Man glaubt bemerkt zu haben, daß der Somnambulismus von gewissen Mondesphasen abhänge; dieser Annahme fehlt jedoch die Begründung. Es scheint, daß jede erhöhte Reizung der psychischen Sphäre, sei es durch anstrengendes Nachdenken, sei es durch Aerger oder dergleichen, den ersten Anstoß zum Nachtwandeln giebt. Dinge, die uns lebhaft interessiren, kommen sehr oft in unsere Träume, und ebenso verfolgen auch den Schlafwandler die Gedanken bis in den Schlaf, und sein Traum wird dann so lebhaft, daß er ihn auch in Wirklichkeit vollbringt. Der Nachtwandler steht dann unter der Leitung einer instinctiven Gewalt, einer unbewußten Intelligenz auf; er findet sich im Dunkeln so weit zurecht, als er mit den Räumlichkeiten, in denen er sich bewegt, vertraut ist; nur dem Ortssinn allein ist es zuzuschreiben, daß der Somnambule selbst mit geschlossenen Augen nirgends anstößt und allen Hindernissen aus dem Wege geht. Jedoch sind Täuschungen auch nicht selten; es ist vorgekommen, daß Nachtwandler das Fenster für die Thür hielten, und indem sie durch dasselbe in’s Freie treten wollten, auf die Straße fielen und verunglückten. Ein Anderer hielt das Fenstersims für ein Pferd, und indem er sich rittlings darauf setzte, machte er in seiner Einbildung einen Spazierritt.

Oft ist die Sinnesthätigkeit des Schlafwandlers ganz normal; er sieht die Leute seiner Umgebung; er spricht mit ihnen; er antwortet richtig auf Fragen; zuweilen musicirt er auch, und dieses Alles ohne Bewußtsein. In anderen Fällen ist er aber gegen die Außenwelt gleichsam abgestumpft. Er reagirt auf keine Sinneseindrücke, sondern beschäftigt sich nur mit den Bildern seiner Phantasie, er spricht mit Personen, welche er zu sehen [134] glaubt, oder er hält, wie jener Schulmeister, vor einer eingebildeten Versammlung Unterricht. Es ist auch vorgekommen, daß Nachtwandler ihre Feinde verfolgten, sie züchtigten und geschehene Unbill rächten. Hier begeht der Unglückliche allerdings leicht ein Verbrechen; das Gefühl der Rache wohnt in ihm auch im schlafwandlerischen Zustande, aber die wache und vernünftige Ueberlegung seiner Handlungen fehlt; er folgt einem instinctiven Triebe und vollbringt so eine blutige That, zu welcher es unter der Herrschaft der bewußten Intelligenz nicht gekommen wäre.

Soave erzählt von einem zweiundzwanzigjährigen Apothekergehülfen, welcher im Zustande des Nachtwandelns seine täglichen Arbeiten auch während der Nacht verrichtete; er bereitete Recepte, und waren diese unrichtig abgefaßt, so merkte er sofort die Fehler und weigerte sich die Arzneien zu machen. Er las in diesem Zustande viel, und hatte man vorher seine Buchzeichen entfernt oder an einen anderen Ort gethan, so blätterte er weiter, bis er die richtige Stelle auffand, dabei äußerte er sich einmal sehr ungeduldig darüber, daß Jemand ein Vergnügen daran finde, seine Buchzeichen wegzunehmen. Oft sprach er mit sich selbst über eben gelesene Stellen, besonders über Fragen, über die er mit seinem Herrn disputirt hatte. Wenn Soave, der ihn dabei beobachtete, ein Blatt Papier vor das Buch hielt, so wurden seine Gedanken plötzlich unterbrochen und er verfiel in tiefen Schlaf, aus welchem er jedoch bald wieder zum somnambulen Zustande erwachte. Die Apothekersfrau stellte sich einmal als seine Schwester und sprach als solche mit ihm; er merkte die Täuschung nicht; ein andermal kam sie als Magd, welche etwas kaufen wollte, von außen herein, suchte ihn bei der Bezahlung zu täuschen und behauptete ihm einen halben Scudo gegeben zu haben, während sie ihm in der That einen Lira gab; der Gehülfe aber merkte den Betrug und ließ sich nicht irre führen. Sein Arzt fragte ihn einst in diesem Zustande, ob er nicht wisse, daß er nachtwandele; daraufhin wurden seine Gedanken wieder verwirrt; er schlief ein, um bald darauf wieder zum Somnambulismus überzugehen.

Eines anderen Schlafwandlers, welcher ebenfalls im Traume seine täglichen Arbeiten fortsetzte, wird in der Encyclopédie méthodique gedacht; ein junger Geistlicher schrieb in diesem Zustande seine Predigten, las dann jede Seite laut herunter und corrigirte dabei an verschiedenen Stellen. Hielt man ihn vor sein Manuscript ein gleich großes Blatt weißes Papier, so schrieb er die Correcturen, ohne etwas zu merken, auf ganz dieselben Stellen, wo sie im Originale hätten stehen sollen. Der Inhalt seiner Arbeit stand ebenso, wie die räumlichen Verhältnisse der Zeilen und Wörter, deutlich vor seinem Gedächtnisse.

Von Heer erzählt von einem Manne, welcher schlafend Verse machte; er pflegte oft des Nachts in der Stube umherzugehen, wobei er sein Kind auf dem Arme trug; seine Frau begleitete ihn dabei und entlockte ihm bei dieser Gelegenheit alle seine Geheimnisse.

Der leichteste Grad des Somnambulismus macht sich durch unruhigen Schlaf, durch lautes Reden im Traume und durch Antworten auf gestellte Fragen bemerbar; hierher gehört ebenfalls das Fortmarschiren ermüdeter eingeschlafener Soldaten, sowie das fortgesetzte laute Lesen, während man bereits eingeschlummert ist. Dieser Zustand bildet den Uebergang vom gewöhnlichen Traum zum Nachtwandeln.

Am Anfang dieses Jahrhunderts lebte in Leipzig ein Mann, Namens Wagner; des Sonntags war er Organist an der Universitätskirche, und während der Werktage fungirte er als Bierwirth im „Pelikan“. Dieser Mann hatte die Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit einzuschlafen, aber dabei doch seine Arbeit, mit der er sich gerade beschäftigte, fortzusetzen. Er schlief beim Kartenspiele ein, aber jedesmal, wenn die Reihe an ihn kam, gab er seine Karte richtig aus. Desgleichen erwähnt Rudolphi eines Schustergesellen in Mailand, welcher träumend zu arbeiten pflegte; jedesmal, wenn man ihm etwas sagen wollte, mußte man ihn erst durch starkes Klopfen wecken.

In den höchsten Graden verläßt der Nachtwandler das Haus; er öffnet Thür und Fenster, geht hinaus in’s Freie oder Lustwandelt auf dem Dache. Dabei legt er die gefährlichsten Wege mit einer Sicherheit zurück, deren er im wachen Zustande nicht fähig gewesen wäre; es fehlt ihm eben die bewußte Ueberlegung seiner Handlungen die Gefahr, in welcher er schwebt, bleibt ihm verborgen, und so schreitet er am Tode sicher vorüber, ohne Schwindel, ohne Zaudern; er zweifelt nicht an der Möglichkeit seiner Unternehmungen, und „wer wagt, gewinnt“. Oft genug verunglückt ein Nachtwandler bei diesen gefährlichen Spaziergängen; wenn er dabei plötzlich erwacht und nun die Gefahr sieht, in welcher er schwebt, bemächtigt sich seiner die Furcht; die Kühnheit, welche ihn im bewußtlosen Zustande sicher vorwärts leitete, hat ihn verlassen und er kann oft ohne fremde Hülfe nicht mehr zurück. In anderen Fällen legt er, ohne zu erwachen, den Weg, den er gekommen, ebenso sicher wieder zurück, geht zu Bett und schläft ruhig weiter. Am andern Morgen weiß er von dem Vorgefallenen nichts mehr, und es fehlt sogar oft selbst jede Traumerinnerung.

Eine genügende Erklärung dieses räthselhaften Zustandes ist noch nicht gegeben worden; man nahm an, daß hierbei die gesammte Lebensthätigkeit auf das vegetative Nervensystem einwirke, und vermittelst der Centralorgane Nervenbewegungen bewirke. Diese Auslegung sagt im Ganzen nicht viel; sie würde höchstens die Bewegungen des Schlafwandlers, nicht aber die Zweckmäßigkeit und Sicherheit derselben erklären. Letzteres beruht auf Gewohnheit, denn Alles, was der Somnambule thut, ist die Fortsetzung seiner täglichen Verrichtungen; wenn er neue Arbeiten beginnt, so hatte er den Gedanken dazu im Wachen und bei klarem Bewußtsein erfaßt; er führt im Schlafe gewissermaßen nur die Pläne aus, welche er früher wachend entwarf.

Prophetische und magische Kräfte findet nur Derjenige bei einem Nachtwandler, welcher dieselben suchen und finden will; ein unbefangener und nüchterner Beobachter entdeckt auch bei einem Schlafwandler nichts Uebernatürliches, und nur der Mystiker greift zu magischen Kräften der menschlichen Natur, um eine ungewöhnliche, deshalb aber nicht unnatürliche Thatsache zu erklären.

Dr. W. C.






Aus den Werkstätten der Presse.

Wenn jetzt in einem Verzeichniß der unentbehrlichsten Lebensmittel civilisirter Völker auch die Zeitung einen hervorragenden Platz erhielte, so würde dagegen wohl kaum noch von irgend einer Seite her ernsthafter Widerspruch erhoben werden. Was die Zeitung im heutigen Culturgange der Menschheit geworden ist, was sie nach allen Richtungen hin für das Leben der Gesammtheiten und für das tägliche innere und äußere Bedürfniß des Einzelnen bedeutet, das wird jetzt von Unzähligen in allen Schichten des Volkes mehr oder minder deutlich gefühlt oder gewußt. Auch den Charakter und Standpunkt der verschiedenen Preßorgane des Inlandes und sogar des Auslandes, auch ihre Eigenschaften, die Art und Höhe ihrer Verbreitung und ihres Einflusses kennt man im Allgemeinen so weit, um die erforderliche Kritik üben und Stellung zu ihnen nehmen zu können. Während aber die öffentliche Meinung über alle diese Verhältnisse so ziemlich unterrichtet ist, herrscht doch noch eine merkwürdige und kaum begreifliche Unklarheit in Bezug auf einen wichtigen Punkt.

