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Die Gartenlaube (1879)/Heft 44

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[729]

No. 44. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Felix.
Novelle von Karl Theodor Schultz.
(Schluß.)


11.

Einige Tage waren vergangen. Mit den besten Vorsätzen hatte Pranten am Morgen nach der Gewitternacht die Klinik betreten, sich unausgesetzt beschäftigt und selbst seine Freistunden damit hingebracht, allerlei in letzter Zeit in Unordnung Gekommenes wieder in den alten Gang zu bringen. Seine Stimmung war dabei frischer, weniger unruhig als seit Monden. Freilich, sobald irgend eine nothwendige Pause in seiner Beschäftigung eintrat, sah man ihm an, daß er tief ermüdet sein mußte, trotz des fieberhaften Verlangens nach immer neuer Thätigkeit.

So war wieder einmal der Abend herangekommen, die Klinik wurde geschlossen und Pranten schritt langsam den Rosengang hin, seinem Häuschen zu. Die Blumen dufteten stark; ein Luftzug, kaum fühlbar, streifte seine Wangen; die eben untergehende Sonne hauchte über Alles einen goldenen Schimmer.

Pranten fühlte sich unendlich wohlthätig berührt; der Athemzug so vieler Schönheit erquickte ihn, wie ihn seit lange nichts erquickt hatte. Sein Schritt wurde immer langsamer, und bei der Wendung des Ganges, wo sich der Durchblick auf’s Gebirge öffnete, blieb er stehen. Träumerisch folgte er den zarten, so bestimmten und doch gleichsam in den Horizont verschwimmenden Berglinien. Etwas wie Sehnsucht nach der bloßen Ferne, Sehnsucht ohne Namen, ohne wahren Zweck stieg in ihm auf. Mit einem Seufzer riß er sich los; mit tieferem Aufathmen betrat er sein Zimmer.

Das Fenster stand offen; im Zuge bewegten sich die weißen Vorhänge; Schwalben flogen hin und wieder.

Genau so war es gewesen, als er an jenem verhängnißvollen Gewitterabend heimgekehrt. Und mit dem Gedanken wurde auch wieder das ganze Elend der Gegenwart in ihm lebendig; er sank wie erschöpft auf einen Stuhl und verlor sich in regungsloses Hinbrüten.

Mehr und mehr erlosch alles Licht; ein frischerer Wind wehte auf; wie mit den Wolken trieb die Dämmerung daher. In den Ecken begannen Schatten zu lagern; ein leises Tönen geheimnißvoller Laute, halb Blätterrauschen, halb Windesstimmen, zog durch den Raum, und die Vorhänge bauschten sich wie um Gestalten. Pranten sah in der That Gestalten, doch immer dieselbe eine: jetzt ihm die Arme öffnend, jetzt mit sanftem Ernst ihn anblickend oder fortschwebend und winkend. Er fuhr mit der Hand über die Augen; der Spuk war verschwunden, aber das heiße, unbezwingliche Sehnen nicht. So viele Tage hatte er schon durchgerungen und endlich selbst die Hoffnung verloren, von ihr noch zu hören. Alles zu Ende, Alles wieder so öde um ihn her, wie es immer gewesen. Und dennoch erschien er sich ruhig heute, so todtruhig, daß er wohl wagen konnte, was er bis dahin vermieden hatte – warum eigentlich vermieden? Liegt es doch tief in der Natur des Menschen, die Stätte wiedersehen zu müssen, wo er glücklich gewesen. Sucht er aus ähnlichem Grunde nicht auch seine Todten auf?

Mit raschen Schritten, als könnte ihm noch Reue kommen, eilte Pranten, die Hauptstraße, die er sonst gegangen war, heute vermeidend, durch ein anderes Stadtviertel nach der Frauengasse, die er ein wenig oberhalb des Hauses, wo Josephine wohnte, betrat. Es war inzwischen völlig dämmerig geworden und wohl unnöthig, daß er dicht an den gegenüberliegenden Häusern der Straße hinschritt, aber es trieb ihn etwas dazu. So näherte er sich Nr. 18; je näher er kam, um so starrer wurden seine Blicke, um so beklommener sein Empfinden, als thäte er dennoch Unrechtes.

Alle Jalousien der Fenster niedergelassen; nirgends ein Lichtschimmer! Sonst waren die Jalousien des Gesellschaftszimmers stets offen geblieben – aus welchem Anlaß hatte man sie geschlossen? Die hämmernden Schläge des Herzens wollten in Pranten’s Brust nicht aufhören. Wär’ es denkbar, was er doch denken mußte – fort? Josephine fort? Abgereist ohne ein letztes Wort? Wirklich vorbei, was er trotz Allem noch nicht hatte fassen können? Aber nein! Es war heiß gewesen; nur deshalb hatte sie die Jalousien schließen lassen; wie immer saß sie auf dem Altan – darum fehlte auch das Licht in ihrem Zimmer. Jeden Augenblick konnte es aufleuchten – – war es da nicht schon? Oeffnete sich nicht das Fenster? Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Bloße Täuschung! Alles blieb unverändert.

Wie ließ sich erfahren, ab sie daheim war? Im Eckladen drüben konnte er etwas kaufen – dabei fragen. Und wenn man ihn erkannte? Er sah sich rathlos um; da lehnte noch ein Dienstmann.

Er trat zu ihm und theilte ihm mit einer gewissen Ueberstürzung sein Verlangen mit. Der Mann lachte breit.

„I da kann ich Ihne schon Auskunft gebe; die Herrschaft is verreist; ich habe die Koffer selbst zur Bahn bringe müsse. – Zwei Damens?“

Pranten nickte.

„Eine so ein schmales Herrgottskäferche? kreideweiß?“

„Entsinnen Sie sich des Tages?“

[730] „Das muß noch in vergangener Woche gewese sein; richtig, den Tag nach’m Brande. Wisse Se, als es eingeschlage? Das war Donnerstag; Freitag Abend brachte ich die Sache weg – hier auf die Ostbahn.“

„Auf die Ostbahn!“ wiederholte Pranten tonlos und fuhr mit dem Stocke immer wieder die Fliesen entlang.

Nach einer Weile fragte der Dienstmann, indem er mitleidig den Kopf schüttelte: „War wohl gar was Liebes vom Herrn?“

Pranten schreckte auf und sah wirr um sich; dann suchte er für den Mann hastig eine Münze hervor, gab sie ihm und verschwand um die Ecke.

Lange irrte er ziellos umher; etwas zu Ende denken konnte er nicht. Die Gedanken wirbelten und kreisten, bis ihm der Kopf schmerzte und das Blut ihm zu Herzen drang, als sollte es ihn ersticken. Ohne Lebewohl war sie gegangen; nicht eines Grußes, den man doch für bloße Bekannte hat, nicht einmal dessen hatte sie ihn werth gehalten! Aus seinem Herzen quoll ein wilder Aufschrei: „Josephine!“ Dann sank er zu Boden wie ein Todter.

Er lag auf etwas, das schmerzte plötzlich; aus seiner Versunkenheit erwachend, sah er, daß es Wurzelknorren einer Weide waren, die über den Boden herausragten. Mit leisem Glucksen schob sich müde ein Wasser fort; in der dunkeln Fluth zitterte das falbe Licht des ersten Mondviertels. Schaurig still und einsam dehnte sich eine flache Landschaft hin.

Er mußte sich erst besinnen, wo er hingerathen war. Die Umgebung erschien ihm gänzlich unbekannt; hinter ihm die schwarzen Laubmassen konnten nur zum Stadtpark gehören; bis über dieselben hinaus flog der helle Gasschein.

Hastig sprang er auf und eilte bald auf bekannteren Wegen dem Parke zu. Je näher er diesem kam, um so ruhiger wurde sein Schritt. Seine Stimmung wechselte mehr und mehr; zuletzt ging sie in eine Art von Humor über. Mit stillem Behagen sah er in die erleuchteten Locale, aus denen Musik und heiterer Gesang erschallte. Was er noch eben geflohen, jetzt lockte es ihn auf einmal. Zu Ende mit dem Gewinsel! Nur eine Reue gab es noch für ihn – die um ungenutzte Stunden.

Da ging es nach seiner Wohnung ab. Gedankenlos bog er in das Gäßchen, doch plötzlich stehen bleibend, lachte er auf, hob die Hand wie zum Gruße und schritt in entgegengesetzter Richtung weiter. – –

In der Morgenfrühe schwankten drei Männer desselben Weges. Zwei waren angetrunken; der Große, welcher zwischen ihnen hinstolperte, lallte nur. An der Thür eines Häuschens, um welches Rosen dufteten, machte das Kleeblatt Halt; wüstes Anbieten, wüsteres Abweisen gellte durch die Nacht. Endlich schoben sich doch alle Drei in das Häuschen.

Kurze Zeit darauf kamen Zwei wieder heraus, und Einer von ihnen rief johlend: „Der schöne Felix hat wieder seinen bösen Rausch!“




12.

Unter den öffentlichen Gärten der Residenz war der von prächtigen Alleen durchzogene Burgthorgarten der besuchteste. Seine zahlreichen Kastanienbäume und großblättrigen Linden spannten ein vollständiges Laubzelt über ihm aus und bewahrten ihm selbst im Hochsommer einen wonnigen Hauch von Kühle und Frische; seit Väter Zeiten her galt er als eine Art neutralen Bodens, auf dem sich im buntesten Gemisch und mit gleichen Rechten Arm wie Reich, Hoch wie Gering tummelten. Deshalb wurden hier auch, unter dem großen türkischen Gartenzelte, alle Concerte gegeben, die einen Wohlthätigkeitszweck verfolgten.

Auch heute Abend war ein solches Concert, durch welches sich die Residenzler auf ziemlich mühelose Weise ihr Stück Gotteslohn verdienten. Ein schwerer, in einem Gebirgsthal des Ländchens niedergegangener Wolkenbruch, der die gesammte Ernte jenes Landstrichs vernichtet hatte, mußte willkommene Gelegenheit geben, den Burgthorgarten wieder einmal zu besuchen.

Der ganze große Concertplatz war dicht mit fröhlichen Menschen besetzt, und selbst in den entlegensten Theilen des Gartens hatten sich kleine Gesellschaften eingerichtet. Es war ein unvergleichlicher Abend; das weiche Flüstern in den Baumwipfeln, das Spielen mit abendrothen Lichtern drängte sich Jedem wohlig in’s Herz, und die Harmonien durchdrangen wie ein Evangelium der Versöhnung dieses reizvolle Stückchen Welt.

An einem kleinen Tisch, der seitwärts auf dem Platze am Gartenzelt unter einer einzelnen Platane stand, saß Josephine Harder mit Frau Adelheid und einem jungen Manne, dessen Bewegungen und ganzes Benehmen auf den ersten Blick den Vollblutaristokraten kennzeichneten. Alles an ihm war gemessen und voll feiner Reserve, trotz eines verbindlichen, beinahe warmen Tones, sobald ihn etwas lebhafter erregte. Man lächelte oft an dem kleinen Tische, und Josephine schien dem Reiz einer sympathischen Unterhaltung völlig hingegeben. Baron Reichenau mußte seinen guten Tag haben; dann konnten ihn Anflüge von Witz, ja Geist in der That zum angenehmsten Gesellschafter machen.

Der Abend rückte vor; bald flammte es überall in den zahllosen weißen Lampenglocken der Candelaber, Bogen und Kronen. Ein gedämpftes Lichtmeer durchwogte den Raum und verwandelte ihn scheinbar, da sich das Laub der Bäume wie zu einer einzigen Wölbung emporhob, in einen mächtigen Saal.

Nicht weit von dem Platze, den sich Josephine gewählt, war ein offenes Büffet. Die Kellner liefen dort ab und zu; es trat auch wohl ein Herr heran und nahm im Stehen noch irgend einen „Steigbügeltrunk“. An einer Ecke dieses Büffets, mehr im Schatten als im Lichte, lehnte nachlässig ein hagerer Mann, der augenscheinlich mit sich zu Rathe ging, ob er noch etwas trinken sollte oder nicht. Begehrlich fuhren seine unsteten Blicke zwischen den Flaschen hin; die Hand klimperte in der Tasche mit kleiner Münze. Es war ein häßlicher Mensch; die eingebogene Nase, der große Mund mit dem fast vierkantigen Kinn hatten trotz des verhüllenden Bartes etwas Thierisches. Dabei sah er tief leidend aus; die eingefallenen Wangen waren aschfarben und alle Züge wie vorzeitig welk geworden.

Mit ein paar gleichsam hervorgestoßenen Worten forderte er endlich einen Rum. Er trank ihn und ließ sich das Glas nochmals füllen. In der Art, wie ihn die Büffetdame bedient, wie sie sein Geld genommen, mußte etwas gewesen sein, was den Mann verletzt hatte; er sagte höhnisch:

„Na na! Verbrennen Sie sich nur die Pfötchen nicht! Ihre Zimperlichkeit soll leben!“

Mit diesen Worten stürzte er auch das zweite Glas hinunter; bei dem Emporheben des Armes bemerkte man, daß sein Rock sehr abgetragen war, sich unten am Aermel sogar in Fransen auflöste.

Wie zufällig trat ein Polizist heran, und die beiden Männer maßen sich. In dem Blicke des Hagern, in seinem stolzen Sichabwenden lag für den Augenblick etwas Achtung Einflößendes. Er ging unbehelligt fort, und der Polizist begann ein Gespräch mit einem herbeikommenden Kellner.

Der hagere Mann trat an eine Statue, welche sich unter all diesen modernen Tischen und Stühlen seltsam genug ausnahm. Es war jene Polyhymnia, die, auf den umschleierten Arm gestützt, mit so ernstem Sinnen in die Ferne blickt. Der Mann legte die Hand leicht auf das Postament der Statue und sah gleichgültig in das Gewühl der aufbrechenden und kommenden Menschen. Plötzlich fuhr seine Hand am Postament hin und umfaßte wie im Krampf eine Ecke desselben. Auf den Wangen des Mannes trat scharf abgegrenzte Röthe hervor; seine Blicke hafteten in unnatürlichem Glanze auf einer Gruppe von Menschen, aus der sich eben drei Personen abzweigten, indem sie langsam einen Seitenweg einschlugen.

Der Mann eilte mit großen, unsichern Schritten querüber zu dem Bosquet, ging in demselben bis an die Stelle, wo jener Seitenweg einmündete, und stellte sich dicht an eine Platane. Ihre langen Aeste hingen wie ein Mantel um ihn.

Arglos, mit Scherzen auf den Lippen, näherten sich die drei Personen – Josephine mit ihren Begleitern – dem Bosquet. So fröhlich klang der Ausruf: „Ich gebe mich nicht gefangen – es gilt eine Wette.“

Den Mann unter der Platane mußte der Ton von Josephine’s Stimme erschreckt haben; er zuckte jäh zusammen. Doch nur einen Moment lang; dann schlug er die herumhängenden Aeste bei Seite und stand hochaufgerichtet vor ihr. Ehe sie zurückweichen konnte, hatte er ihre Hand gefasst:

„Finde ich Dich endlich? Wie lange Du mich suchen ließest!“ rang es sich von seinen Lippen.

„Sie, wirklich – Sie?“ rief Josephine, mit Entsetzen auf ihren Angreifer starrend.

[731] Reichenau, der neben Frau Ballingen gegangen, aber sofort an Josephinens Seite war, suchte sie durch einen kräftigen Stoß, welchen er gegen den Mann führte, zu befreien. Dieser aber hielt ihre Hand eisern fest und rief, sie an sich reißend:

„Zurück, Herr, mit Ihnen habe ich nichts zu schaffen, nur mit Der hier! Daß Sie es wissen – meine Braut ist sie vor Gott und Menschen.“

Reichenau sah Josephine, die das Haupt tief gesenkt hatte, betroffen an.

„Er ist wahnsinnig geworden, wahnsinnig,“ gellte Frau Ballingen’s Stimme dazwischen.

