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Die Gartenlaube (1879)/Heft 41

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[677]

No. 41. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Felix.
Novelle von Karl Theodor Schultz.
(Fortsetzung.)


4.

Es war Mittwoch Nachmittag gegen drei Uhr und ein blauer, luftfrischer Julitag; hier und da schwammen wohl schimmernde Wölkchen am Himmel hin, doch alle so schleierleicht , daß sie die Strahlen der Sonne nur mildern, nicht verhüllen konnten.

Auf dem runden Tische des Altans in der Frauengasse sah es festlich aus; die blaßgelbe Tischdecke mit den eingewebten weißen Rosensträußen fiel in schweren Falten nieder; in einer Krystallvase dufteten die am Morgen geschnittenem Blumen; das alte silberne Kaffeebrett prangte mit Sèvresgeschirre, und daneben standen die dazu gehörigen Teller mit verschiedenen Sorten von Kuchen, die zu wahrhaften kleinen Bergen aufgeschichtet waren.

Die Frau Kanzleiräthin mußte nichts von größerem Belang gegen den Ruf des Barons in Erfahrung gebracht haben. Oder hatte sie überhaupt die ganze Angelegenheit aufgegeben? Das pflegte ihre Art zu sein, wenn sie von vornherein auf einen Widerstand stieß, der augenscheinlich nicht leicht zu überwinden war – kurz, sie war zu Cousine Ballingen’s Verdruß nicht mehr erschienen und die Vorlesestunde also in Aussicht. Denn Josephine hatte nach längerem Ueberlegen fest darauf bestanden, um bloßer Klätschereien willen nicht auf einen Genuß zu verzichten, den sie in ihrer augenblicklichen Lage nicht hoch genug anschlagen konnte. Geistige Anregung war ihr tiefes Bedürfniß geworden, und was konnte ihr in dieser Richtung ihre Umgebung bieten? Seit dem Tode des Vaters, also seit Jahr und Tag, entbehrte sie schon eine angeregte Unterhaltung. Ihrem Herzen war es, als habe das Schicksal es gütig mit ihr vor; warum hätte es sonst Pranten so unabweisbar, wie dieser selbst gestanden, zu ihr getrieben! Was brauchte sie überhaupt das Gerede einer Welt zu kümmern, in welche sie nicht gehörte, die ihr stets mehr als fern gestanden!

So wartete sie denn mit einer gewissen frohen Unruhe des Kommenden und lauschte immer, sobald unten die Glocke ging. Endlich ein festerer Zug . – Tritte auf der Treppe – das mußte der Baron sein. Und er war es.

Mit einem Lachen, das schon vor ihm hergeschallt, ehe er eingetreten, begrüßte er die Dame und fragte, ein Buch auf den Tisch legend: „Hören Sie hier nichts von der tollen Musik, welche drüben bei Schönhof ein Dudelsack mit zwei Flöten aufführt?“

„Nein!“ antwortete Josephine, „sobald der Wind nicht aus Süden kommt, hören wir selbst von den Concerten wenig.“

„Es war ohrenzerreißend,“ fuhr Pranten fort, indem er auf eine Handbewegung der Assessorin Platz nahm. „Wenn Italien nichts Besseres versendet, müßten alle Beziehungen mit ihm abgebrochen werden. Doch wie ist es Ihnen in der langen Zeit ergangen? Ein und ein halber Tag können Vielerlei bringen!“

„Uns haben sie wohl nichts gebracht,“ erwiderte Josephine.

„Du vergißt,“ fiel Frau Ballingen mit einem scharfen Zuge um den Mund ein, „den Besuch unsrer lieben Kanzleiräthin Schussenried.“

Der Name wurde ein klein wenig hervorgehoben.

„Hat diese Räthin etwa einen Sohn, der Willy heißt?“ fragte Pranten rasch.

„Gewiß!“ versetzte die Assessorin befriedigt. „Ein charmanter, bescheidener junger Mann.“

„Bescheiden?“ rief Pranten. „Das müßte eine Errungenschaft aus diesem Jahre sein! Als Student war er eigentlich ein böser Geselle; o, verzeihen Sie – steht er Ihnen wirklich nahe?“

„Bewahre!“ versetzte Josephine.

„Nun ich meine doch,“ fuhr Frau Ballingen auf, „von dem Sohne einer Jugendfreundin dürfte man wohl behaupten, daß er uns nahe steht, wenigstens näher –“

„Als der,“ unterbrach Pranten, „der es gewagt hat, ihm einen kleinen Denkzettel zu geben? Nun, wenn Sie das auch nicht ganz so deutlich sagen wollten, gedacht haben Sie doch wohl Aehnliches? Aber Sie werden mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, es mir nicht zu verübeln, wenn ich ihm nicht aus dem Wege ging. Ich war der Geforderte.“

„Sie gaben also doch den Anlaß?“

„Wie man es auffassen will!“ versetzte Pranten sinnend. „Das sind übrigens Jahre her,“ brach er dann plötzlich ab, „und der Grund dürfte kein Interesse für Sie haben. Ihre schlimme Meinung muß ich wohl versuchen auf eine andere Weise vergessen zu machen; außerdem können die Damen wirklich ruhig sein, Damen pflege ich nicht zu fordern.“

Pranten sah die Frau Assessorin dabei so ernsthaft treuherzig an, daß diese wider Willen lachen mußte.

Josephine hörte das mit Befriedigung. Ihr war schon jede Art von Gespräch zuwider, das sich in leichten gegenseitigen Spitzen erging, um wie viel mehr also dieser ziemlich offene Angriff ihrer Cousine. Sie hatte wie in Verlegenheit dagesessen, und brachte nun rasch mit der Frage: „Da Sie es bei uns voraussetzen, so haben die Tage wohl Ihnen etwas von Bedeutung gebracht?“ – das Gespräch auf ein anderes Thema.

[678] „Ich erlebe selten mehr etwas Neues,“ antwortete Pranten. „Heute Klinik, morgen Klinik, Mittags und Abends in Gesellschaft von Collegen und Bekannten, nicht einmal zum Geburtstage – er war vorgestern – einen Brief! Ob sich für mich überhaupt noch etwas ereignen kann? Und doch, ist es nicht ein Ereigniß, daß ich hier sitze?“

„Haben Sie denn keinen Freund, nirgends einen Verwandten mehr, daß selbst Ihr Geburtstag – so ohne Sang und Klang vorübergehen muß?“ fragte Josephine.

„Ich stehe ganz allein,“ entgegnete Pranten rauh. „Meine Eltern sind todt; Geschwister hatte ich nicht, und eigentlich auch keine Freunde. Für diesen Artikel war ich ein zu häßlicher Junge und prügelte immer die Gespielen, wenn sie mich neckten; selbst später – gnädige Frau, haben Sie Fräulein Harder noch keine Beschreibung von mir gemacht?“

Als Frau Ballingen verneinte, fuhr er lebhaft fort:

„O, wollten Sie das nicht in meiner Gegenwart thun? Das wäre einmal etwas Apartes, wieder ein Ereigniß! Und ich könnte corrigiren, was nicht dunkel genug, oder vielmehr zu nachsichtig aufgefaßt würde.“

„Warum nachsichtig?“ fragte Josephine betreten. „Muß ich Sie auf die glückliche Verschiedenheit des Geschmackes aufmerksam machen?“

„Ich stehe jenseits alles Geschmackes,“ entgegnete Pranten etwas heftig. „Aber es ist ja wohl tactlos, so viel von sich zu sprechen, und ich bin außerdem zum Lesen, nicht zum Plaudern engagirt. Würde Ihnen das Buch genehm sein, welches ich mitgebracht habe: Freytag’s ,Ahnen’?“

„Gewiß!“ erwiderte Josephine mit einem Gefühl der Erleichterung, „und welcher Zufall! ‚Ingo’ war das letzte Buch, das ich selbst gelesen.“

„Ja, der Zufall webt die Fäden wunderlich hin und her,“ sagte Pranten langsam. „Wenn man überhaupt von Zufall sprechen darf, wo sich doch Alles so gefügig eins aus dem andern herausarbeitet, Jeder selbst Kette und zugleich Glied einer endlosen Kette ist.“ Er warf den Kopf, wie über sich unzufrieden, empor und fuhr, in dem Buche blätternd, fort: „So beginnen wir also mit ‚Ingraban’?“

„Nein, nein, mit ‚Ingo’!“ bat Josephine. „Ich höre ihn mit tausend Freuden noch einmal. Ich bin gerade neugierig, ob ich auch im Anfange wieder das Gefühl von etwas Seltsamem haben werde. So ging es mir damals, doch schon nach einigen Seiten nahm mich der große Zug der Gestaltung voll hin und ich weiß, daß ich den Theil mit Spannung und hohem Genuß zu Ende las. Du kennst auch ‚Ingo’, nicht?“

Frau Ballingen, deren Gedanken sich noch immer mit dem Duell beschäftigt hatten und eine Möglichkeit aufzufinden suchten, von Pranten mehr darüber zu erfahren, weil sich damals selbst Willy’s Mutter in Schweigen gehüllt, schrak bei Josephinens Frage zusammen, antwortete jedoch tapfer mit einem gedehnten: „Nein.“ Glücklicher Weise erwartete man dieses Nein; es erfuhr also keinen Widerspruch, und nach einigem höflichen Hin und Wider über etwa noch vorhandene Wünsche Pranten’s begann dieser der „Ahnen“ Noth und Freud’.




5.

Aehnlich dieser ersten Vorlesestunde gingen nach und nach viele hin. Anfangs immer ein leichtes Geplauder über kleine Erlebnisse oder Stadtneuigkeiten; dann las Pranten, und schließlich brachte der Kaffee, dem wohl noch ein Gang durch den Garten folgte, neues Plaudern, das, in der Regel durch das Gelesene angeregt, einen Zug nach dem Tiefern hatte. Manche Einkehr in die Vergangenheit, allerlei stille Zukunftwünsche oder Blicke in die verschiedenen Charaktere thaten sich von selbst auf. Man gewöhnte sich rasch an einander, und selbst die Frau Assessorin erwartete die Vorlesetage bereits mit dem angenehmen Gefühl, etwas Freundliches in Aussicht zu haben.

Die Anklagen der Räthin hatten sich nämlich eine nach der andern als offenbar böswillige Uebertreibungen herausgestellt, deren Urheberschaft stets auf Willy Schussenried zurückzuführen war. Außerdem hörte Frau Ballingen von competenter Seite, daß jenes Duell wegen eines armen, von Willy in rücksichtslosester Weise verlassenen Mädchens entstanden. Diese Thatsache brach vollends den Bann, welcher dem Baron gegenüber noch immer auf der Frau Assessorin gelegen hatte, und sie war jetzt auf dem besten Wege, sich ihm auf Gnade oder Ungnade zu ergeben, weil sie, nach Art aller gutmüthigen Naturen, sich nun gleichsam schuldig vorkam, und weil es ihr jetzt wie nothwendig erschien, dem so lange durch Mißtrauen gekränkten Manne fortan in doppelter Herzlichkeit entgegenzukommen.

Josephine hatte sich nichts vorzuwerfen, hatte immer gleich nachsichtig und voller Dankbarkeit sowohl zu Andern wie im eigenen Innern über Pranten geurtheilt; so brauchte sich in ihrem Wesen ihm gegenüber nichts zu ändern. Heute wie gestern war sie harmlos zufrieden erschienen und hatte ihm unbefangen gezeigt, daß sie die Stunden seines Kommens mit Vergnügen erwartete und daß es sie oft überraschte, wie schnell dieselben vergingen.

In dem Grade ihrer Blindheit war noch keine wesentliche Veränderung eingetreten; noch immer unterschied das linke Auge die Umrisse der Dinge zwar wie in Nebel zerrinnend, ohne jeden bestimmten Eindruck, aber noch durchaus mit dem vollen Empfinden ihres Daseins. Und bis nicht Alles um sie her in gleichmäßiger Dämmerung unterging, war ja keine Operation statthaft.

Auch Pranten’s Wesen, sein Thun und Treiben seiner nächsten Umgebung gegenüber, würde dem oberflächlichen Beobachter als völlig unverändert erschienen sein. Er konnte sich noch ebenso lebhaft wie früher mit Jedermann über jedes Unrecht ereifern, das gegen irgend Jemand zu irgend welcher Zeit begangen worden; er war am Tische des „Grafenbräu“ immer gleich offenherzig und ohne Rückhalt mit seiner oft wenig überlegten Meinung bei der Hand, und selbst für sein tägliches Nachhausekommen blieb die Geisterstunde die bevorzugte. Einmal in jüngster Zeit war er allerdings aus Ueberdruß oder Widerwillen, nachdem zufällig während einer Abendsitzung kein ernstes Gespräch durchgedrungen, zwei Abende hinter einander bei seinen Studien zu Hause geblieben, den dritten jedoch, als die Schwarzwälderin ihre sieben Schläge besonders laut – gleichsam mahnend – geschlagen, folgte er dem unwiderstehlichen Zuge, machte sich auf nach dem „Grafenbräu“ und bildete in alter Weise ein Stück Mittelpunkt der gewohnten Tafelrunde.

Nur eine Person hatte sich über ihn zu beklagen und that es auch, erst mit Worten und Schmollen, dann mit Geberden, welche die geringe Schätzung des Verlustes ausdrücken sollten, aber natürlich eher das Gegentheil bewiesen; dieser Jemand war die Oberkellnerin Hulda. Der Herr Baron hatte nämlich seit Wochen kaum noch einen Blick für sie übrig. Doch es war nun einmal leider nicht anders und blieb dabei; selbst der auffällige Mangel an Zwiebeln auf den Beefsteaks, Hulda’s ultima ratio, änderte Pranten’s Betragen nicht. Er hatte augenscheinlich keine Ahnung, daß Jemand eine Handlung oder Redensart von ihm vermisse.

Für den tiefer Blickenden mußte es längst zweifellos sein, daß etwas mit ihm vorging. Und seit wenigen Tagen war das auch für ihn selbst kein Geheimniß mehr.

Er hielt nicht viel davon, sich eingehend mit seinen Gefühlen zu beschäftigen, und war stets am liebsten irgend einem halb unbewußten Drange gefolgt, ohne weiter nach rechts und links auszuschauen. Er meinte plötzlich, in diesem oder jenem Hause müßte es behaglich zugehen; dorthin ging er, bis sich Hindernisse oder Ueberdruß einstellten; so hatte er es immer gehalten, und da er niemals Außergewöhnliches begehrt, war ihm auch meistens geworden, was ihm wünschenswerth erschienen.

In ähnlichem Sinne suchte er damals auch das Haus in der Frauengasse auf und hatte sich bisher nie eigentlich Rechenschaft darüber gegeben, was ihm die Stunden dort gleich Weihestunden aus der ganzen übrigen Woche heraushob. Wahrscheinlich wäre das auch noch längere Zeit so fortgegangen, wenn ihn bei dem letzten Zusammensein nicht ein Wort Josephinens aufgeschreckt hätte. Sie sprach nämlich von einem Besuche bei auswärtigen Verwandten und dem dadurch bedingten längeren Ausfall der Vorlesestunden. Der Plan war vor der Hand nur angeregt, noch keinerlei Entscheidung getroffen worden; dennoch beschäftigten sich Pranten’s Gedanken während der jüngsten Tage fortdauernd damit und fanden schließlich, daß schon die bloße Möglichkeit wahrhaft unerträglich wäre. Als er aber einmal so weit gekommen, hatte er natürlich auch den letzten Schritt vorwärts gethan; er wußte plötzlich, was ihn von Beginn an zu Josephine gezogen, und daß dieses Etwas während der Zeit gemeinsamen Verkehrs ganz in [679] der Stille eine Macht geworden war, über welche ihm bereits alle Gewalt abhanden gekommen. Und nicht mit Erschrecken empfand er das, nein, mit einem stürmischen Gefühl von Freude. Das war ja endlich die Liebe, nach der sich sein Herz so lange gesehnt; das konnte nicht bloße momentane Wallung wie alles Frühere sein.

Und so stark machte diese Liebe! Es kam ihm leicht, gleichsam selbstverständlich vor, daß er nun auch zu Josephine von ihr spräche; theilte sie nicht sein Fühlen? Wie leuchtend erschien ihre Freude, wenn er eintrat! Wie erblich ihr Antlitz, sobald die Scheidenszeit wieder herangekommen! O, Josephine konnte ihm ja gerecht werden, weil sie blind war und weil ihr Herz nicht durch das Auge zu ewigem Widerspruche gereizt wurde. Stimme zu Stimme, nicht Auge in Auge, war hier die Losung. Und steht im Grunde die Stimme dem Herzen nicht näher, als der vom Dienste der Sinne befangene Blick? Ist ihre Wahrheit nicht die tiefere Wahrheit?

Unter diesen Gedanken war wieder die dritte Nachmittagsstunde eines October-Mittwochs herangekommen, und Pranten beendigte eben eilfertig seine Toilette. Ehe aber Hut und Buch genommen wurden, ging er in sein Gärtchen und brach sich eine der beiden halberblühten Knospen, die ein Theerosenstock wie Schätze unter den großen dunkeln Blättern verborgen hielt. Die Knospe duftete noch so stark und würzig, als wäre sie ein Erstling, keine Letztgeborene.

Pranten war das aufgefallen, und als er zehn Minuten später Josephine die Knospe darbot, lieh sie eben derselben Empfindung Worte; er machte über diese Gleichartigkeit ihres Empfindens einen Scherz und war schon im Begriffe, neue Scherze, nur ernster gemeint, daran zu knüpfen, als es über die Züge Josephinens wie Schatten flog.

Mit dem scharfen Auge der Liebe erkannte Pranten, daß irgend etwas vorgefallen sein mußte, was ihre Unbefangenheit getrübt hatte; augenscheinlich würde eine Abschweifung in’s Gefühlsgebiet, wo sie sonst lächelnd Scherz mit Scherz zu erwidern pflegte, heute nicht zu wagen sein. Das gab ihm zu denken. Sollte er sich doch getäuscht haben, sollte Josephinens Fühlen nicht über ein gewisses einfach freundschaftliches Wohlwollen hinausgehen? Selbst die Assessorin schien heute etwas Zurückhaltendes zu haben.

Pranten’s Energie war wie verflogen. Nur schüchtern, jedenfalls viel wortkarger als gewöhnlich, führte er die Unterhaltung und athmete fröhlich auf, als die Zeit zum Fortgehen kam. Doch bevor er sich erhob, schlug Josephine einen Gang durch den Garten vor. Frau Ballingen hatte noch einen Brief zu schließen, und so ging das junge Paar voraus, Josephine, wie gewöhnlich, an Pranten’s Arm.

Sie schritten stumm die Treppe hinab und schwiegen noch, als sie schon den Haupttheil der alten Lindenallee gekreuzt hatten. Beiden erschien die gleichsam nächtige Stille, welche kaum von dem Rascheln der trockenen Blätter unterbrochen wurde, die Josephinens Kleid streifte, tief wohlthätig und voll so wehmüthigen Reizes, daß sie selbst vor dem Klange der eigenen Stimme wie vor etwas Störendem Scheu empfanden.

Endlich aber sagte Josephine: „Ihnen ist heute schwer zu Muthe. Sie sind fast so nachdenklich und einsilbig, wie damals, als Ihre erste große Operation bevorstand. Haben Sie wieder Patienten, die Ihnen Sorge machen?“

Sie fühlte, daß Pranten zitterte, und zog unwillkürlich ihre Hand so weit zurück, daß dieselbe lose, kaum bemerkbar auf seinem Arme lag. Er achtete dessen nicht; er sah nur unverwandt und ernst auf Josephine. Sein fortdauerndes Schweigen machte diese verlegen. Sie zog die Hand ganz von seinem Arme, und seitwärts an ein Gebüsch tretend, tastete sie an den Zweigen hin, als ob sie Blüthen suchte.

