Die Gartenlaube (1880)/Heft 36

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 36.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Alle Rechte vorbehalten.
Am Meer.
Aus den Papieren eines Arztes von C. Lionheart.
(Schluß.)


Eine weinerlich bittende Stimme schien eine andere Person da innen bewegen zu wollen, nicht aufzumachen. Ingeborg's klare Stimme machte ihr Gegenvorstellungen. Immer kläglicher flehte und wimmerte wie ein verängstigtes Kind die Eine, während, statt aller Antwort, wir einen festen Schritt auf die Thür zukommen hörten; sie wurde schnell von innen geöffnet. Ich stand eine Secunde lang wie geblendet auf der Schwelle. Mein Beruf hat mich in manches mit Raffinement und Luxus ausgestattete Damenzimmer geführt, aber in solch sinnberauschendes Märchenwunder blickte ich nie zuvor. Der Baron hatte sein reizendes Spielzeug in den verführerischsten Rahmen gebracht, oder die kleine raffinirte, phantasievolle Person selbst hatte aus ihrem Sanctuarium einen Traum wie aus „Tausend und eine Nacht“ geschaffen.

Einzelheiten prägen sich dem Gedächtniß des Mannes nach solcher Richtung selten ein; ich weiß nur, daß der achteckige kleine Salon, ganz in blaßrosa Atlas gehalten, hermetisch verschlossen gegen das Tageslicht, von mattgeschliffener rosenrother Ampel überstrahlt und in jedem Winkel mit kleinen Terrassen blühender Rosen angefüllt, mir den Eindruck einer vollentfalteten großen Centifolie hervorrief. Von den Wänden schimmerte wie ein rosenfarbener Spiegel der lichte Atlas; an den Thüren floß er in reichen Falten herab. Fast mit Scheu betrat mein Männerfuß den schneeweißen daunigen Teppich, über den der Baron ungenirt bis zu dem Divan hinging, auf dem die junge Frau ruhte, in sich zusammengeschmiegt, den Kopf in die Kissen gegraben, wie ein Vogel Strauß. Seine herrische Stimme scheuchte sie auf. Neben sie hatte sich Ingeborg gesetzt und legte mitleidig den Kopf an ihre Schulter.

Wie verschieden waren diese beiden Frauen! Die Eine selbst in diesem Augenblicke der höchsten Seelenangst des Eindruckes nicht uneingedenk, den sie hervorrufen will, im verführerischen Negligé, schmiegsam, kokett, berechnend, die Andere ganz selbstvergessen, in den schlichten schleppenden Trauerkleidern, von edler plastischer Einfachheit, ganz allein sich selbst gebend; die Eine effecthaschend, mit dem eigenen Manne kokettirend, die andere ohne Ahnung, wie gewaltig, wie schön sie ist; die Eine nur strebend, Herzen um jeden Preis zu unterjochen, die Andere zu stolz, als daß das Streben, zu gefallen, in ihrer jungfräulichen Seele jemals sich geregt. O blinder Thor, wo hattest Du Deine Augen gehabt, als Du in Ina Maltiz das Ideal aller Weiblichkeit sahest! Das Modell zu unserer Urmutter, zu einer Venus des Hörselberges, zu der Circe, die den sinnbethörten Odysseus lockt, mag sie abgeben, aber das Ideal des echten, reinen, hohen Weibes – ist Ingeborg.

Ingeborg's Augen und die meinigen begegneten sich in verständnißinnigem Blicke, während der Baron düster auf das an allen Gliedern bebende junge Weib herabblickte, als wolle er ihr in die tiefste Seele schauen. Ina's verschleiertes Auge wanderte unruhig von Einem zum Andern – es konnte den ruhig steten Blick des Barons nicht ertragen und blieb zuletzt flehend an Ingeborg hängen. Sie drückte das Gesicht in deren Schooß, als fühle sie instinctiv, daß gerade Jene, die in moralischer Reinheit hoch über ihr stand und kein Verständniß für kleinliche Gesinnung haben könne, am ersten Duldung üben werde.

„Ich habe diese Frau geliebt, geliebt mehr als ich sollte, als ich vor meinem Stolz verantworten kann,“ stöhnte der Baron auf; er starrte vor sich hin und preßte beide geballte Hände gegen die Stirn. Ina lag still in Ingeborg's Schooß wie eine überführte Verbrecherin, und mitunter zuckte ihr Oberkörper unter Schluchzen.

„Du hast Ränke gesponnen, so lange ich Dich kenne. Mein Gott, daß mir erst heute die Augen aufgehen!“ hob er wieder kummervoll an. „Du hast den edlen Mann hier“ – er deutete auf mich, ohne daß sie es sehen konnte – „um mich aufgegeben, weil ich Dir mehr –“ seine Hand beschrieb verächtlich einen Rundkreis über das prunkende Gemach hin – „zu bieten hatte, als er.“

Sie schnellte empor.