„Wäre das ein Wunder?“ fuhr der Mann auf. „Was mir geschehen, wem geschah das? Aber nein, so schwach bin ich doch nicht! Und nun sag’ Du mir, Feinslieb – ist es der neue Schatz? Juch, die Veränderung! Hüten Sie sich aber wohl, Herr!“ damit wandte er sich an Reichenau, „kommt Einer, dessen Larve schmeichlerischer als die Ihre, so kann Niemand gut stehen, ob Sie nicht morgen ohne Sang und Klang begraben werden. Figürlich, mein Herr, figürlich! Ohne Gift – mit einem Lächeln – Sie kennen ihr Lächeln doch? Fluch ihm – es hat mich zum Lumpen gemacht.“

Eine harte Faust packte seinen Arm und grinsend wiederholte der Polizist, mit dem er sich eben gemessen hatte:

„Ja, Lump! So haben wir doch richtig taxirt – vorwärts!“

„Was soll das?“ schrie der Mann zurücktaumelnd.

„Das fragt Er noch?“ entgegnete der Polizist mit festerem Zufassen; „man wird Ihn lehren, anständige Damen zu insultiren. Nur keine Umstände – sonst wird Er geschlossen!“

Josephine hatte betäubt, fassungslos dagestanden; ihre Begleiter versuchten sie fortzuführen; da riß sie sich los, stürzte trotz der Menschen, die sich rasch gesammelt, dem Polizisten nach und rief:

„Haben Sie Erbarmen. Ich bürge für diesen Herrn. Er hat mir nichts gethan, gar nichts; geben Sie ihn frei – es ist der Baron Pranten.“

Dieser, mit einem Ausdruck von Verachtung auf sie herabblickend, sagte rauh zu dem Polizisten:

„Nichts da, gar nicht beachtet – dergleichen Schwatz! Sie sind im Recht; ich folge Ihnen.“

Mit einer kurzen Wendung verschwanden Beide im Dunkel des Bosquets.




13.

Schwer und grau, ob auch die Sonne stets in all ihrem Sommerglanz gestrahlt hatte, waren die Tage für Josephine hingegangen. Was eben erst – nach beinahe zwei Jahren fortdauernden Kampfes – leise zurückzutreten begonnen, war von Neuem vor ihr aufgetaucht. Und in wie verzerrten Zügen! Hatte sie damals wirklich recht gehandelt? Ihr spurloses Verschwinden, das absichtliche Unmöglichmachen jeder neuen Annäherung, wer durfte heute noch behaupten, daß es einer Natur wie Pranten gegenüber das Rechte gewesen?

Was geworden, das verklagte sie nur allzu laut: er war verkommen um ihretwillen. Wenn sie damals die Kraft gefunden hätte, neben ihm auszuharren! Nicht in Liebe, doch mit Theilnahme, in Freundschaft! Hätte sie ihn nicht gehalten? O sicherlich! Dem Leichten – nun kam es ihr leicht vor – war sie aus dem Wege gegangen, um seinem Fluch zu erliegen. Gewiß, kein Mensch, kein Gericht konnte sie verurtheilen: für den Mann galt es die einfache Pflicht, sich aufzuraffen, wie es Unzählige vor ihm gethan, Unzählige noch thun müssen, so lange Menschen – Menschen bleiben; dennoch fühlte sie sich schuldig. Und ob es die Andern Verhängnis nannten, was bedeutete der Name? Es blieb dasselbe, immer dasselbe.

Ihre Phantasie irrte durch die grausigsten Möglichkeiten; der Reichthum, welcher sie umgab, jede Freundlichkeit des Seins lag nun wie ein Vorwurf auf ihr – denn er, er darbte bestimmt. Todt sah sie ihn – wie oft! Mit Zagen entfaltete sie jedes kommende Blatt des Anzeigers; trotzdem schickte sie oft vor der Zeit nach dem Blatte; es dünkte ihr wie augenblickliche Erlösung, wenn sie nichts fand, was auf ihn zu beziehen wäre. Keinen Schritt that sie aus dem Hause, weil es ihr immer war, als müßte er sie dann gerade aufsuchen; jeder Wagen, der einmal dichter an ihrer Straßenseite hinrollte, ließ sie an’s Fenster stürzen, um zu sehen, ob er bei ihr vorführe; kein Klingelzug ertönte, ohne daß sie, an ihre Thür gedrückt, lauschte, wer gekommen.

Auf den Polizeibureaus wagte sie nicht nach ihm zu forschen, weil sie hoffte, daß er neulich unbehelligt geblieben; der Polizist war ihr im letzten Augenblick wie mitleidig erschienen; ihr Forschen also konnte eine Verfolgung erst heraufbeschwören – und wer wußte, ob die nicht zu scheuen war?

Auch die Cousine hatte Alles umsonst in Bewegung gesetzt, um über Cleebronn her bestimmte Nachrichten zu erhalten; daß Pranten vor drei Monaten fortgegangen, blieb die einzige Auskunft. Und von keinem bessern Erfolg waren die discreten Erkundigungen Reichenau’s in der Residenz selbst begleitet gewesen. Es schien ersichtlich, daß Pranten verschollen bleiben wollte.

Frau Ballingen fand das nach dem letzten Auftritt aus Gründen der Scham, eines Restes von Ritterlichkeit ganz natürlich und fand es so am besten für alle Theile, Josephine aber vermochte den Gedanken gar nicht zu fassen. Es dünkte ihr völlig unmöglich, Pranten nie wiedersehen zu sollen; ohne ein Aussprechen, ein milderes Wort des Abschiedes – das durfte Gott nicht zugeben, so schwer hatte sie sich nicht vergangen.

So war schon die dritte Woche nach jener letzten Begegnung herangekommen. Es war Mittwoch Nachmittag, Josephine allein in ihrem Zimmer. Da meldete das Mädchen einen alten Mann, der ihr persönlich etwas abzugeben hätte. Josephine winkte nur: „Das kommt von ihm, von ihm –“ dachte sie halb, halb flüsterten es ihre Lippen.

Der Mann trat herein: ein ihr fremdes, angenehm gutmüthiges Gesicht. Mit großen fragenden Augen blickte sie ihn an und nahm ein zusammengefaltetes Blatt Papier entgegen. Sie öffnete es hastig; ein Blick auf die Handschrift – es war die seinige. Fast versagten ihr die Sinne, dennoch verstand sie Alles. „Ich komme gleich; werden Sie mich begleiten?“ fragte sie. Der Mann bejahte und erbot sich, eine Droschke zu holen.

Josephine ging nicht mehr zur Cousine hinüber, befahl sogar, ihr erst später zu melden, daß sie ausgefahren, und stieg mit dem Alten in den Wagen.

Nach einer langen Fahrt hielten sie vor dem Stadtlazareth. Ueber Pranten hatte ihr Begleiter wenig zu sagen gewußt; er wäre vor zwei Tagen aufgenommen worden und sollte schwer leidend sein. Weiteres hatte er nicht gehört.

Mit unwillkürlichem Schauder sah Josephine zu dem Lazarethgebäude empor; sein grauer, vom Regen verwaschener Anstrich, die dunkeln tief in den Mauern liegenden Fenster gaben ihm etwas Kaltes, beinahe Finsteres trotz des warm darauf ruhenden Sonnenscheins. Noch mehr fröstelte es Josephine in den langen Bogengängen, die sie durchschreiten mußte; alle Fenster derselben gingen auf einen öden, gepflasterten Hof hinaus, und zur Rechten führte Thür an Thür in Krankenzimmer. Aus diesen tönten hier und da undeutliche Laute, sonst überall Stille; nur einmal begegnete sie einem Heilgehülfen, der ein Brett mit Medicinflaschen trug und neugierig die hier wohl ungewöhnliche Erscheinung einer Dame musterte.

Endlich öffnete der Alte eine Thür und nöthigte Josephine, einzutreten. Zögernd, in plötzlicher Schüchternheit, überschritt sie die Schwelle eines gewölbten, hohen Gemaches, welches die gewöhnliche spärliche Einrichtung solcher Räume zeigte. Unweit des Fensters sah sie ein Bett stehen; der darin Liegende hatte sich in dem Kissen aufgerichtet und streckte ihr die Hände entgegen. Sie eilte auf das Bett zu; der Alte ging und zog leise die Thür in’s Schloß.

Für die ersten Augenblicke blieb es lautlos in dem Zimmer; Beide starrten sich in die Augen, als stände in ihnen Alles, was zu wissen Noth that. Dann nickte Pranten schmerzlich und bat sie durch eine Bewegung, sich auf den Schemel zu setzen, der am Bett stand.

„Wie unendlich gut von Dir, daß Du gekommen bist!“ sagte er weich, indem sie sich setzte.

„Schon all’ die Tage lang erwartete ich Dich,“ erwiderte sie.

„Das konnte ich nicht wissen, vielleicht wäre ich sonst gekommen. Selbst zu meiner heutigen Bitte trieb mich nur die Nothwendigkeit; eine doppelte: sie sagten mir, zum Abend bekäme ich einen Cameraden in’s Zimmer; dann hätte ich Dich nicht mehr sprechen können.“

[732] „Nicht mehr sprechen?“ fragte Josephine erschrocken und gewann, ihn scharf anblickend, nun erst das Bewußtsein davon, wie sehr er sich verändert hatte.

Pranten, der ihre Bestürzung in den Mienen las, nickte wieder und sagte: „Es geht zu Ende. Für mich giebt es nicht die trügerischen Hoffnungen gewöhnlicher Schwindsüchtler; ich bin Arzt – nur absichtlich könnte ich mich täuschen. Vor der Nacht ist’s wohl vollbracht. Das reimt sich sogar. Und wohl mir: der meinte es nicht gut, der mein Ziel weiter steckte. Aber nicht daran wollen wir denken; ich habe Dir noch viel zu sagen, Dich so Vieles zu fragen.“ Er hielt erschöpft inne; seine Finger strichen zitternd über die Decke hin. „So hast Du mir auch vergeben,“ fuhr er fort, „daß ich in dem Garten –“

„Nicht ich habe zu vergeben,“ unterbrach sie ihn erschüttert. „Du, nur Du! Und könnte mein Herz jetzt offen vor Dir liegen, Du müßtest nachsichtig mit ihm sein: es hat unsäglich um Dich gelitten. Nicht jetzt erst; was bedeuten Tage? So lang ich von Dir bin, so lange fehlte mir jedes Glück. Die Anderen sprachen mir wohl zu und verstanden Alles zu wenden; ich wußte auch nicht, wie ich Dir helfen sollte, da es stets nur das Eine gewesen, was Du fordertest, und ich mich trotz heißesten Verlangens da nicht hinfand – aber Frieden fand ich ebenso wenig. Felix, gieb ihn mir wieder! Du allein kannst es, Niemand, Niemand sonst.“

„Fasse Dich, Josephine!“ bat er. „Ich will Dir ja geben, Alles, was Dir Bedürfen scheint, und noch viel mehr. Das gebietet mir ja schon das Herz, das Dir immer nur Dank schuldet für jene unvergeßlich holde Zeit, in der es leben durfte. Die Tage, da es begann, könnte ich Dir herzählen, die Tage des Glückes – auch das Ende: ich habe in nichts Anderem gelebt, all’ die Zeit her. Sie werden Dir in Cleebronn sagen, ich wäre gleich dem Vater geworden, ein Trinker – Josephine! Glaube ihnen nicht! Nur wenn ich fühlte, wie der Wahnsinn die kranke Brust heraufkroch, dann mußte ich trinken. Das betäubte; zuletzt freilich gab es eine Gewohnheit. Aber daran sterben, wie es mit dem Vater ging – das ist nicht mein Fall. Von je lag etwas Schwächliches, so eine Art Giftkeim, in mir; der ist ausgeartet – in die Zehrung, sagen sie in Cleebronn. – Ich sterbe ganz natürlich; zeuge für mich. Ah! Oder laß sie auch hecheln und klatschen – nach Herzens Gefallen! Wenn man erst seine Bretter und Brettchen so nahe weiß – Du glaubst nicht, welche Ruhe das giebt, welche vornehme Ruhe.“

„Mein armer, theurer Freund!“

„Dein Freund! Hätte ich mir daran genügen lassen! Ich konnte es nur nicht, wie Du das Andere nicht konntest. So klar liegt jetzt Alles zurück – der ganze schwüle Weg. Wir sind aber nicht schuldig. Etwas über uns hat es so gewollt. Eine traurige Macht! So manches Gute lag wohl in mir, hätte noch Vielen zum Heile werden können – es sollte nicht sein. Unserem guten Alten wurde es recht schwer, mich fortzujagen.“ Pranten lächelte vor sich hin; dann fuhr er in demselben allmählich leiser gewordenen Tone fort: „Doch ich selbst mußte ihm neulich Recht geben; zu heillos wurde die Unordnung, und für die Klinik paßte ich schon gar nicht mehr. Sprichst Du ihn einmal, so danke auch ihm noch! Ueberlange hat er mich zu halten gesucht. Die Krankheit, meine Krankheit – es ging eben nicht.“

Er schwieg. Josephine vermochte nur mühsam ihre Fassung zu bewahren; mit zärtlicher Hast strich sie ihm das Haar aus der Stirn.

„Wie mein Vater zu thun pflegte, wenn ich krank lag,“ sagte er und zog ihre Hand an die Lippen. „Schon als Kind war ich viel krank, und es saß nur die Magd bei mir; aber mein Vater trat stets an’s Bett, bevor er ausging. – Nun ich Dich so vor mir sehe, jeden, auch jeden der geliebten Züge wiederfinde, nun ist es wie etwas Undenkbares, daß ich mich neulich so vergessen, Dir so weh thun konnte.“

„O, laß das! Ich weiß es nicht mehr.“

„Aber ich weiß es und erinnere mich wohl, woran es lag. Daß ein Anderer bei Dir war, glaubte ich damals nicht ertragen zu können; was bedeutet das heute noch? Wer war der Mann? Ist er Dir lieb? Viel lieber als ich?“

„Es ist ein Baron Reichenau, ein Verwandter von Adelheid. Nahe, wie Du es meinst, steht er mir nicht und wird es niemals –“

„O, nicht so! Verschwöre nichts, was vielleicht einmal schwer fiele zu halten! Du hast einmal solch zartes Gewissen: wie Du Dich mir gegenüber schuldig fühlst, wo Du so ganz schuldlos bist, könntest Du dereinst auch zögern, Deinem Herzen sein Leben zu gönnen, weil ein Todter dazwischen stände. Das soll, das darf nicht sein. Ich habe es immer für bare Teufelei, für unsern einzigen Geisterspuk angesehen, wenn solch Menschenwurm den Egoismus so weit treibt, selbst im Grabe noch das Schicksal von Lebenden sein zu wollen. Du bist viel zu hold und gut, als daß Du an solchem elenden Gesellen, wie ich es bin, zu Grunde gehen dürftest. Ich bitte Dich sogar herzlich, vergiß mich bald – mir wird ja so wohl sein. Du hast schon zu lange getrauert – nun in’s volle, herrliche Leben! Es kann unsäglich beglücken; traue mir darin! Auch denke immer, je glücklicher Du Dich fühlst, je seliger fühlt sich der todte Freund. Dein Glaube verheißt ja Unsterblichkeit! Ich bin nicht mehr eifersüchtig: das liegt so in der Art – im Leben schwach, im Tode stark.“

„Felix, laß von den Gedanken! Du rufst den Tod. Wir bringen Dich zu uns; ich will Dich pflegen; noch bist Du nicht so kraftlos. Deine Hand zittert nicht mehr; die Wangen haben sich geröthet.“

„Das ist ein böses Roth. Doch was ist da böse? Gedankenlos bis zuletzt! Ach!“

Er fuhr mit der Hand nach der Brust, indem er schwer und kurz aufathmete. Josephine faltete die Hände und blickte besorgt auf den mit geschlossenen Augen Daliegenden. Jetzt sah auch sie, daß sich über seine Züge schon etwas gebreitet hatte, was kaum mehr weichen konnte; vielleicht war sogar der Tod nahe. Angstvoll blickte sie umher, dachte schon Hülfe herbeizurufen – da schlug Pranten die Augen auf. Er versuchte zu lächeln und sagte, indem er sich auf die Seite stützte: „Tritt einmal an’s Fenster! Drüben links die hohen Bäume, siehst Du sie?“

„Eine Allee?