„Da blüht nichts mehr; es ist Herbst geworden!“ sagte Pranten. „Ueberall Herbst!“

Für Josephine war der eigenthümlich zitternde Ton, mit dem diese Worte gesprochen worden, etwas so Fremdes an ihrem Begleiter, daß sie sich jäh nach ihm umwandte, als könnte sie auf seinem Gesichte lesen, was ihn heute so anders als gewöhnlich stimmte. In demselben Augenblicke jedoch über ihre Hast erröthend, strich sie mit der Hand über die Stirn und fragte beklommen:

„Warum sagen Sie das mit so schmerzlichem Ausdruck?“

„Mich stimmt dieses Herbstgefühl,“ erwiderte Pranten, „sobald es erst ganz zum Bewußtsein gekommen, immer traurig, bis der Winter einzieht. Und in diesem Jahr vielleicht doppelt traurig, da sich nun doch Allerlei ändern muß – wenn es nicht gar endet.“

Er hatte versucht, die letzten Worte leicht hinzusprechen, für Josephinens erregtes Ohr klang aber noch deutlich derselbe wehe Ton durch.

Und dennoch vermochte sie es nicht, sofort auf etwas Anderes überzugehen: die Art, in der sich Pranten gab, übte einen wundersamen Reiz auf sie aus. So weich konnte dieser heitere, selten um irgend etwas ernstlich besorgte Mann werden! Sollte die Cousine mit ihren Anspielungen wirklich Recht behalten? Jemand könnte sie, die Blinde, die vielleicht für immer Blinde, lieb haben? Und nicht wie die Cousine sie lieb hatte: ganz anders, wie der Mann ein Weib liebt, der Geliebte – die Geliebte! Doch nein, nein! Der Gedanke war so thöricht!

Josephine strich wieder an den Zweigen des Gebüsches hin; welke Blätter rieselten nieder und mit denselben ein Schmetterling, die weißen Fittige kaum entfaltend.

Pranten sprach von dem Schmetterlinge, und als sie ein Wort des Bedauerns für den Verspäteten hatte, setzte er ihn auf ihre Hand.

„Dieses Symbol der Seele ist sehr müde,“ sagte Pranten leise, „wohl lebensmüde. Ob die Seelen wenn das Körperliche von ihnen gefallen, auch noch müde werden können? Lebensmüde, wie ihr Symbol hier? Wär’ etwa solche Müdigkeit, eine dann ewige, die ganze angedrohte Hölle? Was meinen Sie? Oder scheint auch Ihnen, wie meinem bös materialistischen Freunde Krüger, die Seele als ein vom Körper zu trennendes, für sich daseinsfähiges Geschöpf überhaupt nicht denkbar?“

„Darüber habe ich noch nie nachgedacht,“ erwiderte Josephine. „Mein Vater starb früher, als wir mit unseren Studien an irgend etwas Philosophisches herankamen; er wollte mich erst reifer werden lassen. So bin ich also nichts, als eine einfache evangelische Christin; ich habe dabei auch nie etwas entbehrt.“

Sie sagte das so schlicht und doch mit einem gleichsam besorgten Tone, einer schüchternen Art von Abwehr.

Ihn rührte diese Weise, und er versetzte rasch:

„Ich werde dergleichen nie mehr berühren – vergeben Sie! Man begegnet jetzt eben überall dieser sogenannten Aufklärung; Schüler wie Pensionsmädchen sind in der Regel schon über den Urgrund aller Dinge im Klaren; so hatte ich einen Augenblick vergessen, daß es auch noch lobenswerthe Ausnahmen giebt.“

„Sind diese Ausnahmen wirklich lobenswerth? Sprechen Sie im Ernst?“

„In vollem Ernst.“

„O, das freut mich.“

„Mein Fräulein, die praktischen Grundmaximen des Christenthums von der Nächstenliebe, der Geduld und Selbstlosigkeit werden durch keinen, von wem immer gebotenen Ersatz übertroffen werden. Wo Mensch mit Mensch zu verkehren, der Einzelne sich einer Allgemeinheit zu unterwerfen hat, da muß ewig Gesetz bleiben, was Christus zum Gesetz machte. Christus, nicht etwa seine Pfaffen! Etwas anders steht es wohl um denjenigen Theil seiner Lehren, der sich über unsere Mutter Erde emporschwingt; mit dem mag Jeder nach seiner Vernunft fertig oder nicht fertig werden – das bedeutet wenig, so lang er nur jenem Hauptcredo treu bleibt, dessen A und O die Liebe in ihren weitesten Beziehungen ist: von der Liebe zur Geliebten, zu den Eltern, Kindern, Nächsten – o durch alle Naturreiche bis zu solch undankbarem Schmetterling hinab, der eben seine Flügel regt – davonfliegt. Hörten Sie? er seufzte wenigstens dabei.“

„Leider sind meine Sinne weniger entwickelt, als die Ihrigen,“ antwortete Josephine lächelnd, „ich habe nichts gehört. Solch ein Schmetterlingsseufzer muß übrigens ganz etwas Apartes sein.“

„Nichts sonderlich Anderes als ein Menschenseufzer, das heißt ein gedachter oder geträumter.“

„Was man von Ihnen Alles lernt! Kann man Seufzer auch träumen?“

„Mindestens kann man davon träumen –“

„Träumen geträumt zu haben,“ ergänzte Josephine scherzend, „und das mag sogar träumerischer als ein Traum sein. Was sollte es aber eigentlich mit diesem Schmetterlingsseufzer auf sich haben? Muß ich wirklich fürchten –“

[680] „Ja, fürchten Sie nur: es sollte wohl etwas Thörichtes herauskommen.“

Es entstand eine Pause.

Plötzlich rief Pranten: „Glauben Sie übrigens, daß wir mitunter auch an dem, was wir als thöricht erkennen, so schwer zu tragen haben, wie an thatsächlichem Leid?“

„Wenn wir es als thöricht erkennen?“ fragte sie zweifelnd.

„Ein Beispiel! Sie müssen mir doch einräumen, daß uns die Vorlesetage Freude gemacht haben – und Ihnen auch? Sie wären unwahr, wenn Sie es leugneten –“

„Warum sollte ich das?“ warf Josephine ein, indem sie sich ihm voll zuwandte.

„Ich setze auch nur den Fall. Sehen Sie, nun könnte Jemand, zum Beispiel Sie, mit Recht behaupten, daß es sehr thöricht von mir sei, mich um das baldige Aufhören dieser Freude ernstlich zu bekümmern, da es sich doch nur um einen Ausfall von höchstens vier Wochen handle. Dennoch thue ich es, muß es thun –“

„Wirklich?“

„Und nicht in bloßen Worten; mir ist eben immer, als schlösse mit Ihrem Fortgehen das Ganze ab, als endete unser Verkehr damit.“

„O nein!“

„Ihnen thäte das auch weh?“ fragte er dringend.

„Gewiß, Herr Baron! Ihr Vorlesen –“

„Ach, mein Vorlesen,“ unterbrach er heftig, „ist leicht zu ersetzen. Wenn Ihre Pathe Schussenried die Thekla –“

„Seien Sie nicht wieder böse – –“

„Bin ich das schon gewesen?“

„Wenn die Pathe kommt!“

„Hat sie nicht jedesmal dies oder das an Ihnen auszusetzen? Zudem läßt das Gefühl nicht von mir, daß sie meine Widersacherin ist, Ihnen, wie besonders Frau Ballingen Ungünstiges über mich zutragen darf. Irre ich mich?“

Josephine erblaßte.

„Sie können es nicht leugnen!“ drängte Pranten, „und auch Sie glauben ihr, ich fühle das.“

„Sie – fühlen – das?“ fragte Josephine in einer Art von Bestürzung, welche die Anklage zu bestätigen schien.

„Nun ich darüber nachdenke,“ rief er noch erregter, „wird mir etwas ganz klar: Sie waren bereits in voriger Woche anders zu mir, als sonst, kürzer, weniger theilnehmend. In Ihrem Wesen liegt ein gewisses Auf-der-Hut-sein, jedenfalls irgend etwas,


Zu Felix Dahn’s: „Wie die Zeit vergeht“. II.

[681]

Wie die Zeit vergeht.
Ballade von Felix Dahn. Illustrirt von Paul Thumann.


I.

Am öden Strand, im öden Haus
Zieht Lenz und Winter ein und aus.
Großmutter, die ist immer krank:
Bald Gartenstuhl, bald Ofenbank;
Gern pfleg’ ich sie bei Nacht und Tag
Bei unsrer Dorfuhr gleichem Schlag.
Nur manchmal, schlief sie endlich ein,
Wird mir zu eng das Kämmerlein,
Und in den Garten schlüpf ich still,
Zu lauschen, ob gar nichts kommen will,
Nichts kommen, was stark und groß und neu.
Es rauscht das Meer, es duftet das Heu;
Es rauscht das Meer, es knistert der Schnee,
Und im Sommer und Winter winken die Sterne –
Doch immer das gleiche, das öde Weh.
Ach, ich möchte was Andres so gern, so gerne!
Heiß pocht mein Herz – weiß selbst nicht warum.
Doch der Weg bleibt leer und der Himmel stumm;
Mich verzehrt das Schweigen der Einsamkeit – –
Und unterdeß verblüht die Zeit.


'Zu Felix Dahn’s: „Wie die Zeit vergeht“. I.


II.

Da draußen im Boote, da fischt mein Mann
An dem Riff, wo ich immer ihn sehen kann.
Vom Garten aus, von der Geißblatt-Hecke;
Wie lieb’ ich die enge, die duftige Ecke!
Da schläft auf dem Gras, durch Blüthen bedeckt,
Mein Kind, bis der Kuß des Vaters es weckt,
Und da spinn’ ich und hüt’ es und sinne dazu,
Wie das Alles so ward. – O, Herzliebster Du!
Wie den Dorfweg herauf einst Abends er kam
Und mit lächelndem Gruße die Seele mir nahm;
An der Hecke dort hielt er und wies auf den Krug,
Den, mit Wasser gefüllt, von dem Brunnen ich trug,
Und ich reichte den Krug ihm über den Zaun
Und sah in sein Auge haselbraun,
Und er blieb im Dorfe seit jenem Tag;
Großmutters Gehöft und Nachen er pflag
Und gewann wie der Jungen das Herz der Alten.
Und wie hat er so treu die Liebe gehalten!
Da zieht er das Netz ein – ei wie schwer!
Jetzt zähl’ ich die Schläge des Ruders im Meer,
Und jeglicher Schlag führt ihn rascher mir her,
Und ich denke, nun sind es – wunderbar! –
Nun sind es schon volle sieben Jahr.
Und immer die gleiche Seligkeit,
Und unterdeß – wie fliegt die Zeit!


Zu Felix Dahn’s: „Wie die Zeit vergeht“. III.


III.

Und Winter ist es wieder worden:
Schon kränzt der Schnee mit weißen Borden
Des Kindes Hügel,
Und mit weißem Flügel
Streift er das schwarze Holzkreuz an,
Das meinem Mann
Ich habe gesetzt,
Da wo zuletzt
er sprang in’s Boot. – –
O, wär’ ich todt!
So geh’ ich immer auf und nieder,
Vom Kirchhof zu dem Strande wieder.
Von einem Kreuz zum andern
Geht nun mein müdes Wandern;
Der Weg wird mir doch nie zu weit –
Und unterdeß – nimmt ab die Zeit. – –




das Sie unsicher macht. Dann und wann finden Sie wohl noch den unbefangenen Ton von früher, doch gleich darauf, als wäre Ihnen etwas Unliebsames begegnet, suchen Sie durch eine ironische Wendung alles Freundliche, was Sie eben gesagt, in die Luft zu stellen. Warum das? Was haben Sie über mich erfahren, daß Sie glauben, sich zurückziehen zu müssen? Können Sie nun nachfühlen, warum ich die Empfindung nicht loswerden kann, dieser Besuch bei den Verwandten sei überhaupt nur ein Vorwand und Ihre Abreise – der Anfang vom Ende? Sie werden nicht zurückkehren – oder versprechen Sie es mir?“

„Daß ich zurückkehre?“ fragte sie, die Oberlippe ein wenig hebend, „ja, das kann ich wohl versprechen; eigentlich auch nicht.“

„Josephine!”

„Herr – Baron!”

„Fräulein Josephine, warum quälen Sie mich?“

„Ich wollte damit nur sagen,“ erwiderte sie tief befangen,

[682] „unsere Reise ist ja durchaus noch nicht abgemacht, und ich kann doch nicht zurückkehren, wenn ich gar nicht fortgegangen war.“

„Wäre das noch möglich?“ rief er mit einem wahren Jubelton. „Ist irgend ein Hinderniß in Aussicht? Welches Hinderniß? Haben Ihre lieben guten, süßen Verwandten kein Zimmer mehr übrig, verreisen sie selbst, war irgendwo ein Wolkenbruch? Mein Gott, davon sprechen Sie nun so nebenbei! Wie gleichgültig muß Ihnen Gehen und Bleiben sein!“

„Und wenn ich von vornherein für das Bleiben gestimmt hätte?“

„Sie? Sie könnten –“

Josephine, die im Laubgang hinter ihnen die nahenden Tritte der Cousine gehört, wandte sich um und rief, Pranten hastig unterbrechend:

„Nicht wahr, Adelheid, ich habe keine besondere Lust nach Sonneck zu gehen?“

„Leider! Darum wird wohl auch nichts daraus werden,“ antwortete diese, indem sie Josephinens Arm nahm.

„Warum leider?“ fragte Pranten nach einer Pause mißmuthig, „gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Sie schwärmten doch für Cleebronner Stillleben?“

„Das thue ich auch heute noch!“ versetzte Frau Ballingen. „Aber der Wunsch einer Abwechselung nach beinahe halbjährigem Daheimsitzen hat doch am Ende nichts zu Sanguinisches an sich, besonders da wir zur Weinlese eingeladen wurden und ich es liebe, gerade diese Zeit in meiner Heimath zu verleben. Solch ein Ausflug, bevor man sich zum Winter einkapselt, hat für mich ganz dasselbe Erfrischende, wie eine Fahrt in die Baumblüthe. Ja, ja! Ob auch Widerspruch auf beiden poetischen Gesichtern, ich kann nicht helfen; gesunder, kräftiger Herbstsegen ist mir sogar mehr werth, als die ganze Maienpracht.“

Josephine trat für den Frühling ein; Pranten unterstützte ihre Behauptungen; die Assessorin erzählte dagegen eine Menge anmuthiger Einzelheiten, die sie während der Weinlese schon erlebt; so zog sich das Gespräch länger und länger, bis es für die Damen Zeit wurde hinaufzugehen und Pranten scheiden mußte.

Er war höchst unzufrieden mit sich; nun die Thür hinter ihm in’s Schloß gefallen, fühlte er die Kraft, sogleich vor Josephine zu treten, um aller Ungewißheit ein Ende zu machen. Wahrhaft unbegreiflich erschien es ihm, daß er die seltene Gelegenheit so langen Alleinseins nicht besser benutzt hatte – um so unbegreiflicher, da er einmal schon das rechte, das erlösende Wort auf der Zunge gehabt. Daß er’s nicht ausgesprochen! Jetzt hätte er sich um dieses Kleinmuths willen verachten müssen, wenn – wenn solch ein Hangen und Bangen nicht so reizvoll wäre, daß es sich leicht daran weiter trägt! O, so glückselig leicht!

(Fortsetzung folgt.)




Ein Liebling des alten Berlin.

Iffland, der berühmte Director des einstmaligen Berliner „Nationaltheaters“, saß an einem grauen Herbsttage des traurigen Jahres 1807 in dem Arbeitszimmer seines neuerbauten Gartenhauses (Thiergartenstraße 29), das Haupt sorgenschwer gesenkt. Die Zeiten waren schlecht; die Kriegsläufe schmälerten den Theaterbesuch, und die Haltung von Publicum und Kritik, namentlich wie die letztere von Julius von Voß, Ludwig Robert und Anderen gehandhabt wurde, gegenüber der Leitung der Bühne machten diese nicht gerade zu einer erfreulichen Sache. Bei der Mißstimmung, die ihn Angesichts dieser Verdrießlichkeiten wieder einmal quälte, war es fast natürlich, daß Iffland ein genügend lautes Klopfen nicht vernahm und daher etwas verwundert aufschaute, als die Thür in Hast aufgerissen wurde und der beliebte Opernsänger Gern mit einem ganz absonderlichen Gebahren zu ihm eintrat. Nicht gerade liebreich und väterlich schob Gern seinen Sohn Albert vor sich her, sodaß der junge Mann mehr stolperte als ging und ihm die Röthe der Scham ob solcher Behandlung auf die Wangen trat.

Ehe Iffland noch zu fragen und aufzustehen vermochte, polterte der Vater, dessen Stimme heute weniger sanft und einschmeichelnd als auf der Bühne klang:

„Da haben Sie den Ungeratenen! Nun sehen Sie zu, ob etwas an ihm ist!“

Und als Iffland ob dieser Anrede aufschaute und Vater und Sohn fragend ansah, fuhr Ersterer immer heftiger fort:

„Es ist und bleibt himmelschreiend, förmlich lächerlich, wenn es nicht bittere Wahrheit wäre. Kostet mich der Mensch bereits ein Heidengeld, hat sein Examen als Feldmesser gut absolvirt – und nun, wo Alles glatt und eben vor ihm liegt, schleicht er sich jeden Abend heimlich wie ein Vagabond in’s Theater; er ist und bleibt auf’s Komödiespielen versessen; er will partout Schauspieler werden.“

„Und das möchten Sie hindern?“

„Gewiß! Wenn ich es nur könnte,“ polterte Vater Gern und stieß den Sohn noch einen Schritt näher dem Director zu. „Läßt er sich denn halten? Nimmt er Raison an? – Mag er denn in sein Unglück rennen! – Aber ehe er die Bretter betritt, muß er zeigen, weß Geistes Kind er ist, ob er einen Funken von Talent hat. – Nein! er soll sie gar nicht betreten! Lesen Sie dem Menschen die Leviten, sagen Sie ihm, daß er in sein Unglück rennt, halten Sie ihn ab von dem unsinnigen Schritt! Er kann, er darf nicht auf die Bretter!“

„Und um dies zu hindern, kommen Sie zu mir?“ rief Iffland jetzt, während ein eigenthümlicher Glanz von Hoheit und Freude in seinen Augen aufleuchtete. „Haben Sie vergessen, daß ich auch wider Willen der Eltern Schauspieler geworden bin?