„Das ist nicht wahr,“ wallte sie auf und blieb aufgerichtet sitzen. „Ich täuschte mich über meine Neigung zu Johannes; er war mir zu schlicht, zu formlos, zu einfach, zu bäuerisch. Vergieb mir, Hans!“ Sie streckte mir bittend die Hand hin, und ich nahm sie frostig und ließ sie wieder fallen. „Der, den ich wirklich geliebt in seiner stolzen Männlichkeit und imposanten Ritterlichkeit, Rochus, das warst Du.“

Spielte das Kätzchen wieder Komödie, wollte sie seinem Zorn die Spitze abbrechen, indem sie seiner Eitelkeit schmeichelte? Wenn dem so war, hatte sie es zu einer künstlerischen Höhe gebracht; denn durch den Ton zitterte ergreifende Wahrheit. Den Baron ließ es kalt; er zuckte nur die Achsel, und seine Lippen umspielte ein verächtliches Lächeln.

„Die Motive Deines damaligen Handelns sind mir übrigens gleichgültig. Ich entdecke darin höchstens den Schlüssel zu dem Räthsel, das Dein Charakter mir heute aufgiebt: Du bist genußsüchtig. Ich habe dieser Leidenschaft, die bei Deiner Jugend und Schönheit ja entschuldbar ist, nichts in den Weg gestellt; Du kannst nicht sagen, daß ich den Freuden Deines jugendlichen Alters im Wege gestanden. Lächelnd habe ich warnende Freunde abgewiesen. 'Eine Maltiz-Bassowitz mag tändeln, spielen,flattern, [578] aber sie vergißt sich nicht,' sagte ich mir. Das feste Gebäude des Zutrauens hast Du jetzt erschüttert. Ich habe den Glauben an Deine Wahrhaftigkeit verloren; Alles läuft verworren durch einander. Kann ich noch wissen, wo die Grenze war vom Spiel zum –“ Er brach kurz ab. „Du bist falsch. Ich kann mit Dir nicht länger eine Luft athmen.“

Eine Weile herrschte dumpfes Schweigen. Der Baron hatte das Gesicht zwischen den Händen begraben. Grenzenloses Mitleid sprach aus Ingeborg's Augen, welche auf die im Weinkrampf sich windende Frau herabsahen; dann schaute sie mich groß und klar an, und in ihrem Blick schien mir eine Aufforderung zu liegen. Selbst gegen das strenge Urtheil zu appelliren, wagte sie wohl bei ihrer Kenntniß vom Charakter des unbeugsamen Mannes nicht.

„Herr Baron, Sie haben mich selbst zum Anwalt dieser Frau bestellt,“ begann ich, „erlauben Sie mir nun den Einwurf, daß man ungehört selbst keinen Verbrecher verdammt! Geben Sie der Baronin Gelegenheit, sich zu vertheidigen! Noch weiß übrigens Keiner von uns, wessen Sie dieselbe anklagen.“

Der Baron war auf einem Sessel zusammengesunken.

„Kommen wir zu Ende!“ sagte er, sich aufraffend. „Wie ich über die Treue meines Weibes denke, darüber will ich heute nichts sagen, aber etwas Anderes muß hier zur Sprache kommen. Die Baronin kannte von jeher meine Standesvorurtheile; sie wußte, daß es mir in's Fleisch schneiden hieße, gegen dieselben sich aufzurichten. Ob ich Recht oder Unrecht darin habe, gehört nicht hierher. Genug, sie hat systematisch die beiden jungen Menschen, meinen Sohn Malte und die Tochter des Küsters, in jeder Weise heimlich in ihren Liebesplänen unterstützt; o, glauben Sie nicht: aus Liebe! diese Frau liebt nur sich selbst – nicht aus Schwäche: sie kann stahlhart sein, wenn sie ihre Interessen dadurch geschützt sieht – sondern aus eigennütziger Berechnung. Natürlich hat sie mit dem künftigen Herrn auf Eichenhof sich in ein günstiges Verhältniß stellen wollen – dies um so mehr, als meine vollsaftige Constitution einen schnellen Tod nicht unwahrscheinlich macht. Wie konnte sie ihren Zweck besser erreichen, als indem sie Malte's Neigung zu der Küstertochter schmeichelte? Sie ahnte nicht, daß mein Testament, das meine Vettern unabhängig stellte, längst bei dem Gerichte deponirt war. Ich hatte sie in dieser Unkenntniß absichtlich erhalten, um das Verhältniß zu dem Stiefsohne freundlich zu gestalten, so lange ich zwischen diesen Beiden, die mir gleich an's Herz gewachsen, stand. Es hätte mir auffallen können, daß zwischen meinem sanften, stillen Knaben, der bis dahin wenig Sympathie, nur kühle Höflichkeit für seine Stiefmutter gehabt, und dieser bald nach seiner Rückkehr in den Ferien sich eine sonderbare Intimität, ein Flüstern und Zischeln bemerklich machte; es hätte mir auffallen müssen daß – wenn mein Vertrauen mich nicht mit Blindheit geschlagen – es gerade die Küsterstochter war, die meine Frau zu einem Mittelding von Gesellschafterin und Zofe hierher aus der Universitätsstadt berief, wo Malte studirte und wo das Mädchen bei ihrem Onkel, einem Gymnasiallehrer, erzogen wurde. Den großen, verwunderten Augen Ingeborg's hätte ich's anmerken können, daß hier nicht Alles mit rechten Dingen zuging, als das nette, bildsaubere und schüchterne Kind hier einzog.