„Eine Kastanienallee; da ist unser Kirchhof.“

Josephine eilte an Pranten’s Lager zurück, und rief seine Hand unter Thränen an sich drückend: „Sei nicht so grausam!“

„Das bin ich nicht,“ erwiderte dieser, während seine Blicke starr am Fenster hafteten. „Da es der Zufall neulich so fügte, daß ich an dem Kirchhof entlang ging, warum hätte ich nicht eintreten sollen und mir die Stelle ansehen, die bald die meine sein wird? Zuletzt bezieht Jeder sein eigen Haus, wer auch nie eines besessen hat, pflegte unsere Marthe zu sagen. Auf die Nummer, welche daran ist, besinne ich mich nicht mehr, die Stelle ist aber leicht zu finden und so heimlich und in Frieden. Ich möchte nun nirgend anders hin; man muß sie im Voraus lieb haben. Die Kastanienallee links hinunter, nur ein Stückchen – da liegen die frischen Gräber alle bei einander; die beiden letzten sind recht öde; keine Blume, kein Zweig, nur das schwarze Täfelchen mit den Nummern! – Die armen Teufel, die darin schlummern, mögen keinen Verwandten zurückgelassen haben oder starben in der Fremde. Ich sterbe in der Fremde und lasse Niemand zurück.“

Josephine drückte seine Hand fester, indem sie ihm flehend in die Augen sah; er lehnte sich zurück und strich sanft über ihren Scheitel.

„Ich habe Unrecht: lasse ich doch Dich zurück, und Du wirst meiner freundlich gedenken, mir auch einmal eine Blüthe bringen. Jene Gräber hatten etwas Trauriges. Nur ein großer Busch Mondblumen steht ihnen zu Häupten. Ich mußte weinen, als ich sie sah; schon als Knabe liebte ich diese Blumen und ging immer, wenn sie blühten, mit dem einzigen Freunde, den ich gehabt, bis weit hinaus vor Cleebronn, wo sie an einem Berghang standen. Oft pflückten wir sie im Mondenschein und hatten dann wunderliches Hoffen in der Brust. Ob es ihn trog, ich weiß es nicht – Aber Du wirst meines Sprechens müde sein; ich hatte nur so lange mit Niemandem geplaudert und gerade zuletzt – willst Du gehen?“

„Nein, Felix! Es zerreißt mir nur das Herz, Dich von dem Allen mit dieser entsetzlichen Gewißheit sprechen zu hören.“

„Du bist meine starke Josephine. Und sage Dir immer, daß ich sehr müde war und gern geschieden bin, unsäglich gern, seit Du mich angehört, mir vergeben hast, was an Fehl- und Mißverstehen in mir gewesen ist. Aber hörst Du?“ er richtete sich auf, „da schleift es auf dem Gange her; sie schleppen etwas – wohl das Bett für den Andern, der noch hierher soll. Oder –

[733]

Ein panischer Schrecken.
Originalzeichnung von Fedor Flinzer.

[734] tragen sie wieder einen Sarg? Gestern trugen sie einen vorbei, und der schlug an meine Thür.“

Wie ein Schauer lief es über ihn.

„Laß uns scheiden, Josephine! Die Stunde war schon Seligkeit; bis zum Ende hätte ich so plaudern mögen, hier drängt aber Einer den Andern, und vor Fremden wollen wir nicht scheiden. Ja, sie setzen das Bett an die Thür. Habe ich Dir noch etwas zu sagen? Lasse mir kein Kreuz setzen, nichts – die Nummer ist übergenug; es schickt sich nicht: solch alter vornehmer Name und ein Armenkirchhof. O, ich kann immer noch scherzen. Auch keinen Geistlichen will ich; für mich bedeutet der Mann nicht die Auferstehung, die hinter dem Tode herschreitet. Ah, nichts von Auferstehung! Ich könnte wieder zum Grauen erwachen und wieder ein Herz haben!“

Die letzten Worte klangen schrill hin; er sank in die Kissen zurück. Mit einem Aufschrei beugte sich Josephine über ihn, doch er hob noch einmal den Kopf und sagte abgebrochen, indem er mit leuchtendem Blick zu ihr aufsah: „Sonst ging ich, und Du bliebst; heute gehst Du, und ich muß bleiben. Aber gehe nun – sie kommen sonst. O Du all mein Glück, sei zu tausend Malen gesegnet! Josephine, meine – Josephine!“

Der Name erstarb ist einem leisen Röcheln, Pranten’s Augen brachen. Eh die Andern kamen, war der Tod gekommen. – –




Drei Tage darauf, spät am Abend, fuhr ein Leichenwagen auf den Armenkirchhof. Nur zwei Damen folgten dem Gefährt.

Der Todtengräber sah die Beiden dann oft kommen; bis er nach Jahren einmal ein Grab neben Nummer 513 auszuwerfen hatte. Seit dem Tage kam nur eine von den Beiden noch. Ob die Bleiche fortgezogen war oder in dem neuen Grabe ruhte? was kümmerte es ihn! Er wußte es nicht.

Wir aber wissen es.




Ein Bild deutschen Innungswesens im sechszehnten Jahrhundert.
Zur Nutzanwendung für die Gegenwart.


Die Frage wegen Wiederherstellung oder Neubelebung des Innungswesens wird seit einiger Zeit in Presse und Vereinen so lebhaft erörtert und selbst von denjenigen Elementen, welche unser gegenwärtiges Handwerksrecht wesentlich geschaffen, im Rahmen der bestehenden Gewerbe-Ordnung so günstig behandelt, daß es fast scheint, als habe man beim Eintritt in diese neue Gewerbe-Ordnung die bestehenden Innungen als nunmehr inhaltlose Ueberreste den Vergangenheit zu voreilig über Bord geworfen.

Von den grundsätzlichen Freunden des Innungswesens, meist Gegnern unserer ziemlich unbedingten Gewerbefreiheit, hört man daneben vielfach aussprechen, daß ein wirksames, lebendiges Innungswesen dem deutschen Handwerkerstande eine neue Zeit der Blüthe verbürge, da es historisch feststehe, daß aus dem alten Innungswesen jener hohe Standpunkt des deutschen Handwerks namentlich im sechszehnten Jahrhundert hervorgegangen sei, von welchem noch heute manche jetzt kostbare, von den Vätern ererbte Kunstwerke, seien es Trinkgefäße oder Waffen, sei es Hausgeräthe oder goldenes Geschmeide, ein ebenso beredtes wie ehrendes Zeugniß ablegen.

Im Allgemeinen muß zugegeben werden, daß die künstlerischen Formen und die Tüchtigkeit, welche die Arbeiten des deutschen Handwerks in jener Zeit auszeichnen, wenn nicht ausschließlich, so doch in hohem Grade jener strengen Zucht zu verdanken sind, in welcher die Handwerkerarbeiten der damaligen Zeit von den Innungen gehalten wurden. Diese Innungen und Zünfte der Vergangenheit aber zu copiren, davon kann in der ganz veränderten Gegenwart keine Rede sein; was also unter diesem Namen heute sich schaffen läßt, das können sehr nützliche Einrichtungen sein, ob aber die heute möglichen Formen genügen, um die erfreulichen Resultate der mittelalterlichen Handwerksvereinigungen zu garantiren, das muß die Zukunft ausweisen.

Die Probe auf das Gesagte ist leicht mit einem Rückblick auf das alte Innungswesen gemacht.

Die Quellen des deutschen Handwerksrechtes dürften nirgends ergiebiger fließen als in Nürnberg, der Stadt der besten mittelalterlich-deutschen Kleinmeister, woselbst im Kreisarchive noch ein Pergamentcodex bewahrt wird, der alle vom Anfange des sechszehnten bis zum ersten Viertel des siebenzehnten Jahrhunderts in Nürnberg erlassenen Gesetze und Verordnungen über Handwerkswesen enthält. Die folgende Darstellung stützt sich auf die meist wörtlichen Auszüge jener erwähnten Nürnberger Gesetze, welche Dr. Stockbauer unter dem Titel „Nürnbergisches Handwerksrecht des sechszehnten Jahrhunderts“ jüngst veröffentlicht hat.

Beginnen wir mit der Darstellung des Nürnbergischen Lehrlingswesens im sechszehnten Jahrhundert! In der Werkstatt des zünftigen Meisters sollte der Lehrling so vollständig in dem erwählten Handwerk ausgebildet werden, daß er zunächst ein tüchtiger Geselle und schließlich ein tüchtiger Meister werde. Man unterschied scharf zwischen „gesperrten“ und „geschenkten Handwerken“; in ersteren konnten nur Bürgerssöhne das Meisterrecht erwerben, während dasselbe bei den „geschenkten Handwerken“ auch fremden Gesellen zugänglich war. Der Bevorzugung, welche den Bürgerssöhnen das Institut der „gesperrten Handwerke“ gewährte, stand die Verpflichtung gegenüber, daß kein Mitglied dieser Handwerke außerhalb der Stadt sein Handwerk betreibe, und zur Sicherung der Einhaltung dieser Verordnung war bestimmt, daß der Lehrling innerhalb der ersten acht Wochen seiner Lehrzeit Nürnbergischer Bürger werden mußte.

Im Uebrigen mußte jeder Lehrjunge von ehelicher Geburt sein und, meistens in Gegenwart der geschworenen Meister, beim „Pfänder“ eingeschrieben werden. Das Alter der Lehrjungen war im Allgemeinen dahin festgesetzt, daß es das sechszehnte Jahr nicht übersteigen durfte. Die Dauer der Lehrzeit war stets gesetzlich bestimmt, mit dem Verbot, daß von derselben etwas nachgelassen werde; im Uebrigen war sie nicht nur nach den verschiedenen Gewerben, sondern auch nach den Zeitverhältnissen verschieden. Die Gesetze über das Handwerkswesen der damaligen Zeit verfolgen nämlich ausgesprochenermaßen das Ziel, daß jeder Meister durch Ausübung seines Handwerks so viel erwerbe, wie er zum Unterhalte für sich und seine Familie gebrauchte. Deshalb mußte verhindert werden, daß in einem Handwerke die Zahl der Meister zu sehr anwachse. War dieses der Fall, so wurde die Dauer der Lehr- und Gesellenjahre vermehrt. Ein Gleiches geschah bei sogenannten schlechten Zeiten. Abgesehen von diesen Ausnahmefällen betrug beispielsweise die Dauer der Lehrzeit bei den Pfannenschmieden drei Jahre vor dem Feuer, dazu ein Jahr, um das Weißschlagen zu lernen; bei den Rubinschneidern, wenn Lehrgeld gezahlt wurde, vier, sonst sechs Jahre. Im Durchschnitt kann man die Zahl der Lehrjahre auf drei bis vier annehmen.

Was das Lehrgeld betrifft, so war die Höhe desselben bei den verschiedenen Handwerken wiederum verschieden. Den Rothschmieden war das Annehmen von Lehrgeld ganz verboten; die Maler durften, falls der Lehrjunge kein Bier bei Tische erhielt, höchstens 24 Gulden nehmen, die Lederer 4, die Messingschläger 20 Gulden. – Auch bezüglich des Lohnes der Lehrlinge herrscht dieselbe Verschiedenheit. Bei einigen Handwerken wurde erst in den letzten Lehrjahren Lohn gezahlt, z. B. bei den Goldschlägern im siebenten Lehrjahre wöchentlich 8 Kreuzer. Bei den „Barchetwebern“ wieder richtete sich der Lohn nach der Arbeitszeit; die Schleifermeister hatten wöchentlich 15 Pfennig zu zahlen; bei anderen Handwerken war die Höhe des Lohnes der Vereinbarung überlassen.

Die größte Abweichung von den heutigen Verhältnissen bestand wohl in der bei fast allen Handwerken wiederkehrenden Bestimmung, daß kein Meister zur Zeit mehr als einen Lehrjungen halten und nach Abgang desselben ein bis vier Jahre keinen neuen annehmen durfte. War der Zweck der ersteren Bestimmung zunächst darauf gerichtet, daß die Ausbildung des Lehrlings eine vollständige sei, so hatte die letztere Bestimmung den Hauptzweck, eine zu große Ueberfüllung des Handwerkes zu verhindern. Jene erstere Bestimmung wurde für höchst wichtig gehalten; so war in einigen Gewerbe-Ordnungen ausdrücklich vorgeschrieben, daß, wenn in anderen Städten Lehrjungen „unordentlich ihrer zwei, drei oder vier neben einander gelehrt würden und solche hierher kommen, [735] so sollen dieselben hier nicht gefördert oder zur Arbeit zugelassen werden“. Nur den Goldschmieden und den Kürschnern war gestattet, drei Lehrjungen neben einander zu halten.

Das willkürliche Verlassen der Werkstatt vor Ablauf der Lehrzeit war strenge verboten und wurde an dem Lehrlinge durch die Bestimmung gesühnt, daß derselbe „hinfür seines Handwerks beraubt war und weiter zu lernen nicht zugelassen wurde“. Auf der andern Seite fehlt es nicht an Bestimmungen, welche den Lehrling gegen schlechte Behandlung schützen und in gewissen Fällen ihm das Recht zusprechen, aus der Werkstatt auszutreten, und zwar: wenn er kein ordentliches Essen oder keine ordentliche Lagerstatt erhält, gefährlich mißhandelt, oder mit Arbeit überlastet, oder „durch den Meister oder dessen Weib mit Handarbeit, Kinderwarten oder Anderem so hart beladen wird, daß er in der Werkstatt nicht bleiben könnte und in der Lernung des Handwerks verhindert würde“. In einem solchen Falle durfte der Lehrling von einem andern Meister zum Auslernen angenommen werden, der schuldig befundene Meister aber wurde dadurch gestraft, daß er keinen neuen Lehrling annehmen durfte, bis die Lehrzeit des schlecht behandelten abgelaufen war.

Wie am Anfange der Lehrzeit die Einschreibung, so erfolgt nach Beendigung derselben die Ausschreibung, und zwar beim „Rugsschreiber“, außerdem die Ausstellung des Lehrbriefes, „der unter Wissen und im Beisein der Vorgeber in der Kanzlei unter gemeiner Stadt Insiegel gefertigt werden sollte“.

War der Lehrling freigesprochen, so trat er in den Gesellenstand ein, bezüglich dessen die Hauptgrundsätze in erster Verordnung vom 18. December 1573 enthalten sind. Darnach hatte sich der eingewanderte Geselle zunächst auf die Herberge zu begeben und nach den Zuschickmeistern zu senden, welche ihn an solche Meister wiesen, die nach der Zunftordnung zunächst auf seine Arbeit Anspruch hatten. Da es nämlich Grundsatz des Handwerks der damaligen Zeit war, daß kein Meister vor dem anderen einen Vorzug haben solle, so war sowohl den Meistern verboten, den ankommenden Gesellen Arbeit anzubieten oder sich Gesellen aus der Fremde zu verschreiben, wie auch den Gesellen untersagt, unmittelbar einem Meister ihre Arbeit anzubieten. Beide Theile mußten sich der Vermittelung der Zuschickmeister, beziehentlich der Zuschickgesellen bedienen, welche zunächst stets die Meister zu berücksichtigen hatten, die am längsten ohne Gesellen gewesen waren. Am genauesten waren diese Verhältnisse bei den Buchbindern geordnet: im Hause des ältesten Vorgebers befand sich eine Tafel, auf welche der eines Gesellen bedürftige Meister seinen Namen schrieb; kam nun ein fremder Geselle zugewandert, so wurde er zunächst zu demjenigen Meister gewiesen, dessen Name am längsten auf der Tafel stand. Bei ihm hatte er vierzehn Tage lang zum Mindesten zu arbeiten. Die Annahme als Geselle war für ihn an gewisse Bedingungen geknüpft, zunächst daran, daß er seine Lehrjahre ordnungsmäßig ausgelernt, ferner, daß er von seinem früheren Meister ordnungsmäßig entlassen worden war und auf „redlichen“ Werkstätten (das sind solche, welche innerhalb der Zunftordnung standen) gearbeitet hatte. Waren die vierzehn Tage Arbeit bei dem ersten Meister, zu dem der Geselle gewiesen, abgelaufen, so konnte er entweder bei ihm weiter arbeiten und „Leihkauf“ machen, oder in eine andere Werkstätte gehen.