Wollen Sie den Bock zum Gärtner stellen? Und dann, lieber Gern, ist denn Ihrem Gedächtnisse ganz entschwunden, daß Sie von Hause aus auch nicht für die Bühne bestimmt waren, daß Sie den Priesterornat mit der Kleidung des Schauspielers vertauschten?“

„Ja – das – das –“ stotterte der alte Gern, sichtbar ein wenig verlegen, während Iffland, schalkhaft lächelnd, fortfuhr:

„Sie wollen sagen, daß es mit Ihnen doch ein Bissel anders gewesen sei. Gewiß! Wir finden ja auch für unser eigenes Thun und Handeln immer eine Entschuldigung und bürden zuletzt dem Blute oder der Vorsehung alle unsere Sünden und Fehltritte auf. Sie sangen im Chor, in der Messe. Ihr Kurfürst vernahm Ihre Stimme, wurde durch dieselbe auf Sie aufmerksam – und der zukünftige Priester bildete sich zum Opernsänger aus. Nicht wahr? Es war eine herrliche Zeit im schönen Mannheim, im heiteren München! Sie gedenken jener Tage mit Freuden, wie ich. Haben Sie damals, oder jemals, sich nach Ihrem dumpfen Priesterseminar zurück gesehnt? – Und dann, lieber Gern: möchten Sie aus Ihrem Leben jene Stunden streichen, wo Sie an der Seite des großen Mozart standen, wo der hohe Meister Ihnen die Rollen einübte und Ihnen das kleine, in ein Stäbchen zusammenzulegende Pult verehrte[1], damit Sie auf dasselbe Ihre Noten beim Singen legen könnten? Wird nicht in Ihrem Hause jenes Pult noch wie ein Heiligthum aufbewahrt? Und Sie wollen dem Sohne wehren, in die Fußstapfen des Vaters zu treten? Sie sagen, Ihr Sohn Albert sei bereits wohlexaminirter Feldmesser. Haben Sie vergessen, daß wir im vorigen Jahre bei Jena und Auerstädt geschlagen wurden, und daß, wenn Napoleon so fort siegt, was der Himmel verhüten möge, es für uns bald nicht viel Land mehr zur Vermessung geben möchte? – Gemach also, lieber Gern! Will Ihr Sohn sich nun einmal der Bühne widmen, so werden Sie und ich ihn nicht davon zurückhalten können. Darum ist es besser, wir versuchen es mit ihm. Vorläufig also lassen Sie mir den jungen Mann einmal hier! Das Uebrige wird sich finden. Auf Wiedersehen, lieber Gern!“

Was war zu machen? Vater Gern ging – und der Sohn blieb. Iffland erkannte in ihm den vollen Ernst eines wahrhaft künstlerischen Dranges, nahm sich väterlich seiner an – und Albert Gern betrat in den „Indianern in England“ zum ersten Male die Bühne. Ein großes und besonderes Talent schien er nicht zu besitzen. Man verwendete den jungen Mann zumeist für kleine, ernste Rollen. Sein Fleiß aber und seine Ausdauer wurden bald anerkannt – und endlich, endlich war auch der große Wurf gelungen: Albert Gern wurde fest angestellt und zwar mit einem [683] Gehalt von monatlich zehn, sage: zehn Thalern. Es war ein überaus großes, glückverheißendes Familienereigniß. Der Tag mußte kolossal gefeiert werden. Ueberhaupt waren die damaligen Verhältnisse und Beziehungen in der Künstlerwelt ungleich harmloser und gemüthlicher als jetzt. Die Liebe zur Kunst verband das Künstlervölkchen jener Tage zu einer Familie, und der Meister hielt es nicht unter seiner Würde, selbst mit dem Jünger, mit dem Neuaufgenommenen freundschaftlich zu verkehren. Blume, Rebenstein, Wauer, Grua und wie sonst die jungen Mitglieder des Berliner Nationaltheaters hießen, wurden von den neuen Collegen zu dem denkbar einfachsten Abendessen eingeladen, eine kühle „Weiße“ aus der berühmten Quelle von Clausing wurde geholt – und das Göttermahl war fertig; das Uebrige that die bei solcher Gelegenheit immer heitere Stimmung. Auch der alte Gern hatte sich nunmehr mit den Bühnengelüsten des Sohnes ausgesöhnt.

Albert Gern fand mehr und mehr Beschäftigung und Anerkennung. Doch sein eigentliches Aufsteigen, die bedeutsame Wendung seiner Laufbahn trat erst im Jahre 1828 durch einen Zufall ein, nachdem das nur durch königliche Protection und Unterstützung geförderte „Nationaltheater“ wirklich in eine Hofbühne umgewandelt und Gern also zu einem königlichen Beamten mit entsprechendem Gehalte aufgerückt war, welches beiläufig zuletzt 1800 Thaler nebst zwei Thalern Spielhonorar betrug. Raupach, welcher damals das Repertoire zu beherrschen anfing, hatte sein bekanntes Lustspiel „Die Schleichhändler“ verfaßt. Am 3. März des genannten Jahres sollte das neue Stück zum ersten Male gegeben werden. Für Ludwig Devrient hatte der Dichter die bekannte Rolle des Barbier „Schelle“ bestimmt. Devrient aber erkrankte; in der Verlegenheit erhielt Gern die Rolle und erklomm damit den Gipfel seines Glücks. Ein unerkanntes, bisher auf den unrechten Platz gestelltes Talent feierte unerwartet seinen Sieg; in einem beinahe vierzigjährigen Schauspieler, den man bis jetzt als eine brauchbare und strebsame Mittelmäßigkeit geschätzt hatte, war plötzlich eine Kraft ersten Ranges zum Durchbruch gekommen, ein Komiker von überwältigender Wirkung. Das waren keine nachgeahmten und Anderen abgesehenen Handgriffe, keine an- und eingelernten Schablonenkünste, das war eine Originalschöpfung vom Scheitel bis zur Zehe, in jedem Laut und in jeder Handlung, in jeder Miene, Geberde und Bewegung so urwüchsig frisch und eigenartig, wie sie selbst seine nächsten Bekannten dem nüchtern und bescheiden einherwandelnden Gern nicht zugetraut hatten. Den ganzen Abend über erdröhnte denn auch das Haus von schallendem Gelächter, von donnernden Jubel- und Beifallrufen. Auch Raupach war entzückt, und der Schelle-Charakter durfte fortan in seinen Stücken nicht fehlen, mochte er ihn Schelle oder Till nennen.

Durch weitere, nicht minder glückliche Leistungen auf dem Gebiete des drastischeren Humors verbreitete sich Gern’s Ruhm denn auch bald; man zählte ihn zu den hervorragendsten Komikern seiner Zeit, und in einer langen Glanzperiode des Hoftheaters – damals der einzigen Bühne Berlins – war er mit Weiß und Louis Schneider eine der Hauptsäulen desselben im Schau- und Lustspiel, das ihm eine wesentliche Belebung und Anziehungskraft unter Anderem auch durch die zuerst von ihm ausgehende Vergegenwärtigung des heimischen Lebens in den verschiedensten charakteristischen Typen der localen Umgebung zu danken hatte. Mochte er als Schelle oder in einem anderen Charakter auf der Bühne erscheinen, selbst in einer der vielen kleinen sogenannten chargirten Rollen, die er so meisterlich durchführte, immer wurde das Publicum schon durch seine Gegenwart, die Art seines Kommens und Gehens, seines Sprechens und seines Schweigens in eine Stimmung heitersten Behagens versetzt. Jeder Berliner kannte den unwiderstehlich komischen Reiz, der für seine Lachmuskeln schon in dem eigenthümlich tiefen und etwas heiseren Ton dieser Stimme lag. Als man einst zum ersten Male eine neue Tragödie aufführte, die ein ungewöhnlich großes Personal erforderte, sodaß selbst die Solosänger der Oper sich zur Uebernahme von recitirenden Partieen herbeilassen mußten – wir glauben, es war „Columbus“ von Werder – wurde Gern die Rolle eines Bischofs zugetheilt. Der Vorhang erhebt sich; in feierlicher Sitzung, mit allen Zeichen ihrer Würde angethan, präsentiren sich die zahlreichen Mitglieder des heiligen Collegiums, um einen Tisch gruppirt. Die Kirchenväter sind in eifriger Debatte begriffen, und mit gespannter Aufmerksamkeit folgt man ihrem Für und Wider. Da erhebt sich ein reichgekleideter Bischof von hoher Gestalt und ehrfurchterweckendem Aussehen, mit dem Finger weist er erst schweigend auf ein vor ihm aufgeschlagenes Buch und beginnt dann seine Rede. Kaum aber hat er seinen Mund geöffnet, so geht durch den weiten Zuschauerraum des Opernhauses ein Murmeln der Ueberraschung; von den Gallerien und aus dem Parterre ertönt sogar vielstimmiges Gelächter, das sich durch alles Zischen und Protestiren nicht bezwingen lassen will. Der tiefe Ernst der Scene war gründlich gestört, und doch war es nichts als die Stimme Gern’s, welche dem Dichter wider den Willen ihres Inhabers diese Schädigung seiner Exposition bereitet hatte. Die Leute konnten nichts dafür, daß ihnen diese wohlbekannten und unverkennbaren Töne aus dem Munde des würdevollen Priesterfürsten noch viel komischer erschienen, als wenn sie von den Lippen eines Schelle oder Kalinsky kamen. So specifisch und eigenartig war die Wirkung dieses Künstlers, so fest war er durch die Natürlichkeit seines Spiels mit den Stimmungen seines Publicums verwachsen.

Besonders interessant trat in der Persönlichkeit Gern’s eine vielen bedeutenden Komikern eigentümliche Zwiespältigkeit des Wesens hervor. Wer ihn auf der Bühne gesehen, erkannte ihn bei einer persönlichen Bewegung nicht leicht wieder; so anspruchslos still und ernst, so scheu und fast linkisch unbeholfen bewegte sich der gewandte und lebhafte, niemals um drollige und muthwillige Schelmereien verlegene Spaßvogel der Bühne im Leben. Selbst bei Tische war er meist so in sich versenkt und in Gedanken verloren, daß er fragen mußte, ob er schon ein- oder zweimal Suppe gegessen und von welchem Braten er genommen hatte. Und dennoch war es hauptsächlich diese tief in seiner Natur begründete kindliche Unbeholfenheit, dieses scheinbar Eckige, was in seinen Glanzrollen, den gutmüthigen und schlauen Tölpeln, aus seinem Innersten heraus sich künstlerisch gestaltete und ihnen den Reiz einer überwältigenden Naturfrische und Wahrheit gab. So fern der spaßhafte Charakter seines Rollenfachs dem ernsten Privatmanne Gern lag, war es doch ein Hauptzug seines eigenen Wesens, der in seinen Bühnenleistungen zum hochkomischen Ausdruck gelangte.

Besonders ernst und schweigsam war Gern in größeren Gesellschaften; im Kreise näherer Freunde indeß konnte er wohl gesprächig und heiter sein. Um Einladungen zu einem Abend- oder Festessen zu entgehen, ließ er seine Gattin „unpaß werden“, so fatal waren ihm dieselben. Dagegen hatte er zwei stille Leidenschaften: die Blumen und das Kartenspiel. Für Kinder der Pflanzenwelt, seine Lieblinge verausgabte er namhafte Summen, und sein erster Blick am Morgen galt seinen Blumen, während er später am Tage stundenlang dem idyllischen Geschäfte der Gärtnerei oblag. Sein Garten – denn einen solchen hatte er hinter dem Hause, als er Friedrichsstraße 225 parterre wohnte – war sein Steckenpferd. Er besaß keine Kinder; seine Blumen mußten ihm dieselben ersetzen. Später, als in Berlin die Gärten hinter den Häusern meist verschwanden, um hohen Hinter- und Nebengebäuden Platz zu machen, und es daher Schwierigkeiten machte, eine Wohnung mit diesem angenehmen Zubehör zu finden, beschränkte er die Blumenzucht auf das Zimmer, bis Alter und Bequemlichkeit sie auch hier verschwinden machte. Die Leidenschaft für ein einfaches Kartenspiel jedoch blieb ihm bis an das Ende seiner Tage. An jedem Abend nach dem Theater wurde mit der Frau eine Partie Rappuse, später L’hombre, gespielt.

Gern’s Künstlerruhm beschränkte sich vorzugsweise auf Berlin; denn Gastreisen hat er nicht viel unternommen, wie man ja damals überhaupt noch nicht so viel auf Gastrollen gab, geschweige denn die große Tour über den Ocean machte, um mit Schätzen wieder heimzukehren. Die Kunst ging noch nicht so ausschließlich nach Brod. Sechszig Jahre hindurch blieb Gern ein besonderer Liebling der Berliner und man kann wohl sagen, daß er drei Generationen von Heimischen und Fremden an Hunderten von Abenden die Grillen und Sorgen aus der Seele gescheucht.

Und als für Gern die Stunde kam, abzutreten und jüngeren Kräften Platz zu machen, da erkannte er es mit dankbarer Rührung an, daß der König ihm sein volles Gehalt als Pension bewilligte. Er schickte sich an – es war im Jahre 1865 – seinen Dank schriftlich auszudrücken. Doch da hieß es: Majestät will Sie selber sprechen.“ Und der alte Gern – von den Berlinern freilich noch immer „der junge Gern“ oder „Gern Sohn“, zum Unterschiede von dem längstverstorbenen Vater, genannt – stand zur festgesetzten Stunde vor seinem Könige, dem jetzigen Kaiser, der ihn ungemein

[684] freundlich empfing und im Laufe des Gesprächs scherzhaft fragte: wie er nun seine Zeit hinzubringen gedenke, worauf der Angeredete ernsthaft entgegnete: „Im Wasserclub, Majestät!“ Durch diese Antwort erhielt der König Kenntniß von einer geschlossenen Gesellschaft, die bereits viele Jahre in Berlin bestanden und mehrere hundert Mitglieder, unter diesen Generale und hochstehende Beamte, zählte, die sich wöchentlich mehrere Male an bestimmten Abenden ihrem Locale an der Potsdamer Chaussee versammelten, um ihr L’hombre zu machen und sich an Wasser zu erquicken. Ob zu diesem ein Spritbeguß niemals vorgekommen, will Fama nicht verkünden. Der Club existirt nicht mehr, und auch Gern, der humorvolle Komiker, hat am 25. Februar 1869 seine irdische Laufbahn beschlossen. Noch ist sein Name und Verdienst nicht ganz vergessen. Wir sind vielmehr gewiß, daß viele Kenner des alten Berlin und seiner mancherlei Vorzüge sich freuen werden, diese Zeilen als eine Blüthe der Erinnerung auf das Grab des würdigen und ehrenhaften Mannes gelegt zu sehen, der es so ungemein ernst genommen hatte mit seiner heiteren und belustigenden Kunst.
F. Brunold.




Die zehnte Muse.
Ein Wort über die „fahrenden Leute“ des 19. Jahrhunderts von Wilhelm Anthony.


In einem Zeitalter, welches an Entdeckungen und Erfindungen, an Umgestaltungen und Neuerungen so reich ist, wie das unserige, darf es kaum überraschen, wenn auch im Reiche der Musen Erscheinungen auftreten, welche in den älteren Mythologien völlig unbekannt waren. Bis auf die Neuzeit glaubte man an neun Musen vollauf genug zu haben, und selbst das „Volk der Dichter und der Denker“ begnügte sich mit dieser Zahl, bis es plötzlich mitten im Kreis der freundlichen Schwestern einen Eindringling gewahrte, der zu uns gekommen war wie das „Mädchen aus der Fremde“ und ohne Nachweis seiner legitimen Zugehörigkeit zu dem Reiche der Helikoniden sich mit dreister Ungenirtheit die Gerechtsame der einen oder andern darunter aneignete. Diese „zehnte Muse“, deren cynisches Lachen mit greller Dissonanz in die liebliche Harmonie des schwesterlichen Chores einbricht und deren frivole Haltung zu der holden Keuschheit der anderen „erfindenden Göttinnen“ gar übel contrastirt, diese zehnte Muse könnte man nach jener Atmosphäre von Tabaksduft, welche von ihr unzertrennlich ist, schlechtweg: Nicotina nennen.

Schon in dem Anfang dieses Jahrzehnts begann der mit seuchenartiger Geschwindigkeit sich ausbreitete Cultus der zehnten Muse, deren Tempel der Volkswitz mit dem seltsamen Namen „Tingeltangel“ taufte, ein Cultus, dessen Muster ohne Frage in den „cafés-concerts“ der Franzosen zu suchen ist. Die Ueppigkeit des „Fünf-Milliardenjahres“ förderte in unheilvoller Weise die Einführung jener neuen „Musentempel“ in Deutschland. Heute sind sie – schlimm genug! – für manches – nicht blos großstädtische – Publicum fast zum Bedürfniß und der auf sittlicher Basis stehenden Bühne zur bedrohlichsten Concurrenz geworden, letzteres, indem sie an Stelle der lauteren Heiterkeit und ernsten Anregung, wie das Theater sie bietet, jenen Sinnenkitzel setzt, dem der große Haufe leider nur allzu zugänglich ist. Die Vertreter der Bühne haben die drohende Gefahr längst erkannt und Maßregeln zu deren Abwehr bereits getroffen. Aber diese Angelegenheit ist keine bloße Theaterfrage, und mit jenen Gegenmaßregeln der Bühnenvorstände ist’s nicht abgethan. Alle Schichten der Bevölkerung haben ein Interesse daran, haben die sittliche und nationale Pflicht, dazu mitzuwirken, daß die Pseudomuse Nicotina in Zucht genommen, daß sie wenigstens der Möglichkeit beraubt wird, durch Eingreifen in die Rechte der legitimen Künste im Dienst der Frivolität und Liederlichkeit sich ihr Publicum zu sammeln und das Blut unseres Volkes zu vergiften.

Um dies näher zu begründen, wird es nöthig sein, die Künste des Tingeltangel nach den einzelnen Ressorts aufzuzählen. Beginnen wir mit den durch weibliches Personal vertretenen, so präsentirt sich uns zunächst das Fach der „Schleppsängerinnen“, welche auch meisthin den vocalen Theil des Programms eröffnen und die undankbare Aufgabe haben, das überaus ungenirte Publicum durch den Vortrag irgend einer allbekannten Spree-Arie in delicatester Weise darauf aufmerksam zu machen, daß man in diesem großen und luxuriös ausgestatteten Saale nicht ausschließlich des Bieres wegen versammelt sei. Der curiose Name „Schleppsängerin“ ist von der Kleidung dieser Damen, der Schlepprobe, entnommen; sie erscheinen stets in dem traditionellen Concertcostüm und versuchen die meist schon herbstliche Reife ihrer Schönheit in diesem auch in den besten Kreisen sanctionirten Costüm bestmöglichst zur Schau zu stellen. Nicht selten finden wir unter ihnen Sängerinnen von der Bühne, welche wegen zu kurzen Athems oder Gedächtnisses der Theatercarrière Valet sagen mußten. Ihre Vorträge beleidigen nie das Sittlichkeitsgefühl, oft freilich das musikalisch gebildete Ohr ihrer Hörer. Aehnlich bewegt sich in den Grenzen eines anständigen, wenn auch nicht gerade genußreichen Concerts die „Salonjodlerin“, die echte oder „imitirte“ Tiroler Sängerin, die im Costüme ihrer Heimath erscheint und deren neue Lieder mit dem bekannten Jodlerrefrain zum Besten giebt. Die Dritte im Bunde ist die „Soubrette“. Sie singt nicht nur Possencouplets vom ältesten Datum, sondern bisweilen auch allerlei „pikante Nouveautés“. Man bezeichnet dieses Fach auch mit dem Namen der „deutschen Chansonette“, und hiermit eröffnet sich dann die lange Reihe der kurzröckigen, oft im zwanglosesten Debardeurcostüm erscheinenden Liedersängerinnen aus allen Nationalitäten, welche dermalen die deutschen Tingeltangel mit ihrem meisthin geradezu abscheulichen Gequieke (die Engländerinnen sind darin die ärgsten) erfüllen. Der Text ihrer Couplets ist oft recht schlimm – ein Glück, daß die Mehrzahl ihn nicht versteht! Was aber Alle in dem tabaksqualmigen Salon verstehen, sind die unzweideutigen Gesten und die frivole Mimik dieser Hauptpriesterinnen der zehnten Muse, welche in Schamlosigkeit des Costüms wie des Gesanges oft Alles überbieten, was jede ernste Kritik der Schule Offenbach’s zum gerechten Vorwurf gemacht hat. Ueber den philologischen Nonsens der Fachbezeichnung „Chansonette“ (d. h. Lied und nicht Liedersängerin) mögen sich die Herren Etymologen nebenher noch die Haare ausraufen.