In weiten Kreisen selbst der gebildeteren Zeitungsleser weiß man nämlich so gut wie gar nichts von der täglichen Erzeugung der Zeitung, und nur Wenige legen sich die Frage vor: wie es überhaupt möglich gemacht wird, daß diese so riesigen und doch so eleganten, correct und sauber gedruckten Zeitungsproducte mit der ungeheuren Fülle ihres immer neuen, vielseitigen, wohlgeordneten, meistens auch wohldurchdachten und glänzend stylisirten Inhalts zweimal und vielfach sogar dreimal im Verlaufe von vierundzwanzig Stunden dem heißhungrigen Verlangen eines verwöhnten Publicums sich darbieten können? Wahrlich, ein Gebildeter des vorigen Jahrhunderts würde sich in eine Zauberwelt versetzt glauben, wenn er ein paar Tage hindurch nur dieses regelmäßige Ausschwärmen kolossaler Zeitungsauflagen und ihr massenhaftes und schnelles Hinausfliegen nach allen Himmelsgegenden

[135] beobachten könnte. Und in der That gehört denn auch unsere heutige Zeitung, von dieser Seite ihrer Herstellung und Aussendung betrachtet, zu jenen staunenswürdigen Leistungen und Spenden, wie sie nur die moderne Cultur durch die streng organisirte und genau ineinandergreifende Vereinigung hingebender Geistesthätigkeit mit den gewaltigen Mächten technischen Fortschrittes hervorzubringen vermag. Einige Blicke in diese Vielen noch so geheimnißvolle Werkstatt dürften daher den Zeitungsfreunden einen nicht geringeren Reiz gewähren, als dem Theaterfreunde ein kurzes Verweilen hinter den Coulissen des Schauspielhauses. Der Eintritt in die Geburtsstätten der Zeitungen steht nicht Jedermann offen, aber eine Schilderung einzelner Vorgänge wird uns doch ein annähernd deutliches Bild gewähren von dem complicirten und so überaus bewegten Getriebe, dessen begehrte Erzeugnisse an jedem Morgen und Abend fix und fertig in der Familie und den öffentlichen Localen auf den Tischen liegen.[1]

Der eigentliche Lesestoff oder der geistige und durch schriftstellerische Thätigkeit geschaffene Inhalt einer großen Zeitung wird von einem Redactionspersonale hergestellt, das, außer dem Hauptredacteur, dieser das Ganze übersehenden, leitenden und organisirenden Kraft, aus einem Generalstabe von Ressort- oder Abtheilungsredacteuren besteht. Die Zahl derselben hängt von der Organisation des Blattes ab; in der Regel sind nur die Hauptabtheilungen besetzt, nämlich die Politik, der locale und der volkswirthschaftliche Theil. In einem wohlorganisirten Bureau aber zerfallen diese Ressorts wieder in Unterabtheilungen. Der politische Theil hat da einen Redacteur für das Ausland und einen für das Inland; im volkswirthschaftlichen Theile werden die Waaren- und Marktberichte von dem Börsen- und Bankdepartement getrennt und haben ihre Unterchefs. Der Localredacteur gebietet dann selbstständig über eine kleine Armee von Mitarbeitern, und es stehen unter ihm ein Redacteur der Gerichtsberichte, ein Chef des Theaters, ein oder mehrere Polizeireporter. Ferner hat meistens auch das Feuilleton seinen eigenen Redacteur. Hiermit sind jedoch noch nicht alle einzelnen Fächer aufgeführt, weil jede besondere Specialität, die von einem Blatte gepflegt wird, einen besonderen Redacteur bedingt. Naturwissenschaftliche Beilagen, gewerbliche, Assecuranz-, Marine-Fachblätter erfordern einen Gelehrten oder Fachmann, wenn auch nicht immer als ständigen Redacteur, doch wenigstens als Redactionsconsulenten. Der Redacteur der Parlamentsberichte aber gehört nothwendig zum Redactionsverband, und er hat wieder seinen eigenen Stab von fixen Stenographen. Unter den sonstigen Beamten des Bureaus ist eine wichtige Persönlichkeit der sogenannte „Verantwortliche“, der am besten auch das Amt des Nachtredacteurs oder Revisors ausfüllen kann, weil er für Alles verantwortlich ist und Alles lesen soll. Daß der Theaterrecensent nicht der Letzte auf der Stufenleiter der Redaction ist, versteht sich wohl von selbst. Auch dem Redactionssecretär gebührt sein bescheidenes Plätzchen, nicht weniger sodann dem Manne, der mit flinker Hand auf der Börse die Course, oder auf denn Viehmarkte die Zahl des aufgetriebenen Schlachtviehes notirt. Der größere Theil aller dieser publicistischen Arbeiter versammelt sich nun beim Beginne der Geschäftsstunden in den geräumigen (neuerdings vielfach sehr elegant ausgestatteten und aus langen Zimmerreihen bestehenden) Redactionslocalitäten.

Zwei Umstände bestimmen nun die täglichen Arbeitsstunden einer Zeitungsredaction: die Ausgabezeit des Blattes und die Post. Ein Frühblatt wird in der Nacht, ein Abendblatt in den Vormittagsstunden gemacht. Beim zweimaligen Erscheinen giebt es also auch zweimalige Arbeit. Was die Schicht in den Fabriken, die Wacht auf dem Schiffe ist, das ist die Post in einer Redaction, der Regulator der Arbeit. Diese Verhältnisse sind wohl in allen großen Städten die gleichen, und so darf vorausgesetzt werden, daß so ziemlich in der ganzen Welt die Arbeit für das Abendblatt etwa um zehn Uhr Vormittags beginnt; denn um diese Zeit trifft die Frühpost ein. Die Redactionsdiener schleppen Berge von Zeitungen herbei, die sie von der Post mit oder ohne Wagen oder auch direct von den Bahnhöfen geholt haben. Andere bringen in großen Ledertaschen die eingelaufenen Briefe herbei. Die Zeitungen werden entweder in dem Lesezimmer – wo ein solches vorhanden ist – ausgelegt, oder von den Dienern kurzweg an die verschiedenen Abtheilungsredacteure vertheilt. Die erstere Methode ist aber die vernünftigere. Wo es geht, soll ein gemeinsames Lesezimmer eingerichtet und wenigstens die Lectüre der Hauptblätter gemeinsam vorgenommen werden. Es erleichtert dies wesentlich die Arbeit, indem ein Mitarbeiter den anderen auf das in sein Gebiet Einschlagende aufmerksam machen kann. Der Localredacteur findet eine politische Nachricht in einem Provinzblatte; er streicht sie für den Politiker an, und umgekehrt macht der Redacteur des Auslandes den Anderen auf ein interessantes Localereigniß, auf eine Theaternachricht und dergleichen in einem französischen oder englischen Journal aufmerksam. Hierdurch wird auch der Ideenaustausch gefördert und die erste Sichtung der vorliegenden Zeitungsnachrichten wesentlich erleichtert, indem gleichzeitig in collegialer Berathung entschieden wird, ob dieser oder jener Ausschnitt neu oder interessant genug ist, um ihn zum Abdruck zu empfehlen.

Die eingelaufenen Briefe wandern meistens auf den Tisch des Chefredacteurs, der sie öffnet, schnell durchfliegt und sie je nach dem Inhalte den verschiedenen Ressortredacteuren zuweist. Es ist dies eines der wenigen Routinegeschäfte des Chefredacteurs, das er sich übrigens auch ersparen kann. In diesem Falle werden die Briefe mit den Zeitungen vom Redactionsdiener den einzelnen Redacteuren direct übergeben, die Localbriefe dem Localredacteur, die inländischen dem Inlandredacteur, die ausländischen dem Auslandredacteur. – Die nächste Zeit nach der Lectüre der Briefe und Zeitungen ist sodann der Sichtung des Materials gewidmet. Die allgemeine Ansicht, daß die Zeitungen den Stoff mühsam zusammensuchen müssen, ist eine falsche. Die täglich wiederkehrende Calamität ist im Gegentheil Ueberfülle des Stoffes. Jeder der Mitarbeiter möchte gerade heute einen größeren Raum zur Verfügung haben, um all dasjenige unterzubringen, was nothwendig hinein muß. Und im engen Raume stoßen sich nun die Artikel. Eine hochwichtige Circularnote will dem gleichfalls hochinteressanten Einsturz eines Gerüstes nicht weichen, und der „Gerichtssaal“ macht sich über Gebühr breit und will den Leitartikler gar nicht zum Wort kommen lassen. In diesem Kampf um’s Dasein der verschiedenen Aufsätze ist der Chefredacteur die letzte und entscheidende Instanz. Der Metteur-en-pages, dieser gebietende Lenker des Satzgeschäfts, legt ihm den sogenannten „Spiegel“ vor, jenen Bogen Papier, auf welchem er die Rubriken oder auch die einzelnen Aufsätze mit ihrem jeweiligen Raumanspruch in Zeilen ausgedrückt verzeichnet hat. Der Vergleich der Summe seiner Zeilen mit der feststehenden Ziffer, welche das Blatt aufzunehmen vermag, ergiebt den Ueberschuß. Der Chefredacteur wägt und vergleicht nun die relative Wichtigkeit der verschiedenen Aufsätze, und was vor dieser Prüfung nicht als absolut unentbehrlich bestehen kann, wird unbarmherzig gestrichen und ist mit diesem Strich aus der Welt geschafft. Es führt als „Uebersatz“ eine stille Existenz in den Räumen des Setzersaales, bis es durch den Machtspruch des Redacteurs entweder auf’s Neue auf den Spiegel eines nächsten Blattes gestellt und nicht mehr gestrichen oder, als durch die Ereignisse überholt, „abgelegt“ wird. Das „Ablegen“, nämlich das Auseinandernehmen des Satzes, ist erst der wirkliche Tod des Manuscripts. Es verschwindet für immer aus der Welt, als ob der Aufsatz nie existirt hätte.

Die Richtigstellung des „Spiegels“ ist der Abschluß der Redactionsarbeit. Vorher hat sich bei jeder inzwischen neu einlaufenden Post die Zuweisung der einlaufenden Zeitungen und Briefe einige Male wiederholt. Dazwischen treffen Berichte aus dem Parlamente, aus dem Gerichtssaale, von der Börse etc. ein, die in der Regel keiner weiteren Redaction bedürfen, es sei denn, daß sie wegen Mangels an Raum gekürzt werden müssen. Die einlaufenden Telegramme aber müssen immer redactionell ergänzt und verbessert werden. Sie kommen meist in höchst bedauernswerthem Zustande an. Der Absender hat in der Regel, um in den begrenzten Rahmen einer einfachen Depesche so viel wie möglich einzupressen, den Worten Gewalt angethan. Der telegraphirende Beamte hat aus Unverstand oder Nachlässigkeit einige Verstümmelungen aus Eigenem hinzugefügt, und die Depesche langt in der Form eines Orakelspruches an, dessen Entzifferung nicht

  1. Die hier nachfolgenden Schilderungen und Mittheilungen sind mit einigen durch die Verpflanzung gebotenen Aenderungen den freundlich uns zur Verfügung gestellten Aushängebogen eines von J. H. Wehle verfaßten kleinen Buches entnommen, das in den nächsten Wochen unter dem Titel „Die Zeitung“ (bei A. Hartleben in Wien) erscheinen und eine ganze Reihe von interessanten und ausführlichen Aufschlüssen über den Gegenstand bieten wird.