Frau Baronin hat das Turteltaubenpaar unter ihre Fittige genommen. Um Allem die Krone aufzusetzen, hat Frau von Bassowitz einen armen Pfarrer zu bewegen gesucht, die jungen Menschen heimlich zusammenzugeben. Der Diener des Herrn hat aber Festigkeit genug gehabt, den verlockenden Versprechungen des gewissenlosen Weibes zu widerstehen. Sein ihr gegebenes Wort sicherte ihr Stillschweigen, und gleiches war ihr durch Malte zugesichert. Keiner aber hat Leonore die Lippen versiegelt, und diese hat gesprochen.

Niemals hätte ohne die Ermuthigungen, den Zuspruch meiner Frau mein Sohn den Muth gewonnen zu so heimlichem Treiben, niemals die Kraft gehabt, eigenmächtig über sein Leben zu entscheiden. Wir Bassowitz sind seit Generationen in strengem Gehorsam gegen den Willen des Familienoberhauptes erzogen; wer regieren will, muß zuerst gehorchen lernen. Niemand hat sich je gegen denselben aufzulehnen gewagt; mein sinniger Knabe hätte es am wenigsten vermocht, wenn er durch fremde Einflüsterung nicht dazu aufgestachelt worden wäre. Und wäre es noch offen und ehrlich geschehen im redlichen Kampfe – es hätte eine verwandte Saite in mir bewegt.

Aber die infernale Gewandtheit dieser Frau hatte den Bogen zu straff gespannt. Der junge Leu, der Blut geleckt, wollte nun durchaus auch die vorgehaltene Beute, und mit der Halsstarrigkeit, die unserm Geschlechte eigen ist, verfolgte er sein Ziel. Die Baronin Bassowitz versprach ihm einst die kleine Lore zum Weibe; nun konnte sie sehen, wie sie ihr Wort hielt. Es ging ihr wie dem Zauberlehrling, welcher der Geister nicht Herr werden kann, die er beschworen, und ich bereitete ihr die Unbequemlichkeit, ein zäheres Leben zu haben, als sie erwartet.“

Ina ächzte mehrere Mal auf. Ingeborg suchte Fürsprache für sie einzulegen: sie sei ohne jeden veredelnden Einfluß groß geworden; nur ein Naturtrieb, derjenige der Selbsterhaltung, sei in ihr erstarkt; man müsse – der düsterlohende Blick des Schloßherrn ließ Ingeborg verstummen.

„Dann hätten Jene in ihren Theorien Recht,“ unterbrach er sie, „die da behaupten, daß der Mensch von Hause aus ein blutgieriges Raubthier sei, über dessen zügellose Leidenschaften nur die fortschreitende Cultur den Firniß verfeinerter Sitte breite. Die Gnädige ließ sich einen Additionsfehler zu Schulden kommen, indem sie in die Summa ihres Thuns nicht das Ungestüm eines zwanzigjährigen Herzens hineinrechnete. Die Verhältnisse spitzten sich zu der Katastrophe zu, die meinem armen Malte beinahe das Leben gekostet hätte. Daß ich es kurz mache: mein Sohn erklärte seinen unerschütterlichen Entschluß, mit seiner heimlich Verlobten nach Amerika zu entfliehen, und betrieb alle Reisevorbereitungen. Das war für die Baronin Bassowitz ein Strich durch die Rechnung. Sie kannte mich genug, um zu wissen, daß ich meinem einzigen Sohn das nie vergeben, daß ich ihn erbarmungslos enterben würde, und wußte, daß mein Besitzthum dann an einen entfernten Agnaten übergehen werde.

Als vor einigen Tagen Malte und ich einen Gutsnachbar besuchten und Ingeborg bei einer Freundin war, benutzte die Baronin unsere Abwesenheit, um Lore zu zwingen, sich zu dem Oheim zurück in die Stadt zu begeben. Das eingeschüchterte Mädchen mußte sich wohl oder übel fügen, aber noch in derselben Nacht, von böser Ahnung getrieben, entfloh sie aus des Oheims Hause und kam halb todt vor Mattigkeit und Erschöpfung bei ihrem alten Vater gestern Abend hier an.

Nun geschah das Letzte; der Schlußact dieses teuflischen Intriguenspiels begann. Zwei Briefe mit gut verstellter, aber mir und auch ihm jetzt völlig erkenntlicher Handschrift langten für Malte und mich hier an: mich ermahnte der anonyme Freund, auf meinen Sohn wohl Acht zu haben, mir seine Pläne alle verrathend. Der Brief an Malte lautete ungefähr:

'Ich fliehe vor Dir, Malte, und bitte Dich, mir nicht zu folgen. Ein braver, achtbaren Mann bietet mir hier eine ruhige, gesicherte Zukunft. Ich ziehe das friedliche Leben und meine Gewissensruhe schon deshalb dem ungewissen Schicksal an Deiner Seite vor, weil wir dadurch unsere Väter nicht zu Tode betrüben. Du kennst meine Zaghaftigkeit; ich bin zu Kampf und Streit nicht geboren. Vergieb mir, wenn Du kannst, und werde glücklich! Meine Tante schreibt diese Zeilen für mich; ich bin zu gebrochen und unglücklich – ich verbiete Dir aber, mich wiederzusehen.'

Die Anstifterin von alle dem, mein Weib, spielte mir und meinem Sohne gegenüber die Rolle der besänftigenden Friedensstifterin und der theilnahmevollen Trösterin und stellte sich in's Licht reinster Unschuld.