Unter dem männlichen Personal des Tingeltangel sei zuerst der Liedersänger erwähnt, meist ein haarbuschiger Geselle mit mächtiger Brüllstimme, der zu arrogant war, um das ehrliche Brod eines Choristen zu essen, und auch zu faul, um der weit anstrengenderen Berufspflicht im Theater gerecht zu werden. Außerdem bezieht er ja im Tingeltangel dreimal so viel „Gage“. Dasselbe Lockmittel hat auch manchen seiner Collegen aus dem Fach der „Komiker“ der Bühne untreu gemacht, allein die Coulissenwelt wird sich über diesen Abfall wahrlich gern und leicht trösten. Wer Unterschlupf im Tingeltangel sucht, gehörte selten zu den respektableren Elementen der Bühne, sondern lief aus Faulheit der zehnten Muse in die allzeit offenen Arme. Ganz wie die Chansonette in ihren Extravaganzen entsittlichend wirkt, so auch meisthin der burleske Komiker, dessen Couplets oft die Grenzen des Erlaubten ebenso überschreiten, wie seine Pantomimen.

Im Fache der Komiker giebt es übrigens der Unterabtheilungen gar viele. Da ist zunächst die niedrigste Gattung: der „Kellerkomiker“, eine Sorte von Acteurs, die in den kleinsten unterirdischen Tingeltangellocalen ihr Dasein fristet und sich selten zu den größeren Etablissements „über der Erde“ versteigt. Weit nobler ist der „Tanzkomiker“, der manchen ausrangirten Ballettänzer in seinem Corps aufweisen dürfte; sodann der „Negerkomiker“ (meisthin Engländer oder Amerikaner), welcher uns oft in recht charakteristischer, wenn auch etwas parodistisch-übertreibender Weise kleine komische Genrebilder aus dem südstaatlichen Negerleben vorführt. Das Genre ist überaus zahlreich und hat etliche Vertreter, die in ihrer drastischen Komik geradezu Vortreffliches leisten, ohne irgendwie zu verletzen. Auch der „musikalische Clown“, der oft eine ganz respectable Virtuosität auf den verschiedenartigsten Instrumenten, Kamm und Stiefelknecht mit eingerechnet, an den Tag legt, nimmt einen anständigen Platz ein. Das Gleiche gilt von dem „Salonkomiker“, der uns bisweilen Levassoriaden[2] in [685] prächtiger Maske vorträgt und in seinem ganzen Benehmen den Schliff des ehemaligen Bühnenkünstlers besserer Kategorie zur Schau zu tragen pflegt – oft ein Lieblingssohn des Unglücks, der wider Willen in diesem trüben Fahrwasser einen zeitweiligen Hafen suchen mußte.

Das Alles ist nebst eingestreuten Orchesterpiècen (nur in kleineren Localen werden die Vorträge durch ein Piano begleitet) von dem überfüllten Hause mit jubelndem Beifall aufgenommen worden; fünf-, sechsmaliger Hervorruf hat die Vorträge der Komiker und insbesondere der Chansonette belohnt und man ist allgemach auf der „Höhe der Situation“ angelangt. Ein Extragericht muß nun das pikante Mal würzen. Ein Ballet! Terpsichore mag sehen, wie sie mit der neuen Schwester im Musenreiche fertig wird.

Eine Pause tritt alsdann ein. Man zündet eine neue Cigarette an oder studirt die Speisekarte. In den Logen nehmen die Damen die Besuche ihrer Freunde entgegen, und der zwanglose Verkehr erleichtert die Anknüpfung von Bekanntschaften, welche so manchem Jüngling den schönen Jugendtraum schrecklich genug zerstört haben. Das ist die dunkelste Schattenseite des Gemäldes. …

Das Concert beginnt auf’s Neue. Die Feierstunde in den Comptoirs ist angebrochen; man merkt es an dem zahlreichen Nachschub der neu angekommenen Besucher, unter denen oft so ein bartlos-rosiges Gesicht mit staunenden Kinderaugen auftaucht, das dem Liede der verführerischen „Loreley“ zu lauschen kam, die seines Lebens kaum ausgelaufenen Kahn – wer weiß wie bald! – untergehen lassen wird in dem Strudel des Sinnenrausches. Hörst du nicht in deinem Herzen wie ein leises Echo aus früheren Tagen die warnende Stimme des Vaters; siehst du nicht in deinem Auge das bekümmerte bleiche Gesicht der längst geschiedenen Mutter?! Ach, diese guten Genien halten hier nicht Stand! Mit Sang und Klang und berückender Lust steigt vor dir eine neue Welt des Genusses auf und lächelnde Dämonen treiben den guten Genius deines Lebens höhnend von deiner Seite. …

Den zweiten Theil des Concertprogramms eröffnet eine sogenannte „Speciatität“, ein künstlerisches Unicum. Die stumpfe Schaulust, welche bunte Eindrücke gedankenlos empfangen will, findet hier vollauf ihre Rechnung, und gar Erstaunliches wird von der zehnten Muse oft in diesem Genre geboten.

Nicht blos die altbekannten Gaukeleien der Taschenspieler und Equilibristen, die uralten Vorführungen optischer Nebelbilder und dummer Pantomimen mit gliederverrenkenden Harlequins, sondern auch allerlei wirklich interessante Sehenswürdigkeiten werden hier producirt.

Und hier kommen wir auf ein Capitel von culturhistorischem Interesse. All die fragwürdigen Gestalten und dunklen Existenzen, die aus der brodelnden Tiefe jedes socialen Großstadtlebens als Blasen an die Oberfläche treiben, mögen dem psychologischen Roman jeweilig recht interessante Modelle liefern, im Uebrigen aber sind die Leistungen dieser leichtfertigen Geschöpfe, welche ihre Menschenwürde der zehnten Muse opferten, sehr überflüssiger Art. Anders verhält es sich dagegen mit jener Classe von „fahrenden Leuten“, die sich zumal in der „Gymnastik“ und in den damit verwandten Künsten produciren. Hier haben wir es mit sogenannten Künstlerfamilien, mit geschlossenen Sippen zu thun, die gar oft einen großen und regelrechten Stammbaum aufweisen können und ihre Kunstfertigkeit von Vater auf Sohn, von Sohn auf Enkel vererben. Interessant ist dabei die Thatsache, daß alle diese Ressorts der rein körperlichen Production, welche Kraft und Gewandtheit erfordern, fast ausschließlich ihre besten Vertreter aus dem englischen und amerikanischen und endlich aus dem deutschen Volke beziehen. Die verweichlichten romanischen Rassen fehlen hier; nur selten sehen wir einen Franzosen die waghalsigen Luftsprünge an dem hoch in der Luft fliegenden Trapez vollführen, selten einen Italiener oder Spanier die prächtigen Turnübungen produciren, welche man in der Kunstsprache des Tingeltangel „die Parterre-Arbeit“ nennt.

Vor drei bis vier Jahrzehnten – in unserer Jugend – sahen wir all diese Leute gar bescheiden und oft recht ärmlich auf freier Wiese oder offenem Marktplatze die Messen und Kirchweihfeste illustriren – „public arbeiten“ heißt dafür der Fachausdruck – und man nannte ihre Productionen „brodlose Künste“; heutzutage präsentiren sie sich in den elegantesten Etablissements, welche die zehnte Muse in unseren Hauptstädten besitzt, und beziehen ebenso große Gagen wie Heldentenor und Primadonna unserer ersten Hofbühnen. In diese Kunstgattung hat sich gleichsam der letzte Rest der gymnastischen Festspiele des Alterthums geflüchtet, welche in das Mittelalter hinübergerettet wurden und bei allen Hoflagern und großen Festlichkeiten des Thrones wie des Altars einen wesentlichen Theil der „Schau-Lustbarkeiten“ bildete. Auch der moderne Circus hat diesen Productionen längst seine Thore geöffnet, und wir gestehen offen unser Behagen an dieser Art Kunstleistungen, soweit sie nicht mit überwiegender Lebensgefährlichkeit verknüpft sind. Es ist ein schönes Schauspiel und wahrlich kein unsittliches, wenn diese herrlich gebauten Athletengestalten mit selbstbewußter Riesenkraft und bewundernswerther Beherrschung jeder Muskel ihre kühnen Productionen ausführen. Es ist die edle Turnkunst in ihrem Zenith, und deren Schaustellung kann, auf die Jugend zumal, nur guten Einfluß üben.

Das Privatleben der meisten dieser Künstler ist ein sehr erfreuliches. Sie halten sich nüchtern, reinlich und anständig, sind sparsam und führen fast alle ein wackeres und glückliches Familienleben. Was man von der „barbarischen Dressur der Kinder“ in diesen Kreisen erzählt, beruht meisthin auf Unkenntniß der wirklichen Verhältnisse. Die Kleinen werden freilich nicht verhätschelt, aber liebende Elternsorge überwacht ihre Uebungen, und das zärtlichste Verhältniß herrscht fast durchgehends in diesen Familienkreisen. Ganz besonders solid, sparsam und wacker in jeder Hinsicht hält sich der amerikanische Künstler und kehrt, wenn das Unglück ihn nicht vor der Zeit dem „Circustod“ weiht, meistens als „rangirter Mann“ in seine Heimath zurück, um dort ein bürgerliches Gewerbe in Ruhe zu treiben.

Die größeren dieser Künstlertruppen (sie beziehen oft zwei- bis dreitausend Mark monatlichen Gehaltes) bilden nicht blos die eigenen Kinder, sondern auch „Lehrlinge“ aus, die anfangs nur freie Kost, später aber, je nach ihren Leistungen, Antheil an der Gage erhalten. Der Häuptling der Truppe hat die vollste Autorität des Familienvaters. Fast täglich wird mehrere Stunden hindurch „geübt“, wobei stets die Aelteren den Jüngeren Unterricht ertheilen, sodaß förmliche Classen in diesen Exercitien entstehen. Die Gymnastik theilt sich in vier Ressorts; zwei davon, und zwar die vornehmsten dem Range nach, haben wir bereits erwähnt: die „Luft-“ und die „Parterre-Arbeit“; das dritte Ressort ist das der „Jongleure“ und das vierte das der „Equilibristen“.

In diesen beiden letztern haben die Japanesen fast unbestritten die erste Stellung. Der „Jongleur“ diente im Mittelalter dem Troubadour zur Begleitung, dessen Orchester er bildete. Im Laufe der Zeiten hat der Jongleur völlig „umgesattelt“; er spielt nicht mehr die Flöte, sondern – Fangball. Seine Objecte sind Messingkugeln, Flaschen, Eier, Teller, und wenn er es bis zur höchsten Stufe bringen will, haarscharfe Messer und glühende Feuerbrände, die er mit erstaunlicher Geschicklichkeit von einer Hand in die andere wirft, indeß sein Körper alle erdenklichen Stellungen annimmt, um die Schwierigkeit zu erhöhen.

Der „Equilibrist“ ist der Künstler des „Gleichgewichts“ und producirt die Balancirkünste entweder an leblosen Sachen oder an sich selbst, indem er auf rollender Kugel, die er mit seinen Füßen dirigirt, allerlei Kunststücke vollführt. Auch das „Drahtseil“, welches für die körperliche Balance das schwierigste Terrain bilden soll, wird dem „Equilibristen“ oftmals zum besonderen Schauplatz seiner Thätigkeit. Die beiden letztgenannten Kategorien setzen jahrelange, mühselige Studien voraus, und es ist für den Anthropologen sicher interessant, daß die Orientalen sowohl durch ihre größere innere Ruhe, wie zugleich durch ihre überlegene äußere Geschmeidigkeit in diesen Künsten die occidentalischen Collegen weitaus übertreffen. Dieser Vorrang wird von den Letzteren sogar dadurch anerkannt, daß die europäischen Jongleure, die sich halbwegs etwas fühlen, diese Kunststücke fast immer in japanesischem Costüm und in japanesischer Gesichtsmaske produciren. In Japan bilden diese Künstler eine eigene Kaste, der man die volle bürgerliche Ehre zuerkennt.

Erst der moderne Tingeltangel hat den Gymnastikern „feste Engagements“ verschafft. Das armselige und unstäte Zigeunerleben, welches diese Leute ehedem führten, hat bei den tüchtigeren Gesellschaften daher fast völlig aufgehört. Eine gute Truppe wird von den Unternehmern immer auf mindestens vier Wochen fest engagirt, oft auf die doppelte Zeit. Dadurch war es für die solideren Elemente dieser Kaste möglich, auch im socialen Leben festere Wurzel zu schlagen, zumal ihre geordneteren Geldverhältnisse [686] das früher nur allzu begründete Mißtrauen gegen die „Gaukler und Feuerfresser“ allgemach beseitigten. Noch günstiger sind meistens die Engagements im Circus, der oft Jahre lang ein und dieselbe Künstlertruppe mit sich führt.

Damit wäre ungefähr das Repertoire des Tingeltangel erschöpft. Das Ergebniß unserer Zusammenstellung ist, daß neben einer Anzahl anständiger, in ihrer Thätigkeit berechtigter Elemente als Priester und Priesterinnen der zehnten Muse andere auftreten, welche die Aeußerungsmittel wahrer Kunst im Dienste des gemeinsten Sinnenkitzels mißbrauchen. So wenig man ein Recht hat, die Leistungen der ersten Kategorie zu unterdrücken und sie dem Publicum, welches danach verlangt, vorzuenthalten, so zweifellos hat die öffentliche Sittlichkeit, die polizeiliche mit Hülfe der Gesetzgebung, wie die durch das Publicum repräsentirte, die Pflicht, dem Skandal, der sich mit diesen anständigen Leistungen verbündet, ein Ende zu machen.

Das Bündniß ist übrigens so wenig neu, wie es die verschiedenen Elemente des Tingeltangel sind. Die „fahrenden Leute“ des Mittelalters, welche so lange unehrlich waren, vereinigten eben diese Elemente. Das „fahrende Fräulein“ war in jener Zeit nicht mehr werth, als die weibliche Halbwelt des Tingeltangel. Nur daß dieser die allmählich durch Jahrhunderte in Auflösung gerathenen Elemente wieder wie in einem Brennpunkte sammelt und zugleich zum ersten Male den kecken Versuch darstellt, sie sozusagen gesellschaftsfähig zu machen.

Die Bezeichnung „Tingeltangel“ ist eine gar curiose. In Frankreich heißen diese Etablissements „cafés-concerts“, in England „music hall“; von dorther kann also der Name nicht importirt sein. Wir halten das Wort „Tingeltangel“ für ein onomatopoietisches, das heißt für ein klangnachahmendes, das den in ihm enthaltenen Begriff lautlich darzustellen sucht und höchst wahrscheinlich dem Refrain eines älteren dänischen Liedes entnommen ist, welches man in den Hafenstädten Scandinaviens und Norddeutschlands schon vor zwei Jahrzehnten sang. Dort, in jenen üppigen Häfen der Nordmarken, dürften übrigens die ersten Anfänge des deutschen Tingeltangel zu suchen sein, speciell auf dem berühmten „Hamburger Berg“, wo ich schon in dem Anfang der fünfziger Jahre den ersten flüchtigen Einblick in diese „Concerts“ gewann. Den feineren Schliff und die höhere Ausbildung gaben ihnen dann zweifelsohne später die französischen Vorbilder, deren Namen sogar jetzt fast in allen größeren Städten der alten wie der neuen Welt für derlei Etablissements ausgeborgt zu sein scheinen. Die „Alcazars“ finden wir auf russischen wie auf amerikanischen Tingeltangel-Anzeigen. Allerhand Kurzweil wurde durch Sang und Klang wie durch Tanz in den größeren Schänken Londons, Stockholms, Kopenhagens und Antwerpens von altersher dem müßigen Schiffsvolk geboten, und schon die fahrenden Leute des vorigen Jahrhunderts fanden in diesen Etablissements für ihr Handwerk einen goldenen Boden. Daß es dabei nicht immer ganz ehrbar zugegangen, wird von verschiedenen Chronisten berichtet und durch manchen Polizei-Erlaß aus jener Zeit bestätigt. Die gymnastischen Künstler producirten sich übrigens in den Trinkstuben nicht.

Die größten und elegantesten Tempel der Muse Nicotina in Deutschland finden sich in Berlin, Wien und Hamburg, doch haben jetzt leider auch die Mittelstädte schon solche Etablissements, und diese werden dort dem Theater natürlich um so gefährlicher, sodaß manche Bühne niedrigeren Ranges den „Specialitäten“ des Tingeltangel ihre Thore öffnen mußte. Leider greift dieses Unwesen auch auf den Bühnen der Residenzstädte in letzter Zeit um sich, sicherlich eine der traurigsten Folgen der verderblichen Concessionsfreiheit dieser Institute. Eine nicht minder traurige ist, daß die Tingeltangel dem Theater durch ihre höheren Gagen-Angebote manche gute Kraft entziehen, zumal Soubretten und Komiker. Einige Tingeltangel geben sogar ganze Komödien und haben dafür ein completes ständiges Schauspiel-Personal. Sie bilden im Programm nur das Füllsel, und das Publicum wird durch diese Herabwürdigung unwillkürlich gegen die Leistungen der Schauspielkunst gleichgültiger. Die unheilvollsten Nachwirkungen in der Geschmacksverirrung sind unausbleibliche Folgen der unglückseligen Vereinigung so total widerstrebender Kunstleistungen in ein und demselben Rahmen.

Wenn der Spesen-Etat eines Etablissements einen Gradmesser für dessen Rentabilität abgeben darf, so können wir von ihm bei den meisten größeren Concertlocalen der zehnten Muse auf einen großen Gewinnüberschuß schließen. Der Gagen-Etat soll für das Künstlerpersonal allein in einzelnen dieser Locale in Wien und Berlin über zehntausend Mark pro Monat auswerfen, und die großen Räumlichkeiten gestatten selbst bei anscheinend billigem Entrée vollauf die Deckung dieser Unkosten. Der geschäftliche Verkehr wird durch eigene Agenturen vermittelt, die selbst außerhalb Europas ihre Verbindungen haben und nicht selten direct aus Amerika, Japan oder China eine neue „Specialité“ einführen. Selbst für die geringeren Fächer sind die Gagen ungleich höher als bei dem Theater; eine Soubrette, die wegen absoluten Talentmangels auch bei kleineren Bühnen kaum ein Engagement erhalten könnte, bezieht als „Chansonette“ eine Monatsgage von dreihundert Mark und darüber, wenn sie nur über die „äußeren Requisiten“ verfügt, deren das pikante Debardeurcostüm nicht entrathen kann. Die sonstige Gegenleistung für jenen Gehalt besteht in dem Vortrag von zwei kleinen Liedern pro Abend, und das Repertoire einer solchen „Sängerin“ heißt bereits ein großes, wenn es deren zehn oder zwölf umfaßt.

Es liegt nahe, daß unter solchen Umständen der Andrang zu diesem Fach – zumal in den größeren Städten – ein sehr bedeuteter ist. Zwei Monate Gesangsunterricht, zwei hübsche Costüme und – die Chansonette ist fertig. Je kürzer das Röckchen, je größer die Gage! Die ehrwürdige Harfenistin von ehedem, die in unserer Jugend auf allen Messen und Märkten ein „obligatorisches“ Uebel jedes öffentlichen Locals war und hinter dem hohen Instrument so gravitätisch in der verschossenen Seidenrobe thronte, würde sich neben der Chansonette etwa wie Urväterhausrath neben einem amerikanischen Schaukelstuhl moderner Construction ausnehmen. In der That haben die alten Sängergesellschaften auch fast überall dem Tingeltangel Platz gemacht; ob auf dem „Hamburger Berg“ noch heute die einst weit und breit berühmten (!) Harfenisten-Familien seßhaft sind, vermögen wir nicht zu verkündigen.