[136] allein die volle Kenntniß der Tagesgeschichte, sondern eine wirkliche Enträthselungsgabe von der Seite des betreffenden Redacteurs erfordert. Sehr selten jedoch kommt es vor, daß eine Depesche wegen Unverständlichkeit in den Papierkorb wandert. In den meisten Fällen gelingt es, die Wortungethüme auseinander zu trennen und die verrenkten Sätze grammatikalisch gerade zu richten. Wenn es die Zeit zuläßt, werden sie auch noch zur Noth stylistisch gestriegelt und gebürstet und wandern nach dieser Procedur in die Setzerei. Die Telegramme genießen vor den übrigen Manuscript die Bevorzugung, daß sie knapp vor Schluß des Blattes einlangen dürfen. In diesem Falle beschränkt sich die Fürsorge der Redaction auf die äußerliche Toilette. Die Kritik des Inhaltes bleibt verschoben bis zum Erscheinen des nächsten Blattes, und um diesen Unterschied auch dem Leser kenntlich zu machen, erhalten diese Spätlinge die Aufschrift: „Nach Schluß der Redaction“ oder was dasselbe heißen soll: „Nachtrag“.

Sobald die Formen des Satzes „umbrochen“, das heißt in die dem Format des Blattes entsprechenden Seiten verwandelt sind und in der Maschine liegen, ist die Aufnahme selbstverständlich auch für die Depeschen geschlossen. Nur bei ganz außerordentlich wichtigen Nachrichten entschließt man sich zu einer neuen Auflage. Es braucht deswegen der begonnene Druck nicht eingestellt zu werden, sondern es wird nur die letzte Seite mit der Einschaltung der neuen Nachricht neu zusammengestellt und sodann die früher hergestellte Platte gegen die neue Platte ausgetauscht.

Der Herstellungsproceß ist der gleiche, ob ein Morgen- oder ein Abendblatt zusammengestellt wird. Der Unterschied liegt in der Zeit des Erscheinens, und darnach richtet sich auch der Umfang des Plattes. Ein Abendblatt, das in den frühen Abendstunden ausgegeben werden soll, muß bei den schnellsten Maschinen mindestens um zwei Uhr druckfertig sein. Da aber die Posten spät eintreffen, da Parlament, Börse etc., die erst gegen Mittag ihre Thätigkeit beginnen, berücksichtigt werden müssen, so drängt sich die Hauptmasse des Manuscripts in der Mittagsstunde zusammen. Die Redaction muß sich auf die knappe Mittheilung der Thatsachen beschränken und das Raisonnement für das Morgenblatt aussparen. Dadurch schon wird das Morgenblatt zum Hauptblatt, abgesehen davon, daß zwischen der Herstellung und dem Erscheinen eine ganze Nacht liegt, daher die Zeit zur Redaction und zum Druck viel reichlicher zugemessen ist. Die Redactionsarbeit kann unmittelbar nach dem Erscheinen des Abendblattes begonnen, und bei schnellen Maschinen kann man mit dem Beginne des Druckes bis zu den ersten Morgenstunden warten und dennoch mit den letzten Nachrichten rechtzeitig für den Frühstückstisch erscheinen. Denn eine solche Walter- oder Howe-Maschine bewältigt in einer Stunde eine Auflage von acht- bis zehntausend Exemplaren. In den englischen Redactionen, welche technisch am besten ausgerüstet sind, werden in der That die Berichte aus dem englischen Parlamente noch in das Frühblatt aufgenommen. Bekanntlich tagen beide Häuser des englischen Parlaments in der Nacht, und der Bericht über eine Sitzung, die um vier Uhr Morgens geschlossen, ist in der „Times“ eine Stunde später vollinhaltlich zu lesen.

Auch auf dem Continent sind schon derartige Maschinen eingebürgert, aber die Leistungsfähigkeit derselben wird selten in solchem Umfange ausgenützt. Und in der Regel ist auch keine Nöthigung hierzu vorhanden. Das ganze öffentliche Leben spielt sich in den Tagesstunden ab. Um drei oder vier Uhr haben die deutschen und französischen Parlamente ihre Sitzungen geschlossen. Um fünf oder sechs Uhr kann der Bericht darüber in der Redaction vorliegen. Es kann nach den Angaben des Chefredacteurs der leitende Artikel darüber mit der größten Muße geschrieben werden. Von fünf bis acht Uhr Abends dauert die Ankunft der Posten. Um neun Uhr etwa findet eine Depeschenausgabe statt, und es ist das Zeichen eines besonderen Fleißes, wenn diese Neun-Uhr-Telegramme noch als Artikelstoff benützt werden. Die letzten Depeschen, welche das Depeschenbureau aussendet, treffen meistens in der Mitternachtsstunde ein. Um diese Zeit ist aber die Redaction ausgeflogen; die Berichterstatter aus den Abendversammlungen haben ihre Berichte bereits abgeliefert und die Nachtvögel der Journalistik, die Theaterkritiker, ihre Recensionen schon in die Druckerei befördert. Zurückgeblieben ist nur noch der Nachtredacteur, und diesem fallen die Mitternachts-Depeschen, sowie alle später einlaufenden Privattelegramme zur Verwendung zu. Er sichtet sie, richtet sie ein und übergiebt sie den zurückgebliebenen Setzern, den sogenannten Postsetzern, zum Setzen. Etwa um zwei ober drei Uhr beendet auch der Nachtredacteur seine beschwerliche Amtsthätigkeit. Das Blatt ist für die gewöhnlichen Ereignisse geschlossen. Es müssen ganz außerordentliche Vorfälle sein, welche den zurückgebliebenen Druckereileiter bestimmen können, sich selbst zum Setzkasten zu stellen. Abgesehen von solchen außerordentlichen Ereignissen, bezeichnet die Entfernung des Nachtredacteurs den Schluß des Blattes und den Beginn des Druckes. Ueberall sind dann die Lichter erloschen, nur im Maschinenraume herrscht Leben und Bewegung; die Dampfmaschine stöhnt und ächzt; die Räder drehen sich in fieberhafter Schnelligkeit, und aus den Walzen fließen die weißen Bogen mit denn zahllosen schwarzen Zeichen, das geistige Brod des dämmernden Tages.

Sehr wichtig, aber auch eine besonders kritische Aufgabe für das Redactionsgeschäft sind neben der großen Zahl verschiedenartigster lithographirter Correspondenzen vor Allem die von den Bureaus für telegraphische Nachrichten ausgehenden Depeschen. Die betreffenden Unternehmer stehen leider meistens mit der Regierung in mehr ober weniger intimer Beziehung, und das ist ein Uebelstand, unter dem die ganze continentale Presse zu leiden hat. Denn die Kritik und Sichtung erfolgt nicht nach denn Grade der Wichtigkeit derselben für das Publicum, sondern nach jeweiligen Regierungsanschauungen. Die Zeitungen erfahren durch solche Bureaus nicht dasjenige, was vorgeht, sondern dasjenige, was die Regierung ihnen mitzutheilen für gut findet. Alle Blätter erhalten dadurch denselben officiösen Anstrich, und ein unabhängiges Blatt hat alle Hände voll zu thun, sich nur der bedientenhaften Ueberfluthung durch byzantinische Hofdepeschen zu erwehren. Hohe und höchste Herrschaften namentlich können nicht aus denn Bette steigen, ohne den elektrischen Draht in fieberhafte Bewegung zu setzen, und über irgend ein nichtssagendes Hofcermoniell werden wichtige Nachrichten vernachlässigt. In England und noch mehr in Amerika sind die Depeschenbureaus im Großen und Ganzen unabhängig von Regierungseinflüssen. Sie sind eben Privatunternehmungen, die sich mit dem Vertrieb von Zeitungsnachrichten befassen.

In Amerika haben die Zeitungen aus eigenen Mitteln ein Bureau zur Versorgung mit telegraphischen Nachrichten gebildet. Der Eintritt in diesen Verband kostet allerdings derzeit für jede neu eintretende Zeitung mehrere Tausend Dollars, aber die Leistungen des Unternehmens sollen nach den veröffentlichten Schilderungen großartig sein. Wie vor einiger Zeit in amerikanischen Blättern zu lesen war, besitzt dieses Unternehmen seine eigenen Dampfboote, welche den in New-York etc. einlaufenden Schiffen meilenweit entgegenfahren, um Briefe, Zeitungen, Nachrichten für die Redaction entgegen zu nehmen. Es sind dies der Beschreibung nach kleine Schiffe von großer Fahrgeschwindigkeit, welche nach Uebernahme ihrer Ladung an Nachrichten sofort bei der nächsten Telegraphenstation anlegen und die Essenz des Empfangenen allsogleich allen Verbands-Redactionen telegraphisch zukommen lassen. Lange bevor das Schiff in den Hafen eingelaufen, sind daher die Neuigkeiten, die es gebracht, auf den ganzen amerikanischen Continent bekannt. Wie Grant in seiner „Geschichte der englischen Presse“ erzählt, ist es schon vorgekommen, daß die Botschaft der Königin von England durch die Vermittelung jenes Verbandes in New-York früher bekannt und veröffentlicht war, bevor sie im englischen Oberhause verlesen wurde. – Die meisten unserer continentalen Telegraphenbureaus stehen im Wechselverkehr mit einander und bilden zusammen den internationalen Markt für Zeitungsnachrichten. Alle größeren Zeitungen haben für ihren speciellen Bedarf noch einen eigenen Depeschendienst eingerichtet.

Ist nun mit der Redactionsarbeit von den zahlreichen Zeitungssetzern zugleich das Geschäft des Satzes und Umbrechens, und durch die Stereotypeure und Maschinenmeister sodann auch die Manipulation des „Zurichtens“ für den Druck beendigt (dies Alles wird sich in den demnächst erscheinenden Büchlein ausführlich beschrieben finden), so können bei guten Rotationsmaschinen schon eine Viertelstunde später einige Tausend Exemplare fertig gedruckt sein. Diese werden von der Maschine weg durch den Aufzug in die Expedition befördert, und nun erst beginnt [137] ein sehr wichtiger Apparat zu functioniren, die regelmäßige Expedition der bestellten Exemplare.