Herr Professor – Ingeborg: das Uebrige kennt Ihr. Meinen armen, von seiner Kindheit an schwächlichen Sohn hatte dieser Schlag aus heiterem Himmel niedergestreckt. Er wand sich in furchtbaren Krämpfen bis zum Abend; dann kam die Todesstarre, die wir für den Tod selber hielten. Den unheilstiftenden Brief hatte jene Frau da zu sich stecken wollen. Ich weiß nicht, welch instinctives Gefühl mich trieb, ihn ihr fortzunehmen und in meine Brusttasche zu stecken – genug, ich habe den Brief. Dem schärfer prüfenden Auge trägt er die Grundzüge und charakteristischen Merkmale der Handschrift der Baronin Ina von Bassowitz. Was hat die Baronin darauf zu antworten?“

Emporgeschnellt wie durch Federkraft, beide Arme vor sich hinstreckend, rief sie leidenschaftlich:

„Daß ich Dich liebe! liebe! liebe!“

„Du hast eine Zukunft,“ sagte der Baron kalt, „– die Bühne ist Deine Zukunft.“

„O!“ stöhnte sie und griff nach den Schläfen, als hätte sie einen Schlag in's Gesicht bekommen.

[579] „Was war das Motiv aller Deiner Handlungen?“

Sie strich, wie sich besinnend, über sich selber nachdenkend, die schweren dunklen Haarmassen von der feuchten Stirn. Angstvoll, hülfesuchend, blickte sie von Einem zum Andern.

„Was war die Ursache?“ fragte er noch strenger.

„Ich weiß es nicht,“ erwiderte sie, „vielleicht – Langeweile.“

Wir sahen uns Alle entsetzt an. Dieses frivole, frevle Spiel mit Menschenglück, Menschenfrieden, Menschenleben – aus Langerweile!

Dem nutzlosen Leben der vornehmen Frau fehlte der Segen der Arbeit, fehlte ein höheres Streben, ein höheres Interesse, als das an der kleinen Welt der Gefallsucht und des Müßigganges.

„Ich kann nicht mit Dir leben, Ina!“ rang es sich von den Lippen des Barons.

Ina schleppte sich auf den Knieen zu ihm, umklammerte angstvoll seine Füße, suchte mit den Lippen seine widerstrebenden Hände.

Er riß sie eine Secunde empor in seine Arme, trug sie wie ein kleines Kind unter die Ampel, hielt sie hoch unter das Licht und blickte ihr in die verstörten Züge, als wolle er sie sich einprägen für Zeit und Ewigkeit. Tief seufzend ließ er sie dann herabgleiten. Es muß ein schweres, unsagbar schweres Kämpfen in ihm gewesen sein; denn seine Stimme war tonlos, als er niedergeschlagen sagte:

„Geh mit Gott, Ina – für Deine Zukunft werde ich sorgen! Mein Wappen trägt den Wahlspruch ‚Veritas‘ nicht selber darf ich ihn zerbrechen, und eine Freifrau von Bassowitz darf unser Motto nicht mit Füßen treten. Geh, mein Kind!“ sprach er noch leiser, noch milder und weicher, „Gott …“

Er schluchzte auf. Seine Hand streckte sich wie segnend nach ihrem Scheitel aus; dann drohte das Gefühl ihn zu übermannen. Er eilte hinaus. Ich habe ihn nicht wieder gesehen.

Ina lag besinnungslos am Boden, und wie der Engel der Barmherzigkeit kniete neben ihr, angstvoll über sie hingebeugt, meine Ingeborg.




Wie sind die Jahre leise, lautlos an uns vorübergeglitten! Fünf oder sechs? Meine Ingeborg versichert mir eben, daß es deren sieben sind. Wahrhaftig, sieben Jahre!

Unsere Ehe war nicht kinderlos – ach, unsere kleine goldhaarige Ingeborg riß uns der Tod plötzlich vom Herzen. Mich mit festem Gottesvertrauen aufrichtend, ruhig gefaßt, stand in der dunklen Stunde diejenige hoch über mir, die innerlich tausendmal gebrochener sein mußte als ich; denn eine Mutter verliert tausendmal mehr an dem in allen Fasern mit ihr verwachsenen Kinde, als der Mann, der mitten im Leben und mitten in der Arbeit steht.

Ingeborg ist Licht geworden meinen lichtlosen Augen; für mich hat sie gesehen, als ich beinahe erblindet war. Sie ist die Hand geworden, die dem Gedanken erst Dasein gab. Sie hat mir, im regen geistigen Verständniß für Alles, was draußen in der Welt sonst an mir vorübergegangen, in das dunkle Krankenzimmer eine Auslese des Besten getragen; körperlich und geistig hat sie mich gestützt während der langen Monde des Siechthums. Mir die Gedanken von den Augen lesend, mich errathend, ist sie jedem Wunsche zuvorgekommen. Ein wackerer Camerad, ein treues Weib ist sie mir in diesen dunklen Prüfungstagen gewesen, in denen ich das Opfer meiner Berufspflichten das Opfer ansteckender Krankheit geworden, die alle meine Lebenskräfte niederstreckte.