Caeterum censeo, Carthaginem esse delendam“ – „im Uebrigen meine ich, daß Carthago zerstört werden müsse,“ so schloß einst der hartnäckige alte Römer jede Senatssitzung. Und ebenso hartnäckig sollte die öffentliche Meinung Tag für Tag wiederholen: „Fort mit den Auswüchsen des Tingeltangelwesens – in die rechten Schranken mit dieser Aftermuse, ehe sie noch mehr Unheil anrichtet!“ Und daß dieser Wunsch in Erfüllung geht, dazu helfe Vater Apollo mit allen Musen, die ihren legitimen Ursprung nachweisen können ohne gefälschtes Taufzeugniß!




Gerechtigkeit in Rom.

Erinnerungen eines einstigen Schlüsselsoldaten.

(Fortsetzung.)


Luigi Boticelli hatte außer dem gleichen drückenden Joch der römischen Herrschaft mit seinen Nachbarn nur wenig Gemeinsames; denn er war nicht aus der Gegend, und seine Lebensanschauung stand in vollem Gegensatze zu derjenigen der Bauern. Seine Familie stammte aus dem Florentinischen und zählte den gemüthvollen Meister der Renaissance ihres Namens, Lippi’s, Gozzoli’s und Fra Bartolomeo’s Zeitgenossen, zu ihren Ahnherren. Vor Generationen war ein Vorfahr nach der Provinz Frosinone übergesiedelt, wo er sich in dem Städtchen Anagni niedergelassen hatte; dort blieb seine Nachkommenschaft seßhaft, dort wurden auch Luigi und seine Geschwister geboren. Nach des Vaters Tode hatte der ältere Bruder die ererbte Handlung fortgeführt, während Luigi mit seinem kleinen Erbtheil einen einträglichen Viehhandel betrieb. So führten sie schlecht und recht ihre Geschäfte, bis die Zeit von 1848 auf 1849 kam, das Priesterregiment wankte und für eine kurze Zeit der Republik weichen mußte. Luigi wie sein Bruder waren den neuen Ideen zugethan und begrüßten daher mit Freuden die Umwälzung, aber keiner ergriff activ Partei gegen [687] die alte und für die neue Regierung – der ältere nicht, weil er viel zu sehr vorsichtiger Handelsmann war, um sich bloßzustellen, Luigi aber, weil er sich gar nicht im Lande befand, sondern in Geschäften in Oberitalien weilte.

Da brachte der Pfarrer von Anagni großes Unglück über seine Gemeinde. Ein fanatischer Anhänger der päpstlichen Regierung, bekämpfte er die neue Ordnung der Dinge mit allen Mitteln; von der Kanzel herab hetzte er gegen die Republikaner als vogelfreie Feinde des Glaubens, forderte unter Verheißung himmlischen und materiellen Lohnes zur Ermordung der Triumvirn und Regierungsagenten auf und verfolgte mit Hülfe der von ihm herbeigeführten neapolitanischen Truppen alle Freidenkenden auf das Leidenschaftlichste. Diesem verrätherischen Treiben machte die Regierung der Republik indeß bald durch energische Maßregeln ein Ende: sie ließ den wüthenden Pfaffen einziehen, der durch das über ihn eingesetzte Kriegsgericht zum Tode verurtheilt ward.

Als nun die Republik mit Hülfe Frankreichs erwürgt worden war und die wuthschnaubende Reaction ihr barbarisches Rachewerk begann, indem sie das arme Volk die wenigen freien Augenblicke mit gesteigerter Sclaverei und mehr als anderthalb tausend Henkersopfern bezahlen ließ, da mußte natürlich auch die „sacrilegische Ermordung“ jenes Pfaffen exemplarisch gesühnt werden. Und da die Mitglieder jenes Kriegsgerichts den als Henker fungirenden „hochwürdigen Inquisitoren“ unerreichbar waren, so hielt man sich an die gänzlich unschuldigen Zeugen, die vor dem Kriegsgericht die incriminirten Handlungen des Pfaffen hatten constatiren müssen und die man nun als „Anstifter des Mordes“ theils auf’s Schaffot, theils auf die Galeere schickte. Auch der ältere Boticelli und sein Sohn wurden zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurtheilt. Aber an dieser Rache hatten die milden Priester-Richter noch nicht genug; nach altbiblischer Praxis mußte auch die ganze Sippe der „Verbrecher“ mit büßen.

Als der mit allem Vorgegangenen unbekannte Luigi, der nach der Wiedereinsetzung des Papstregiments absichtlich mit der Rückkehr gezögert hatte, bis er ruhigere Zustände anzutreffen glaubte, heimkehrte, ward auch er, ohnedies als Freigeist bekannt, gefaßt und über Jahr und Tag im Kerker gehalten. Inzwischen ging ihm sein Geschäft zu Grunde; sein Weib starb aus Gram, und seine Gesundheit ward durch seelisches Leiden und körperliches Entbehren untergraben. Endlich war er frei; auch die gewissenlosesten Richter hatten ihm keine Schuld nachzuweisen vermocht. Aber da die Regierung seine Rache fürchtete, wies sie ihn unter vagen Vorwänden aus dem Lande.

Luigi ergriff den Wanderstab und zog mit seinem Töchterchen bettelarm in die Fremde. Aber obgleich ihm keine Arbeit zu hart war, wollte es ihm nicht glücken, sich und sein geliebtes Kind auskömmlich durch’s Leben zu bringen, und Beide führten länger als ein Jahrzehnt ein entbehrungsvolles Leben, bis Boticelli von einem Verwandten das Gütchen am Bolsenersee erbte, aus dessen Erträgnissen nun Vater und Tochter verhältnißmäßig sorgenlos lebten – von der Regierung stillschweigend geduldet.

Das Andenken an alles Erlittene, an sein vor Jammer gestorbenes Weib, den lebendig begrabenen Bruder und Neffen, der Kummer über das Elend und die Aussichtslosigkeit der Zustände – all das hatte Boticelli verbittert und verschlossen gemacht. Dazu wußte er sich von den zwar unzufriedenen, aber abergläubischen, beschränkten und gedankenlos dahinlebenden Bauern nicht verstanden. Hätten er und seine trotz ihrer Jugend gleichgesinnte Tochter aber auch nicht schon aus diesen Gründen ein Bedürfniß nach Zurückgezogenheit gefühlt, so hätte sie schon die Polizei, unter deren strenger Aufsicht sie standen und die jedes freie Wort, jede Verbindung mit anderen Verdächtigen zu neuen Verfolgungen benützt hätte, dazu gezwungen.

Trotz der Einsamkeit indessen, in welcher der „gelehrte“ Boticelli – wie ihn die Bauern, denen er allerdings an Verstand, Kenntnissen und Erfahrungen weit überlegen war, hießen – und seine Tochter lebten, hatte es der letzteren an Freiern keineswegs gefehlt; denn Domenica war von großer Schönheit, und von ihrer Rührigkeit zeugten Haus und Feld, die besser gehalten waren, als man es weit umher kannte. So waren denn manche Bursche und selbst vermögliche Pächter auf Freiersfüßen zu dem Häuschen am See gewandert, aber freilich nur, um mit abschlägigen Antworten wieder von dannen zu ziehen. Denn Domenica, die von Kindesbeinen an in des Vaters Ideenkreis eingeweiht worden war und ihren Vater hochschätzte, hatte keinen Mann kennen gelernt, der ihr neben ihm so achtenswerth erschien, daß sie seine Lebensgefährten hätte sein wollen. –

Solcher Art waren unsere neuen Bekannten.

Anfänglich zeigte sich freilich sowohl Boticelli wie seine Tochter zurückhaltend gegen uns – waren wir doch Werkzeuge der Regierung, von denen kaum Gutes zu erwarten war. Aber in dem Maße, in welchem wir gegenseitig unsere Anschauungen kennen lernten, traten wir einander näher, und wir Freunde suchten öfter und öfter das Landhaus auf, in welchem wir stets freundlich empfangen wurden.

Nicht am wenigsten zog uns die schöne Domenica an, deren gewinnendes Wesen uns Alle erfreute, unsern Freund Werner aber vollständig bezauberte. Auch Domenica’s Auge ruhte mit Wohlgefallen auf der markigen Gestalt des jungen Westfalen, und bald umschlangen Beide süße, beglückende Bande. Wohl sprachen sie von ihrem Glück viel weniger, als es sonst Liebende thun, denn die Geheimnisse der melodischen Sprache Dante’s und Boccaccio’s hatten sich Werner nur in bescheidenem Maße erschlossen, und Domenica vermochte gar von dem Idiom ihres „Guarino“ kaum den Namen auszusprechen; aber auch schweigend genossen sie das Glück zarter Liebe in vollen Zügen.

Als unsere häufigen Besuche bei Boticelli in der Gegend bekannt wurden, wuchs die Mißstimmung gegen ihn, besonders aber fühlten sich die einst abgewiesenen Freier Domenica’s dadurch verletzt, daß ihnen ein Fremder vorgezogen worden. Am aufgebrachtesten zeigte sich ein gewisser Castelvetri, ein häßlicher, tückischer Kerl. Zu Allem fähig, nur zu keiner ehrlichen Arbeit, war er, nachdem er alles Mögliche getrieben und seines Bleibens nirgend gewesen als eine zeitlang im Zuchthaus, wohin ihn seine Sicherheitsgefährlichkeit gebracht, unter die Sbirren (Gensd’armen) gegangen, wo für Leute seines Schlages der passende Ort um eine Carrière zu machen war. Die allgemeine Verachtung, welche auf seinem Schergenamt ruhte, genirte ihn wenig; war er doch nun der Mächtige, der die ihm Widerstrebenden unter seinen Willen beugen und sie nach Herzenslust schinden und drücken konnte, was er denn auch selbstverständlich nicht versäumte. Dieses elenden und rachsüchtigen Charakters halber, sowie wegen seiner ausgedehnten Macht, zu schaden, war Castelvetri in der ganzen Gegend gefürchtet, was aber Domenica doch nicht hatte abhalten können, seine ungestümen Bewerbungen energisch abzuweisen.

Als nun der Sbirre, dessen Leidenschaft durch seinen Mißerfolg nur noch stärker geworden war, von Werner’s Verhältniß zu Domenica vernahm, gebärdete er sich wie rasend, stieß die wildesten Verwünschungen und Drohungen aus und sann Tag und Nacht auf Rache an Domenica und ihrem Vater, während er sich gegen uns hündisch kriechend zeigte. Da die römischen Sbirren sich fast jede Gewaltthätigkeit gegen das Volk ungestraft erlauben durften und Castelvetri das Schlimmste zuzutrauen war, so war die äußerste Vorsicht und Wachsamkeit für unsere gefährdeten Freude in dem einsamen Haus am See nöthig. Wir sprachen, besonders gelegentlich unserer zahlreichen Patrouillen, noch öfter als bisher und zu jeder Tageszeit bei Boticelli vor, um ihm unsern Schutz gewähren zu können, außerdem aber nahm Boticelli einen entfernten Verwandten, Namens Ambrogio, als Knecht in’s Haus. So glaubten wir unsere Freunde vor der Rachsucht des Gensd’armen geborgen, ließen indeß in unserer Aufmerksamkeit keine Verminderung eintreten.

Eines Nachts kamen wir, von einem ermüdenden Streifzug durch die Berge zurückkehrend, in einiger Entfernung an Boticelli’s Haus vorbei, dem wir jedoch, sowohl der späten Nachtstunde wie unserer Ermüdung wegen, die uns den Umweg scheuen ließ, keinen Besuch abstatten wollten; wir marschirten deshalb trotz lebhaften Widerspruches von Seiten Werner’s direct auf Montefiascone los. Eben waren wir daran, in eine Schlucht einzutreten, in der das Haus am See unserer Wahrnehmung entzogen gewesen wäre, als von dorther plötzlich der gellende Angstschrei eines Mannes ertönte, dem weibliche Hülferufe und verworrene Stimmen folgten. Im Flug war all unsere Ermattung verschwunden, und wir eilten, so schnell es die Dunkelheit und der von Wurzeln und Schlingpflanzen überwachsene Weg gestattete, auf Boticelli’s Besitzung zu.

Da – als wir gerade dicht vor der Hausthür angelangt waren – ward dieselbe von innen gewaltsam aufgerissen und unsern Augen bot sich ein Bild, das uns einen Augenblick erstarren machte.

[688] Boticelli, geknebelt und blutend, ward von zwei Strolchen von Grenzwächtern trotz seines kräftigsten Widerstandes unter Flüchen und Säbelhieben aus dem Hause gestoßen, wenige Schritte von ihm aber rang Domenica in verzweifeltem Kampfe mit dem vor wüster Leidenschaft glühenden Sbirren um ihre Ehre.

„Warte Du Hund,“ höhnte einer der sauberen Spießgesellen Castelvetri’s, „wir werden Dich und Deine lumpige Tochter lehren, uns zu verachten und den verfluchten Tedeschi nachzulaufen. Du sollst die Macht der Sbirren kennen lernen.“

Wir hatten genug gesehen und gehört, um zu wissen, welche Schurkerei hier vollbracht werden sollte, und in wenig Augenblicken befanden sich Boticelli und Domenica in Freiheit, während der wuthschnaubende Castelvetri und einer der Grenzwächter gebunden am Boden lagen; der Dritte des sauberen Kleeblattes war entwischt. Nachdem wir die beiden Gefangenen in einer Kammer untergebracht hatten, um sie, und namentlich Castelvetri, der Rache Boticelli’s zu entziehen, untersuchten Einige von uns das Haus nach dem verschwundenen Knecht, der nach Aussage Boticelli’s jenen von uns vernommenen Schmerzensschrei ausgestoßen haben mußte. Nach langem Suchen fanden wir den Armen endlich seitwärts der Hausthür im Freien, aber in welchem Zustande! Beim Oeffnen der Thür von dem voran eindringenden Castelvetri durch einen Stiletstich in die Brust schwer verwundet, war er blutüberströmt und athmete nur noch schwach. Kurze Zeit, nachdem Boticelli und ich durch Fragen den Sachverhalt festgestellt hatten, starb der Unglückliche unter den pflegenden Händen Domenica’s.

Nachdem wir unsere geretteten Freunde nach besten Kräften beruhigt und ihnen baldige Wiederkehr sowie jede in unserer Macht stehende Hülfe versprochen hatten, marschirten wir nach Montefiascone, wo wir die beiden Verbrecher dem Gefängniß überlieferten, um nächsten Tages bei den Behörden die nöthigen Meldungen zu machen. Der Thatbestand ward leicht über allen Zweifel festgestellt, da unsere gleichlautenden Aussagen auch von dem gefangenen Grenzwächter bestätigt wurden, der, als von Castelvetri verführt, durch ein offenes Geständniß sich Straffreiheit zu sichern suchte. Trotzdem verfuhr die Behörde gegen den Sbirren nur widerwillig und nahm in jeder nur erdenklichen Weise für ihn und gegen seine Ankläger Partei, besonders gegen Boticelli; war Castelvetri doch ein brauchbares Werkzeug in ihren Händen, dem man solche „Kleinigkeiten“ schon nachsehen konnte. Und nur dem energischen Auftreten unseres über solche Mißwirtschaft empörten Commandanten beim Bischof als oberstem Verwaltungschef war es zu danken, daß Castelvetri nicht wieder in Freiheit gesetzt, sondern nach Rom abgeführt wurde, um dort angeblich vor Gericht gestellt zu werden.




3.

Nicht lange nach diesem Vorfall, der die Bande der Freundschaft zwischen uns und Boticelli nur noch fester und enger geknüpft hatte, wurde unsere Compagnie weiter gegen die toscanische Grenze vorgeschoben und erhielt ihr Standquartier in dem wälder- und schluchtenumgebenen Städtchen Bagnarea, das einst als Balneum regis stolzere Tage gesehen, heute aber ferne der Heerstraße still und vergessen in den Bergen liegt, nur bisweilen der interessanten geologischen Formation und namentlich der gewaltigen Peperinlager seiner Umgebung wegen von einem Naturkundigen


Festmahl aus dem sechszehnten Jahrhundert. Von Fr. Gonne.
Nach einer Photographie aus dem Verlage von Edwin Schlömp in Leipzig auf Holz übertragen.

[689] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



aufgesucht. Diese abgelegene Gegend wurde vom Räuberwesen, von dem wir in Montefiascone nur wenig kennen gelernt hatten, damals sehr unsicher gemacht, und unsere Abtheilung hatte eben die Aufgabe, den Räubern energisch das Handwerk zu legen.

Man wundert sich in Deutschland oft, daß es in Italien und speciell auch im ehemaligen Kirchenstaate so lange und zum Theil bis heute noch nicht gelungen ist, dem Räuberwesen den Garaus zu machen. Wer aber die Verhältnisse einigermaßen zu beurtheilen versteht, der wird hierin wenig Befremdliches finden. Ich habe die unbeschreiblich elende Lage des Volkes bereits mit einigen Strichen geschildert, und wenn sich auch unter der jetzigen italienischen Regierung Vieles gebessert hat, so sind die Grundlagen der Ordnung und Sicherheit, die socialen und besonders die Grundbesitzverhältnisse noch heute so ziemlich die alten. Die ungeheure Mehrzahl der Landbevölkerung hatte keinen Quadratfuß eigenen Grundbesitzes, sondern bestellte die Besitzungen der Grundherren mit vorsündfluthlichen Ackerwerkzeugen, wofür sie entweder einen jämmerlichen Tagelohn, größtentheils aber einen Theil der Ernte erhielt – ein Viertel bis zu einem Drittel. Dieser Lohn reichte aber kaum zur Ernährung, geschweige denn für die sonstigen unumgänglichen Bedürfnisse, besonders die unmäßigen Steuern an Kirche und Staat aus. In Folge dessen befand sich das arme Volk auch noch in der beständigen Schuldunterthänigkeit der Wucherer, welche gegen hohe Zinsen Vorschüsse auf die künftige Ernte gaben; häufig besorgten dieses einträgliche Geschäft die Grundbesitzer selbst.

So mußten denn die armen Landarbeiter in allen Besitzenden Feinde erblicken, und wer die Verwegenheit und Gewandtheit besaß, einem Grundherrn, Pächter, Wucherer oder sonst einem ihrer Unterdrücker und Aussauger durch einen kühnen Gewaltstreich Schaden zuzufügen, erfreute sich ihrer Sympathien, und ihm wurde jeder Vorschub geleistet. Die Bauern verriethen den Briganten die Gelegenheit zu Beutezügen, erhielten ihren Antheil an dem Fange und halfen den Verfolgten, den Nachforschungen der Polizei und der Truppen zu entgehen. Unter den verderbten besitzenden Ständen der Städte aber, und selbst unter den geistlichen und weltlichen Würdenträgern, bis in die höchsten Kreise hinauf, fanden die Banditen gegen Geld und sonstige Gefälligkeiten stets Helfershelfer und Beschützer in Menge.

Wie schwierig unter solchen Umständen die Bekämpfung des Räuberwesens war und ist, kann man sich leicht vorstellen, und ebenso erklärt sich daraus die fast unglaubliche Frechheit und Verwegenheit mancher Brigantenchefs, die sich beim Volke desto größerer Popularität, ja man möchte fast sagen, Verehrung erfreuten, je gefährlicher sie waren. Die Popularität schützte sie am wirksamsten gegen die Steckbriefe der Regierung, welche oft sehr hohe Belohnungen auf ihre Ergreifung aussetzte.

Die Bande nun, welche in der Umgegend von Bagnarea ihr Wesen trieb und gegen welche man uns geschickt hatte, war eine der gefährlichsten, welche seit Langem der Behörde zu schaffen gemacht. An ihrer Spitze stand ein gewisser Liberi, ein noch junger Mensch, der allein und in Verbindung mit seinen zahlreichen Spießgesellen die verwegensten Brandschatzungen und Blutthaten ausführte und seit Monaten die ganze Grenzgegend in Furcht und Schrecken hielt. Wohl hatte die Regierung schon früher Truppen gegen ihn geschickt, aber diese, weil Eingeborene, thaten ihre Schuldigkeit

[690] schlecht, welcher Umstand, in Verbindung mit der Unterstützung durch die gesammte arme Bevölkerung, besonders aber mit der großen Schlauheit des Räubers, Liberi bisher stets den Verfolgungen der Behörden hatte entgehen lassen.