Jeder auswärtige Abonnent ist – wenigstens in Oesterreich – in ein Verzeichniß mit genauer Angabe der Adresse eingetragen. Aber dieses Buch liegt dem Expeditionspersonale nicht vor. Es wäre auch viel zu zeitraubend, erst einen dicken Band zur Hand nehmen zu müssen, um nachzusehen, welcher Abonnent ein Exemplar zu empfangen hat. Das Buch ist allerdings vorhanden, nur ist es für die Zwecke der Expedition anders eingerichtet. Es ist in solides Holz gebunden, das heißt, es wird im Expeditionslocale durch eine entsprechende Anzahl von Holzkästen ersetzt. Jeder dieser Kästen repräsentirt einen Band des Abonnentenverzeichnisses, und jedes der zahlreichen Längsfächer entspricht etwa der Seite des Buches, und die einzelnen Zeilen sind durch kleine Querfächer ausgedrückt, in welche die Längsfächer abgetheilt sind. Im großen Verzeichnisse bedeutet jede Zeile, im Holzkasten ein kleines Querfach einen Abonnenten. Dieses kleine Querfach enthält nämlich die gedruckten Adressen des Abonnenten, und zwar so viele Adressen, wie er Tage abonnirt hat. Wenn einer für einen Monat abonnirt hat, so werden für ihn dreißig Adressen angefertigt und in ein besonderes Querfach deponirt. Für einen dreimonatlichen Abonnenten werden neunzig Adressen gedruckt. Die Expedition geschieht nun in der Weise, daß der Expeditionsbeamte aus jedem solchen Querfache eine Adresse herausnimmt. Die entsprechende Marke ist schon früher aufgeklebt worden. Alles, was noch zu geschehen hat, ist, diese Adresse auf die Schleife zu kleben, und das Blatt ist nun zur Expedition bereit. Da aber ein stark verbreitetes Blatt in einem Orte mehrere Abonnenten hat, so werden zur Bequemlichkeit der Postverwaltung diese einzelnen mit Schleife und Adresse versehenen Exemplare zu einem großen Paket gebunden, welches in großen Buchstaben den Namen des Blattes und den gemeinsamen Bestimmungsort aufgeklebt bekommt.

Die Zeitungsunternehmung geht in ihrem Streben, der Postverwaltung die Mühe des Cartirens zu ersparen, noch weiter und bildet aus diesen großen Paketen einen Riesenballen, und zwar für alle jene Orte, welche an derselben Route liegen. So erhält beispielsweise das von Wien expedirte Prager Paket nicht nur die Exemplare für alle Prager Abonnenten, sondern auch für die ganze Umgebung Prags, welche die Zeitung durch die Prager Postverwaltung zugestellt bekommt. Die fertigen Pakete und Ballen werden nun auf die außen harrenden Wagen geladen und zur Post oder, was meistens der Fall ist, direct zu den Bahnhöfen befördert.

In Deutschland bestellt und bezahlt der Abonnent die täglich erscheinenden Zeitungen nicht bei der Administration derselben, sondern bei dem nächsten Postamte, welches dann das aufgegebene Exemplar durch das Postzeitungsbureau des Verlagsortes der Zeitung beschafft. Dieses Hauptbureau expedirt nun regelmäßig jeden Tag an das Postamt, bei dem die Bestellungen durch die Abonnenten gemacht worden, und dieses allein kennt den Namen des Bestellers, während das Hauptbureau, das vielleicht dreißig- bis vierzigtausend Exemplare einer Zeitung vom Verleger bezieht und nach allen Himmelsgegenden hin an die deutschen Postämter versendet, als Abonnenten nur diese kennt.

Wo die Colportage keiner Einschränkung unterworfen ist, da besorgen in der Stadt selber und ihrer Umgebung größtentheils die Zeitungsjungen das Geschäft der Verbreitung. Sie holen entweder direct von der Unternehmung oder vom Hauptspediteur so viele Exemplare, wie sie abzusetzen hoffen, und verkaufen sie mit mehr oder weniger Geschrei auf der Straße, verbreiten sie in den einzelnen Häusern, öffentlichen Localen etc. Aber auf dem europäischen Continente ist die Zeitungscolportage größeren oder geringeren Einschränkungen unterworfen. In Deutschland herrscht principiell allerdings die vollste Freiheit der Verbreitung, aber die Gewerbeordnung, auf welche § 4 des deutschen Reichspreßgesetzes verweist, stellt ausdrücklich die Volljährigkeit als Bedingung auf für das Recht, einen Legitimationsschein zur Colportage zu erlangen.

In der Regel besorgen die bekannten Austräger die Vermittelung zwischen der Lesekundschaft und der Unternehmung zur beiderseitigen Zufriedenheit, und die Fälle, daß der Austräger die Pränumerationsgelder unterschlägt, sind nicht sehr zahlreich. Denn das Austragen ist durchaus kein schlechtes Geschäft. In Wien (wohl auch in anderen Großstädten) giebt es Austräger, die tausend und mehr Abonnenten versorgen. Das macht beim Morgen- und Abendblatte zweitausend halbe Kreuzer oder täglich zehn Gulden, monatlich dreihundert Gulden oder sechshundert Mark. Allerdings sind dies die Großausträger, die ihrerseits wieder ihre Unterausträger haben, gewöhnlich die Familienmitglieder des Austrägers; Frau, Kinder, Magd, Alles muß dazu helfen. Das Geschäft ist ein ziemlich anstrengendes. Es heißt früh auf den Beinen sein, wenn der letzte Abonnent in dem entlegensten Theile der Vorstadt noch zur Frühstücksstunde sein Exemplar erhalten soll. Aber sie helfen sich gegenseitig aus. Der eine Austräger oder die eine Austrägerin – denn das schwache Geschlecht ist in der Majorität – übergiebt die Zustellung einer Anzahl von Blättern dem Collegen oder der Collegin und übernimmt im Tausche andere Blätter, die besser im eigenen Zustellungsrayon gelegen sind.

Wenn Alles in der Ordnung geht, dann kann der Austräger zwischen neun und zehn Uhr mit dem Zustellen der Morgenblätter zu Ende sein. Er kann dann der Ruhe pflegen bis gegen zwei oder drei Uhr Nachmittags. Um diese Zeit beginnt er mit den Abendblättern dieselbe Tour und ist zwischen sechs und sieben Uhr Abends zu Ende. In den ersten Frühstunden aber ist er schon wieder vor der Druckerei oder vor dem Ausgabelocal, um, von Expedition zu Expedition eilend, die druckfeuchten Blätter zu sammeln, das tägliche Bedürfniß für den noch schlafenden Abonnenten und dessen tägliche Ueberraschung.




Ein Stündchen bei den Paradiesvögeln.


Nebelgrau liegt der Februarmorgen über Berlin. Ein eisiger Hauch fährt durch die Luft daher; in allen Tonarten bläst es von den laublosen Wipfeln im Thiergarten herab; fast unheimlich rauscht es in den hohen Kiefern – ist das der Herold des Frühlings? So weit das Auge reicht, ist nichts zu vernehmen von dem vorwitzigen Vordrängen auch nur eines Knöspchens; zwar ohne Schnee, aber nur desto trauriger ist die winterliche Oede der Natur. Es ist keine Frage, daß ein aufmerksamer Blick manch Kräutlein, manch Stengelchen – sogar mit kümmerlichen Blüthen – am Boden entdecken würde, aber das sind nur die kleinen Proletarier des Pflanzenreiches, die sich an keine Zeit binden, die nicht Kraft und Saft aufsparen und aufspeichern können, bis sich der günstigste Augenblick zur fröhlichen Fahrt in die Blüthe bietet. Wenn ihre besser situirten Schwestern sich strecken und entfalten, dann bleiben sie ja unbeachtet; darum nehmen sie das Leben, wie’s kommt, und benützen jeden Sonnenblick, um sich für die Nichtbeachtung ihres unscheinbaren Daseins zu entschädigen. Auch dem gefiederten Völkchen ist’s noch gar nicht frühlingslustig. Schweigend huschen die kleinen Stammgäste unserer Wälder und Haine durch’s Gebüsch, selten den Schnabel zu einem Pfiff oder Lockruf öffnend, und nur die Spatzen erfüllen die Luft mit ihrem unmelodischen Geschrei, so tief sie sich auch in ihr eigenes Federkleid zurückgezogen haben.

Schnell führt uns die Pferdebahn vorüber; wir sind die einzigen Gäste des melancholisch dareinschauenden Wagenführers – „Conducteur“ würde Excellenz Stephan nicht gestatten – und halten an jener Brücke, über die sonst Tausende demselben Ziele zustreben wie wir heute, an der Brücke zum „Zoologischen Garten“. Auch hier ist noch Alles winterlich öde. Das Thor ist weit geöffnet; an diesem trübfeuchten Februarmorgen ist die Portierstelle ein Ruheposten. Der schwarzgraue Neptun hält es für überflüssig, für uns allein seinen Miniatur-Wasserfall auszugießen, und um die wenigen Gänse und Schwäne, die unter ihm auf dem halbzugefrorenen Teiche sich lustig jagen, kümmert er sich keinen Pfifferling. Auf den tief durchweichten Wegen schreiten wir schnell an dem Gitter des Teiches hin, nur eine graugefiederte Gans giebt uns das Geleit, im tiefsten Basse ihr winterliches Mißvergnügen über die traurige Lage in der Fremde ausdrückend. [138] Aber unter den Arbeitern, welche selbstverständlich längst mit den Zurüstungen für die bessere Zeit beschäftigt sind, steht die hohe Gestalt dessen, den wir zunächst suchen, des Dr. Bodinus, und mit zuvorkommender Freundlichkeit, wie immer, beantwortet er unsere Fragen behufs schnellerer Orientirung, findet es sogar sehr liebenswürdig, daß wir zu so ungastlicher Zeit gekommen.

Das Häuschen, dem unser Besuch gilt, ist bald erreicht. Die Thür öffnet sich, und wie mit einem Zauberschlage ist die winterliche Oede verschwunden. Heiße Luft weht uns entgegen; ohrbetäubender Lärm empfängt uns. Rothe Cardinäle und blaue Heher aus Amerika, Glanzstaare, Glanzelstern und Turakos aus Afrika, Lachdrosseln, Elsterstaare und Mainas aus Indien und China pfeifen und schreien durcheinander; Tauben aus Ostindien und anderen Fernen gurren und glucksen; Dutzende von Papageien schwatzen und kreischen; namentlich ein kleiner gelbköpfiger, rothbrüstiger Bursche schrillt wie besessen dazwischen, wahrscheinlich aus Wohlbehagen über das Bad, das er soeben nimmt. Das Alles bildet eine entsetzliche Symphonie, und es ist nicht leicht festzustellen, welcher der vielen Concertisten das mißtönendste Instrument spielt.

Kaum vermag sich dazwischen ein melodischer, eigenthümlicher Lockruf geltend zu machen, der vom schwarzhalsigen Staare, einem allerliebsten, zierlichen Chinesen, herübertönt. Nur die wundervollen Glockenklänge des Flötenvogels aus Australien klingen wie die satten Töne einer Glasharmonika mit Leichtigkeit durch den allgemeinen Lärm. Aber was klingt dazwischen wie das kurze, ferne Gebell eines Hundes? Das Auge folgt dem Ohr – die seltsamen Gestalten der Nashornvögel aus dem fernen Indien bücken sich wie in schwerfälligem Complimente, und an ihnen vorbei streift das Auge endlich das gesuchte Wunder der Vogelwelt, das seit Jahrhunderten schon die Menschen entzückte und doch erst in jüngster Zeit lebend beobachtet wurde, bis es endlich zu uns kam und damit auch die letzten Zweifel beseitigte, welche Sage und Fabel um sein Dasein gesponnen. Ein paar Paradiesvögel sind’s, die unter dem Blicke des Beschauers sichtlich unruhig werden, als ob sie in Sorge geriethen, daß er von ihnen und ihrem wunderbaren Gefieder einen unvorteilhaften Eindruck mit hinwegnehmen könnte.