Was den Lohn betrifft, so mußte derselbe entweder Stück- oder Wochenlohn sein; eine Verbindung beider Lohnarten war verboten. Jener, der Stücklohn, war immer durch Gesetz geregelt, letzterer, der Wochenlohn, vielfach der freien Vereinbarung überlassen. In der Schleiferordnung war der Wochenlohn auf 9 Pfund 30 Pfennig festgesetzt; hatte die Woche zwei Feiertage, so betrug der Lohn 7½ Pfund 30 Pfennig. Bei den Schneidern ergab der Wochenlohn nur 15 Pfennig, doch war den Meistern aufgegeben, die Gesellen beim Trinkgelde zu fördern; die Schuhmachergesellen erhielten für die Woche 5 Kreuzer und den Flicklohn unter 6 Kreuzer nebst Trinkgeld. Der Taglohn der Steinmetzen, Zimmerer und Dachdecker war 32 Pfennig und für jede Stunde Ueberarbeit 4 Pfennig; wegen Versäumniß ward dieselbe Summe abgezogen.

Da bei dieser Gelegenheit die Arbeitszeit in Frage kommt, so mag hinsichtlich dieser hier gleich bemerkt werden, daß bei einigen Handwerken, z. B. bei den Tischlern, die Arbeitszeit nach der Jahreszeit bald länger, bald kürzer war, wonach der Lohn bald sich erhöhte, bald aber sank; bei anderen war die Zahl der Stunden gesetzlich festgestellt, bei den Tuchmachergesellen z. B. auf 13 Stunden. So sehen wir schon zu dieser Zeit den „Normalarbeitstag“ gesetzlich eingeführt. Erhielten die Gesellen bei den Meistern Kost, so mußten sie Kostgeld zahlen; auch dieses war gesetzlich festgestellt, doch haben wir mehrere Beispiele, nach welchen das Kostgeld wegen theurer Zeit durch Verordnung erhöht wurde, z. B. bei den Haftenmachern von 38 Pfennig, zwar nicht, wie die Meister gebeten, auf 72, wohl aber auf 45 Pfennig.

Auch die Qualität der Arbeit ist in den betreffenden Gesetzen nicht unberücksichtigt geblieben: wegen nachlässiger Arbeit wurde vom Lohne ein Abzug gemacht, und für die Messingschläger setzte eine Verordnung fest, daß, wenn ein Geselle dem Meister „an seiner Arbeit muthwilliger Weise etwas verderben oder verwahrlosen würde, so solle der Meister dem Gesellen für solchen Schaden, wie die geschworenen Meister darüber erkennen, wöchentlich einen Gulden in Münz abzuschlagen haben.“ Ueber Streitigkeiten wegen des Lohnes entschied der Rath der Stadt.

Dasjenige, was man heute „Contractbruch“ nennt, war streng untersagt. Die Kündigungsfrist der Gesellen war bei den verschiedenen Gewerben verschieden bemessen, z. B. bei den Kürschnern auf vierzehn, bei den Deckmalern auf acht Tage. Außerdem war es Sitte, daß der Geselle nur am Sonntage austrat. So sagt eine Nürnbergische Verordnung wörtlich und verbietet damit zugleich das eigenmächtige Fortbleiben aus der Werkstatt:

„Es gebieten unsere Herren des Rathes, daß fürbaß kein Handwerksknecht an keinem Werktage seinem Meister von der Arbeit ausstehe, und will ein Knecht oder mehrere Einen schenken oder ihn ausbegleiten, so soll dies an einem Sonntage oder Feiertage und nicht an einem Werktage geschehen; wer dagegen handelt, den will man in’s Loch legen und strafen, wie es einem ehrbaren Rath gerathen erscheint.“

Zu einem „ehrlichen Urlaube“ gehörte auch, daß der Geselle eine angefangene Arbeit nicht unvollendet zurückließ. Ein Zuwiderhandeln wurde bald mit Lohnabzug, bald mit Ausweisung gestraft. Selbst wenn der „ausstehende“ Geselle alle diese Bedingungen erfüllt hatte, durfte er doch nur dann, wenn die Lösung des Arbeitsverhältnisses vom Meister ausgegangen war, in der Stadt nach anderweiter Arbeit sich umsehen, und zwar wiederum in der Weise, daß er auf die Herberge ging und die Vermittelung der Zuschickgesellen in Anspruch nahm.

War aber die Kündigung des Arbeitsverhältnis von dem Gesellen ausgegangen, so mußte er an demselben Sonntage die Stadt verlassen und durfte erst nach Ablauf einer gewissen Zeit wieder nach Nürnberg, um Arbeit zu suchen, zurückkehren.

Wegen gesetzlicher Feststellung der Gesellenjahre gilt dasselbe, was bei den Lehrlingen gesagt ist; nur kamen hier auch noch Fälle vor, in denen diese Gesellenjahre auf’s Unbestimmte verlängert wurden. Als z. B. im Jahre 1613 die Zahl der Schuhmacher eine übergroße geworden war, setzte man durch Verordnung fest, „daß kein Geselle mehr Meister werden solle, bevor nicht die gegenwärtigen Meister bis auf vierzig abgestorben seien“.

Hatte der Geselle als solcher die vorgeschriebene Zeit gearbeitet, so konnte er Meister werden. Als wesentliche Bedingung für die Erwerbung des Meisterrechtes ist das Meisterstück zu betrachten, über dessen Qualität die verschiedenen Gewerbe-Ordnungen eingehende Bestimmungen enthalten. Da auch die Maler eine Zunft bildeten, so mußten auch sie, um Meister zu werden, ihr Meisterstück machen, und „alle diese Meisterstücke“ – so sagt die Maler-Ordnung von 1596 – „damit ein Jeder bestanden und darauf er von den Rugsherren als ein Meister angesagt ist, sollen auf dem Rathause bleiben, damit eines Meisters vor dem anderen Fleiß und wie ein Jeder seiner Arbeit und Kunst halber qualificirt sei, dabei erkennt werde“.

Aus der Gesammtheit dieser, wie gesagt, sehr eingehenden Bestimmungen über die Qualität des Meisterstückes und der bei Anfertigung desselben geübten scharfen Aufsicht geht klar hervor, daß bei sehr vielen Gewerben die Anforderungen, welche an den künftigen Meister gestellt wurden, über das Maß gewöhnlicher Handwerksarbeit weit hinausgingen und so hoch gestellt waren, daß man die betreffenden Gewerbe ohne Bedenken in die Kategorie der Kunstgewerbe stellen wird. Es hat diese Strenge der Gesetze über das Meisterstück einen doppelten Zweck: auf der einen Seite gilt es, den guten Ruf der städtischen Handwerksarbeit nach allen Seiten hin zu wahren, damit der Absatz dieser Waaren sich nicht mindere; auf der anderen Seite soll das [736] Publicum die Garantie halten, daß es unter den zünftigen Meistern nur vollkommen in ihrer Thätigkeit erprobte Männer finden werde. Demselben Zwecke dient ein anderes Institut, welches noch weit schärfer in die sogenannte Freiheit von Handel und Wandel einschneidet, nämlich „die Schau“. Auch gehören hierher die sehr zahlreichen Vorschriften, welche die Anfertigungsart der Handwerkswaaren vorschreiben.

Was zunächst die Schau betrifft, so ist vorauszuschicken, daß jeder Handwerksmeister seine Waaren mit seinem Werkstattsstempel versehen mußte, dessen Anwendung durch Andere bei schwerer Strafe verboten war. Diese solchermaßen in Bezug auf ihren Ursprung gekennzeichnete Waare durfte nun aber nicht zum Verkauf gebracht werden, bevor sie nicht von den geschworenen Schaumeistern als den gesetzlichen Vorschriften entsprechend und gut gearbeitet anerkannt und zur Beglaubigung dessen mit dem Schaustempel (entweder ein Adler, oder ein N.) gezeichnet worden war. Zuwiderhandlungen wurden, außer mit Vernichtung der vorschriftswidrig oder schlecht gearbeiteten Waaren, mit hoher Geldstrafe geahndet. Den Zinngießern war z. B. verboten, mehr als ein Pfund Blei auf zehn Pfund Zinn zu verwenden, und dieses Verbot wurde schließlich auch gegen anders lautende Privatbestellungen aufrecht gehalten und nur gestattet, ein mit mehr Blei versetztes Zinn auf Privatbestellung bei solchen Gegenständen zu verwenden, mit welchen (nach damaliger Sitte) kein Handel getrieben wurde, wie Badewannen, Brunnenröhren u. dergl.

Die Goldschmiede, bezüglich deren Arbeiten die Bestimmungen der Gesetze sehr detaillirt sind, durften nur achtzehhnkarätiges Gold und vierzehnlöthiges Silber zu ihren Waaren verwenden, und um die Uebertretungen dieses Gebotes zu hindern, waren zwei geschworene Meister verpflichtet, mindestens ein Mal in jedem Monate in die Schmieden zu gehen und von dem dortigen Werksilber und -Gold etwas zu nehmen, das von den vier Geschworenen auf seinen Feingehalt geprüft wurde. Wer sträflich befunden ward, büßte mit fünf Pfund neuer Heller. Um das Publicum gegen Uebertheuerung zu schützen, hatten die Arbeiten einzelner Handwerke bestimmte Preissätze, z. B. die der Schlosser.

Nach außen bildete die Zunft eine Corporation mit bestimmten Rechten und, wie wir soeben gesehen, nicht unerheblichen Pflichten. Die Vorsteher des Gewerbes hatten auf die strenge Beobachtung der Gesetze zu sehen. Was das Verhältniß der Meister unter sich betrifft, so soll es nach der Auffassung der damaligen Zeit dem von Brüdern ähnlich sein; kein Meister soll vor dem anderen einen Vorzug haben, und wo er Gelegenheit hatte, durch größeres Vermögen einen solchen sich zu verschaffen, ist er an der Ausführung dieses Vorhabens durch die Gesetze gehindert, welche wollen, daß keiner den anderen benachtheilige. Deshalb war verboten das „Abspenstigmachen“ der Gesellen oder der Arbeit und das Halten von mehr Gesellen, als gesetzlich erlaubt war – denn auch die Zahl der Gesellen war durch Gesetz beschränkt. Damit nicht beim Einkaufe des Arbeitsmaterials ein Meister vor dem andern einen Vortheil erziele, war nicht nur der Ankauf von mehr Material, als der Meister in seiner Werkstatt verarbeiten konnte, ganz allgemein verboten, sondern er war sogar gehalten, von dem eingekauften seinen Mitmeistern einen Theil käuflich zu überlassen.

Daß selbst das größere Genie nicht dazu verwandt werden sollte, seinem Besitzer vor den anderen Meistern einen Vortheil zu verschaffen, dafür spricht in eigenthümlicher Weise eine Nürnberger Verordnung vom 9. März 1570, derzufolge einem Neberschmidt (Zeugschmied) Heinrich Veit, welcher ein von ihm erfundenes Handwerkszeug zur Herstellung einiger Gattungen von Sägeblättern „einem gemeinen Handwerckh zu sondern schaden und nachtheil“ verwendete, von Raths wegen dessen Gebrauch bei 5 Heller Strafe untersagt wurde.

Der Grundsatz der Brüderlichkeit zeigt sich vielleicht am meisten in der Vorschrift, daß, wenn ein Meister mehr Arbeit hat, als er in seiner Werkstatt bewältigen kann, er dann die Arbeit ohne jeden Nutzen an andere Meister abgeben muß.

Es hat dieser Grundsatz im Jahre 1556 sogar zu einer vollkommen communistischen Arbeiterorganisation bei den Tuchscheerern geführt, auf deren Ansuchen der Rath der Stadt unterm 5. Juni des gedachten Jahres eine Einigung genehmigte, nach welcher die elf Tuchscheerermeister „alle Tuch, so Ihnen yeder Zeit zu scheeren fürfallen möchten, miteinander arbeiten und bereyten wollten. Und was also in ein yeder Werkstatt mit dem Gesinde für Arbeit ausberaitet und verdient werden könnt, das solt bey den verordneten in eine verwharte Püchsen eingestoßen und alle Sambstag pro Rata in die Eilf Werkstetten ausgetheilt werden“ und zwar zu gleichen Theilen.

Indessen hatte diese Einrichtung, von welcher das zum Theil im Wortlaute citirte Decret des Rates rühmt, „daß sie den alten, abgearbeiteten maistern zur Wohlfahrt gereichen möcht,“ nur ein halbes Jahr Bestand, denn am 9. December 1556 cassirt der Rath bereits die obgedachte Verordnung, weil es „mit dem Tuchscheeren gantz unordentlich und nachtheilig gehandelt werde.“

Aber auch den Meistern anderer Innungen war der Nürnberger Zunftmeister des sechszehnten Jahrhunderts die Bethätigung einer brüderlichen Gesinnung gesetzlich und bei Meidung namhafter Strafe schuldig. Zunächst kommen hier in Betracht jene zahlreichen und in die kleinsten Einzelheiten eingehenden Verordnungen, deren Zweck ist, zu verhindern, daß die Meister mit ihren Arbeiten den Kreis ihrer eigenen Zunft überschreiten und denjenigen einer anderen betreten. Diese Verordnungen haben bekanntlich in den deutschen Staaten, welche bis zur Einführung der Reichs-Gewerbe-Ordnung die Zunftverfassung beibehalten, noch in den fünfziger Jahren zu zahllosen Processen Anlaß gegeben, in denen z. B. darüber gestritten wurde, ob ein Kaufmann das Recht habe, mit Shlipsen zu handeln, oder ob dies nur dem Schneider zustehe.

Ferner war es strenger Grundsatz, daß die Handwerker das von ihnen bereitete Material (z. B. das durch die Gerber bereitete Leder) zunächst den Nürnberger Handwerkern (z. B. der Lederbranche, den Sattlern, Schustern etc.) anbieten mußten und in zweiter Linie erst nach auswärts verkaufen durften, wie umgekehrt diese ihr Material in erster Linie aus Nürnberg zu beziehen hatten. Auch den Händlern war geboten, ihre in Werkstätten gefertigten Waaren, soweit ihnen überhaupt gestattet war, dergleichen feilzuhalten, von den Nürnberger Handwerkern zu beziehen. Auf „Staudenwerkstätten“ (das sind solche, welche von den Nürnbergern nicht für ehrlich gehalten wurden) gefertigte Waaren durfte Niemand weder kaufen noch feilhalten; auf „redlichen“ Werkstätten auswärts gearbeitete Waaren unterlagen der „Schau“ und durften im Allgemeinen nur während der Messen verkauft werden.