Einmal war Liberi doch nach vielen vergeblichen Versuchen, seiner habhaft zu werden, im Rausche überrascht und im Triumph nach Bolsena eingebracht worden. Die glücklichen Häscher erhielten sofort die von den Behörden sowie einzelnen reichen Corporationen und Privaten ausgesetzte hohe Belohnung; der ganze Bezirk athmete auf, und die erfreute Justiz traf Anstalten, dem gefährlichen Brigantenchef schnell den Proceß zu machen und an ihm ein Exempel zu statuiren. Liberi ward mit Ketten belastet, in dem festesten Kerker verwahrt und unausgesetzt von Wächtern aller Art beaufsichtigt. Am achten Tage aber, als der Instructionsrichter nach ihm verlangte, war Liberi verschwunden – seine eigenen Wächter hatten ihm die Gefängnißthüren geöffnet.

Die schnell aus ihren Träumen von Ruhe und Sicherheit gerissene Gegend merkte bald, daß Liberi wieder an der Spitze seiner Bande stand. Denn die Raubanfälle und Erpressungen häuften sich, als ob er sich hätte für die acht Tage gezwungener Muße entschädigen wollen. Vollführten doch die durch ihren Erfolg dreist gemachten Banditen selbst in größeren Ortschaften ihre Geschäftsoperationen am hellen Tage.

Allein endlich war Liberi der Boden seiner Heldenthaten doch zu heiß unter den Füßen geworden, und als er von unserem Anzuge vernommen, hatte er sich mit seiner Bande über die nahe Grenze gezogen und ließ die ersten vier oder fünf Wochen unserer Anwesenheit in Bagnarea nichts von sich hören. Es hieß, er treibe im Italienischen sein Unwesen, ja eine Nachricht ließ ihn von der italienischen Polizei gefangen und seine Gesellschaft zersprengt sein. Da geschah Folgendes.

Der Prior des Augustinerklosters San Archangelo zu Bagnarea war in Begleitung zweier gut bewaffneter Klosterknechte nach dem etwa fünf Stunden entfernten Dorfe San Michele gereist, um die dortigen Besitzungen seines Klosters zu inspiciren und die fälligen Pachtgelder und andere Einkünfte einzuziehen. Der die Besitzung leitende Mönch aber, der die Gelder veruntreut und deshalb den Besuch seines Oberen zu fürchten hatte, rief die von der italienischen Polizei wieder über die Grenze getriebene und in der Nähe versteckte Bande Liberi’s zu einer Plünderung auf gemeinsamen Nutzen herbei, durch die zugleich jede Verantwortlichkeit für ihn beseitigt wurde. Natürlich ließen sich die Briganten nicht vergeblich rufen, besorgten das Geschäft so gründlich wie möglich und ermordeten dabei den eben dazu kommenden und sich verteidigenden Prior, während sie dem einen seinem Herrn treu beistehende Knecht die Ohren abschnitten, ihm seine sämmtlichen Kleider nahmen und ihn in diesem Zustande nach Bagnarea jagten, das hierdurch von dem Ueberfall San Micheles Nachricht erhielt.

Als wir, das heißt eine kleine Abtheilung unter meinem Commando, bei der sich ein mit Einleitung der Untersuchung beauftragter Regierungsbeamter befand, auf dem Schauplatze der Räuberei anlangten, waren die Briganten, die sich nach vollendeter Plünderung nebst den mit ihnen sympathisirenden Dorfbewohnern an den Weinvorräthen des Klosters gütlich gethan, vor ganz Kurzem erst abgezogen. Wohin sie sich gewandt, darüber konnte kaum ein Zweifel bestehen. Die zwischen San Michele und Bagnarea sich hinziehende Gebirgspartie, welche wir auf der Straße umgangen hatten, war zwar nicht von bedeutender Erhebung, enthielt aber in den Klüften ihres vulcanischen Gesteins zahllose sichere Schlupfwinkel. Den Räubern dahin zu folgen, davon konnte bei unserer Localunkenntniß, namentlich aber angesichts unserer geringen Anzahl, keine Rede sein, und so mußten wir uns denn diesmal, abgerechnet die Aufnahme der Zeugenaussage und die Fürsorge für das Begräbniß der Ermordeten, mit einer allgemeinen Recognoscirung des Terrains begnügen.

(Fortsetzung folgt.)




Aus vergessenen Acten.

Eine Criminalgeschichte von Hans Blum.

(Fortsetzung.)

Das Auge des Unbekannten traf beim ersten Aufschlagen das Mädchen, welches betroffen stehen geblieben war. Fest und starr blickte er mit seinen großen, stechenden grauen Augen auf Margret, während er, auf sein linkes Knie und den Feldstein gestützt, mit dem Husten rang.

Als dieser überwunden war, erhob er sich rasch und stieg wie Wegböschung hinab, der Stelle der Straße zu, wo Margret stand. Eine hitzige Röthe war ihm in die Wangen gestiegen, und sein Auge flackerte unruhig, fast irre, als er jetzt nahe vor Margret die Lippen öffnete und zu deren größtem Erstaunen die Worte hervorpreßte:

„Margret! – Margret, bist Du’s?“

„Um Gotteswillen!“ rief sie – „ich kenne Sie nicht. Woher wollen Sie mich kennen?“

„Nein,“ sagte er, ruhiger geworden, zu sich selbst, „die Stimme ist es nicht. Aber das Gesicht, die Figur – –“ Er hob nun die Stimme: „Kennen Sie Margret Winkelmann?“

„So hieß meine Mutter als Mädchen,“ erwiderte Margret noch erstaunter, „aber Sie, wer sind Sie?“

„Ach, ich – ein armer, alter Mensch – aber, mein Fräulein, lebt Ihre Mutter noch?“ Seine Blicke ruhten auf den Kränzen, die sie in der Hand hielt.

„Gewiß lebt sie,“ entgegnete Margret ängstlich, „aber –“

„Sie lebt, Gott sei Dank, sie lebt!“ rief der Unbekannte, und im nächsten Augenblicke hatte er seinen Hut und seine Decke am Rande der Wegböschung aufgenommen und schritt querfeldein durch Gras und Feld, nicht der Stadt und nicht dem Dorfe, sondern der Wildniß der Natur zu.

„Der arme Mensch ist geisteskrank,“ flüsterte Margret ängstlich vor sich hin, als sie ihn hinter einem nickenden grünen Aehrenfeld an einer Welle des Bodens verschwinden sah. „Aber woher mag er meine Mutter kennen? Wer mag er sein?“

Damit schritt sie dem Walde entgegen, der sie zum Heimathsdorfe ihrer Eltern geleitete, und war bald unter dem Dache des Laubes verschwunden. – –

Ungefähr um dieselbe Stunde des Morgens trat der Amtsrichter Kern in die Gaststube der Hirschwirthin, wo nur wenige Gäste versammelt waren. Er war ein ganz ungewöhnlicher Besuch zu dieser Tageszeit. Niemand konnte sich erinnern, den Herrn Amtsrichter jemals beim Frühschoppen gesehen zu haben; und nun gar zu einer Stunde, wo das Städtchen kaum den Kaffee genossen hatte!

Außergewöhnlich war aber auch sein Aussehen.

Kern hatte ja Momente, wo er ein bischen lebhaft werden konnte, aber heute war er geradezu aufgeregt. Kaum hatte er der Wirtin einen guten Morgen geboten und eine Tasse Bouillon mit Ei bestellt, als er ihr zur Thür hinaus nacheilte und ihr draußen im Gang rasch zuflüsterte, daß er sie sofort allein sprechen müsse.

Frau Margret blickte in das ernste, ängstliche Auge des Mannes, dem sie keine Furcht zutraute, und gewann den Eindruck, etwas Dringliches, Gefährliches müsse Kern ihr mitzuteilen haben. Sie öffnete sofort das „gute Zimmer“ zur Rechten des Ganges und blieb hier mit Kern allein.

Zehn Minuten darauf trug Meister Tromper, der Schneider, vom Wirthstische aus die Kunde durch die ahnungslose Stadt, daß soeben der Amtsrichter sich mit der Hirschwirthin verlobt habe. Das Gespräch aber, dessen eigenthümliche Einleitung zu diesem Gerüchte den Anlaß gegeben, entwickelte sich etwa folgendermaßen:

Der Amtsrichter blickte Margret ernst an, nachdem Beide Platz genommen, und sagte kurz und dringend:

„Lesen Sie, Frau Margret, lesen Sie!“

Dabei reichte er ihr die neueste Nummer des Regierungsblattes der Residenz hin und wies mit dem Finger auf eine Stelle unter den amtlichen Nachrichten der ersten Seite.

[691] Margret las:

„Seine Hoheit, der Durchlauchtigste Fürst … haben Allergnädigst geruht, aus Anlaß Ihres Allerhöchsten morgigen Krönungstages eine allgemeine Amnestie für alle politischen und Majestäts-Vergehen und -Verbrechen ergehen zu lassen und außerdem noch folgende schwere Verbrecher Allergnädigst mit fernerer Strafe zu verschonen:

1) Josua King, im Jahre 185. vom Schwurgericht Allerhöchst Ihrer Haupt- und Residenzstadt zum Tode verurtheilt und durch des Höchstseligen Fürsten-Vaters Hoheit zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt –“ etc..

Soweit hatte Kern die Stelle angestrichen. Nun wies er schweigend auf die zweite Seite, wo die officiösen Redactionsartikel zu stehen pflegten.

Margret las auch diese von Kern angestrichene Stelle:

„Unter den in Folge der allgemeinen Amnestie zur Stunde bereits der Freiheit zurückgegebenen Verbrechern befindet sich auch der Mörder Josua King. Bestimmend für seine Begnadigung war, abgesehen von den günstigen Anstaltsberichten über seine Führung, auch die Rücksicht auf ein vorgeschrittenes Brustleiden.“

Frau Margret gab dem Richter das Blatt zurück, blickte denselben fast lächelnd an und fragte:

„Hat diese Nachricht Sie so aufgeregt, Herr Amtsrichter?“

„Wie sollte ich ruhig bleiben bei diesem Stückchen, das unser alter Freund, unser vormaliger Bürgermeister, in Scene gesetzt hat –“

„Es ist ja ein Gnadenact des Fürsten –“

„Jawohl, Frau Margret, aber auf Eingebung des bekannten Rathes im Ministerium! Der Landesherr sollte damit eine Probe seiner fürstlichen Machtvollkommenheit geben, seine Gewalt über Leben, Tod und Freiheit seiner Unterthanen besonders glänzend zeigen. Und durch die Freilassung King’s will unser alter Freund ganz besonders Ihnen und mir Ruhe und Frieden für den Rest unseres Lebens rauben –“

„Aber, Herr Amtsrichter, was schieben Sie dem Rathe für Beweggründe unter!“

„Seine eigenen!“ brummte Kern.

„Und warum soll mir King’s Freiheit Ruhe und Frieden rauben? Warum Ihnen?“

„Sie fragen mich noch, Frau Margret? Haben Sie vergessen, was Sie mir so oft erzählt, wie King vor zwanzig Jahren von Ihnen schied? – ‚Warte, Margret, wenn ich wieder herauskomme!’ sagte er zu Ihnen.“

„Aber Sie hören ja: er hat sich gebessert, bereut –“

„Davon steht nichts in dem Artikel, kann auch nichts darin stehen. Im Gegentheil, ich weiß bestimmt, daß er niemals seine That gestanden, geschweige denn bereut hat.“

„Nun, und wenn er wirklich noch Rachegedanken gegen mich hegen sollte, was kann er mir schaden? Ich höre, begnadigte Verbrecher, die nicht aus dem Lande sind, werden in ihre Heimath gebracht und dort von der Polizei bewacht.“

„Glauben Sie wirklich, das könnte diesen eisernen Willen bändigen? Wenn er jenseits des Aequators ausgesetzt würde, er würde mit der Geradheit einer Kanonenkugel seine Richtung nach dieser Stadt, nach diesem Hause nehmen. Das Bischen Zwangspaß nach seiner Heimath wird ihn nimmermehr daran hindern. Jeden Tag, jede Stunde kann er plötzlich vor Ihnen stehen.“

„Sie könnten Einem fast bange machen, Herr Amtsrichter,“ entgegnete sie. „Aber ich fürchte King nicht. Ich habe ihn nie gefürchtet. Was fürchten Sie für sich von ihm?“

„Ich für mich gar nichts, Frau Margret –“

„Sie sagten doch vorhin, daß auch Ihre Ruhe, Ihr Friede durch King gefährdet sei?“

„Margret,“ sprach Kern mit Wärme und Innigkeit – „Ihr Friede und Ihre Ruhe sind die meinen.“ Er drückte ihr die Hand und blickte ihr freundlich in’s Auge.

„Ich weiß es,“ sagte sie. „Sie sind mir und meinem guten seligen Gustav allezeit der treueste Freund gewesen und meiner Margret wie ein Vater –“

Die Wendung des Gesprächs schien dem Richter nicht ganz zu behagen.

„Es bleiben todt die Todten,
Und nur der Lebendige lebt –“

Dieser Gedanke des Dichters war der seine, aber er sprach ihn nicht aus. „Wo ist denn Ihre Tochter?“ fragte er, um nur etwas zu sagen.

„Am Grabe ihres Vaters –“

Es klopfte an die Thür, laut, hastig. Noch ehe „Herein!“ gerufen wurde, trat ein Telegraphenbote in das Zimmer.

„Eine eilige amtliche Depesche, Herr Amtsrichter,“ sagte er entschuldigend. Der Amtsrichter öffnete sie rasch, durchflog die wenigen Zeilen und erblaßte.

„Es ist gut,“ sagte er dann zum Telegraphenboten, der, einer Antwort gewärtig, noch im Zimmer stand.

„Etwas Unangenehmes?“ fragte die Hirschwirthin theilnehmend, als sie wieder allein waren.

„Eine Meldung, die ich mit Bestimmtheit erwartet habe,“ erwiderte Kern ausweichend mit etwas unsicherer Stimme, „und die mich sofort zu einer amtlichen Expedition außerhalb der Stadt nöthigt. Es könnte sein, daß ich Margret auf meinem Wege träfe. Sie ist nach Ihrem Heimathsdorf gegangen, nicht wahr?“

„Jawohl, Herr Amtsrichter.“

„Wer begleitet sie?“

„Niemand.“

„Mein Weg führt mich gerade durch Ihr Heimathsdorf,“ sagte er mit hörbar bebender Stimme. „Treffe ich Margret, so werde ich Ihnen sagen lassen, ob – ob ich heute zu Tisch kommen kann. Leben Sie wohl, Frau Margret!“

Ein eigenthümlich banger und hastiger Ton lag in diesen Worten, als scheine den Amtsrichter eine viel wichtigere Sorge zu quälen als die, wo er heute sein Mittagsmahl einnehmen werde. Aber Frau Margret hatte in dem Geschäftsdrange dieses Tages nicht Zeit, lange darüber nachzudenken, und kein Mittel, Kern’s Gedanken zu ergründen. Die Ursache seiner Erregung war das amtliche Telegramm, das er in seiner Brusttasche geborgen hatte; es kam von dem Polizeipräsidium der Residenz und lautete. „Auf Ihre telegraphische Anfrage erwidern wir, daß King unsere Stadt nicht passirt, Zwangsroute also verlassen hat. Nach Recherchen, die wir schon in Folge seines gestrigen Ausbleibens telegraphisch bei Zwischenstationen angestellt, ist zu vermuthen, daß er sich Ihrer Stadt zugewendet. Veranlassen Sie sofortige Verhaftung desselben und Zuführung an uns!“

Wer den Amtsrichter über die Straße eilen sah, lobte Meister Tromper’s Scharfblick nachdrücklich. Man meinte, er werde wohl direct zum Küster laufen, um dort das Aufgebot mit der Hirschwirthin gleich richtig zu machen. Aber Kern lief nicht zum Küster, sondern zum Gensd’arme und hieß diesen sein geladenes Gewehr umhängen und ihm folgen.

Der Gensd’arm suchte nach Kräften mit dem Herrn Amtsrichter Schritt zu halten, aber es wurde ihm sehr schwer, namentlich als der Weg bergauf ging; denn Kern lief wie ein Jüngling – und warum? Daß ein großer Spitzbube an einer großen Schurkerei gegen die junge Margret Stephan gehindert werden solle, war Alles, was der Gensd’arm aus dem Herrn Amtsrichter herausbekommen hatte.

„Einem Phantom von Fürstenallmacht zu Liebe,“ hörte er ihn im halblauten Selbstgespräch murmeln, „wird das Zuchthaus seiner gefährlichsten Insassen entleert. Kerle, die eine vergangene Zeit für immer unschädlich zu machen glaubte, werden wieder losgelassen, um das Freudenfest zu zieren.“

Der Gensd’arm fand diese Aeußerungen etwas despectirlich. Schließlich hörte er gar nichts mehr von Kern’s Selbstgespräch. Denn dieser hatte einen großen Vorsprung gewonnen und lief den steilen Hang des Berges hinan wie eine Bachstelze.




Als Margret Stephan im Waldesdunkel, das sie zu ihrem väterlichen Heimathsdorf hinabführte, verschwunden war, richtete der Mensch, den sie längst aus ihrer Gesichtsweite glaubte, sich in seiner ganzen Länge über dem Kornfeld auf, hinter dem er sich ihren Blicken verborgen hatte, und spähte weit umher.

Als er nirgends ein Geräusch oder einen Beobachter bemerkte, suchte er sich eine Stelle aus, von der er, ohne selbst gesehen zu werden, den Waldeingang genau beobachten konnte, in welchem Margret verschwunden war.

Dann überließ er sich seinen Gedanken.

Eine lange, schwere Zeit, die hinter ihm lag, glitt wie ein Augenblick an seiner Erinnerung vorüber.

[692] Vor zwanzig Jahren hatte diese grauenvolle Zeit ihren Anfang genommen. Die gute Jahreszeit war damals noch nicht so weit vorgeschritten wie heute, als er für zwanzig Jahre – die Menschen sagten für immer – Abschied genommen vom Leben, von der freien schönen Gottesnatur.

Weit, weit, in goldene Tage der Kindheit, der Unschuld, trugen ihn damals seine Gedanken zurück. Er sah sich sitzen auf der braunen Scholle, die der Pflug des Vaters auf ostpreußischer Erde aufgehoben. Die munteren Spiele der Dorfjugend, die seine Knabenjahre erheitert, spielte er noch einmal in der Erinnerung, während der Eisenbahnzug ihn Meile um Meile dem engen Hause seiner Bestimmung näher trug, während die Fesseln ihm an Händen und Füßen rasselten. Aus dem dunklen Schatten der Wolken, welche Schritt hielten mit dem eilenden Zuge, aus der Ecke des Wagens: wohin sein stierer Blick sich heftete, blickte dann überall das ernste, traurige, vorwurfsvolle Auge des treuen Vaters ihn an und rief ihm die schweren Verirrungen, die Verbrechen seiner Jugend vor die Seele.

„King,“ hatte da der Transporteur plötzlich gesprochen. „Sie weinen. Das erste Mal, daß Jemand bei Ihnen eine Thräne gesehen! Gestehen Sie! Entlasten Sie Ihr Herz!“

„Was soll ich gestehen? Ich bin unschuldig. Haß, Rache und Meineid haben mich so weit gebracht. Es wird ein furchtbares Gericht geben, wenn unser Herrgott –“

„Schweigen Sie, King! Sie kennen unsern Herrgott nur mehr vom Hörensagen!“ hatte der Transporteur erwidert.