Bei diesem Anblicke und bei diesen Tönen gehört nur wenig Phantasie dazu – und die Wände des Zimmers treten zurück, die Decke steigt langsam empor, bis sie hoch oben schwebt in unermeßlicher Höhe und als blauer Himmel herniederlächelt auf die wenig besuchte, tiefblaue See, welche Neu-Guinea und die ihm vorlagernden Aru-Inseln umspült. Eine malayische Prau schießt dem Ufer entgegen, gewinnt die Mündung eines Flusses und windet sich langsam zwischen dem Wirrsal des fieberhauchenden Mangrovegelände hinauf, dem inneren Lande zu. Wie auf Polypenarmen stehen diese seltsamen Baumgebilde in der salzigen Fluth. Und – nach der Scylla die Charybdis – wehe Dem, der sich hier hinein verliert! Trügerisch erheben strauchartige Palmen ihre Riesenfächer auf schwanken Stielen; trügerisch verspricht eine dichte Gruppe von Riesengräsern festen Boden oder ein immergrüner Baum, dessen weithin ragendes Geäst ein dichtes Schattendach bildet. Täuschung ist dieser ganze Sumpfwald; die Prau darf nicht eher anlegen, bis sie den festen Boden erreicht hat. Jetzt erst steht der Reisende vor dem wundervollen Bilde des tropischen Urwaldes, und vergessen ist, was hinter ihm liegt. Tausende verschiedener Baumformen drängen sich in die Höhe, riesengroß, hier schlank wie Säulen aufstrebend, dort ungestalteten Cyclopen gleich, in den seltsamsten Formen; ein unendliches Gewirr bildet eine undurchdringliche Mauer, und zahllose, baumstammstarke Ranken und Gewinde, Alles übergossen von den prachtvollsten Blüthen, schlingen auch hier wie überall in den Tropen die großartigsten Festons um Stämme und Aeste.

In diesen Urwald ist noch nie eines Europäers Fuß tiefer eingedrungen. Die Papua-Inseln, welchen Namen Neu-Guinea und die dasselbe umlagernden kleinen Inselgruppen tragen, bilden noch ein unbegrenztes Arbeitsfeld für den Naturforscher, das freilich von den Papua, den noch unumschränkten Herren dieser fremden Welt, mit Argusaugen bewacht wird und deshalb der Gefahren nicht wenige bietet, dafür aber um so verlockender winkt durch die überreiche Ausbeute von bisher unbekannten Formen und Gestalten der belebten Schöpfung. Diese Inseln allein sind die Heimath der Paradiesvögel, dieser Wundererscheinungen der Vogelwelt, die an Pracht des Gefieders nichts übertrifft. Wir können die Wonne Alfred Russel Wallace’s begreifen, als er den ersten Königsparadiesvogel in der Hand hielt in dem Bewußtsein, daß wenige Europäer jemals den vollkommenen kleinen Organismus besessen und daß er bis jetzt in Europa überhaupt nur noch sehr unvollkommen bekannt. Er hat Recht, wenn er sagt, daß „die Empfindungen eines Naturforschers, welcher lange gewünscht hat, das Ding in Wirklichkeit zu sehen, das er bis jetzt nur nach einer Beschreibung, nach Zeichnungen und nach schlecht erhaltenen Bälgen kannte – speciell wenn dieses Ding von außerordentlicher Schönheit und Seltenheit ist – einer poetischen Feder bedürfen, wenn sie vollkommen zum Ausdrucke gelangen sollen.“ Wallace ist es, welcher die ersten Paradiesvögel, und zwar von der kleinen Art, lebend nach Europa brachte, und nicht einmal in ihrer Heimath hatte er sie kaufen können, sondern zufällig in Singapore getroffen, aber mit Vergnügen die geforderten hundert Pfund Sterling dafür bezahlt. Vor ihm hat schon der französische Arzt und Naturforscher Lesson, welcher auf seiner Erdumsegelung 1824 kurze Zeit auf den Papua-Inseln verweilte, etwa ein Dutzend Paradiesvogelsarten in unversehrten, frischen Bälgen zusammengebracht, die ersten zuverlässigen Mittheilungen über das Freileben dieser Vögel gegeben und damit die alten Fabeln und Märchen, welche über dieselben verbreitet waren, zerstreut.

Schon die ersten europäischen Reisenden, welche die Molukken besuchten, um Gewürze zu holen, erhielten von den Eingeborenen flügel- und fußlose Vogelbälge von einer so seltsamen Schönheit, daß der einheimische Name „Göttervögel“ von ihnen in „Sonnenvögel“ umgewandelt wurde, da die Thiere offenbar doch nur in der Luft leben konnten. Der gelehrte Holländer Jan van Linschoten beschrieb sie 1592 als „Paradiesvögel“ und erzählt, daß Niemand die Vögel lebend gesehen habe, denn sie lebten in der Luft, wendeten sich stets gegen die Sonne und ließen sich vor ihrem Tode nur auf die Erde nieder; sie hätten weder Füße noch Flügel, wie man ja an den Vögeln, die nach Indien und manchmal auch nach Holland gebracht würden, sehen könnte. Bis zu dem großen Linné, der im Jahre 1760 den großen Paradiesvogel Paradisea apoda (fußlos) benannte, war in Europa kein vollkommenes, unverstümmeltes Exemplar gesehen worden, und man wußte von ihrem Leben absolut nichts. Der Glaube an die märchenhafte Lebensweise des Vogels im Aether war einfach dadurch entstanden, daß die Eingeborenen regelmäßig die Füße dicht am Balge abschneiden und die großen Flügelfedern entfernen, dann den Balg in ein Palmblatt wickeln und so im Rauche ihrer Hütte trocknen, wodurch der Körper auf ein Minimum zusammenschrumpft und das prachtvolle Federkleid umsomehr in die Erscheinung tritt. Jetzt kennt man etwa anderthalb Dutzend Arten, die sich sämmtlich durch die merkwürdigen Federn auszeichnen, welche einzeln oder in Büscheln vom Kopfe, dem Rücken, den Schultern ausgehen oder unter den Flügeln hervorquellen und Schweife, Fächer oder Schilder bilden. Dazu sind die Mittelfedern des Schwanzes oft strahlenförmig verlängert und in phantastische Formen gedreht. Die Intensität der Farben und des metallischen Glanzes dieser mäßig großen Vögel, die in ihrem Baue unsern Krähen verwandt sind, wird nur von den Kolibris erreicht, nicht aber übertroffen.

Der Berliner zoologische Garten besitzt den großen und den kleinen Paradiesvogel, Paradisea apoda (Linné) und den Paradisea papuana (Bechstein). Die Apoda ist die größte der bekannten Arten, im Körper größer als unsere Dohlen. „Der Körper, die Flügel und der Schwanz,“ sagt Wallace, dessen Beschreibung wir wörtlich wiedergeben, da der in der Freiheit lebende Vogel bei weitem prächtiger ist, als der gefangene, „sind von einem reichen Kaffeebraun, welches sich auf der Brust in Schwarzviolett oder Purpurbraun vertieft; die ganze Spitze des Kopfes und der Nacken sind von einem außerordentlich zarten Gelb, mit kurzen und dicht an einander stehenden Federn, sodaß sie aussehen wie Plüsch oder Sammet; der untere Theil der Kehle bis an’s Auge ist mit schuppigen Federn von smaragdgrüner Farbe mit schönem metallischem Glanze bekleidet, und sammetartige Federn von einem noch tieferen Grün erstrecken sich in einem Bande quer über die Stirn und das Kinn bis an’s Auge, welches glänzend gelb ist. Der Schnabel ist bleiblau, und die ziemlich großen, starken und gutgeformten Füße sind grauröthlich. Die [139] beiden – Mittelfedern des Schwanzes haben keine Fahnen, bis auf eine sehr kleine an der Basis und an der äußersten Spitze und bilden drahtähnliche Federstrahlen, die sich in einer eleganten doppelten Biegung ausbreiten und zwischen vierundzwanzig und vierunddreißig Zoll variiren. Von jeder Seite des Körpers unter den Schwingen geht ein dichter, oft zwei Fuß langer Büschel langer, zarter Federn von der intensivsten goldgrünen

Paradiesvogel, das Weibchen lockend.
Originalzeichnung von H. Leutemann.

Farbe aus, der sehr glänzt, gegen die Spitze hin aber in ein Blaßbraun übergeht. Dieser Federbusch kann willkürlich aufgerichtet und ausgebreitet werden, sodaß er fast den Körper des Vogels verbirgt.“ Der prachtvolle Federbusch, dessen Spitzen lang herabhängen, ist bei unsern gefangenen Exemplaren mehr orangefarben, an den Ausläufen weinröthlich.

Die Papuana ist kleiner, der Apoda sonst aber in allem ähnlich, nur unterscheidet sie sich in der Färbung dadurch von jener, daß das Braun heller ist, daß Gelb vorherrscht und die Flankenfederbüsche mit reinweißen Spitzen endigen. Auch ist der Verbreitungsbezirk der Papuana größer; sie kommt in ganz Neu-Guinea und auf mehreren Inseln vor, während die Apoda nur auf die kleine Gruppe der Aru-Inseln beschränkt zu sein scheint.

Es darf nicht vergessen werden, zu bemerken, daß dieses prachtvolle Federkleid nur die Männchen tragen, wogegen die Weibchen sehr unscheinbar einhergehen. Selbstverständlich wird deshalb den Männchen weit mehr nachgestellt, und die gesellig lebenden Schaaren dieses Strichvogels bestehen in überwiegender Mehrzahl aus Weibchen und jungen Thieren. Kleine Feigen und andere Früchte, aber auch Insecten, wie Grashüpfer, Schaben, Raupen bilden hauptsächlich ihre Nahrung; doch hat man an gefangenen Paradiesvögeln auch die Beobachtung gemacht, daß [140] sie mit Sperlingen kurzen Proceß machen, ihnen den Schädel einschlagen, das Gehirn herauspicken und sie dann mit großer Gewandtheit verzehren, woraus wohl mit Recht darauf geschlossen werden kann, daß sie in ihrer Heimath auch kleinen Vögeln und namentlich Nestlingen gefährlich werden.