Ueberblickt man das Wesen des deutschen Handwerks, wie dasselbe im Vorstehenden auf Grund der regelnden Gesetze erscheint, so wird man nicht umhin können, dem ehrlich-biederen Sinne, der in der ganzen Organisation sich ausspricht, seine tiefste Achtung zu bezeugen. Hoch ist daneben der Eifer anzuschlagen, mit welchem der Meister ob der Ehre und dem Ruhm seines Gewerbes wachte. Das sind so lichtvolle Seiten, daß sie wohl des Schattens vergessen lassen, welchen der eifersüchtige Streit um die Grenzlinie der verschiedenen Gewerbe damals nicht selten warf. Man muß aber einen Schritt weitergehen und anerkennen, daß das Zunftwesen der damaligen Zeit die Verwirklichung eines bestimmten socialen Systems mit dem allergünstigsten Erfolge darstellt, mit dem Erfolge nämlich, daß der gesammte städtische Arbeiterstand vor eigentlicher Noth geschützt war. Die Arbeit nährte ihren Mann, aber nur die redliche, nach den Vorschriften des Gesetzes treulich gethane Arbeit – die andere, welche nach dem Motto „Billig aber schlecht“ sich richtet, war verpönt; den Vortheil, den ein großes Capital gewähren kann, auszunützen, verhinderte das Gesetz, indem es die Zahl von Lehrlingen und Gesellen auf ein verhältnißmäßig geringes Maß festsetzte und damit dem Uebergang des Handwerks in die Fabrikation einen unübersteiglichen Damm entgegensetzte. Mit diesem einen Steine steht und fällt das ganze System des strengen mittelalterlichen Zunftwesens, und an dieser Stelle eben ist es, wo Gegenwart und Vergangenheit als scharfe Gegensätze sich gegenüberstehen. Wie im Mittelalter das Handwerk, so stellt in der Gegenwart die Fabrikation das eigentliche Wesen der Arbeit dar, welche bereits die Mehrzahl der Handwerke – mit Ausnahme natürlich der Kunstgewerbe – sich unterthänig gemacht hat. Deshalb mögen wir heute immerhin neue Innungen, hoffentlich mit dem besten Erfolge für die Besserung mancher socialen Beziehungen, gründen; nur soll man seine Hoffnungen nicht zu hoch spannen. Der in erster Linie auf Gewinn gerichtete Geist des heutigen Geschlechtes wird sich niemals in den um ein völlig fremdes Centrum schwingenden Ideenkreis jener Männer bannen lassen, die im sechszehnten Jahrhundert in erster Linie für den guten Ruf und die unbefleckte Ehre ihrer Zunft thätig waren.
Fl. Korell.

[737]
Vogelsteller am Niederrhein.
Von F. A. Bacciocco.

Man braucht sich unter einem Vogelsteller oder Finkler nicht gerade eine romantische Figur vorzustellen, wie jener Herzog Heinrich gewesen sein mag, welcher vom Vogelherde weg auf einen Herrscherthron gerufen wurde; im Gegentheil, gewöhnlich sind es vielmehr ziemlich unansehnliche, abgerissene alte Knaben, die auf einen romantischen Nimbus nicht viel geben. Die meisten haben auch schwerlich eine Ahnung, daß einmal Einer aus der Genossenschaft „vom Geschäft weg“ berufen wurde, um das widerspänstige Volk der Germanen zu regieren. In der neuesten Zeit hat bei uns sogar die Gesetzgebung mit der Pietät gegen diese alt-kaiserliche Passion gebrochen und dem Vogelfänger-Gewerbe einen Riegel vorgeschoben. Kein Wunder daher, wenn das Geschäft jetzt reißend bergab geht. Schon seit länger sind übrigens die alten Finklerfiguren immer rarer geworden. In den alterthümlichen stillen Städten am Niederrhein und auf dem vlämischen und wallonischen Boden Belgiens und Hollands floriren sie noch mitunter und gehen, unbekümmert um den Drang und die Wandlungen der Zeiten, in den verschiedenen Jahreszeiten ihrer Passion nach. Für den Vogelsteller existirt eine Hauptsaison: im Herbste, wenn der „große Strich“ kommt, ferner im Frühjahre eine kleine Saison, wenn die Vögel wiederkehren. Leider machen die passionirtesten Finkler sich noch eine dritte im Juni und Juli, um die Brut- und Nährzeit.

Niederrheinische Vogelsteller.
Nach der Natur aufgenommen von Simmler.

Wenn der Finkler zum großen Striche ausrückt, bietet er mit seiner vollständigen Ausrüstung einen ungewöhnlichen Anblick, dessen das große Publicum freilich nur selten sich freuen kann, weil die Ausrückzeit zwischen zwei und drei Uhr Morgens fällt. Mit Sack und Pack tritt er beim ersten Morgengrauen den Gang durch die Straßen in’s Feld an. Eine mäßige Anhöhe mit einer sanften Einsattelung, die sich möglichst gleichförmig und weit ausdehnt, ist sein Lieblingsterrain.

Nicht jeder Grundbesitzer gestattet den Vogelstellern die Auslegung der Netze. Die ärmeren Bauern erheben wohl zuweilen eine kleine Steuer. Die wohlhabenden Liebhaber, welche auf eigenem Grund und Boden oder auf dem Feld eines Bekannten ihr Netz ausspannen können, sind daher am besten daran. Der Reisende, welcher im Spätherbste auf der Eisenbahn in das Niederland hineinfährt, oder noch besser auf einer der platten Landstraßen aus dem Preußischen in das Holländische oder Belgische hineinkutschirt, bemerkt ab und zu auf den Stoppelfeldern kleine, unansehnliche Reisighütten bei ausgerodeten und dunkleren Stellen, und aus den Hütten taucht zuweilen ein Mensch auf und läuft eilfertig auf dem Platze hin und her, wie Jemand, der etwas verloren hat: dort sind die Finkler bei der Arbeit. Gut gelegene Anhöhen mit breitem Rücken und geräumigen Einsattlungen sind oft mit zahlreichen solchen Hütten bedeckt.

Das Gepäck des ausziehenden Vogeltödters ist complicirt und schwer, und beim Fange mit dem Doppelflügelgarne müssen wenigstens zwei Männer betheiligt sein. Auf dem Rücken hat der Eine den großen Sack mit dem Garne; allerhand Drahtzeug und Netzwerk [738] schaut aus dem Sacke hervor; quer darüber liegen vier Stangen; auf der Schulter aber ragen ihm gewehrartig längere Stangen, ein Eisenstock, sowie Haue und Schaufel und, wenn der erste Schnee schon liegt, ein Kehrbesen. In der andern Hand hält er, aufgereiht auf einen Stock, ein Dutzend kleiner Vogelbauer, in welchen sich lauter auserlesene Lockvögel befinden. Der Begleiter trägt noch ein paar besondere Bauer mit Lockvögeln und die „Kutschen“ mit denjenigen Lockvögeln, welche zum Martyrtode bestimmt sind. Die „Kutsche“ ist der obere Theil eines alten Cylinderhutes, mit einem beutelartigen Garne versehen, in welches man leicht hineingreifen kann, welches aber einem gefangenen Vogel das Entfliehen unmöglich macht. Kleine, Strickbeutel und das Material für die „Wippe“ und „Flodder“ vervollständigen die Equipirung des Genossen. Bei der Ankunft der Männer auf dem Fangplatze muß die Fangstelle mit der Hütte – wenn nicht, wie auf dem beigegebenen Bilde, statt ihrer ein Gebüsch den nöthigen Schutz gewährt – bereits hergestellt sein, eine Arbeit, die mitunter zwei Tage in Anspruch nimmt, je nachdem das Feld gelegen ist und Schwierigkeiten bietet.

Das Aufspannen des Netzes nimmt eine gute Stunde in Anspruch. Die beiden Flügel werden auf der kahlen Stelle, in angemessener Entfernung von einander, mit zahlreichen Pflöcken am Boden befestigt, sodaß sie wie zwei zum Trocknen ausgelegte Leinwandstücke das Feld bedecken; nur daß das dünne, graue Netzgarn auf dem graulichen Boden erst in der Nähe zu erkennen ist. Jenseit geht ein straff gespanntes Verbindungsseil von der Außenseite der Flügel um einen weiter hinausliegenden Hauptpflock, diesseit führen entsprechend Zugleinen zu einem Pflock, bei welchem der Vogelfänger sitzt. Die Spannung ist so stark, daß jeder Flügel durch ein halbes Dutzend kleiner Pflöcke in seiner flachen Lage erhalten bleiben muß; gerade diese scharfe Spannung aber bewirkt bei geringem Ziehen das Umschlagen der Netze. Jener Flügel, welcher dem Strich, nämlich dem ankommenden Vogelschwarm, entgegensteht, muß zuerst umschlagen, und der zweite Flügel legt sich dann zur größeren Sicherung darüber, was dadurch bewirkt wird, daß man die Zugleine des ersten Flügels kürzer macht. Sobald das Netz ausgespannt ist, geht es an die Placirung der Lockvögel.

Als Lockvögel im Bauer werden nur Buchfinken, Distelfinken, Flachsfinken, Zeisige und etwa noch eine Lerche verwendet. Die Buchfinken und Flachsfinken sind in der Gegend, von welcher hier die Rede ist, häufig geblendet, weil sie geblendet auch im Herbste singen und überhaupt ununterbrochen Laute geben. Sie locken schon ungeduldig, ehe der Vogelfänger den Schwarm hört oder sieht. Die anderen Sänger sind beim Fange nicht zu verwenden, weil sie im Herbste nicht singen, ja theilweise nicht einmal einen Ton von sich geben. Die Lerche läßt nur ihren kurzen, trillernden Ruf erschallen, weshalb man sie als Lockvogel in ganz anderer Weise verwendet, wie wir gleich sehen werden.

Die Vogelkäfige werden ziemlich weit in das Feld hinausgetragen und einige davon in kleine Gruben unter die Netze gestellt. Im freien Mittelraume zwischen den Netzflügeln wird die „Wippe“ angebracht, die Lockvorrichtung für „freie“ Vögel. Nur Finken, Zeisige und Lerchen werden dafür gebraucht, oder vielmehr mißbraucht, denn die Wippe ist ein kleiner Haken, der durch eine Schnur mit der Hütte in Verbindung steht und an welchem ein Vogel, der nicht selten für die Sache dressirt ist, mit einem Fuße befestigt wird, und zwar ist dieser Haken so angebracht, daß er, sobald der Vogelsteller die Schnur anzieht, emporsteigt und der Vogel gezwungen ist, ebenfalls emporzuflattern. Distelfink und Zeisig gewöhnen sich sehr bald an die Wippe; sie flattern auf und setzen sich alsbald auf den Haken, wodurch ihre Situation ziemlich erträglich wird. Die anderen Vögel dagegen, die Lerche besonders, machen durch ihre fortwährenden und verzweifelten Anstrengungen, sich zu befreien die Wippe zu einem Marterinstrument und gehen gewöhnlich hülflos flatternd zu Grunde.

Noch weit qualvoller aber ist für sie die sogenannte „Flodder“ (plattdeutsch für flattern). Da nämlich die Lerche am leichtesten angelockt wird, wenn sie ihresgleichen im Feld spielen und flattern sieht, so befestigt der Vogelsteller, um dieses Lerchenspiel nachzumachen, hundert Schritte von seiner Hütte eine hohe Stange in den Boden, von deren Spitze ein dünnes Seil zur Hütte führt. An dieses Seil befestigt er ein halbes Dutzend Lerchen, indem er die Füße mit starken Zwirnfaden verbindet. Sobald ein Schwarm hörbar oder in der Ferne sichtbar wird, zieht der Mann in der Hütte die Schnur mit aller Gewalt an und die unglücklichen Vögel flattern verzweifelt in die Höhe. Beim Niederfallen reißt ihnen die Stoppel die Brust auf, nicht selten zerbrechen die Füße im Aufschwingen und die herankommenden Vögel, die ihre Schwestern beim Spiel vermuthen, haben es in der Wirklichkeit mit halbtodten, in die Luft geschleuderten Märtyrern zu thun. Die Lerche hält höchstens zwei Stunden, oft, wenn stark „gearbeitet“ wird, nur eine halbe Stunde an der Flodder aus, dann ist sie zu Tode gemartert und wird durch eine neue ersetzt. Die Todte wird in die Koppel zum Verkauf gereiht.

Endlich muß noch der Pfeifen erwähnt werden, die der Vogelsteller an einer Schnur wie einen Rosenkranz um den Hals trägt, meistens kleine, runde, durchbohrte Instrumente, doppelt so dick wie ein Thaler, nebst einigen länglichen Pfeifen. Mit den runden kann er alle Finken und eine Menge anderer Vögel locken, während die länglichen für Lerchen und Pieper bestimmt sind. Doch ist ein gewandter Vogelfänger jederzeit ist der Lage, die meisten Vögel auch mit seiner angebornen Pfeife anzulocken.

Man könnte sich vorstellen, daß es in der Vogelhütte, im Morgengrauen, sehr interessant und anregend zugeht. Indessen kann ich aus Erfahrung versichern, daß man mitunter entsetzlich langweilige Stunden in dem Reisighaufen verleben kann, wenn der erste frostkalte Nordost über die Stoppel bläst und weit und breit keine Feder sich sehen lassen will. Es kann vorkommen, daß an einem Morgen nach einer schönen, mondhellen Mitternacht keine Lerche mehr zu erblicken ist oder nur noch vereinzelt eine auftaucht. Die Hauptschaar hat alsdann die Nachtzeit zur Reise benutzt, und die Vogelsteller versichern, daß bald große Kälte eintrete, wenn die Vögel bei Nacht ziehen. Der alte Finkler pflegt auch nicht der liebenswürdigste Genosse zu sein; überdies raucht er aus einem schwarzbraunen kölnischen Pfeifenstück ein Kraut, das keinesfalls in Virginien gewachsen ist, und schöpft unermüdlich Geduld und Hoffnung aus einem Geduldbrunnen, den er in Gestalt einer riesigen Schnapsbulle am Busen trägt und den er immer bereit halten muß, für den Fall, daß ein griesgrämiger Bauer quer über Feld käme, oder der nachdenkliche Flurschütz seine Nase in das Geschäft stecken möchte. Wenn es ein gottloser Vogelsteller ist, dann flucht er, daß alle Heiligen im Himmel zusammenlaufen, und wenn es ein frommer, gar ein ultramontaner Finkler ist, dann betet er einen Rosenkranz nach dem andern ab, wobei ihm die Pfeifenschnur die besten Dienste leisten kann.

Bei großer Windstille und warmer Witterung geht der Strich hoch; bei scharfem Wind und zunehmender Kälte streichen die Vögel tief unten am Boden hin. Die meisten kleineren und schwächeren Arten suchen mit großer Vorsicht und Aengstlichkeit die tieferen Mulden auf, welche vor dem heftigen Windzug Schutz gewähren, und hierin liegt eben der Grund, weshalb der Finkler bei der Anlage seiner Hütte mit Verständnis vorgehen muß. Er muß auf jeder Anhöhe genau wissen, welchen Punkt ein Schwarm zunächst aufsuchen wird bei gutem oder conträrem Wind. Ein Umstand erleichtert ihm seine Studien: der Vogel kehrt immer auf dasselbe Terrain, auf dasselbe Absteigequartier zurück, und wenn ihm in demselben auch im Laufe der Zeit noch so viel Verfolgungen bereitet worden sind. Man darf mit Sicherheit annehmen, daß in den Schwärmen sich alte, erfahrene Bursche befinden, die auf dem Punkte schon einmal mit genauer Noth dem Garn entschlüpft sind, aber das hindert sie nicht an der Wiederkehr. Genau dasselbe wird in Italien beobachtet, wo in einzelnen Alpenschluchten und insbesondere auf der römischen Campagna immer dieselben Gefahren drohen. Doch kann man auch erkennen, wie von jenen im Lerchen- und Finkenschwarm befindlichen alten Herren stets einige Warner bei der Annäherung an das Garn sich absondern oder einen Umweg machen ehe sie sich der verlockenden Stätte nähern.