King hatte geschwiegen. Aber ein häßliches boshaftes Lächeln hatte seinen Mund umspielt.

Er hatte nicht mehr gelächelt, als der Finger des Transporteurs aus dem Coupéfenster nach einem fernen Schatten am Horizont gezeigt, der blau und duftig sich über dem Hügellande erhob. Ein altes Schloß mit Thürmen und Zinnen, malerisch auf einem Berge gelegen, stellte sich in noch verschwommenen Umrissen dem Blicke King’s dar. Er wußte, daß dort das Ziel dieser Reise sei, vielleicht das Ziel seiner ganzen Lebensreise. Er hätte das gewußt, auch wenn der einsilbige Transporteur nicht gesagt hätte: „Schloß Zwingburg.“ Der blaue ferne Schatten rückte immer näher; er wurde immer dunkler und größer. Und als der Zug hielt, da stand es in seinem finstern massigen Grau gerade über King. Von dieser Höhe gab es sicher kein Entrinnen! Auch die Schildwachen, mit ihrem über die Brust gekreuzten weißen Riemenzeug, konnte man nun von unten schon deutlich erkennen.

Viel ernster noch war King’s Aussehen, als die Schloßpforte zu seinem Willkommen in den Angeln kreischte und krachend hinter ihm zufiel. Scheu blickte sein Auge in dem öden Hofe mit den vergitterten Fenstern umher, in welchem düstere Gestalten in grauen Hosen und Jacken lautlos wie die Seelen Abgeschiedener vorbeihuschten. Und dann blickte er sehnsüchtig zurück in das Sonnenlicht der Freiheit, von dem er scheiden sollte.

„Vorwärts, zieh’ Dich aus!“ schallte der Befehl eines Anstaltsbeamten an sein Ohr. Und in wenigen Minuten sah er sich wieder, wie in seinen Jünglingsjahren, in der Züchtlingskleidung; im Nu war sein Gesicht glatt rasirt, sein Haar bis wenige Linien über den Wurzeln verschnitten. Dann hatte er sich dem höchsten Machthaber für den Rest seines Lebens, dem Zuchthausdirector, gegenüber gesehen und erfahren, welche Strafen ihn erwarteten, falls er der eisernen Ordnung des Hauses in irgend einem Punkte sich widersetzen sollte.

Jetzt, in seiner wiedergewonnenen Freiheit, lächelte King höhnisch und wild, als er daran zurückdachte, daß niemals in zwanzig Jahren irgend eines der Zuchtmittel der Strafanstalt gegen ihn zur Anwendung gebracht worden war. Er hatte sich vom ersten bis zum letzten Tage seiner Haft immer gleich „musterhaft geführt“ und gehörte bald der ersten Disciplinarclasse an. Er war der eifrigste und begabteste Schüler der Sonntagsschule und zählte, nach Ansicht des Predigers – eines großen Eiferers vor dem Herrn und eines vermeintlich noch größeren Herzenskundigen und Menschenkenners – zu denjenigen Züchtlingen, welchen der Herr die Gnade der Buße und Zerknirschung im reichsten Maße zugewendet habe. So oft auch ein Beamter das Auge an das Schaufenster der Zelle King’s legte, immer war der Verbrecher gleich eifrig an der Arbeit. Er lieferte weit mehr als sein Pensum.

Aber wenn die Nacht auf dem finsteren Schlosse lag und kein Auge im Dunkeln die Züge King’s zu betrachten vermochte, dann verzerrte wieder das wilde, häßliche Hohnlächeln sein Gesicht, und mehr als einmal gaben die dicken Wände seiner Zelle schaurig den Laut seines wüsten Lachens zurück. Den ganzen Tag, Jahr für Jahr, ging er nur auf das eine Ziel los: die Herzen der Menschen sich zu gewinnen, von deren Gunst zunächst die Möglichkeit abhing, daß ihm einst die Freiheit wiedergegeben würde. Aber die Nacht gehörte ihm allein – seinem wahren Gesicht und seinen wirklichen Gedanken. Ihnen widmete er von der kurzen Schlafzeit täglich mindestens eine halbe Stunde, manchmal viel längere Zeit.

Dann träumte er mit wachem Auge, wie dereinst das rostige Schloßthor in seinen Angeln abermals knarren werde, aber nur, um ihn wieder hinaus zu lassen in die wonnige Freiheit, und wie er ohne Geleit dem Bahnhofe zufliegen werde, um auf Dampfesflügeln davon zu eilen. Wohin? Nach der Heimath, zu den Füßen der armen, alten Eltern? Ein Hohnlachen antwortete der Frage, so oft sein Gewissen sie aufwarf.

„Der Alte hat mich so gut wie verflucht. Ja mehr als das: er hat mich verkauft und verrathen – mag er, ohne mich wieder zu sehen, zur Grube fahren!“

Oder weit, weit fort, gleichviel wohin, nur unter wildfremde Menschen, die nie von seinen Verbrechen von seiner Zuchthaus-Vergangenheit erfahren hatten? Abermals widerhallten die Zellenwände von dem kurzen heiseren Lachen.

„Die löbliche Polizei wird schon dafür sorgen, daß ich überall mit Schimpf und Schande fortgejagt werde, wo ich mir Arbeit erbetteln möchte. Der schlaue Kern hat Recht; er kennt die Menschen, wenn er sagt: ‚Hat Jemand zehn oder fünfzehn Jahre im Zuchthause gesessen und ist dort sehr gut gerathen, so maust er blos, wenn er wieder herauskommt. – Der stille, unverbesserliche Bösewicht aber, der raubt, brennt, schändet und mordet!’ Wir wissen, zu welcher Sorte wir gehören, Josua King! Und wir haben unsere Gründe dafür, haha! Margret Winkelmann – oder wie die Hexe jetzt heißen mag – kennt sie diese Gründe? Denkt sie wohl noch meiner Abschiedsworte? Nein, natürlich nicht. Josua King ist todt für sie, für die ganze Welt. Wenn er aber wieder lebendig wird, Margret Winkelmann, dann freue Dich! Kein Tag soll vergehen, ehe er zu Dir eilt – sein Anblick soll Dir der letzte sein, ehe Dich sein Stahl in’s Jenseits schickt!“

Diese Gedanken waren King die Zukost zum täglichen Brod, die allen Hunger und alle Entbehrungen erträglich machte. Und immer bestimmter, immer zuversichtlicher regte sich in ihm die Hoffnung, daß er den Tag noch erleben müsse, an dem er alle diese Gedanken verwirklichen werde. Der Herr Pastor und der Herr Zuchthausdirector hatten ihm ja deutlich zu verstehen gegeben, daß sie ihrerseits Alles aufbieten würden, um einst seine Begnadigung zu erwirken.

Er hatte in den letzten Jahren seiner Gefangenschaft eine Art von Aufseherposten über seine Mitgefangenen erhalten und in dieser Stellung von einem derselben, der aus der Gegend des Bergstädtchens stammte, erfahren, daß Margret noch lebe, daß sie verheirathet und im Städtchen Gastwirthin sei. Sie lebte, sie war zu finden! –

Das hatte King vor etwa zwei Jahren gehört. Er hatte bis dahin in zäher Geduld dem unbestimmt fernen Tage der Freiheit entgegengeharrt. Zu dieser Zeit aber war ein Ereigniß eingetreten, welches ihn mit steigender Ungeduld und mit fieberhafter Erregung erfüllte: Ein trockener Husten hatte sich bei ihm eingestellt. Wenn er klagte, hatte der Anstaltsarzt die Achsel gezuckt. „Das ist hier so. Sei froh, daß Du im Unterleibe fest geblieben bist! Da geht es rascher zu Ende.“ Aber vor etwa zwei Jahren hatte der Arzt auf einmal die Ueberführung King’s in die Krankenstation angeordnet. Seit dieser Zeit hatte er manche Woche fest gelegen. Aber die ihm zur Gewißheit gewordene Hoffnung, daß er den Tag der Freiheit erleben müsse, erfüllte ihn mit zäher Widerstandskraft gegen die weiter und weiter fortschreitende Auflösung seiner Kräfte.

Endlich, endlich war der heißersehnte Tag der Freiheit doch erschienen. King erhielt seine alte Kleidung ausgehändigt, in der er vor zwanzig Jahren eingeliefert worden. Wie schlotterte ihm Alles um den mageren Leib, um die eingefallene Brust! Er erhielt seinen Arbeitsverdienst ausgezahlt – eine nicht unbeträchtliche Summe. [693] Director und Pastor fügten einen Zehrpfennig, eine warme Decke hinzu. Selbst Thränen hatte King zur Verfügung, als er von den Beiden Abschied nahm und gelobte, sich allezeit brav zu halten und sofort, der ihm vorgeschriebenen Marschroute entsprechend, auf dem kürzesten Wege in die Heimath zu reisen. Er erfüllte das letztere Versprechen vor den Augen des am Schalter der Bahnhofscasse wachthabenden Polizeibeamten, indem er ein Billet bis zur Residenz nahm. Vorschriftsmäßig wurde die Entlassung des Begnadigten, sein Eintreffen mit dem nächsten Bahnzuge der Residenzpolizei telegraphisch angezeigt.

Aber King fuhr keineswegs nach der Residenz. An einer Zwischenstation, wo sich eine Seitenbahn in der Richtung nach dem Bergstädtchen bis zu dessen Nachbarstadt abzweigte, machte er Halt und erwartete den letzten Zug der Zweigbahn. Er benutzte den Aufenthalt zu einem Einkaufe in dem an der Station gelegenen Städtchen: er kaufte ein langes, scharfes Dolchmesser, das aufsprang und in der Feder stand, wenn man den Drücker berührte.

Nach Mitternacht erst war King in der Nachbarstadt angekommen, an der die Zweigbahn endete, und von dem Bergstädtchen, in dem Margret noch immer wohnen sollte, trennte ihn jetzt nur noch eine mehrstündige Wanderung. Schon der kurze Weg von Schloß Zwingburg nach dem Bahnhofe, dann in das Städtchen der Zwischenstation und zurück an den Bahnhof, hatte ihn erheblich angegriffen. Er zögerte gleichwohl keinen Augenblick, den Weg nach dem Gebirgsstädtchen noch in der Nacht bei Mondschein anzutreten und zurückzulegen. Aber das Unternehmen ging über seine Kräfte. Eben als die Sonne aufging, brach er übermüdet an dem Grenzstein der Höhe zusammen, an dem ihn jung Margret getroffen.

(Schluß folgt.)


Die verrufensten Spinnen Europas.
Naturwissenschaftliche Erläuterungen zum Tarantismus. Von Dr. Cubasch.


I.
Die geistigen Seuchen des Mittelalters. – Physiognomie des Tarantismus. – Die Musikheilungen als Volksfeste. – Il carnevaletto delle donne. – Noten zum Text. – Naturgeschichte der großen Giftspinnen: Taranteln, Malmignatte.


Das Mittelalter, welches an merkwürdige Erscheinungen im Seelenleben der Völker so reich ist, war auch die Zeit, in der sich die sonderbare Krankheit des Tarantismus in epidemischer Verbreitung entfaltete. Heimgesucht durch fürchterliche Seuchen, welche den Herd der Familie von Grund aus erschütterten und zerstörten und welche als directe Aeußerung des Zornes Gottes gegenüber der sündigen Menschheit betrachtet wurden, eingezwängt in den Vorstellungskreis der römische Kirche, verfiel der menschlische Geist einer kindischen und abergläubischen Furcht vor höheren Gewalten in Verbindung mit einem krampfhaften Buß- und Frömmigkeitswesen, wodurch der gesammte Volksgeist allmählich von einer tiefen Nervenstimmung, einer dumpfen Melancholie ergriffen und in wahrhaft unheimlicher Weise zu phantastisch-schwärmerischen Ausbrüchen von oft ganz ungeheuerlicher Art disponirt wurde. Auffallend ist dabei noch, wie sehr der Nachahmungstrieb, der ja ohnedies den Menschen stark beherrscht, zu jener Zeit, da Angst und Schrecken jede Selbstständigkeit lähmten und die Gemüther in einer überreizten, krankhaften Spannung erhielten, eine unnatürliche Machtsteigerung erfuhr. So begreift sich das Auftreten der Geißler und Flagellanten, die Tanzwuth unter den Deutschen des dreizehnten Jahrhunderts, die Hexenverfolgung, selbst manche Seite der Kreuzzüge. So erklärt sich auch der Hauptsache nach der vielbesprochene Tarantismus Apuliens, so genannt nach der Tarantel-Spinne, deren giftiger Biß den äußern Anlaß zu der ganzen Bewegung bildete.

Schon den Alten waren die Leiden, welche nach dem Bisse giftiger Spinnen auftraten, bekannt, und wir finden in dieser Beziehung bei verschiedenen älteren Schriftstellern wohl beobachtete und übereinstimmende Berichte, die aber nirgends von einem epidemischen Auftreten solcher Krankheit reden, wie sie sich im dreizehnten Jahrhundert als wahre Landplage über Italien verbreitete.

„Der Biß einer giftigen Spinne, oder vielmehr die krankhafte Furcht vor seinen Folgen" – um mit Hecker („Volkskrankheiten des Mittelalters“) zu reden – „erregte jetzt, was er früher nicht vermochte, eine gewaltige Nervenkrankheit, die sich, wie in Deutschland der Veitstanz, durch Sympathie verbreitete und durch das Fortschreiten an Heftigkeit, durch ihre lange Dauer an Umfang gewann.“

Die überreizte Phantasie malte sich die Folgen eines solchen Bisses sofort mit den Farben der Todesfurcht aus: man glaubte sicher sterben zu müssen; zugleich gerieth man durch irgend eine Veranlassung auf die Musik als ein Rettungsmittel. Vom Klange der Cither oder der Flöte angeregt, schlugen die Kranken, welche in halb bewußtlosem Zustande dalagen, plötzlich die Augen auf; sie richteten sich auf ihrem Lager empor, verließen dasselbe und begannen nun nach dem Tacte der Melodie ihre Glieder in immer rascher werdendem Tempo zu bewegen. Selbst rohe, der Musik und alles Tanzes unkundige Leute benahmen sich dabei mit viel Anstand und Grazie. Unermüdlich tanzten die Kranken, und wenn die Musikanten ermüdet eine Pause machten, verfielen jene augenblicklich wieder in ihren lethargischen, schlafsüchtigen Zustand, aus welchem sie nur der Klang der Instrumente auf’s Neue erwecken konnte. Durch den Tanz sollte das Gift der Tarantel in dem ganzen Körper vertheilt und zuletzt ausgeschwitzt werden; doch die kleinste Spur, die noch zurückgeblieben wäre, könnte auf’s Neue Krankheit erzeugen, und deshalb wurde die Heilung der „Tarantati“ mit jedem Jahre erneuert. Jeder, der nur gebissen zu sein glaubte, oder welchen irgend ein anderes unschuldiges Insect gestochen hatte, nahm am Tanze Theil, und Viele, welche zu ihrem Ergötzen als Zuschauer erschienen waren, wurden von dem geistigen Gifte, das sie mit den Augen begierig einsogen, angesteckt und vermehrten die Zahl der Tänzer.

So entstand bald eine „geistige Seuche“, bei welcher einer wilden, zügellosen Leidenschaftlichkeit freies Spiel gelassen wurde. Von Apulien ausgehend, erstreckte sich dieselbe auch über andere Theile Italiens und ergriff Leute jeden Standes, Alters und Geschlechts in gleichem Maße.

Die Krankheit, welche bei den einzelnen Individuen verschiedene Erscheinungen hervortreten ließ, zeigte außer der Zuneigung zur Musik noch zweierlei überall gemeinsam: ein Behagen an glänzenden Gegenständen – z. B. an dem Schwingen blanker Waffen – und eine gewisse Vorliebe für bestimmte Farben. Man sah die Kranken rothe Tücher in der Hand schwenken, sich in deren Anblick mit innigster Sehnsucht, oft mit Thränen in den Augen, wie berauscht vertiefen, ja sie leidenschaftlich küssen und an’s Herz drücken. Widerwärtige Farben dagegen, besonders das Schwarze, versetzten sie in erhöhte Wuth, und sie suchten mit aller Kraft so gefärbte Kleider und Sachen zu zerreißen und zu zerstören. Ebenso zeigten Alle eine Sehnsucht nach dem Wasser; sie vertieften sich in den Anblick des Meeres, sie stürzten sich in die Wellen, oder aber sie schwenkten beim Tanze Gläser mit Wasser und begossen sich oftmals Kopf und Arme.

So sehr nahm diese Tanzwuth überhand, daß zuletzt die Musikheilungen ein allgemeines sommerliches Volksfest wurden, dessen Erscheinen man mit Ungeduld erwartete. Es durchwanderten ganze Schaaren von Musikanten Italien; sie ließen sich in Dörfern und Städten nieder und unternahmen im Großen die Heilung der Kranken. Und so wurden die Volksfeste beinahe drei Jahrhunderte lang jahraus, jahrein gefeiert. Zuletzt waren es hauptsächlich die Frauen, welche sich der Sache annahmen, wovon das Fest auch den Namen „il carnevaletto delle donne“ erhielt. Sie vernachlässigten ihre Haushaltungen und sparten ihr Taschengeld auf, um es bei diesen Gelegenheiten verbrauchen zu können. So kam es zuletzt, daß alle möglichen nervösen Verstimmungen sich im Tarantismus Luft machten; besonders war es die Hysterie, jene eigenthümliche, bizarre und vielgestaltige Krankheit, welche die Frauen auf die Tanzplätze trieb, wo sie sich, nachdem das einsame [694] Leben, wie es die damaligen italienischen Frauen führten, ihren Trübsinn und ihre Verstimmung auf das Höchste gesteigert, gehörig austoben konnten.

Jetzt änderte sich auch das ursprüngliche Krankheitsbild; mit den wilden Tänzen mischten sich die Aeußerungen einer bis zum Wahnsinn gereizten Sinnlichkeit, welche oft in dem Bedürfniß des Selbstmordes endete, wie es denn nicht selten war, daß diese Unglücklichen sich in die Brunnen stürzten.

An anderen Orten, namentlich in Messapia, erkrankten mehr Männer als Frauen, doch bildete auch hier überreizte Sinnlichkeit ein hervorragendes Symptom der Krankheit.

Die Melodien, welche zu den Tänzen aufgespielt wurden, waren verschiedenartig, da nicht jeder Kranke auf die gleiche Musik reagirte. Im Allgemeinen wirkte die Musik der „Tarantella", eine monotone Melodie, die mit immer rascher werdendem Tempo gespielt wurde; die „Tarantati" machten entsprechend schnellere Bewegungen, bis sie erschöpft niedersanken und sich ein reichlicher, wohlthuender Schweiß einstellte. Zu der Melodie wurden oft noch Lieder gesungen, welche je nach der Eigenthümlichkeit der ersteren bald wilde, ungestüme Dithyramben, bald Liebeslieder oder idyllische Gesänge waren. Als Instrumente wurden vorzüglich die Hirtenflöte und die türkische Trommel angewendet. Ein paar zur Zeit der großen Epidemie in Apulien vielfach gebrauchte Curmelodien mögen hier der Curiosität halber folgen. Wir entnehmen sie aus Athanasius Kircher’s „Mages, s. de Arte magnetica“. Rom, 1654.


1. Primus modus Tarantellae.


2. Secundus modus.


3. Tertius modus.


4. Antidotum Tarantulae. (Gegengift gegen die Tarantel-Krankheit.)


5. Mit Gesang. (Tu pettu è fattu Cimbalu d’Amuri etc.)


6. Tarantella.


7. Tono hypodorio (alte Kirchentonart).


Die folgende Tarantella ist diejenige, welche noch gegenwärtig in Spanien am häufigsten zur Heilung angewendet wird:



Mit dem siebenzehnten Jahrhundert ließ der Tarantismus allmählich nach und trat nur noch vereinzelt und in Folge einer persönlichen Verstimmung auf.