Daß das prachtvolle Gefieder beim Erlegen der Thiere nicht mit Blut befleckt werden darf, ist selbstredend. Die Eingeborenen schießen sie deshalb mit starken Pfeilen, die in einem Knopfe endigen; die betäubten Vögel fallen zur Erde und werden hier leicht gefangen und getödtet. Sie erleichtern dem Jäger seine mörderische Thätigkeit selbst, denn in der Paarungszeit sind sie, wie das ja auch bei vielen anderen Thieren vorkommt, völlig blind gegen jede Gefahr. Schaaren bis zu zwanzig Männchen versammeln sich zu förmlichen erotischen Spielen, von den Eingeborenen Sacaleli, Tanzgesellschaften, genannt, auf einem weitästigen, dünnbeblätterten Baume, der ihnen Raum gewährt, ihre schönen Spiele auszuführen. Sie sehen nicht, daß der Jäger sich auf den Aesten des Baumes ein Laubdach gebaut hat, unter dem er Pfeil auf Pfeil hervorschießt, und nur die letzten werden endlich ängstlich und fliegen davon, „wie ein Meteor, dessen Feuerschweif einen Lichtstreifen bildet, wie ein Federbusch, der dem Haupthaar einer Huri entfloh und sich nun sanft in den Lüften wiegt“, wie Lesson den Flug begeistert schildert. Die tanzenden Vögel erheben die Flügel, strecken die Nacken aus, richten die Federbüsche in die Höhe und breiten sie so aus, daß sie zwei prächtige goldene Fächer bilden, von denen der ganze Vogel überschattet ist. Der geduckte Körper, der gelbe Kopf und die smaragdgrüne Kehle bilden nur die Unterlage zu dem goldenen Glorienscheine, der das Thier überwallt.

„Wenn man den Paradiesvogel in dieser Stellung sieht,“ sagt Wallace, „so verdient er wirklich seinen Namen und muß zu den schönsten und wundervollsten Lebeformen gerechnet werden.“ Jan van Linschoten hat Anno 1598 den Vogel nicht in dieser Stellung gesehen, ihn aber doch in richtigem Gefühl Avis paradiseus genannt, und wir haben deshalb hier den Namen des verdienstvollen Holländers selbst neben dem des großen Linné, der ja jene Benennung nur adoptirt hat, nicht verschweigen wollen, denn Ehre, dem Ehre gebührt!
W. L.




„Unsere Prinzessinnen.“


Unter obiger familiärer Bezeichnung versteht der Berliner die zwei Bräute, deren Hochzeit am 18. Februar in der Capelle des königlichen Schlosses zu Berlin in feierlicher Weise stattfinden wird. Die Prinzessin Charlotte von Preußen, die am 24. Juli 1860 geborene älteste Tochter des Kronprinzen des deutschen Reiches und von Preußen, wird den Erbprinzen von Sachsen-Meiningen heirathen; Prinzessin Elisabeth, zweite Tochter des Prinzen Friedrich Karl, geboren am 8. Februar 1857, wird die Gemahlin des Erbgroßherzogs von Oldenburg werden.

Officiell wird eine preußische Prinzessin erst von dem Momente ihrer kirchlichen Confirmation an. Vorher existirt sie nur für ihre Eltern und Familie, ihre Erzieherinnen und Lehrer, für den Hausminister, als Verwalter des königlichen Hausvermögens, welches die Erziehungs- und Unterhaltungskosten sämmtlicher Kinder des königlichen Hauses von Preußen auf seinen Etat nimmt, auch etwa noch für den gothaischen Hofkalender, aber nicht für das Publicum. Dieses sieht den Sprößling des königlichen Hauses bis dahin nur durch die Fenster des Hofwagens, wenn dieser seinen Weg die Linden entlang nach dem Thiergarten nimmt. Erfüllt von Interesse an dem regen Straßenleben schauen frische, rosige Kinder aus dem Innern des Wagens, in dem sie unter Aufsicht ihrer Gouvernanten sitzen; die Wache am Brandenburger Thore ruft: „’raus!“ und wenn ein Fremder, der weder Hofwagen noch die üblichen Honneurs kennt, den eingeborenen Berliner fragt: „Wer war das?“ dann lautet die Antwort: „Unsere Prinzeßchen“. Diese avanciren jedoch in der öffentlichen Meinung, wenn sie confirmirt oder, um mit dem Berliner zu sprechen, eingesegnet sind. Sie bekommen dann ihren Hofstaat, eine Apanage; bei festlichen Gelegenheiten werden sie von zwei Leibpagen bedient; sie erscheinen mit dem ihnen zukommenden Rang bei Hofe, dürfen sich als selbstständige Wesen fühlen, soweit das die Etikette erlaubt, und allenfalls eine Zeitung lesen; sie sind „unsere Prinzessinnen“ geworden. Das ist das Lebensstadium, wo das Interesse des Publicums für sie erwacht, wenn wir unter diesem nicht allein die Bevölkerung Berlins, sondern des ganzen preußischen Landes verstehen wollen, dessen ältere Provinzen von ihrem persönlichen, patriarchalischen Verhältnisse zu dem regierenden Königshause nichts eingebüßt haben, noch weniger der Berliner. Diese Anhänglichkeit ist eine der gemüthvollen Seiten des Volkscharakters der preußischen Hauptstadt. Der Berliner ist durch alle politischen Wandlungen hindurch loyal geblieben. Er weiß sehr wohl, daß nur diejenigen Hofwagen, deren Kutscher und Lakaien in der silbernen Borde der Hüte die preußischen Wappenzeichen, die schwarzen Adler, tragen, Mitglieder des königlichen Hauses bergen; er wird solchen Wagen stets seine Reverenz machen, und für „unsere Prinzessinnen“ legt er eine geradezu rührende Anhänglichkeit an den Tag. Wunsch und Gedanke einer „recht juten Heirath“ beschäftigten ihn für sie vielleicht mehr und eher, als die Prinzessinnen selbst. Er denkt sich in seiner Unbefangenheit, daß er Aussteuer und Mitgift, als steuerzahlender Staatsbürger, mittragen muß, obwohl die zweihunderttausend Thaler, die jede preußische Prinzessin als Heirathsgut bekommt, seit Friedrich Wilhelm dem Ersten nicht mehr vom Lande, sondern aus dem Hausvermögen der königlichen Familie bestritten werden, aber „des Allens schadet nischt, wenn sie man jute Männer kriegen“. Er nimmt daran Antheil, als gehörte er zur Familie.

Zuerst verlobte sich Prinzessin Charlotte, obwohl sie die Jüngere von den beiden Prinzessinnen ist. Sie wählte den Erbprinzen von Sachsen-Meiningen. Es war von beiden Seiten eine Wahl, in der persönliche Neigung und Familienwünsche sich begegneten. Die Mutter „des Meiningers“, wie er bereits im Volksmunde heißt, war die rechte Cousine des Vaters der Braut; der Kronprinz wurde mit Prinzessin Charlotte, der ältesten Tochter seines Oheims, des Prinzen Albrecht, confirmirt. Beide verband von Jugend an eine tiefe, religiös-idealen Gedanken entstammende Freundschaft, die bis zu dem Tode der Erbprinzessin von Sachsen-Meiningen, ja über das Grab derselben hinaus währte. Der Kronprinz blieb den Kindern zugethan, wie einst der Mutter. Nach dem Kriege von 1870–71 wurde der Erbprinz nach Berlin in das Garde-Füsilierregiment versetzt und verkehrte von nun an wie ein Sohn in dem Kreise der kronprinzlichen Familie. Hier war er in dienstfreien Stunden am häufigsten zu sehen und weiter in wissenschaftlichen Versammlungen. Seine Gestalt ist nicht sehr groß, aber in richtigen Proportionen sich haltend; das blau-graue Auge beherrscht ein etwas schmächtiges Gesicht, dessen Züge den prägnanten Ausdruck geistiger Lebendigkeit tragen. Dieser theilt sich auch den Bewegungen der Gestalt mit.

In seinem Benehmen entfaltet der Erbprinz eine die feinsten Rücksichten beobachtende Haltung, welcher ein unverkennbarer Zug von Herzensfreundlichkeit innewohnt. Rechnet man bei dieser jugendlichen mit geistiger Reife gepaarten Lebendigkeit noch mit einer ideal-künstlerischen Richtung, welche das innere Wesen des jungen Mannes ausmacht, so wird man wohl begreifen, wie ein junges, durch die Erziehung stets auf natürliche und unbefangene Eindrücke hingeleitetes Mädchenherz sich von solchen Eigenschaften bestimmt fühlen mußte, und dieses Bestimmende ward ihm zum Schicksal. Wenn man auch von Seite der kronprinzlichen Eltern die eheliche Verbindung mit dem Erbprinzen wünschen mochte, so war doch die Wahl der Prinzessin ihres Herzens freier Entschluß. Der Wechsel zwischen Kinderstube, wo sie, sei es in Berlin im väterlichen Palais oder in Potsdam im Neuen Palais oder auch auf Reisen, nur unter den hütenden Augen der Eltern oder Erzieherinnen, im Kreise ihrer Geschwister gelebt hatte, und zwischen den glanzstrahlenden Sälen des Königsschlosses, wo tausend Blicke auf sie gerichtet waren, gestaltete sich etwas rasch und sollte die Prinzessin befangen erscheinen lassen. So bei dem großen Galadiner, das zu Ehren ihrer Verlobung stattfand. Fast mit kindlicher Schüchternheit saß sie an der Seite ihres Bräutigams zwischen den kaiserlichen Großeltern, und die großen [141] lichtblauen Augen gingen mit einem Gemisch von Freude, Staunen und Interesse an Allem, was da war und vorging, durch den Saal, und das Wunderbarste bei dem Allen schien ihr zu sein, daß sie der Mittelpunkt all dieses entfalteten Glanzes war. Die Gestalt der Prinzessin ist von jener Höhe, die sie auch im Aeußeren in ein harmonisches Verhältniß zu ihrem Gatten bringt. Vom Vater hat sie die schönen hellen Augen und das blonde Haar, von der Mutter den Schnitt des Gesichtes und die anmuthige Gestalt, vom Hause Hohenzollern die frischen Farben und den kräftigen Gliederbau. Fast schien sie, wie sie als Braut durch die Säle des Schlosses dahin schritt, gedrückt von der silbergestickten Robe und Schleppe, von der diamantenen Krone, die auf dem Hinterhaupte ruhte, von all dem Glanz und Pomp, der auf sie zurückstrahlte.