Die Lerche macht sich meistens zuerst durch ihr Geschrei bemerklich. Oft geht sie so hoch, daß man sie im dämmerigen Morgen nicht sehen kann, und dann muß mit der Pfeife hartnäckig ihr Ruf beantwortet werden; sobald sie in Sicht kömmt, wird die „Flodder“ in Bewegung gesetzt. Die Anwendung dieses grausamen Lockmittels hat gewöhnlich die gewünschte Wirkung: die Lerchen welche weitab von der Vogelstätte hinziehen, halten sofort und schwenken ein, wenn sie die Schwestern in der Luft flattern sehen. Jetzt ist es Zeit, daß die Finkler in der Hütte sich ducken; nur noch die Lerche an der Wippe wird in die Höhe geschnellt, und plötzlich [739] surrt der Schwarm über das Terrain. Ein gewandter, erfahrener Finkler läßt sich durch die ersten Boten nicht irre machen; hat er erkannt, daß ein dichter Schwarm folgt, dann läßt er oft ein und zwei Dutzend vorüberziehen, von denen doch immer einzelne im Garnbereich liegen bleiben, und erst wenn die große Masse im Bereich der Flügel ist, zieht er an und läßt das Garn zusammenschlagen. In der nächsten Secunde sind dann auch schon die Hüttenbewohner draußen; es gilt jetzt mit aller Schnelligkeit und Gewandtheit zuzugreifen, denn die Lerche läuft, sobald sie sich vom ersten Schreck erholt hat, unter dem Garn hin, bis sie einen Ausweg findet. Während die Schwestern, die mit dem Schrecken davon gekommen sind, laut schreiend davonfliegen, erfassen die Jäger, vorsichtig auf das Netz tretend, die Gefangenen, die sie entweder sogleich tödten, oder aber, wenn die Jagd nicht ergiebig ist, als Lockvögel aufheben. In der Nähe solcher Städte, wo sich viele Vogelliebhaber befinden, werden auch wohl alle aufgehoben und in die „Kutschen“ gethan, um lebend auf den Vogelmarkt gebracht zu werden. Die Todten werden aufgereiht und, wo es nothwendig ist, bei Seite geschafft, damit sie nicht in die Hände der Grundwächter oder Jagdpächter fallen. Mit den Lerchen zugleich kommen die Pieper, oft mit den Lerchen vermischt. Ihr Fleisch wird von den Gourmands noch höher geschätzt. Uebrigens pflegt in den genannten Districten ein Fangmorgen nicht besonders ergiebig zu sein, und wenn ein Vogelsteller hundert Stück Lerchen fängt, dann nennt er das einen guten Fang. Mit fünfzig ist er auch schon zufrieden. Berechnet man ein Dutzend mit einer Mark, dann stellt sich der Gewinn für die sehr beschwerliche und oft auch kostspielige Thätigkeit durchschnittlich auf drei bis sechs Mark. Ungleich ergiebiger ist bekanntlich der Lerchen- und überhaupt der Vogelfang in den Thalengen der Südalpen. Dort ist ein Ergebniß von tausend Stück an einem Morgen, mit den Standnetzen, nicht sehr selten, ja, Tschudi versichert, es wäre oft noch weit größer. Erklärt mag der Unterschied werden durch die große Ausdehnung des Jagdgebietes im Norden; über Nordfrankreich, Belgien, Holland und einige Theile Norddeutschlands. Dann hat man es hier auch mitunter nur mit Sammelplätzen zu thun, während dort auf engem Terrain der Reisezug in voller Entwickelung, Tag für Tag, von Statten geht.

Weit mehr Arbeit als Lerchen und Pieper machen durchweg die Finken, namentlich der Distelfink. Der Buchfink wird nur gefangen, um lebend verkauft zu werden; ebenso der Distelfink. Der Flachsfink dagegen, der in großen Schwärmen kommt, wird oft todt mit den Piepern zusammen verkauft. Die Franzosen und Italiener speisen mit Vorliebe Lerchen und Finken; der bittere Beigeschmack der ersteren Vögel, welcher vom Rübsamen herrührt, macht sie ihnen zu Delikatessen. Auch in Wien sind „kleine Vögel mit Polenta“ (immer Finken und Fliegenfänger durch einander) ein stehender Artikel auf jedem Speisezettel. In Norddeutschland werden meines Wissens die Finken nicht gespeist. Man begnügt sich dort mit Lerchen, Piepern und Fliegenfängern.

Auch bei den Finken findet sich, wie schon gesagt, oft ein erfahrener Vogel an der Spitze, welcher die andern warnt und rechtzeitig abschwenkt. Am häufigsten wird das beim Distelfinken beobachtet, und doch treibt die Neugierde oder Zutraulichkeit gerade diesen Vogel immer wieder in das Garn. Da er unter den Finken der werthvollste ist, so werden bei seinem Fange die größten Anstrengungen gemacht.

Im Spätherbste, an schönen Tagen, wenn die Sonnenfäden über die Stoppeln fliegen, spielt der Distelfink im niedrigen Gestrüppe am Rande der Aecker. In kleinen Schwärmen zu fünfzig bis hundert flattern die bunten niedlichen Vögel gleich großen Schmetterlingen über die Distelstöcke, oft noch lange nach dem Abzug der großen Geschwader. Kommt ein solcher Schwarm in die Nähe der Vogelhütte, dann werden alle Kräfte rege. Die Distelpfeife wird hervorgeholt und macht den Lockvogel munter; Futter wird auf den Platz geworfen; Distelstöcke werden aufgepflanzt und der beklagenswerthe Distelvogel an der Wippe muß immerfort emporflattern. Aber es kommt selten vor, daß die vorsichtigen Vöglein direkt in das Garn fallen. Sie lassen sich meistens in der Nähe des Platzes nieder, antworten dem Lockvogel und umflattern kundschaftend das Terrain. Der Finkler muß jetzt sehr kaltes Blut haben und zwei oder drei, welche auf den Platz eingefallen sind, nicht beachten. Sammelt sich nach und nach ein Dutzend, und erwischt er davon die Hälfte, dann kann er zufrieden sein. Aber auch die Entflohenen werden noch nicht aufgegeben. Der Gehülfe muß dem Schwarme nacheilen und ihn auf Umwegen wieder dem Platze zuzutreiben suchen. Es ist mitunter der Fall, daß derselbe Schwarm zweimal in ein und dasselbe Garn geräth.

Ein Theil der gefangenen Finken wird von einem traurigen Geschick ereilt; die Männchen werden nämlich geblendet. Doch ist das nur bei Buchfink und Flachsfink der Fall; denn der zarte Distelfink würde die Operation nicht überstehen. Das Blenden der Vögel wird leider noch heute in vielen Städten des Niederlandes betrieben. In Mastricht, Verviers, Lüttich, Brüssel sieht man die geblendeten Vögel bei allen Vogelhändlern und auf allen Märkten. Der Fink wird für die Operation förmlich vorbereitet. Gleich wie der Canarienvogel, der in der Dunkelheit sein Stück erlernen muß, wird er eine Zeitlang vom Lichte abgesperrt, aber nicht damit er singe, sondern damit er in der Dunkelheit seinen Futter- und Trinknapf ertasten lernt. Er findet sich bald in dem gewohnten Bauer trotz der völligen Finsterniß zurecht, und jetzt werden ihm mit einem glühenden Drahte die Augen gebrannt. Das verstümmelte Thier bietet nach der Operation einen gar traurigen Anblick. An der Stelle der Augen bilden sich häßliche blaue Beulen, und daran und an den zuckenden Bewegungen erkennt man schon von weitem den geblendeten Finken. Jetzt entwickelt sich bei diesen Vögeln eine merkwürdige Lust zum Gesang; man kann es vielleicht besser Singwuth nennen. Der Werth des Buchfinken aber steigt nicht allein nach der Art des Schlages, bei welchem bekanntlich zahlreiche Variationen vorkommen, sondern auch nach der Häufigkeit des Vortrages. Die Vogelsteller und Liebhaber arrangiren zu Zeiten förmliche Wettkämpfe, und jener Vogel erhält einen Preis, welcher sich als der ausdauerndste erweist. Hat er dazu noch einen seltenen Schlag, dann ist er für den Liebhaber ein unbezahlbarer Schatz. Beim Vogelstellen aber erweist der geblendete Fink die besten Dienste. Sein Gehör hat sich geschärft, und er erkennt das Herannahen eines Schwarmes auf sehr große Entfernung, um dann unermüdlich zu locken.

Neben den Singvögeln fallen dem Vogelsteller zuweilen verbotene Früchte in das Garn, wie Wachteln und Rebhühner. Er kann der Jagdlust selten widerstehen, wenn eine Kette Wachteln über das Garn streicht – selbst auf die Gefahr hin, daß sie ihm das Garn zerreißt. Die Rebhühner bestrafen die Ungesetzlichkeit meistens, indem sie ganze Stücke vom Garne mit fortreißen. Der Fang der Amseln und Krammetsvögel wird nicht mit dem Flügelgarn betrieben; sie gehen nicht hinein, ebenso wenig der kluge Staar, und es ist ein ungewöhnliches Ereigniß, wenn einige von diesen Arten als Beute heimgebracht werden. Häufiger passirt es dem Meister Lampe, wenn er gedankenlos über das Feld galoppirt. Einem ordentlichen Finkler fällt es nicht ein, aufzuspringen und den Hasen durch Zurufen zu verscheuchen. Er läßt ihn herankommen mit dem Risico, daß ihm das Garn ruinirt und hintennach vom Jäger ein Protocoll gemacht wird. Da der Hase mit seinen starken Läufen unfehlbar das Garn zerreißen würde, so paßt der Vogelsteller den Moment ab, wo derselbe die stark gespannte Umfassungsschnur übersetzt, und verabfolgt ihm mit der aufschnellenden Schnur einen so starken Schlag, daß er betäubt hinfällt, wenn er nicht gar noch erfaßt und förmlich über das Feld geschleudert wird. Das ist dann immer ein großes Ereigniß in der friedlichen Hütte, nebenbei freilich oft genug die Veranlassung zu sehr handgreiflichem Meinungsaustausch über das Eigenthumsrecht.

Im Frühjahre ist, wie oben bemerkt, die kleine Saison für den Vogelsteller, wenn die Vögel aus dem Süden zurückkehren. Er legt jetzt auch nicht immer das große Garn aus, sondern benutzt ein einfaches, kleines Netz, wobei Lockvogel und Futter die Hauptrolle spielen. Die großen Schwärme haben sich bereits aufgelöst, und in kleinen Trupps suchen die Heimkehrenden ihr Futter und geeignete Nistplätze. Die Vogelsteller behaupten, daß jetzt die Männchen der Lerchen, Finken und feineren Vögel leichter in das Garn fallen weit sie aufgeregter sind und lebhafter auf den Lockvogel gehen. Im Frühjahre sollen daher mehr Nachtigallen, Schwarzplättchen, Zeisige und dergleichen gefangen werden. Diese Arten sind natürlich nur für den Verkauf bestimmt. Auch der Fang der Lerchen und Finken pflegt zu dieser Frist ein sehr spärlicher zu sein, sodaß sich der Verkauf der Getödteten in der Koppel nicht verlohnt. Es wird also fast nur für die Versorgung der Vogelmärkte „gearbeitet“. Die passionirten Liebhaber [740] oder die armen Teufel, die auf den Ertrag des Gewerbes angewiesen sind, gehen nach wenigen Monaten wiederum zum Fange hinaus. Diesmal nehmen sie nur ein kleines Springgarn mit, welches sie bei Wassertümpeln im abgelegenen Gebüsche ausspannen, um die Vögel vom Neste wegzufangen. Auch der Leimruthe oder der Drahtfalle bedienen sie sich zu diesem Zwecke. Man kennt sehr wohl die Vögel, welche ihre Jungen in der Gefangenschaft aufziehen, wie die Amsel, das Schwarzplättchen, der Distelfink und besonders die Nachtigall.

Es gehören aber noch besondere Kunstgriffe dazu, die Alten zur Ernährung der Jungen in der Gefangenschaft anzuhalten. Nicht allein bei den Arten, sondern auch bei den Individuen treten hier große Widersprüche zu Tage. Das eine Amselpaar z. B. füttert seine Jungen; ein anderes läßt sie zu Grunde gehen. Es wird versichert, daß das Schwarzplättchen sich sehr schnell an den traurigen Wechsel gewöhne und namentlich, wenn es Mehlwürmer erhält, sofort an die Fütterung gehe. Die gefangenen Meisen dagegen, so wird behauptet, wären im Stande, ihren Jungen die Köpfe einzuhacken. Jedenfalls hat man es hier mit Untersuchungen und Beobachtungen zu thun, für welche unsere Vogelsteller nicht die geeignetsten Geister sein dürften.

Die Thätigkeit des Vogelstellers ist unbedingt ein Stück Thierquälerei, das wird dem Leser nach vorstehender Schilderung in vollem Umfange klar sein. Dieser Umstand aber genügt, um uns mit Befriedigung auf die Maßregeln blicken zu lassen, welche unser deutscher Reichstag zum Schutze der Vögel getroffen hat, auch wenn damit ein weiteres Stück Romantik unter das Strafgesetzbuch gestellt wurde. Ist doch schon so Manches, was einst „noble Passion“ war, dem vernichtenden Urtheil einer fortgeschrittenen Humanität bis auf die letzte Spur erlegen.

Auf der Schwelle der Reformationszeit: Scholastische Studien.
Nach dem Gemälde von W. Lindenschmit.

[741]
Die Mannheimer Bühne.
Eine Jubiläums-Erinnerung von Josef Schrattenholz.

Die schöne Säcularfeier, welche das Mannheimer Theater in den Tagen vom 5. bis 12. October dieses Jahres beging, die hunderjährige Jubelfeier seines Bestehens, weckt dem historischen Geiste so verschiedenartige Reminiscenzen, daß man nur schwer der Versuchung widerstehen kann, statt eines Gedenkblattes, wie es die nachfolgende Skizze bieten soll, einen Gedenkstrauß, eine ausführliche Geschichte jener ehrwürdigen Bühne, auf den Altar der Erinnerung zu legen.

Ein feines, ironisches Lächeln schwebt um die Lippen der hohen Muse der Geschichte, wenn man sie von dem Kunstsinne der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts erzählen hört. Die zahllosen Westentaschendespoten der kleinen deutschen Höfe, die sich ihrem Esprit und ihre Galaröcke direct aus der demoralisirten Hauptstadt Ludwig’s des Vierzehnten verschrieben, waren befriedigt, wenn sie die Scheingröße dieses Despoten in fratzenhafter Weise copiren konnten. So mußten denn auch italienische Castraten, französische Komödianten und Balleteusen für den Mangel deutscher Kunst und Künstler entschädigen, über das erste Stadium ihres Werdens hinwegtäuschen. Von einer deutschen Kunst konnte damals nur in eben dem Sinne die Rede sein, wie von einer deutschen Nation. Erst als die deutsche Musik ihre duftigen, farbigen Blüthen trieb, erst als nach der undeutschen Tonschnörkelschrift eines Hasse und der nüchternen Ledernheit eines Holzbauer, Cannabich und Consorten der Riesengeist eines Bach und die

Auf der Schwelle der Reformationszeit: Luther und die Bibel.
Nach dem Gemälde von W. Lindenschmit.

[742] göttliche Kunst Mozart’s die Gemüther entzückte, erst da kamen hier und dort jene auf italienischem und französischem Boden großgezogenen künstlerischen Giftblumen in Mißcredit; erst da wurden stellenweis die Privatbühnen der deutsche Fürstenhöfe ihrer zweifelhaften Würde als Treibhäuser für diese Blumen entkleidet.

Auch der kunstsinnige Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz, der eigentliche Begründer der Mannheimer Bühne, welcher im Anfang seiner Regierung den französischen und italienischen Einflüssen sehr zugänglich gewesen war, gelangte von der Musik aus zu seinen Verdiensten um die deutsche Bühnenkunst, welche ihm nicht hoch genug angerechnet werden können. Er wandte der Tonkunst die aufmerksamste Pflege zu, bethätigte sich in den Hofconcerten als ausübender Dilettant und faßte endlich den löblichen Vorsatz, an seiner Hofbühne „ausländischen musikalischen Spectakel“ abschaffen und nur noch „große deutsche Singspiele mit vaterländischen Sujets“ aufführen lassen zu wollen. Die Capelle des Kurfürsten war sowohl in Deutschland wie in Frankreich und Italien durch ihre hohe technische Vollkommenheit und ihren fein schattirten Vortrag der Instrumentalcompositionen berühmt; sie besaß die größten Künstler als Mitglieder und genoß auch als bürgerliche Corporation des besten Rufes.