Beruhigend, wie der glatte Meeresspiegel, liegt das Wesen meines Weibes vor mir da; tief, wie in die durchsichtige, klare Fluth, blicke ich durch die ernsten Augen in dieses reiche, von einem unerschöpflichen Liebesborn erfüllte Gemüth einer nordischen Frau. Frisch, kühl, erquickend, wie die Meeresbrise, weht es aus ihrem ganzen Sein mich an, und jeder Gedanke Ingeborg's ist Kraft, Wahrheit, jedes ihrer Worte stolze Offenheit. Aber Heimweh zieht sie doch alle Jahre dem Meere zu. Bei dem jungen Malte Bassowitz und seinem braven Weibe haben wir oft genug unser Zelt aufgeschlagen, und immer war es ein gar trautes Heimwesen, das uns bei den lieben Menschen umfing. Dem alten Bassowitz ist kaum Zeit gelassen worden, mit mir zusammen den ersten Enkel über die Taufe zu halten und an dem Glück seiner Kinder sich zu erfreuen; er wurde ungewarnt und schmerzlos plötzlich aus dem Leben gerufen. Er hat die Beruhigung mit in's Grab nehmen dürfen, daß der schwächliche Junker ein Bassowitz aus echtem Schrot und Korn geworden ist; Lore ist in dem stillen Eichenhof völlig an ihrem Platz mit ihrer holden Demuth und mädchenhaften Bescheidenheit.

Von Ina hatten wir, nachdem sie mit mir Eichenhof verließ und nach Italien ging, lange nichts mehr gehört oder doch nur Schwankendes durch die ungewisse Fama. Man wollte sie öfters in den Spielsälen der rheinischen Bäder in auffallender Toilette mit einem wahnsinnig pointirenden, verlebt und wüst aussehenden Manne in hochmodischer Kleidung gesehen haben.

Während eines Tages heftige Aequinoctialstürme als Vorboten des anrückenden Herbstes unser stilles Haus im Stadtpark umtosten, klingelte es schwach an der Hausthür.

Wer konnte es sein? Meine Freunde und Collegen respectirten sonst diese Abendstunde, die einzig und allein meiner Frau gehörte. Niemand sprach um diese Tageszeit bei uns ein, während wir plaudernd, berathend am behaglichen Theetisch saßen. Das Klingeln wiederholte sich leise, und zugleich glaubten wir eine Droschke von unserer Gartenthür fortrollen zu hören. Die im Winde heftig rauschenden Bäume übertäubten jedes andere Geräusch.

„Es wird der Briefträger sein,“ meinte ich. „Bei dem Hundewetter käme doch Keiner sonst zu uns heraus.“

In demselben Augenblick ging die Thür auf, und es wurde gemeldet, daß eine Frau mit einem Kinde draußen warte, die den Herrn Professor zu sprechen wünsche.

Ein kleines, etwa dreijähriges Mädchen lief einer wankenden Gestalt vorauf, die zögernd hinter dem einen Flügel stehen blieb. Die Kleine ging zutraulich auf unsern behaglichen Tisch zu und streckte Ingeborg ein fettes Grübchenhändchen entgegen. Die lachenden braunen Aurikelaugen gingen neugierig im Kreise umher, und das wunderliebliche Kindergesicht umtanzten die langen, goldblonden Locken unter dem wollenen Shawl, der ihr um den Kopf gewickelt war. Das Kind war dürftig, aber bunt, wie in Theaterplunder, gekleidet; der strahlenden Schönheit, der angeborenen Vornehmheit des kleinen Dinges hatten die bunten Lumpen aber keinen Abbruch thun können.

Mit einem entzückten: „O das liebe Kind!“ hatte meine Frau die reizende Kleine hochgehoben, geküßt und an den leckern Theetisch vor eine Schüssel mit Biscuit gesetzt. Man sah den leuchtenden Augen an, daß es ungewohnte Herrlichkeiten waren, die sich ihnen hier boten. Fröhlich bissen die kleinen Zähne in das Gebäck. Wir hatten der Fremden in unserer Freude über das holde Kind beinahe vergessen.

„Mama – wo ist Mama?“ rief das Mädchen. „Mama, ich hebe für Dich drei Kuchen auf,“ jubelte sie und packte ungenirt in die Kleidertasche, was hinein wollte.

Von der Thür kam ein seltsamer Laut. Weinte die Fremde oder war es Freude? Ein ehemals schwarzer, vom Tragen grau gewordener Schleier bedeckte ihr das Gesicht; noch dünner, noch ärmlicher war sie gekleidet, als das Kind, dem sie wahrscheinlich das Beste gegeben, was sie noch hatte. Die Gestalt zitterte vor Kälte. Meine Frau bat sie freundlich und gütevoll, hereinzukommen und hinter sich die Thür nach dem zugigen Flur zu schließen, und als sie sich noch immer nicht vom Platze regte, ging ich ihr entgegen, weil ich das seltsame Gebahren für übertriebene Schüchternheit hielt. Dann aber überzeugte ich mich, daß es Schwäche war, was sie zögern ließ; denn als ihre Hand die Stütze der Thürklinke verließ und sie einen Schritt vorwärts that, taumelte sie wie ein Trunkner.

Am Tische ließen wir sie in einen Armsessel nieder, und meine sorglich um die Aermste beschäftigte Frau wärmte in ihren weißen Händen die erstarrten mageren Finger der Kranken und nahm ihr vom Gesicht den Schleier fort.