Prinzessin Charlotte ist keine Erscheinung für den fürstlichen Hofmantel. Man denkt zu ihrer schlanken, jungfräulichen Figur unwillkürlich ein helles leichtes Kleid, ein buntes Band um die Taille, einen Kranz von frischen Blumen in dem Haar und in der Hand einen Band Geibel’scher Gedichte. Sie ist eine Figur für die Idylle. So ist auch das Heim, das man ihr und ihrem Gemahl bereitet hat, jene Villa links vom Wege, der vom grünen Gitter an der Friedenskirche am Marlygarten vorbei durch eine prächtige Lindenallee nach Sanssouci führt, ein zweistöckiges Haus im italienischen Villenstil, etwa acht Fenster in der Front, mit einem pavillonartigen Ausbau, daran ein Garten, den man erweitert und gelichtet hat, das Innere von vornehmer moderner Eleganz, die ihren höchsten Ausdruck in der Einfachheit findet – Alles bequem, wohnlich, heiter, angenehm, aber nirgendwo Luxus. Vielleicht hätte es mancher reiche Mann im deutschen Reiche seiner Tochter noch prächtiger geben können, als es der Kronprinz und die Kronprinzessin des deutschen Reiches gethan, aber gerade diese Herrschaften können sich ihren Kindern gegenüber den Luxus der Einfachheit erlauben. Das Haus gehörte einst dem Kämmerer und Vertrauten Friedrich Wilhelm’s des Dritten, Timm, von dem ältere mit den damaligen Hofverhältnissen vertraute Berliner tausend Geschichten zu erzählen wissen. Dann wurde es für die zweite Gemahlin Friedrich Wilhelm’s des Dritten, die Fürstin von Liegnitz, gekauft, erweitert und eingerichtet. Sie bewohnte es im Jahr zwei Monate. Seit ihrem Tode stand die Villa leer. Nun wird im Sommer das junge Paar sie beziehen, um dort hinter den dichten Mousselinvorhängen unter grünen Baimwipfeln und diftenden Blüthen den Traum vom Glücke des Lebens zu träumen.

In dem Trousseau (der Ausstattung), der nach Berliner Hofsitte, die eben nur wieder ein alter deutscher Hausbrauch ist, dem Publicum zur Schau ausgestellt war, befanden sich zwei Courroben mit Schleppen, die eine, von himmelblauem Sammt mit breiten weißen Spitzen und mit Rosen garnirt, war für die Prinzessin Charlotte bestimmt, die andere, von purpurfarbenem Sammt mit Gold gestickt, für die zweite Braut, Prinzessin Elisabeth. In diesen äußeren Hüllen mag die Individualität der beiden Prinzessinnen markant sein. Prinzessin Elisabeth ist von hoher, schlanker Figur, die sich in bewußter Haltung giebt. Von ihren beiden Schwestern hat sie die meiste Aehnlichkeit mit ihrer Mutter, der schönen Anhaltinerin, die sich heute noch auf Reisen als Schwester ihrer Tochter in das Fremdenbuch schreiben könnte. Die Natur hat aus den jugendschönen Zügen der Mutter für die Tochter einige weggenommen, dazu einen charakter- und energievollen Zug des Vaters gefügt, und so sind daraus die Züge der Prinzessin Elisabeth geworden. Ob sie schöne Augen hat, weiß man nicht; sie sind in stillem Ernste immer wie nach innen gekehrt, und die Verschleierung derselben ist reizvoller, anziehender, als vielleicht der strahlende Glanz. Die Töchter des Prinzen Friedrich Karl hatten eine vortreffliche Erzieherin in der Person der Gräfin Schlieffen. Nach dem Willen des Vaters sollten in ihnen nicht Prinzessinnen nach der alten Schablone, sondern einfache, natürliche, liebenswürdige Mädchengestalten erzogen werden. Das ist denn auch vollauf erreicht worden.

Es war im November vorigen Jahres; der Wald war noch grün und die Luft lau wie im September. Es war Rendezvous zur Parforcejagd am Jagdschloß Stern bei Potsdam. Die Meute fing an laut zu werden und wurde nur durch die Peitschen der Piqueare im Zaume gehalten. Die Jäger, Officiere der Berliner und Potsdamer Garnison, waren von den Pferden abgestiegen, – außerdem war viel Volks versammelt – in offenen vierspännigen Wagen waren die jungen Prinzessinnen aus Glienicke gekommen. In dem ersten saß Prinzessin Elisabeth mit ihrer älteren Schwester, der Prinzessin Marie. Auf dem Schlage des Wagens lehnte mit übereinandergeschlagenen Armen ein junger Mann von etwa vierundzwanzig Jahren. Die schlanke, elastische Gestalt war mit dem rothen Jagdfrack bekleidet; an die weißledernen anliegenden Unterkleider schlossen sich die überschlagenen Stulpstiefeln an; das längliche vornehm geschnittene Gesicht mit etwas bräunlichem Teint und einem braunen Bärtchen auf der Oberlippe war von einem modernen Cylinderhut überschattet, und die braunen lebhaften Augen gingen ganz und voll auf die im Fond sitzende Prinzessin aus. In dieser Weise durfte aber nur ein Bruder oder Bräutigam mit den fürstlichen Damen verkehren. Es war kein Anderer als der Erbgroßherzog von Oldenburg. Das Brautpaar plauderte und lachte miteinander, hier, vor allen Zeugen so harmlos und unbefangen, als säße es daheim im Glienicker Parke, und das Glück des Beisammenseins leuchtete Beiden aus jedem Blicke. Gar oft im Sommer ließ der Erbgroßherzog, der in jenen Tagen bekanntlich bei den 1. Gardedragonern stand, noch des Abends nach dem Diner sein Pferd satteln, um den vier Meilen weiten Weg zur Braut nach Glienicke zu reiten und dann in später Abendstunde wieder nach Berlin zum Dienste am frühen Morgen zurückzukehren. Man erzählt sich in gesellschaftlichen Kreisen Berlins – und darum möchte es nicht gar zu indiscret sein, das Gesagte hier mitzutheilen – daß Prinz Friedrich Karl seiner Tochter Mittheilung von der Werbung des Erbgroßherzogs mit dem Bemerken gemacht habe, die Prinzessin habe zu einer Antwort acht Tage Bedenkzeit, worauf diese erwidert habe, daß letztere überhaupt gar nicht nöthig sei.

Da eine preußische Prinzessin nicht gut „Frau Rittmeister“ werden kann, so wird der Erbprinz seine dienstlichen Verhältnisse in der preußischen Armee verlassen und fortan mit seiner jungen Gemahlin in Oldenburg residiren. Die ersten Tage ihrer Ehe werden die beiden jungen Paare im Schlosse zu Berlin zubringen. So gebietet es ein altes Hausgesetz. Es wird volle Hochzeit mit königlichen und fürstlichen Gästen in großer Anzahl sein. Der Berliner Hof wird bei seiner imposanten Würde die höchste Prachtfülle entfalten. Einige Tage werden die jungen Paare an den Hochzeitsfeierlichkeiten Theil nehmen, dann aber jeder der jungen Ehemänner sein bestes und schönstes Theil entführen, der eine nach Süden an die Gestade des Comersees, der andere nach Norden. Schmerzlich wird Berlin „unsere Prinzessinnen“ scheiden sehen.

     Berlin, 12. Februar 1878.

G. H.



Blätter und Blüthen.

Ein Abend mit William Thackeray. (Aus den Lebenserinnerungen einer Matrone.) Wer mit vollem Behagen sich an dem köstlichen Romane „Vanity fair“, wohl dem Meisterwerke von Thackeray, erfreut, wird es kaum glaublich finden, daß der Autor sich lange mit dem Gedanken getragen: er sei vorzugsweise für die Malerei begabt und habe in der Ausübung dieser Kunst seinen eigentlichen Lebensberuf zu finden.

Es war im Jahre 1835, als Madame Firmin in Paris, die Wittwe eines Advocaten, an welche wir empfohlen waren, meine Eltern und mich zu einer kleinen Abendgesellschaft einlud und den Zusatz machte: „Sie werden bei mir einen jungen Engländer aus bester Familie finden, der sich bereits zwei Jahre hier aufhält, um Studien im Louvre zu machen. Es ist ein sehr geistvoller Mann, der sicherlich sich einen Namen als Maler machen wird.“

Ich war damals achtzehn Jahre alt, Thackeray vierundzwanzig, und als die beiden Jüngsten in der nur aus acht Personen bestehenden Gesellschaft näherten wir uns mit der Unbefangenheit der Jugend. In Thackeray’s Auftreten lag nichts von dem gewöhnlich etwas steifen, förmlichen Wesen der Engländer. Er war viel auf Reisen gewesen, hatte Menschen und Sitten kennen gelernt und gab sich mit der ruhigen Sicherheit eines fein gebildeten Gentleman der Unterhaltung hin. Seine Zurückhaltung war nicht größer, als die jedes geistig vornehmen Mannes, der sich vor zudringlicher Annäherung zu schützen sucht. Thackeray sprach zuerst – wohl aus Artigkeit einer Deutschen gegenüber – von seinem Aufenthalt in Weimar im Jahre 1831 und von Goethe, den er noch glücklicher Weise gesehen und gesprochen, und der wunderbar leuchtende Augen gehabt, die schönsten, in welche er jemals geblickt. Wir kamen dann [142] auf Eindrücke aus der Kinderzeit zu sprechen, und er hob als den mächtigsten den hervor, welchen er von Napoleon empfangen. „Nicht als Imperator, nicht als Besieger von Fürsten und Völkern, nicht als genialer Mann, der das Chaos der Revolution geschlossen und die Geschicke eines der geistvollsten Völker in seine starke Hand genommen, steht er vor mir da, sondern – als Menschenfresser.“

Erstaunt sah ich Thackeray an.

„Ja, ja, so ist es in der That.“ lachte er. „Ich war sechs Jahre alt, als die Meinen mit mir von Indien die Rückreise nach England antraten. Auf einer einsamen Insel im Meere legten wir an und ein alter Diener trug mich einen langen Weg über Feld bis zu einem umzäunten Garten, in welchem ein Mann promenirte. ‚Das ist Bonaparte, das Ungeheuer; jeden Tag frißt er drei Schafe und soviel Kinder auf, wie er bekommen kann,‘ raunte er mir zu.

Nie werde ich vergessen, welch gemischte Empfindungen bei diesen schrecklichen Worten sich in mir regten. Ich glaube der erste Keim von Haß wurde in mir wach und wendete sich gegen meinen Führer. Wie durfte er mich der Gefahr aussetzen von dem fürchterlichen Manne verspeist zu werden? Und dennoch schlang ich – so viel Falschheit ruht selbst in einem Kinderherzen – meine Arme um den Hals des alten Dieners und flüsterte ihm zu, nicht: er möge mich sofort aus der Nähe des Grausamen bringen, sondern: mir thäte der Kopf weh; ich wünsche mich niederzulegen. – Noch heute steht Alles so lebendig vor mir da; ich könnte die Scene zeichnen –“

„Thun Sie es!“ bat ich. „Madame Firmin hat uns bereits gesagt, daß Sie ein Künstler, ein Maler sind.“

Thackeray zog eine Art von Notizbuch hervor, das in seiner Größe die Mitte zwischen einem Album und einer Brieftasche hielt, nahm einen Bleistift zur Hand, und mit wenigen Strichen entstand der Garten, der wandelnde Mann, der Diener mit dem Knaben auf seinem Arme.