Von diesem Orchester wurde am 5. Januar 1775, im Verein mit italienischen Castraten und deutschen Sängern, auf der Bühne des kurfürstlichen Residenzschlosses die Oper „Günther von Schwarzburg“ von Professor Klein, Musik von Holzbauer, gegeben. Die eingelegten Ballets hatte ein gewisser Cauchery ersonnen, die Musik zu denselben Cannabich componirt. „Eine deutsche Oper, aus der deutschen Geschichte, von einem deutschen Dichter! Deutsche Composition und auf dem besten deutschen Theater aufgeführt! Wer sollte sich nicht über diese heilsame Revolution des Geschmacks freuen!“ ruft das Berliner literarische Wochenblatt von 1776 emphatisch aus. Und es hatte Recht mit seiner Freude. Denn diese Aufführung bedeutete in der damaligen, von französischem Ungeschmack überkleisterten Zeit eine künstlerische That, größer und weittragender vielleicht als manche von nimmerlahmen Recensentenlungen als Kunstrevolution ausposaunte artistische Begebenheit der Jetztzeit. Dieser Kurfürst Karl Theodor muß überhaupt ein guter, empfänglicher Mensch gewesen sein und unter dem französischen Jabot ein echt deutsches Herz getragen haben. Das rühmliche Bestreben des durch Schiller verewigten Buchhändlers Chr. Fr. Schwan, welcher für die Förderung des Geschmacks an der nationalen schönwissenschaftlichen Literatur alles Mögliche aufbot, fand bei ihm ein solch freundliches Entgegenkommen, daß er sogar die Aufhebung seiner französischen Theatertruppe beschloß, und die durch ihn in’s Leben gerufene deutsche Singschule, deren Vorstand und Lehrer der bekannte Abt Vogler war, hat trotz ihrer flüchtigen Dauer eine mehr als blos historische Bedeutung errungen.

Im Jahre 1775 genehmigte der Fürst einen Kostenanschlag von 58,405 Gulden zur „Errichtung eines Komödien- und Redoutenhauses im Mannheimer Schütthause“ (Arsenal). Die Bühne erhielt eine Breite von ganzen zwölf Schrittes das „erkannte man damals“ – wie Eduard Devrient trocken bemerkt – „als den angemessenen Raum für das Schauspiel“. Und er war auch angemessen, wenigstens für die meisten der damaligen Schauspiele. Das Auditorium faßte nahezu 1200 Personen. Marchand, ein tüchtiger Schauspieler und Director einer herumreisenden, ziemlich guten Theatergesellschaft, wurde zum Director ernannt. Eckhof und Lessing, denen man vorher das Amt antrug, hatten abgelehnt.

„Gegen Erhebung eines Entrées“ gab man von Neujahr 1777 an in dem neuerbauten Schauspielhause dreimal wöchentlich Vorstellungen, ein weiterer bedeutsamer Schritt, der ebensowohl für den praktische Sinn des Gründers, wie für die Theilnahme des Mannheimer Publicums spricht. An den prachtvollen Hoftheatern der vielen deutschen Residenzen war nämlich damals noch durchweg die unentgeltliche Vertheilung der Eintrittskarten im Gebrauch, und selbst dadurch wurden die Häuser nicht immer gefüllt. Beamte, Militärs und sonst vom Hofe Abhängige mußten oft förmlich zum Besuche commandirt werden; sogar den Fremden in den Wirthshäusern wurden Freibillets zugetheilt, ja, in Stuttgart ließ der Herzog, um die Sitzreihen zu garniren, manchmal Soldaten in’s Theater führen.

Marchand war verpflichtet, fähige junge Leute in der Kunst zu unterrichten und zu diesem Zwecke wöchentlich zweimal die Grundsätze der Schauspielkunst durch Vorlesungen zu erklären. Bei den dreimaligen wöchentlichen Aufführungen mußte mit Lust-, Sing- und Trauerspielen abgewechselt werden; auch war die Aufführung von Concerten und Oratorien projectirt. Die Mannheimer sollten aber nicht lange Freude von der Marchand’schen Truppe haben: Karl Theodor nahm Anfangs 1778 als nächster Erbe des Kurfürsten von Baiern Besitz von dem baierischen Lande, verlegte seine Residenz nach München und ließ am 15. September jenes Jahres seine „teutsche Schaubühne“ nachkommen. Mannheim drohte trotz der von einem hohen Adel und der Bürgerschaft fast gleichzeitig gegründeten Liebhabertheater und der „Concerts des amateurs“ künstlerisch zu veröden, wie es materiell herunter zu kommen begann, und nur den Bemühungen einiger patriotischer Männer, darunter in erster Linie des Reichsfreiherrn Heribert von Dalberg, ist es zu danken, daß die Gefahr abgewendet wurde. Dalberg war es, der dem Fürsten zuerst den Vorschlag machte, zum Ersatz für die durch Verlegung der Residenz entstandenen Einbußen Mannheim ein Schauspiel zu schenken, und seine unausgesetzten Bemühungen trugen schöne Frucht.

Am 1. October 1778 schickte der Kurfürst dem Freiherrn eine Zuschrift, „die Fortführung einer teutschen Schaubühne in Mannheim betreffend,“ worin in dem antediluvianischen Kanzleistyl der damaligen Zeit versichert wird, daß „Ihre kurfürstliche Durchlaucht es gern sähen, wenn zu einiger Nahrungsbeihülfe der dortigen Stadt und Bürgerschaft eine dergleichen Schau-Bühne durch anderweithe Anordnung einer schicklichen Trouppe beibehalten und fortgeführt werden könnte.“ Gleichzeitig sicherte der Kurfürst einen Jahresbeitrag von 5000 Gulden sowie verschiedene andere Vergünstigungen zu und ernannte Dalberg zum Intendanten des Unternehmens. Man sieht, die Motive, welchen die Idee einer deutsche Nationalbühne ihre Entstehung zu verdanken hatte, waren durchaus nicht idealer Natur. Die Mannheimer selbst fanden lange keinen höheren Maßstab der Würdigung für das, was sie in ihrer Bühne besaßen, als die Freude an der „melkenden Kuh“. Noch im Jahre 1804, als der berühmte Iffland ein Gastspiel in der Stadt gab, bezeichnete die Bürgerschaft in ihrem bei der Theaterintendanz um dauernde Wiedergewinnung des großen Schauspielers bettelnden Schreiben die Schaubühne als „eine reichhaltige Quelle des bürgerlichen Wohlstandes“ und Iffland’s Wiedereintritt als das einzige glückliche Ereigniß, welches dem gesunkenen Wohlstande des Bürgers vor der Hand aufhelfen könne.

Mit freudigem Enthusiasmus und jugendlicher Selbstverleugnung, mit reformatorischem Ernste und praktischer Klugheit setzte Dalberg zum Besten der neuen Bühne anfangs seine ganze Kraft ein. Nach einem vorläufigen, etwas über ein Jahr dauernden Engagement und Wirken der Seyler’schen Gesellschaft, nach anstrengendsten Mühen und Vorarbeiten zur Bildung eines guten, neuen Repertoires und zur Erlangung würdiger Costüme und Decorationsstücke gelang es dem Intendanten, die bedeutendsten Mitglieder des zufällig gerade um diese Zeit sich auflösenden gothaischen Theaters, die Iffland, Beil, Beck und Boeck, für sein Unternehmen zu gewinnen, und so wurde denn am 7. October 1779 die fertig eingerichtete Bühne mit dem Lustspiele: „Geschwind, eh’ es Jemand erfährt“, einem reizenden, von dem damals allbekannten Uebersetzer Bock bearbeiteten Stücke, als „Neues Deutsches Nationaltheater“ eröffnet. Es war ein bedeutsamer Tag. Mitten in der Auflösung der politischen Kraft und Größe Deutschlands, mitten in der Fäulniß einer stagnirenden, auf unsittlichen Voraussetzungen beruhenden Culturepoche wurde an diesem Tage deutscher Kunst und deutscher Poesie eine Freistätte gegründet, welche ihre befruchtenden Keime hinaustragen sollte durch alle deutschen Gauen und weit über sie hinweg in die fernsten Lande. Der glückliche Zufall, welcher Dalberg mit Iffland und dessen Freunden Beil und Beck beschenkte, war für die Entwickelung der deutsche Schauspielkunst von ebenso großer, ja vielleicht von noch größerer Bedeutung, als es derjenige für das deutsche Drama war, welcher Schiller für die erste Aufführung seiner „Räuber“ einen Iffland finden ließ.

Der Einfluß seines kunstbegeisterten Leiters machte sich bei dem neuen Theater nach allen Richtungen hin geltend. Die Stelle eines Intendanten war bisher mit einer ansehnlichen Besoldung verbunden gewesen. Dalberg schlug dieselbe aus, bezahlte seine eigene Loge im Schauspielhause, schoß aus eigenen Mitteln für Garderobe, Musikalien und Bibliothek die ansehnliche Summe [743] von 6986 Gulden zu, wirkte abgehenden, verdienten Bühnenmitgliedern Pensionen, dem Theater ansehnliche Zuschüsse aus – kurz, benahm sich anfangs in aufopferungsvollster, einsichtigster Weise. Alle vierzehn Tage versammelte er die Regisseure mit vier bis sechs Mitgliedern der Gesellschaft bei sich, um gemeinschaftlich über Verbesserung der Bühne zu berathschlagen, neue Stücke in Vorschlag zu bringen und abzustimmen über eingegangene Vorstellungen und Beschwerden. In diesem sogenannten „großen Ausschuß“ las er von ihm selbst verfaßte Beurtheilungen über bedeutende Vorstellungen vor, gab dramaturgische Fragen zur Beantwortung auf und verlangte Kritiken über eingelaufene Schauspiele. Die Protokolle über jede Sitzung wurden in der nächstfolgenden verlesen. Diese Einrichtung, das eigenste Werk Dalberg’s, wobei außer Iffland, Beil, Beck und anderen Schauspielern auch Schiller eine Zeitlang mitwirkte, gab dem Ganzen eine Haltung und Richtung, die nicht hoch genug geschätzt werden kann.

Die eigentliche Glanzperiode der Bühne, die Jahre von 1786 bis 1793, während welcher man mit Stolz und Bewunderung von einer „Mannheimer Schule“ sprechen konnte, bleibt gleichwohl weniger der organisatorischen Thätigkeit Dalberg’s als dem productiven Genie Iffland’s und Schiller’s zu verdanken. Um so peinlicher berührt es, daß diese beiden Männer, welche ihre Thätigkeit in ein und demselben Jahre auf derselben Bühne begannen, später Beide durch Undank gekränkt von eben dieser Bühne auf Nimmerwiedersehen Abschied nahmen. Etwas Vollkommenes existirt nun einmal nicht auf Erden. Auch Dalberg war nicht vollkommen, und die Mängel und Schäden ihrer Zeit vermochten weder die Pfälzer noch andere gutwillige Fürsten wie einen alten Rock in die Ecke zu werfen.

Dalberg konnte nach dem Tode Karl Theodor’s nicht den Muth gewinnen, Schiller’s „Kabale und Liebe“, welches der Kurfürst verboten hatte, aufführen zu lassen. „Da nur der vorige Kurfürst ‚Kabale und Liebe’ verboten hatte“ – schreibt 1802 der Schauspieler Beck in seinen Regieberichten – „und das Sujet den jetzigen gar nicht incommodiren kann (sic!), so glaube ich, daß man das gewünschte gute Stück wohl geben solle.“ Dalberg replicirt kurz: „Dies Stück (welches der Autor selber in dem dermaligen Geiste der Zeit nicht würde geschrieben haben, um Fürstenwürde und Ansehen an den Pranger zu stellen etc.) bleibt weg!“ Aehnlich erging es dem „Fiesco“, welcher, nach Dalberg’s ballhornisirenden Wünschen gleich den „Räubern“ vom Dichter umgearbeitet, trotzdem für unaufführbar erklärt und nach einzelnen Vorstellungen im Jahre 1784 für lange Zeit bei Seite gelegt wurde. Nicht einmal eine Gratification für seine Mühe empfing der arme Poet, obschon Iffland einen dahingehenden Antrag im Theaterausschuß zu Protokoll gab. In „Maria Stuart“ genirten den Intendanten die Scenen der Beichte, die er einfach streichen ließ, und über die „Wallenstein-Trilogie“ urtheilt er abfällig.

Weder für die „Räuber“, den „Fiesco“, „Kabale und Liebe“ und „Don Carlos“, noch für die „Jungfrau von Orleans“, „Maria Stuart“, die „Braut von Messina“ und den „Wallenstein“ erhielt Schiller ein Bühnenhonorar, obgleich es Dalberg ein Leichtes gewesen wäre, dem Poeten in irgend einer Form ein solches auszuwirken. Erst für den „Tell“, der nach dem Manuscript aufgeführt wurde, empfing der Dichter ein Honorar von 136 Gulden 15 Kreuzer. Freilich war Schiller schon früher von Illusionen wegen der Dalberg’schen Freigebigkeit gerade gegen ihn geheilt worden. Als er seinerzeit, angefeuert durch die Lobeserhebungen des freiherrlichen Dilettanten, den Sclavenketten des Stuttgarter Herzogs entsprungen war und, nur von der Güte des treuen Andreas Streicher lebend, mit dem vollen Vertrauen eines erfahrungslosen Jünglingsherzens Dalberg um Verwendung beim Herzog Karl und um einen Vorschuß von 200 Gulden bittet, womit er in Stuttgart die durch den Druck der „Räuber“ entstandenen Schulden decken könne, da hüllt sich der edle Dalberg in tiefsinniges Schweigen. Dem auf seine Weisung von dem Dichter ausgearbeiteten Plane einer Mannheimer Dramaturgie, für dessen Verwirklichung sich dieser eine jährliche Gratification von 50 Ducaten ausbittet, bereitet er eine ähnliche Aufnahme. Hätte unser größter dramatischer Poet in der traurigen Flüchtlingszeit, welche seiner kärglichen Anstellung als Mannheimer Theaterdichter vorausging, die mütterlich sorgende Hand der guten Frau von Wolzogen entbehren müssen, er wäre an dem Dalberg’schen Kunstenthusiasmus einfach verhungert. Auch er mußte, wie Devrient bitter bemerkt, gleich Iffland „in dem edlen Dalberg den Cavalier erkennen, dem das bürgerliche Talent nur als ein Werkzeug galt“. In den letzten Märztagen des Jahres 1785, ein halbes Jahr, nachdem die Schauspieler des „teutschen Nationaltheaters“ ihn auf offener Bühne persiflirt hatten, verließ Schiller Mannheim und suchte sich in den Armen seines treuen, aufopferungsvollen Freundes Körner über die dort gemachte Erfahrungen zu trösten.

Dem großen Mimen Iffland war eine directere Auseinandersetzung mit Dalberg aufgespart. Nachdem in den unruhigen Kriegsläufen der neunziger Jahre die Existenz der Bühne ganz in Frage gestellt worden, der Intendant dem Schauspieler mit unbeschränkter Vollmacht die Leitung anvertraut und der gute Iffland mit Hintansetzung aller persönlichen Rücksichten den Bestand der Truppe und die Fortführung der Vorstellungen durchgesetzt hatte, bewies ihm Dalberg bei seiner Wiederkunft in so unzweideutiger Weise seine allerhöchste Unzufriedenheit, daß der Künstler, wie er in seiner naiven Weise erzählt, nicht mehr wußte, wie er des Intendanten Zimmer verlassen solle, und sich „einige Tage sehr übel befand“. Dieser Auftritt und die mit der Zeitlage zusammenhängende Unsicherheit der Fortdauer des Bühnenunternehmens bildeten jedenfalls die Hauptursachen der Abreise Iffland’s und seines Eintritts als Director der Berliner Hofbühne. Daß Dalberg diesen Eintritt zum Ausgangspunkte so infamirender Vorwürfe nahm, wie er sie in seinen Briefen vom November und December 1796 dem Künstler macht, war jener Doppelursache gegenüber doppelt ungerecht.