Herr des Himmels! Ina! Erschrocken blickte das Kind von Einem zum Andern und stellte, vom Stuhle herabkriechend, sein zartes Figürchen wie eine Schutzmauer vor der Mutter auf. Um Ina's farblosen Mund schwebte ein schmerzliches Lächeln.

„Nun kann ich sterben, meine Ingeborg, bei Euch sterben – Du Johannes und jene Gute da, Ihr werdet meinem Kinde – es heißt ja auch Ingeborg – Vater und Mutter sein,“ sagte sie mühsam, mit halbgeschlossenen Augen. Welch furchtbare Verheerungen hatten Zeit und Unglück in diesem einst so schönen Geschöpfe angerichtet! In den langen, bangen Stunden der Nacht des Wiedersehens hat sie uns bruchstückweise, in abgerissenen Lauten ihre Erlebnisse erzählt, eine traurige, ach so traurige [580] Geschichte, in welcher Verhängniß und eigene Schuld sich zu tragischem Schlusse zusammenwebten.

Eine Zeitlang lebte sie – wir erfuhren es mit Theilnahme – durch ihre erschütterte Gesundheit gezwungen, in Monaco; dort hatte sich ihr ein Vetter, Bodo von Maltiz, der früher um sie geworben und inzwischen sein väterliches Erbe verschwendet hatte, nach zufälliger Begegnung angeschlossen, glühende Liebe ihr heuchelnd, weil sie inzwischen eine nicht mittellose Wittwe geworden.

„Ich war so allein, so verlassen, und ich wurde Bodo's Weib,“ klagte sie, und ihre Augen sahen uns so kindlich flehend, so hülflos aus dem magern Gesichte an, wie einst aus Ina Maltiz' lachendem Kinderantlitz, wenn sie von ihrem Hans diesen oder jenen Dienst forderte. Alles was sie besaß, hatte Bodo Maltiz dann seiner unseligen Spielleidenschaft hingeopfert. Ina's Hände sahen aus, als hätten sie Arbeit, rauhe, harte Arbeit kennen gelernt. Arme, verwöhnte, zarte kleine Hände, die Rochus Bassowitz einst ritterlich an seine Lippen führte, war das euer Schicksal? „Rochus!“ klang es durch das stille Zimmer, und als Ina nach wenigen Tagen in meinen Armen ihre müde Seele aushauchte, da klang es noch einmal durch das Sterbezimmer:

„Rochus!“ – –

Sie hat ihn doch geliebt, ihn allein.

„Thalatta. Thalatta! sei mir gegrüßt, Du ewiges Meer! Ich jauchze Dir zu.“ Wie ein Märchenwunder liegt es vor uns, das uralte Element, am Morgen der heiligen Weihnacht. Wir sind nicht länger arm unter den Reichen; in den jubelnden Kindersegen auf Eichenhof tragen wir glücklich unseren eigenen Schatz, unsere liebliche kleine Ingeborg. Meine Ingeborg, meine meergeschenkte Perle, halte ich stillbeglückt und dankbar am Herzen, während wir vom Fenster aus auf das Wunder des jungen Morgens, auf das leuchtend als blutrothe Kugel hinter dem Meeresrande auftauchende Tagesgestirn blicken, das seine Strahlen bald über die krystallisirten Baumäste der Eichen gießen wird.

Gefesselt liegen Woge und Wind, und unter dem Winterschlafe ruht neues erwachendes Leben; so ruhen auch die Stürme in unserm Leben, und hoffnungsvoll blicken wir nieder auf das blühende junge Dasein, das zärtlich seine Hände in die unsern legt. –

O Sonne, stehe still! – Ihr Parzen, haltet den Faden an!

Das Meer ist still – die Stürme schlafen,
Der Himmel ist so sternenklar;
Am Anker ruht im sichern Hafen
Das Schiff geborgen vor Gefahr.
So laß auch mich nach Kampf und Schmerzen
An Deiner Brust vor Anker gehn
Und, blick' ich auf von Deinem Herzen,
Den Himmel Dir im Auge sehn!“

Ich flüstere innig Sturm’s[WS 1] schöne Worte meiner Ingeborg zu. Meines Weibes Herz ruht an meinem Herzen; inbrünstig umschlingen meine Arme ihre geliebte Gestalt. So blicken wir lange hinaus auf das heilige Meer.




Der Donnersberg und das pfälzische Hochland.
Von M. Grundschöttel.


Dem, der nicht die Flügel zum Besuch weit entlegner Naturschönheiten spannen kann, wenn es gilt, durch einen Sommerausflug die Lungen für längere Zeit wieder mit dem Gehalte kräftiger Wald- und Bergluft zu füllen, dem rathen wir zu einem noch wenig bekannten schönen Berglande Deutschlands, das vom Rheine aus leicht zu erreichen ist. Es ist die schöne Pfalz, „der Garten Gottes“, welchem Haardt-Gebirge und Vogesen den Stempel des Hochlandes aufdrücken, während im Osten der Rhein seine reichen und fruchtbaren Ebenen durchströmt.

Als Vorposten springt nach Norden die Berggruppe des Donnersberges hervor, der, in der Ferne wie ein langgestreckter Berg erscheinend, in Wahrheit viele waldige Kuppen über die Wolken erhebt und eine Reihe eigenthümlich interessanter Thäler in den tiefen Einsenkungen seiner Vorsprünge birgt.