„Allerliebst,“ sagte ich, als Thackeray mir das schnell entworfene Bild überreichte, „aber weshalb haben Sie allen Personen eine solche Stellung gegeben, daß sie dem Beschauer den Rücken zuwenden?“

„Das ging nicht anders zu machen. Wo Sie sind, ist Sonne, da konnte ich meine Gestalten nicht hinblicken lassen – sie wären geblendet worden.“

Diese Worte wurden in einem Tone gesprochen, von einem seinen Lächeln und Mienenspiele begleitet, die jeder Beschreibung spotten. Sie schienen mit Grazie und Humor sagen zu wollen: „Bilde Dir nicht allzuviel auf meine Schmeichelei ein: sie soll hauptsächlich das Eingeständniß verdecken, daß die Aufgabe, drei charakteristische Köpfe in wenigen Minuten auszuführen sich mir als allzuschwierig erwies.“

Die Unterhaltung wurde bald eine allgemeine und man besprach die neueste französische Literatur und vor Allem Victor Hugo’s Werke, der sich durch seine „Feuilles d’automne“ und „Notre-Dame de Paris“ bereits einen europäische Ruf begründet. Einer der anwesenden Herren sprach seine Meinung dahin aus, daß dem Dichter, dem Schriftsteller, ein viel schöneres Loos beschieden sei, als dem Maler, dem Componisten, dem Bildhauer. Seine Werke erreichten den Thron und die Hütte, durcheilten alle Länder, während der Componist den großen Apparat eines Sängerpersonales und Orchesters, der Maler und Bildhauer die Salons und Kunstinstitute bedürfe, um seine Schöpfungen dem großen Publicum zugänglich zu machen.

Thackeray entgegnete schnell. „Nur der Maler, der Bildhauer ist der wahrhaft freie, unabhängige Mann. Hat er ein Werk geschaffen, so stellt er es aus; er bedarf, um dessen Wirkungsfähigkeit zu erproben, der Beihülfe keines anderen Menschen. Niemand kann davon etwas abnehmen, Niemand etwas hinzuthun. Schlechter steht der Operncomponist, der mit einer großen Zahl widersprechender Elemente zu rechnen hat, über welche er keinerlei Gewalt zu üben vermag. Das schlimmste Loos ist aber dem Dichter beschieden. Nehmen wir an, ich hätte ein Meisterwerk – meine Erstlingsarbeit – verfaßt und das Glück gehabt, mit einem Buchhändler von hoher Intelligenz und Redlichkeit einen Verlagscontract zu unterzeichnen. Da stirbt der Edle ganz plötzlich; sein Geschäft wird verkauft und ich – ein an Händen und Füßen gefeselter Sclave – gehe an einen neuen Herrn über. Mein jetziger Gebieter ist filzig, flößt mir die größte Antipathie ein. Ich protestire gegen seine Rechte auf mein Werk und erreiche nichts weiter. als daß er einen grimmen Haß auf mich wirft. Was kann er Alles thun? Er druckt mein Meisterwerk auf Löschpapier und mit so winzigen Lettern, daß nur ein Falkenauge zwei Seiten davon hinter einander zu lesen vermag, ohne Schmerzen in seinem Sehorgane zu empfinden. Bei pathetischen oder besonders rührenden Stellen werden Druckfehler angebracht, welche den Sinn meiner Worte in’s Lächerliche verkehren und selbst das Zwerchfell eines Menschenhassers erschüttern müssen. Noch mehr: mein Herr erwirbt das Machwerk eines literarischen Handlangers, kündigt es lobpreisend an und empfiehlt gleich darauf meine Arbeit mit den mich als Schriftsteller vernichtenden Worten: ‚es gereicht mir zu besonderer Freude, dem Publicum ein gleich classisches Werk, den Roman von Herrn X., übergeben zu können.‘ Keine Waffe bleibt mir, um abzuwenden, was über mich hereingebrochen; voll Ingrimm fordere ich den schändlichen zum Zweikampfe; er tödtet mich, wie er meine Schöpfung umgebracht, und keine Menschenseele erfährt, daß ein Genie gelebt und gelitten."

Alle Anwesenden wurden durch diese mit köstlicher Laune vorgetragene Skizze von den Leiden eines Schriftstellers in die heiterste Stimmung versetzt, und worüber Thackeray sich auch äußerte, man empfing den Eindruck, mit einem der liebenswürdigsten und begabtesten Männer zu verkehren. –

Als ich spät am Abende in meinem Reisetagebuche fixirte, was ich gehört, sprach ich dies ebenfalls mit allem Enthusiasmus des Jugendalters aus.

Dreizehn Jahre später erschien „Vanity fair“ und wies Thackeray seinen Platz unter den ersten Schriftstellern des Jahrhunderts an. Wie erstaunte ich, daß der Mann, dessen Namen ich lange Zeit vergeblich unter den neu auftauchenden hervorragenden Malern Englands gesucht, nun plötzlich als ein Autor von hoher Bedeutung sich kund gab! Je öfter ich mich aber an jenen Abend in Paris erinnerte, je deutlicher erkannte ich in allen Aeußerungen von Thackeray die Blüthe des liebenswürdigen Humors, dessen Reife einst so viele Menschen entzücken sollte.


Aufforderung. Am 9. Novbr. 1878 wird sich ein Menschenalter erfüllen seit jenem 9. November 1848, an welchem Robert Blum in der Brigittenau bei Wien verblutete. Die Idee, für welche er sein Leben hingab, die Einheit und Freiheit des deutschen Vaterlandes, ist verwirklicht worden. Ein glücklicheres Geschlecht ist herangewachsen, das gerecht und unparteiisch die Verdienste wie die Fehler der Männer zu würdigen vermag, die im „tollen Jahre“ 1848 muthig und erfolglos um die höchsten Güter der Nation stritten. Es erscheint daher die Zeit gekommen, auch das Leben und Wirken eines der edelsten Kämpfer und Opfer jener Tage, das Leben und Wirken Robert Blum’s darzustellen. Ein treues, vollständiges Lebens- und Charakterbild dieses Mannes ist bis jetzt noch nicht gezeichnet worden. Noch heute „schwankt, von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, sein Charakterbild in der Geschichte“. Zur Klärung dieses reinen großen Bildes beizutragen sind Viele berufen, die kaum ahnen, daß sie es können, daß sie sogar verpflichtet sind, es zu thun. Jeder Mensch wird in gewissem Sinne am besten geschildert durch sich selbst, durch Briefe, Aufzeichnungen, Aeußerungen, die er in vertrautem Verkehr ohne Rücksicht auf das Urtheil der Mit- oder Nachwelt Anderen überlieferte. So erfahren wir am sichersten, wie in seinem Kopfe die Welt sich spiegelte, wie er mit der Zeit geworden und gewachsen ist. Viel ist im Laufe von siebenzehn Jahren zur Beurtheilung Robert Blum’s auf diesem Gebiete gesammelt worden. Vieles, was zu seiner Beurtheilung wichtig wäre, z. B. seine Correspondenz mit dem Herausgeber der „Vaterlandsblätter“, Rudolf Rüder, mit seinem Schwager Günther, ist für immer (durch Feuer) verloren gegangen. Vieles aber ist auch heute noch im Besitze von Unbekannten. An sie ergeht hierdurch die freundliche Bitte, unter Beifügung der genauen Adresse der Absender alle Originalhandschriften von Robert Blum gegen die Zusicherung baldigster Rücksendung – oder wenn sie Bedenken tragen, sich von den Originalen zu trennen, Abschriften derselben – an einen der Unterzeichneten einsenden zu wollen.

     Leipzig, im Februar 1878.Ernst Keil.0 Dr. Hans Blum, Rechtsanwalt.     


Ein letzter „Luther“ in Noth. In weiteren Kreisen ist es schwerlich bekannt, daß von des großen Reformators Familie ein Seitenzweig sich in Böhmen erhalten hat und dort wieder zur katholischen Kirche bekehrt worden ist. Aus dieser verarmten Familie wurde im Jahre 1830 ein neunjähriger Knabe, Anton Luther, von seinem Geburtsort Stöckei in Böhmen in das Erfurter „Martinsstift“ übergeführt und in demselben erzogen. Bekanntlich besteht dieses Martinsstift seit 1817 und ist von der „Gesellschaft der Freunde in der Noth“ zu dem Zwecke gegründet worden, verlassene und verwahrloste Kinder aufzunehmen und ihnen die Segnungen des Vaterhauses zu gewähren. Als Heimstätte erhielt es einen Theil des Augustiner-Eremitenklosters, durch dessen Pforte einst Luther seinen Einzug gehalten hat, ebendeswegen führt der neue, durch die Munisicenz des Königs Friedrich Wilhelm des Vierten an die Stelle der baufälligen Klosterräume nunmehr getretene schöne Neubau den Namen „Zur Lutherpforte“.

Anton Luther fand noch im alten Kloster, und zwar unter dem Director Reinthaler, Aufnahme, der auch nach der Schulzeit für sein Fortkommen zu sorgen suchte, aber leider mit so wenig Glück, daß jetzt der sechsundfünfzigjährige Mann als Modellschreinergeselle in dem Städtchen Tennstädt sein Brod verdienen muß. Es fehlt gewiß nicht an Verehrern des großen Reformators, welche dem letzten Abkömmling seiner Familie gern den trüben Lebensabend durch werkthätige Theilnahme erhellen. Da die „Gartenlaube“ das Sammeln für Unglückliche ohne besondere Ministerialgenehmigung unterlassen muß, so erlauben wir uns, die Adressen des Herrn Senator H. Gerber und des Herrn Kreisgerichtsraths Bürger in Tennstädt zu nennen, welche Herren zum Empfange der betreffenden Gaben bereit sind.


Ein deutscher Schriftsteller von geachtetem Namen und geschätzter Mitarbeiter der „Gartenlaube“ nimmt unsere Vermittlung zur Erlangung einer Stelle in Anspruch, welche seinen Kenntnissen und seiner Gesundheitslage entspricht, da die letztere durch die Fortführung seiner bisherigen Berufstätigkeit anfängt gefährdet zu werden. Eine Anstellung als Archivar, Bibliothekar, Custos oder sonstiger Beaufsichtiger von wissenschaftlichen oder Kunst-Sammlungen würde dem in den besten Lebensjahren stehenden, sehr sprachen-, geschichts- und literaturkundigen Manne, der das juristische und philologische Staatsexamen gemacht und den philosophischen Doctorgrad erworben hat, eine ihm angemessene Wirksamkeit eröffnen. Ist nicht irgendwo durch fürstliche, städtische oder Privatmachtvollkommenheit für diesen uns sehr am Herzen liegenden, hochbegabten Schriftsteller und Gelehrten eine Stelle zu beschaffen? Jedes dieser dringend gestellten Frage freundlich entsprechende Anerbieten würde uns zu aufrichtigem Danke verpflichten. D. Red.     



Kleiner Briefkasten.

C. F. Nr. 16 und C. Fr. in Berlin. Ungeeignet! Das Manuscript steht zu Ihrer Verfügung.