Sieht man von diesen menschlichen Schwächen des Mannes ab, so muß man an Dalberg sowohl das edle Streben, wie auch die klugen Mittel ehren, mit denen er dasselbe verwirklichte. Er war der Erste, der dem darstellenden Künstler Ehrfurcht vor seiner Kunst und Verständniß derselben zu lehren suchte, der Erste, welcher unserer deutschen Bühne eine Organisation schuf, die auch heute noch mustergültige Bedeutung hat. „Mein Zweck ist Erhöhung und Beförderung dramatischer Kunst, welche so oft durch des Schauspielers sträfliche Vernachlässigung herabgewürdigt wird,“ sagt er in einer seiner Kritiken, und diesem Zwecke hat er viel geopfert.

Mit dem Abgange Iffland’s schien indessen auch bei Dalberg das Interesse an seiner Schöpfung zu erlahmen. Der Stern des Mannheimer Bühnenhimmels war erloschen, das Interesse des Publicums abgestumpft, der langsam großgezogene Geist künstlerischen Eifers in den Mitgliedern geschwächt oder gar erstorben. Wo war sie hin, die Zeit, da der jugendliche Feuerkopf Schiller’s und die besonnene Denkermiene Iffland’s der freiherrlichen Geisteswelt ewig neue Nahrung und Anregung schenkten? Wo waren sie hin, jene ersten Aufführungen der „Räuber“, wo sich im Zuschauerraume, wie ein Augenzeuge berichtet, „rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie kündeten, fremde Menschen schluchzend einander in die Arme fielen, ohnmachtnahe Frauen zur Thür wankten“? Dalberg selbst war älter geworden; das ominöse „Pulverfeuer“, das Schiller ihm nachrühmt, flammte nur noch spärlich auf. Dazu trat dann die Hartnäckigkeit, mit der man in München auf der Suspendirung und Aufhebung des Theaters bestand, die Demoralisation der Schauspielertruppe – kurz, am 20. Juni 1803 legte der Freiherr seine Intendantur nieder und trat seine Oberhofmeisterwürde an. Vielleicht hat er seine Schöpfung mit denselben Gefühlen verlassen, denen ein Jahr vorher der Münchener Theatercommissär Babo in einem die Unverträglichkeiten des Regisseurs Beck behandelnden Briefe so drastischen Ausdruck gab. „Meine Amtsbekanntschaft mit Künstlern,“ heißt es da, „hat mir die Kunst recht ekelhaft gemacht, und kaum kann ich den rachsüchtigen Wunsch unterdrücken, daß Beck zum Intendant en chef über alle pfalzbaierische theatralische Angelegenheiten ernannt werde. Die Unholde würden sich so unter einander erwürgen, und aus dem so reinen Rest, wie klein er auch wäre, ließe sich dann etwas Gutes erbauen.“

Der im achtzehnten Jahrhundert geträumte Blüthentraum einer deutschen Musterbühne in Mannheim blieb verflogen. Wohl boten in unserem Jahrhundert Staat und Stadt alle Kräfte auf, das Nationaltheater als solches zu erhalten und zu heben, wohl hallte die Bühne wider von den Schritten der größten Künstler und Künstlerinnen ihrer Zeit, wohl wurden die besten Producte der Dichtkunst und Musik nach wie vor gehegt und gepflegt und [744] in den fünfziger Jahren ein vergrößerter, den Anforderungen der Neuzeit entsprechender Kunsttempel erbaut – ihre frühere Bedeutung errang die Mannheimer Bühne nicht wieder. Einen merkbaren Aufschwung nahm die alte, ehrwürdige Anstalt, als sie ganz in die Hände der städtischen Verwaltung überging und unter staatlicher Oberhoheit eine einsichtsvolle artistische und geschäftliche Leitung erhielt, und den Rang einer der besten deutschen Bühnen behauptet sie auch heute noch.

Es hatte etwas Rührendes, bei der vergangenen Säecularfeier in der festlich bekränzten Stadt all die verschiedenen zahllosen Erinnerungszeichen an die Glanzperiode der Anstalt zu betrachten, womit pietätvolle und industrielle Hände die öffentlichen Schaufenster und Locale geschmückt hatten. Alte, verschimmelte Theaterzeitungen und Autographen, buntcolorirte Kupferstiche von Iffland, Beil und Beck in ihren damaligen Glanzrollen, uralte Wochenschriften und Theaterzettel, Almanache und Abbildungen des alten Schauspielhauses und der Beschießung Mannheims im Jahre 1792 – man hätte eine ganze Raritätensammlung daraus herstellen können. Und der Enthusiasmus, den das Mannheimer Publicum gelegentlich des Festes für seine Bühne zeigte, mahnte nicht minder an deren glänzendste Zeit. Von der Aufführung des „Fidelio“ und den historischen Reminiscenzdarstellungen des „Geschwind, eh’ es Jemand erfährt“, der Schiller’schen „Räuber“ und Iffland’schen „Jäger“ bis zu den Decorationsdramen der Wagner’schen Nibelungen, vom ersten Rede-Actus der Vorfeier bis zum letzten isolirtesten Privatbanket der Nachfeier äußerte sich die Theilnahme in frischester, wohlthuendster Weise.

„Wenn wir es erlebten, eine Nationalbühne zu haben“ – rief Schiller im Jahre 1784 – „so würden wir auch eine Nation.“ Wir sind eine Nation geworden auch ohne eine Nationalbühne. Wollen wir aber eine Nation bleiben und als solche zu immer tieferer Kräftigung, Veredelung und Selbstbefreiung emporsteigen, dann möge sich unsere vollste Theilnahme wieder unseren nationalen Bühnen zuwenden! Alsdann werden dem Verständniß unserer Dichterheroen immer weitere Canäle gegraben und wird dem deutschen Herzen die Naivetät der Empfindung zurückgewonnen werden, welche eine beifallbuhlende, effecthaschende Afterkunst schwächte und zurückdrängte.




Blätter und Blüthen.

Eine industrielle Verleumdung. Wir erzählen unseren Lesern eine Thatsache, die, weil sie durch eine Menge Blätter gegangen, Vielen nicht neu, in ihrem Ausgange aber vielleicht doch nicht Wenigen unbekannt und deshalb noch immer geeignet ist, einen deutschen Industriezweig, der bis jetzt die Concurrenz des Auslandes siegreich bestanden, durch heimische Thorheit oder Niederträchtigkeit zu ruiniren.

Vor fünf Jahren suchte die „Gartenlaube“ (Jahrgang 1874, S. 377) das damals in Deutschland die durch ihre treffliche Modellirung besonders ausgezeichneten Waaren der Papierwäschefabrik von Mey und Edlich zu Plagwitz-Leipzig, die schon damals durch ihre großartige Production als die erste Deutschlands dastand; ein Nachtrag dazu erkannte auch die Firma A. und C. Kaufmann in Berlin als eine um diese Branche sehr verdiente an.

Seitdem hat dieser Fabrikationszweig sich auf eine Höhe emporgeschwungen, die längst den Neid Englands und Amerikas herausforderte; nur der Uebermacht und dem Weltruf des Plagwitz-Leipziger Etablissements verdankte es Deutschland, daß dieses Gebiet uns ungefährdet blieb.

Da veröffentlicht ein deutsches Blatt, die „Coblenzer Zeitung“, am 22. August die Warnung, es sei in mehreren Stücken Leipziger Papierwäsche bei einer von der Medicinalpolizei in Coblenz angeordneten chemischen Untersuchung Arsenik gefunden worden, und sofort beeilt sich die Firma A. und C. Kaufmann in Berlin, ein Circular zu erlassen mit der ausdrücklichen Angabe:

„Die Medicinalpolizei in Coblenz fand sich dieser Tage veranlaßt, eine Anzahl papierner Kragen und Manchetten aus einer großen Leipziger Fabrik chemisch untersuchen zu lassen. Das Ergebniß lautete dahin, daß diese beliebten Wäsche-Artikel einen starken Zusatz von Arsenik enthielten –“

und preist ihr eigenes Fabrikat als frei von allen gesundheitsnachtheiligen Bestandtheilen an.

So läuft diese Nachricht, einem Flugfeuer gleich, von einer Zeitung zur andern und wird mit besonderem Eifer auch von englischen, norwegischen und holländischen Zeitungen in alle Welt verbreitet. Und doch erwies schon nach wenigen Tagen sich Alles als Lüge. Die höchste Behörde zu Coblenz erließ selbst Folgendes zur Aufklärung des Falles:

„Auf die (von der Firma Mey u. Edlich) an das hiesige königliche Medicinal-Collegium gerichtete, an uns zum ressortmäßigen Befinden abgegebene Vorstellung vom 30. vorigen Monats, betreffend die in Coblenz stattgefundene Analyse von Papierwäsche, erwidern wir Euer Wohlgeboren, daß man bei der – nicht in Folge unserer Anordnung oder Anregung vorgenommenen – chemischen Untersuchung von Papierkragen in einer hiesigen Officin in einem Kragen das Vorhandensein von Arsenik zu erkennen glaubte. Eine nochmalige näher eingehende Untersuchung stellte indessen die vollständige Grundlosigkeit dieser Annahme unzweifelhaft heraus. Wir bedauern, daß durch Mittheilung des Resultates jener ersten Untersuchung seitens Unberufener an die Presse die unbegründete Nachricht von dem Vorkommen arsenikhaltiger Papierwäsche in hiesiger Stadt durch Aufnahme in mehrere Zeitungen Verbreitung gefunden hat. Coblenz, 13. September. Königl. Regierung, Abtheilung des Innern. von Laski.“

Die „Coblenzer Zeitung“, welche am 30. August einen neuen Verdächtigungsversuch gemacht, indem sie berichtet hatte, daß „die Sache zur criminellen Verfolgung“ überwiesen sei, mußte sich schließlich zum Widerruf ihrer falschen Angaben bequemen, dem man indeß, nach obigem Regierungs-Zeugniß, keinen Werth mehr beilegen kann.

Beachtenswerther sind die zahlreichen Gutachten gerichtlich vereideter Chemiker, namentlich von Dr. Pabst in Stettin, Dr. Kratschmer in Wien, Dr. Ulex in Hamburg, Dr. M. Müller in Braunschweig, Dr. R. König, Dr. O. Bach und Professor Dr. Reclam in Leipzig, ferner von Dr. Arthur Hill Hasall und Otto Henner in London, welche sämmtlich, nach strengster Untersuchung der Leipziger Papierwäsche auf Arsenik, „nicht eine Spur dieses Giftes, noch irgend eine Substanz, welche der Gesundheit nachtheilig sein könnte“, gefunden haben. Ebenso beachtenswerth sind die Aussprüche von Fachblättern, wie namentlich dem „Süddeutschen Bank- und Handelsblatt“ in München und dem „Centralblatt für die deutsche Papierfabrikation“ in Dresden. Beide deuten aus die Möglichkeit „schmutziger Concurrenz-Manöver“ hin, und letzteres empfiehlt strenge Untersuchung gegen den schuldigen Chemiker. Mögen sämmtliche deutsche Papierwäsche-Fabrikanten bedenken, daß mit der Schädigung von „Mey und Edlich“ auch ihnen das Messer an die Kehle gesetzt würde, denn die ausländische Concurrenz lauert an allen Thoren und würde den Markt der Leipziger Firma überschwemmen, ehe sie selber ihn besetzt haben. Daß der „industrielle Patriotismus“ in Deutschland noch keinerlei Sicherheit gewährt, dafür spricht erschreckend deutlich die Möglichkeit der vorliegenden „industriellen Verleumdung“.




Klosterzelle und Gedankenhelle. Etwas für das Reformationsfest. (Vergl. die Illustrationen auf S. 740 und 741.) Drüben Mönche, die mit kurzsichtigen Gelehrtenaugen in alten Schmökern suchen, hüben die „deutsche Bestie mit den tiefen Augen und den wunderbaren Gedanken im Kopfe“, wie der päpstliche Gesandte einst gesagt: ein begeisterter Luther, die Bibel im Arm – das ist ein Contrast, wie er als Ausgangspunkt für Reformationsfest-Gedanken fruchtbarer nicht gedacht werden kann. Ist doch dieser Gegensatz mittelalterlich mönchischer Gelehrsamkeit und freier, begeisterter, persönlichster Forschung das, was recht eigentlich auf das Wesen der reformatorischen Bewegung führt.

Zwei Irrthümer erben sich in Bezug auf dasselbe durch die Schule wie ewige Krankheiten fort: die Meinung, daß die Reformation nur religiös-kirchliche Bedeutung habe, und die andere, als habe sie in den evangelischen Bekenntnissen für alle Zeit ihr Ziel auf religiösem Gebiete erreicht.

Der Reformationsgeist ist, mit einem Worte erschöpfend charakterisirt, der Geist der Freiheit: der Gewissensfreiheit, der Denkfreiheit, der Freiheit der Forschung, der politischen Freiheit – kurz der Freiheit auf allen Gebieten, gegenüber der Gebundenheit des Mittelalters, von welcher jeder sich soweit frei machte, wie er die Macht dazu besaß. Die Mächtigen übten Willkür; die hohen Kirchenfürsten setzten sich lachend über Glauben und Moral hinweg – wer das nicht konnte, der mußte sein Joch tragen. Und am mächtigsten war die Kirche, am zwängendsten das kirchliche Joch, vor allem für das geistige Leben. Im ganzen Mittelalter galt der Grundsatz: alle Wissenschaft ist falsch, welche nicht zu der kirchlichen Lehre stimmt, ja ist verdammenswerthe, auszurottende Ketzerei.

Es ist kläglich zu beobachten, wie sich die Denker der Scholastik, der Philosophie jener Zeit, winden und drehen, um ihr besseres Wissen in unverfängliche Form zu kleiden oder aber sich in der Kirchenlehre zurecht zu denken, aus Furcht, dem Ketzergericht zu verfallen. Was Wunder, wenn die geistige Arbeit fast nichts als ein todtes Stöbern in alten Büchern, ein Zusammentragen von Citaten, ein Aufsammeln oft stupenden Wissenskrams, ein rabbinisches oder sophistisches Klügeln und Wortklauben war, eine Thätigkeit, deren Siegel den gelehrten Mönchen aus unserm Bilde so charakteristisch aufgeprägt ist.

Erst die Reformationszeit brachte jene leuchtenden tiefen, freien und beseelten Blicke an das Tageslicht, wie sie im Auge Luther’s auf dem zweiten unserer Bilder strahlen. Erst von da ab datirt das Recht des Menschen, nur dem Gotte in der eigenen Brust zu gehorchen, die Wahrheit auch zu denken und auszusprechen, welche im innersten Gefühl lebendig ist, und gerade dieses Recht ist es, welches, ob auch durch zeitweilige Irrthümer hindurch, allein den riesigen Erkenntnißfortschritt ermöglicht hat, auf den unsere Zeit stolz ist. Und wenn nach der Reformationszeit die Reformationskirchen noch einmal eine evangelische Scholastik begründet haben und die Heißsporne unter den jetzigen evangelischen Kirchenmännern die mühsame Compromißarbeit des evangelischen Dogmas als Grenze gesetzt wissen wollen für die Freiheit des Denkens, so ist das gegen den Geist der Reformation, der über sie hinwegschreiten wird, und wir haben ein Recht und werden es allezeit, trotz Verdammung und Verketzerung, gebrauchen, ihnen zuzurufen: Im Namen der Reformation – wir protestiren!




Verantwortlicher Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.