Von Kirchheim-Bolanden aus, das wir, von Mainz oder Bingen kommend, mit der Alzey-Bahn schnell erreichen, gelangen wir mühelos auf den weithin abfallenden Fuß des in Hufeisenform nach Süden hin sich ausbreitenden Donnersberges. Vor uns erblicken wir von Weitem das malerisch am Abhange, in einer Höhe von 1400 Fuß, liegende Dörfchen Dannenfels in einem Walde prächtiger Edelkastanien; etwa 200 Fuß darüber, ganz isolirt und von Wald umgeben, liegt die Villa Rotberg. Im Dorfe selbst bietet das seit einem halben Jahrhundert rühmlichst bekannte schlichte Haus des Herrn Gümbel, „Vater Gümbel“ genannt, dem Touristen gute Herberge. Wer leidend ist und eine gewisse Abgeschiedenheit auch selbst von dem kleinen Treiben eines Dorfes sucht, der wähle die Villa Rotberg. Ein Fahrweg führt bis zu ihr hinauf durch würzig duftenden Tannenwald, und hier befinden wir uns an dem Knotenpunkte all der schön geebneten Wege, die uns nach allen Richtungen hin am Berge entlang und bis zum Gipfel hinauf führen. Der pfälzische Verschönerungsverein erwarb sich das Verdienst, den sonst so wilden Bergwald an vielen Punkten zum schönsten Parke umgestaltet und allenthalben zugänglich gemacht zu haben. Das beste Mittel zur schnellen und gründlichen Orientirung bietet ein kleines, in der Villa käufliches Buch: „Der Führer zum Donnersberg“, von C. E. Groß, mit Zeichnungen und Karten von Freiherr Schilling von Cannstadt. Ein anderer Führer ist nicht nöthig, da jeder Weg sorgfältig mit Wegweisern versehen ist.

Vor beinahe zwei Jahrtausenden herrschte auf dem Donnersberggipfel der alte Gewittergott Thunar, hochverehrt von dem keltischen Stamme der Mediomatriker, die einen mächtigen Ringwall um seinen heiligen Hain und seine Altäre bauten. Dahinter bargen sie Weiber und Kinder, wie die wehrlosen Alten und Kranken, auch ihr kostbarstes Gut, wenn die feindlichen Stämme der Triboker und Vangionen vom rechten Rheinufer herüberbrausten, um das waldige Bergland in ihren Besitz zu bringen. Und als die Germanen in der That Herren im Lande geworden, nachdem die Schluchten des Donnersberges oft blutige Kämpfe gesehen, wie das Blutbad in der Mordkammerschlucht, da galt es, den von Süden sich heranwälzenden Feind, die Römer, zurückschlagen oder mit herabgerollten Felsblöcken in enge Thalsohle zu zermalmen, bis auch hier die Uebermacht siegte; der heilige Hain fiel in die Hände der Römer, die im Thunar ihren König der Götter, den Donnerer, wiedererkannten. Andächtig opferten auch sie ihm auf den Altären der Germanen und nannten den Berg Mons Jovis.

Auch ihre Zeit verging; die heidnischen Götteraltäre und der heilige Hain sanken unter der Herrschaft christlicher Germanen; fromme, büßende Brüder stiegen auf die verödete Hochfläche, erbauten das Kloster Sanct Jakob und säeten und pflegten jungen Waldwuchs, durch dessen rauschendes Laub die ersten Glockentöne in's Land zitterten. Priester und hoher Herren Gebot herrschten über den Berg und seine Abhänge, und alltäglich stieg ein Bruder hinab nach Dannenfels und las allda die Messe.

Auch das Kloster sank nach dem Schrecken des Dreißigjährigen Krieges; die Brüderschaft wurde aufgelöst, und der letzte Abt von Sanct Jakob, Peter Sutor von Kirchheim-Bolanden, legte seine geistliche Würde nieder, ward Bürger und nahm ein Weib.

Da zog ein stolzes Bauerngeschlecht auf den wieder verödeten Gipfel, baute neben den Ruinen des Klosters ein festes Haus, pflanzte auf dem Boden des heiligen Haines die ersten Kartoffeln und säete sein Korn. Und erstere gediehen vortrefflich und waren weit im Lande berühmt als „Donnersberger Kartoffeln“.

Doch das Geschlecht der Bauern erlosch früh. Das Haus zerfiel, ehe es alt geworden, in der Einsamkeit und in den strengen Wintern, und bald lag eine neue Ruine neben der alten. Nun kaufte der Staat den Berg, ließ einen neuen dunklen Tannenwald sich wie einen schützenden Mantel um die Stätte so verschiedener Herrschaft legen und erbaute inmitten desselben einen Thurm, der die höchsten Wipfel überragt und weithin nach Norden, Süden, Osten und Westen blickt – und der ist geblieben und trägt den Namen des Baiernkönigs Ludwig des Ersten.

Treten wir eine Wanderung zu den bemerkenswerthesten Punkten der Gegend an, von der Villa Rotberg ausgehend! Durch würzig duftendes Tannengezweig und saftiges Grün der Buchen lockt uns der Weg aufwärts, zunächst nach der Gruppe des

[581]

Der Donnersberg.
Nach der Natur aufgenommen und auf Holz gezeichnet von M. Grundschöttel.