Die enge Verknüpfung mit der Tarantel, in welcher diese wunderliche Erscheinung geschichtlich auftritt, sichert der genannten Spinnenart ein besonderes Interesse. Daß die Tarantel nicht unbedingt erforderlich war, um von Tarantismus ergriffen zu werden, ist bereits bemerkt. Nach dem Erlöschen der Epidemie ging der Skepticismus schon des vorigen Jahrhunderts soweit, zu behaupten, daß die Tarantel ein in keiner Weise gefährlicheres Geschöpf sei, als Wanzen und Flöhe, und heute noch wird diese Behauptung, gestützt auf ein paar zu ähnlichem Resultat gelangte Untersuchungen, einfach aus einem Lehrbuch in das andere herübergenommen. (Vergl. auch die Bemerkungen in einem früheren Aufsatze der „Gartenlaube“ über Geistesepidemieen, Jahrg. 1863, S. 473.) Indessen wäre es immerhin schwer verständlich, warum das Mittelalter gerade diesen Spinnen eine solche Gefährlichkeit zugeschrieben, wenn nicht irgend etwas an der Sache wäre. Zudem giebt es wenigstens eine Spinne, die Malmignatte, deren stark giftige Wirkung nicht geleugnet wird.

Versuchen wir es einmal mit einer sorgfältigeren kritischen Zusammenstellung dessen, was aus neuerer Zeit an genauer Beobachtung über die Wirkung des Bisses unserer großen europäischen Giftspinnen, der Taranteln und der Malmignatte, vorliegt, um die rechte Mitte in Entscheidung der Frage zu gewinnen.

Die Taranteln gehören zur Familie der Wolfsspinnen. Sie haben acht Augen von ungleicher Größe, von denen zwei kleinere [695] Paare ganz vorn am Stirnrande in einer Linie stehen, während die zwei anderen größeren Paare sich hinter diesen befinden. Von den vier langen Beinpaaren ist das dritte das kürzeste. Diese Spinnen laufen schnell und überfallen ihre Beute im Schuß. Des Tages halten sie sich in Löchern auf, aus denen sie gewöhnlich nur in der Dämmerung oder des Nachts hervorkommen, um auf Raub auszugehen. Die Weibchen sind größer als die Männchen; sie tragen ihre Eier mit sich herum und vertheidigen diese sowie die ausgeschlüpften Jungen muthig gegen alle Angriffe. Einige Taranteln tragen sogar ihre Jungen auf dem Rücken mit sich.

Die schwarzbäuchige Tarantel (Weibchen). Rückenseite.

Der Ursprung des Namens „Tarantel“ ist dunkel. Man verweist auf die „Terrantola“, eine Eidechse, welche von den Römern für giftig gehalten wurde, und meint, dieser Name sei später auf die Spinne übertragen worden. Andere bringen den mittellateinischen Namen „Tarantula“ mit der Stadt Tarent oder dem Flusse Thara in Apulien in Beziehung, wo der Tarantismus besonders heftig und häufig auftrat. Dunkel ist auch das Verhältniß der Bezeichnung für den Tanz Tarantella zu dem Namen des Thieres; schwerlich ist jene durch Ableitung von diesem entstanden.

Die apulische Tarantel (Weibchen). Rückenseite.

Die Taranteln sind in südlichen Ländern ziemlich häufig; oft zeigt dieselbe Art hier oder dort eine kleine Abweichung in der Farbe oder der Größe, was allein noch nicht berechtigt, verschiedene Arten zu unterscheiden. Ferner ändert sich die Farbe der Taranteln nach dem Alter und nach dem Wohnort, und daher kam es, daß dieselbe Spinne von verschiedenen Beobachtern abweichend beschrieben und benannt wurde. Alle haben sie große Giftdrüsen und vertical stehende, stark entwickelte Klauen. Wir nennen die schwarzbäuchige und die apulische Tarantel.

Die schwarzbäuchige Tarantel (Lycosa melanogastra oder narbonensis) lebt im Süden Frankreichs, der Türkei und in den pontischen Steppen, wo sie sich in trockenen, steinigen und unbebauten Gegenden aufhält. Sie erreicht eine Länge von zwei Centimeter und darüber. Ihr Rücken hat gelbbraune Färbung; die Zeichnung desselben ist aus untenstehender Illustration ersichtlich. Der Bauch ist ganz schwarz und die Füße sind unregelmäßig schwarz und weiß gefleckt. Während des Winters bleibt die Spinne in ihrer Höhle, deren Oeffnung sie mit Geweben verschließt, wodurch dieselbe für Regen und Schnee undurchgängig wird. Zu dieser Zeit sind die Spinnen scheu und zeigen keine Lust zum Beißen.

Die schwarzbäuchige Tarantel (Weibchen). Bauchseite.

Die apulische Tarantel (Tarantula Lycosa) erreicht eine Länge von drei Centimeter. Der ganze Körper ist dicht behaart, der Hinterleib dunkel schwarzblau mit mannigfaltigen regelmäßigen Zeichnungen. Die Füße sind sehr lang, mit zahlreichen weißen und schwarzen Flecken versehen. Sie lebt in Spanien und im südlichen Italien und kommt hauptsächlich in den heißen Sommermonaten zum Vorschein, wo sie dann auf Heuschrecken, Grashüpfer und allerlei andere lebende Insecten Jagd macht. Sie baut sich eine Höhle in die Erde, welche etwa ein Fuß tief ist und im Zickzack erst senkrecht, dann wagerecht, endlich wieder senkrecht verläuft; die Wände derselben sind mit Geweben austapeziert. In diesen Höhlen legen die Thiere ihre Eier nieder, welche sie treulich pflegen und hüten.

Die Malmignatte

Die Malmignatte (Latrodectus malmignatus oder Aranea tredecimguttata) ist in Italien, auf Corsica und auf den Antillen häufig, gehört aber nicht zu den Wolfsspinnen, sondern zur Familie der Webspinnen. Sie erreicht eine Länge von zwei Centimeter. Der Körper ist schwarz, mit dreizehn Punkten gezeichnet, deren Form und Anordnung aus der Abbildung ersichtlich ist. Diese Punkte sind bei jungen Individuen weiß und werden später blutroth. Die acht Augen sind einander in der Größe fast gleich; sie stehen in zwei Reihen hinter einander, so zwar, daß die vordere Linie schwach concav, die hintere schwach convex nach vorn gebogen ist. Die Beine sind ungleich lang, und das dritte Paar ist das kürzeste. [696] Die Spinne baut sich über dem Erdboden ein unregelmäßiges, verworrenes Fangnetz und lauert aus einer kleinen sauberen Zelle in dessen Nachbarschaft auf ihre Beute, welche sie durch ihren giftigen Biß rasch tödtet. Die Giftdrüsen sind stark entwickelt, die Klauen jedoch verhältnißmäßig klein und schwach.

Im Jahre 1830 trat diese Spinne in einigen Gegenden Spaniens in großer Zahl auf und verursachte[WS 1] bei der Bevölkerung durch ihren gefährlichen Biß viel Furcht und Schrecken. 1833 erschien sie wieder, und zwar in einer solchen Menge, daß die Landleute kaum mehr wagten ihre Wohnungen zu verlassen und auf dem Felde zu arbeiten.

Die Malmignatte wird auf Corsica besonders zur Erntezeit den Schnittern gefährlich.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Auch ein Octoberfest – zum 50. Geburtstage der Eisenbahnen. Schon war im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts die Dampfkraft bezwungen; schon wurde die menschliche Hand durch die Arbeit der Locomobile befreit, und Raddampfer durchkreuzten bereits die unendlichen Fluren der Oceane. Jetzt galt es, auch die Zugkraft des Pferdes durch den Dampf zu ersetzen, und lebhaft beschäftigte dieser Gedanke die Menschen. In der alten und neuen Welt häuften sich Projecte auf Projecte, aber, wie immer, mißlangen auch in diesem Falle die ersten Versuche. Erst George Stephenson, Sohn eines schlichten Kohlenarbeiters, war von der Vorsehung dazu berufen, diese in den Geistern seiner Zeit aufgetauchte Idee zum Segen der Menschheit zu verwirklichen.

Geboren am 9. Juni 1781 in Wylam bei Newcastle, hat er als Kohlenjunge bei einer Locomobile seine Ingenieurcarrière eröffnet. Durch sinnreiche Reparaturen der Maschine legte er die ersten Proben seiner technischen Befähigung ab, und schnell schwang er sich zum Director der großen Kohlenwerke des Lords Ravensworth empor. In der Geschichte der Erfindungen sehen wir hierauf seinen Namen zuerst neben demjenigen Sir Humphrfey Davy’s glänzen, da er gleichzeitig mit diesem eine Sicherheitslampe für Kohlengrubenarbeiter construirte. Tausend Guineen wurden ihm dafür als Ehrenpreis zuerkannt und ein Festmahl zu seiner Ehre abgehalten. Hier erklärte er – welch ein schöner Zug seines Charakters! – das Geld für die Ausbildung seines einzigen Sohnes verwenden zu wollen. Goldene Früchte trug ihm diese Erziehung; denn Robert Stephenson vereinigte mit dem Genie seines Vaters die Vorzüge einer tüchtigen wissenschaftlichen Bildung und wurde zu einem der berühmtesten Ingenieure Englands, zum Erbauer der Britanniabrücke.

Im Jahre 1814 construirte George Stephenson die erste Locomotive für die Kohlengruben in Killingworth, ein unbeholfenes Ding im Vergleiche mit seinen späteren Modellen. Zehn Jahre darauf sehen wir ihn an der Spitze einer von ihm begründeten Maschinenfabrik in Newcastle, und schon im folgenden Jahre wurde unter seiner Leitung die erste kleine Eisenbahn zwischen Stockton und Darlington eröffnet. Zum ersten Male wurden auf dieser Linie Personen durch Dampfkraft befördert. Aber ungläubig sah die Welt den Arbeiten des rastlos vorwärts strebenden Mannes zu. Hat doch selbst vor fünfundvierzig Jahren ein Gelehrter und Staatsmann, Thiers, von der Rednerbühne des Parlaments herab erklärt, die Eisenbahnen wären ein kindliches Spielzeug, das im günstigsten Falle Paris mit der Vorstadt von St. Germain verbinden könnte. Nicht anders urtheilten in jener Zeit die klugen Volksvertreter Englands. Kurz und bündig wiesen sie Stephenson, der die Unterstützung des Parlamentes anrief, als einen Phantasten zurück. Dennoch fanden sich unternehmungslustige Männer, welche zu einer Gesellschaft, der Booth-Compagnie, zusammentraten und einen Versuch in größerem Maßstabe zwischen Liverpool und Manchester auszuführen beschlossen. Diese Gesellschaft schrieb am 25. April 1829 eine Preisbewerbung von fünfhundert Pfund Sterling aus für die Erfindung einer Locomotivmaschine, die nicht über sechs Tonnen (à zwanzig Centner) wiegen, ihr dreifaches Gewicht mit einer Geschwindigkeit von zehn englischen Meilen in der Stunde ziehen und nicht über fünfhundertfünfzig Pfund Sterling kosten würde.

Am 6. October 1829 traten drei Bewerber auf, unter ihnen Stephenson. Der Preis wurde ihm zuerkannt; denn seine Maschine erfüllte nicht nur die gestellten Bedingungen, sondern übertraf sie sogar. Sie zog ihr fünffaches Gewicht und legte in einer Stunde 14 bis 20 englische Meilen zurück. Auf die Eisenbahn Liverpool-Manchester folgten bald andere in Europa und Amerika: die Bahn war gebrochen.

Das war der herrlichste Triumphtag im Leben Stephenson’s, zugleich der Geburtstag der Eisenbahnen.

Hochbejahrt, im Besitze eines reichen Vermögens, stolz auf seine Werke und den treuen Mitarbeiter, seinen Sohn, hinblickend, beschloß der Mann, welcher erst in seinem achtzehnten Lebensjahre lesen und schreiben gelernt und vom Hirten zum Kohlenjungen, Maschinenbauer und Begründer der Eisenbahnen nur aus eigener Kraft emporstieg, sein verdienstvolles Leben. Das dankbare Albion hat ihm bis heute drei Denkmäler errichtet. Aber gewaltigere Ehrenzeugen, als Standbilder aus Marmor, erhalten sein Andenken unter den Menschen: Die zahllosen Schienenstränge in allen Welttheilen, die meilenlangen Viaducte und Tunnels, das rollende Material von Millionen und aber Millionen Eisenbahnwagen, die überall den Handel und Wandel beleben und die Cultur verbreiten – das sind in der That heute, nach fünfzig Jahren, Denkmale, wie sie mächtiger den Ruhm Stephenson’s nicht verkünden können.




Ein Festmahl im sechszehnten Jahrhundert. (Zu dem Bilde aus S. 688 und 689.) Das Reformationsjahrhundert ist die Zeit der höchsten Blüthe mittelalterlicher Kunst; eine solche Farben- und Formenfreudigkeit ging damals durch die Welt, daß die Kahlheit unserer Lebensformen nirgends mehr als bei Vertiefung in jene glänzende Vergangenheit auch unserer deutschen Verhältnisse sich aufdrängt. Wer den Geist jener Epoche in der vollen Entfaltung seiner schönheitverklärten Sinnlichkeit auf sich wirken lassen will, der muß Paul Veronese’s Gastmähler studiren, mit ihrer reizvollen Architektur, mit dem Prunk reicher Gewänder und farbenschillernder Geräthe, mit ihrer ganzen heiteren und blühenden und doch wieder vornehmen Pracht. Gerade die Feste bedingen natürlich eine gewisse Zusammen- und Zur-Schau-Stellung dessen, was ein Haus an Schmuck- und Prunkstücken besitzt. In diesem Sinne bildet auch das Gonne’sche Festmahl, welches wir heute in Holzschnitt geben, eine Art Blumenlese aus den Formen adeligen Lebens in der Renaissancezeit; wie denn solche Blumenlesen heute eine besondere Berechtigung haben, wo das wiedererwachende Kunstgewerbe in den Formen einer besseren Vergangenheit sich die Bildungselemente zu eigenem Schaffen zu suchen bestrebt ist. Das Bild hat auf den Ausstellungen zu Köln, Dresden und Stuttgart die Probe seiner Wirkung in einer für den Maler sehr ehrenvollen Weise bestanden.




Die europäische Metropole des Schweinehandels. So Mancher wird sich jener Heerden von Schweinen erinnern, welche je zuweilen, unter lebhafter Antheilnahme seitens der lieben Jugend an dem Ereigniß, durch die Straßen seines Heimathsortes getrieben wurden und welche sich durch die Kauflust stets um ein paar Exemplare dieses nützlichen Hausthieres zu vermindern pflegten. Nur wenige jedoch dürften klar darüber geworden sein, wem diese Thiere eigentlich gehörten und woher sie kamen. Die Antwort ist, fast für alle Fälle, in folgenden Mittheilungen enthalten: Wenn man auf der Franz-Joseph-Bahn die fruchtbaren Gefilde des südlichen Böhmens durcheilt hat, gelangt man über Gmünd zur Station Vitis und von da zu Wagen in etwa zweieinhalb Stunden zur Hauptstadt des kontinentalen Schweinehandels: nach Thaya, einem Flecken von 7000 bis 8000 Einwohnern, welcher still, freundlich und sauber in einer sanften Thalmulde Niederösterreichs liegt. Wer da glaubt, daß hier der Appellplatz für jene vierfüßige Waare zu finden sei, der irrt gewaltig, denn Thaya ist lediglich die Hochburg dieser Großhändler, das Tusculum ihrer Familien, aber zugleich auch die Hauptschlagader ihres Capitals. Die Sitze dieser kleinen Crösusse charakterisiren sich dem Beschauer sofort durch ein komisch wirkendes Gemisch von Pracht und Geschmacklosigkeit, häufig gepaart mit einer schauderhaften Malerei an Thüren und Hausfluren. Es ist aber ausdrücklich zu bemerken, daß, entgegen der unappetitlichen Eigenschaft, welche der Handelswaare anhaftet, sich diese villenartigen Häuser von außen und innen durch große Sauberkeit und großstädtischen Comfort auszeichnen. Hier wohnen die Familien der Schweinehändler das ganze Jahr, während die Herren jährlich etwa nur viermal auf kurze Zeit heimzukommen pflegen, um die Ihrigen zu sehen und um neue Capitalien aufzunehmen, respektive zurückzuzahlen[WS 2], wie wir gleich sehen werden. Den übrigen Theil des Jahres verbringen sie auf ihren Comptoiren in Wien, den Pußten Ungarns oder in den Wäldern Galiziens, Ungarns, Slavoniens.

Unbedingt ein Unicum ist die finanzielle Seite des Geschäftes dieser Leute. Die Bauern von Thaya und Umgegend nämlich legen mit Vorliebe ihre Ersparnisse in die Hände der Schweinehändler gegen eine jährliche Verzinsung von 8 Procent, und zwar ohne jeden Schein und nur gegen das mündliche Versprechen der Rückzahlung nach einer gewissen Frist bei obengenannter Verzinsung. Und eigenthümlicher Weise hat sich dieser vertrauensselige Credit aufrecht erhalten, obgleich in der „Krachperiode“ eine große Menge Bauern durch den Bankerott einiger Schweinehändler, welche ihre Capitalien in faulen Banken Wiens untergebracht hatten, Alles verloren. Der Händler pilgert nun mit dem von den bäuerlichen Geldern gefüllten Portefeuille, welches bei seiner Abreise nicht selten 80,000 bis 100,000 Gulden bergen soll, nach Wien, wo er bereits von seinen Gehülfen, meist jungen Leuten, erwartet wird, die wiederum eine Menge Treiber unter sich haben.

Mit diesen Gehülfen schließt er die Geschäfte an Ort und Stelle ab, und jene zerstreuen sich mit den ihnen zugewiesenen Schweinelegionen nach allen Weltgegenden. Diese Gehülfen genießen aber auch andererseits ein seltenes Vertrauen seitens ihrer Herren, denn ein solcher kehrt oft genug nach monatelanger Abwesenheit mit einer Summe von 20,000 Gulden und darüber zurück, und Veruntreuungen sollen trotzdem kaum je vorkommen. Jene Schweineheerden, von denen Eingangs die Rede war, repräsentiren somit ein ganz eigenthümliches Stück Handel, an dessen Existenz man nicht ohne Interesse vorübergehen kann.



Kleiner Briefkasten.

J. F. in W. Nur in Leipzig studirenden classischen Philologen werden Stipendien von Seiten der russischen Regierung gezahlt, wofür die Betreffenden zu regelmäßiger Theilnahme an allen Uebungen eines Seminars und mehrjährigem Dienst an den Schulen des bewußten Landes verpflichtet sind.

Schreibkrampf! Abonnent in Neustadt. Ihnen kann geholfen werden. Geben Sie Ihre volle Adresse an!

R. in Dresden. Die deutsche Uebersetzung der in unserem Artikel „Ein Arbeitsfeld für edle Frauen“ (Nr. 39) erwähnten Broschüre der Miß Hill ist bei Niedner in Wiesbaden unter dem Titel „Die freiwillige Armenpflege Londons“ erschienen.

G. F. in Tr. Natürlich Schwindel!




Verantwortlicher Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Das Mozart-Museum zu Salzburg soll dasselbe gegenwärtig aufbewahren.
  2. Levassor war ein berühmter französischer Komiker (geb. 1808), der besonders in den Pariser Variété-Theatern spielte, sich aber auch auf Kunstreisen im Auslande, namentlich in Deutschland, bekannt gemacht hat. Die drastischste Komik entwickelte er in seinen Bauern, Soldaten und Engländern.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verursuchte
  2. Vorlage: zurückzuzahleu