[582] „Moltke-Felsens“, wie die patriotische Bevölkerung dieser Gegend nach den Siegen des letzten Krieges die altersgrauen Felsenkuppen getauft hat, welche früher „Dorbis“- oder „Dorwes-Felsen“ hießen. Letzterer Name, welcher vermuthlich auf Thor (Thunar) hinweist, hängt nach der Volkssage mit dem eines jungen Schmiedes aus Bockenhausen zusammen, dem ein Ritter die Geliebte raubte und der nach vergeblichen Versuchen, ihre Befreiung zu erwirken, im Wahnsinn gegen Ritter und Mönche predigend umher irrte, bis man ihn vom Sturz zerschmettert in der selbst bei Tag finstern Waldschlucht des „dunklen Delt“ fand. – Bald gelangen wir zu einem Felsenvorsprung, der einen überraschenden Blick in die Ebene bietet. Und nun steigert sich die Schönheit des Weges bei jeder neuen, die vorigen überragenden Porphyrfelsenterrasse, bis wir die großartigsten Punkte erreichen.

Wie die Bastionen einer Festung ragen die rothen und bläulichen Felsenmauern vor uns auf, während schmale Lücken wie die Crenelirung alter Burgen den Blick in die Tiefe gestatten. Dann geht es schmale Stufen hinab; eng geschlossen, bilden die Felsen eine mit Moos und den üppigsten Farrenkräutern geschmückte Kammer, die sich nach dem Abhange zu öffnet und in zwei nach oben aus einander gehenden Felsenpyramiden ein Thor bildet, das uns im engen Rahmen ein herrliches Bild der weiten, offenen Pfalz zeigt. Eine Bank bietet hier ein unvergleichliches Ruheplätzchen. – Und weiter geht es aufwärts, von einem schönen Punkte zum andern bis zur Spitze der ganzen Felsengruppe, die an Festtagen die Freudenfeuer in’s Land leuchten läßt. Abwärts ziehen sich kleine Pfade zwischen Felsblöcken zu den „Gedächtnißtafeln“ hinab. Viele der rothen Porphyrwände sind hier mit eisernen Schildern geschmückt, welche die Namen der siegreichen Schlachten des letzten Krieges mit Frankreich tragen. Tiefer unten fallen uns an schmalen Felsenvorsprüngen vor den in den Stein gehauenen Bänken rohe Felsentische auf, welche in ihrer primitiven Form den Schein uralter Herkunft erwecken.

Der Blick vom Moltke-Felsen umfaßt ein weites Bergpanorama, umgrenzt vom Odenwald, dem Hunsrück, der Haardt, den Vogesen und dem Schwarzwald, und läßt bei klarem Wetter die Dome von Worms und Speier erkennen. Besonders schön ist hier das Schauspiel eines Sonnenaufgangs, wenn das Tagesgestirn über dem Odenwald aufsteigt und sich im fernen Rheine spiegelt.

Sinnend kehren wir vom Moltke-Felsen heim, ruhen uns auf dem von jungen Bäumen beschatteten Vorplatze der Villa aus und treten dann den Weg zum Hirtenfelsen an. – Hertha-Fels, Hirza-Fels – nannte die Vorzeit die langgestreckte, zackige Felsenwand; spätere Generationen tauften die Höhe, die damals üppigen Graswuchs trug, Hirtenfels, weil sie ein Sammelplatz der Hirten des ganzen Berglandes war, die hier beim lodernden Feuer ihre Feste feierten oder am Tage einander von Bergkuppe zu Bergkuppe mit weithin tönendem Horn grüßten und sich so zur gemeinsamen Rast hierher beschieden.

Der Weg zum Hirtenfelsen führt über die „Wacht am Rhein“, wie man nach Anno 1870 die scharf vorspringende Felsenklippe taufte, die früher den Namen „Wachtelfels“ trug. Arme Bauern fanden dort nach dem Dreißigjährigen Kriege einen reichen Schatz von Goldgefäßen und schön geprägtem Gelde. Nun schreiten wir durch jungen Tannenwald steiler bergan, bald Felsenstufen, bald Zickzackwege. An jedem Wendepunkte laden reizende Ruheplätzchen zum Genuß einer Landschaft ein, deren großartige Ausdehnung und Mannigfaltigkeit Worte kaum anzudeuten vermögen; leider fehlt ihr das Wasser. Nicht nur grüßen uns, wie vom Moltke-Felsen aus, die Höhen des Odenwaldes mit dem Melibokus und den Burgen am Abhange, die blauen Spitzen der Vogesen und des Schwarzwaldes; auch der Taunus und die Berge des Rheingaues blicken aus Norden herüber, und ein Waldberg neben dem andern erhebt sich unter uns; malerische Waldthäler und tiefe Schluchten, berühmte Weinthäler wie das Zellerthal fesseln unsern Blick, ehe er über die offene Pfalz hinschweift. Da schaut Bolanden mit den Ruinen der Burg der Truchsesse von Bolanden aus Weinlaub hervor; weiterhin liegt Göllheim zwischen dem Kriegs- und Hornberg, wo Adolf von Nassau im Kampf gegen Albrecht von Oesterreich fiel. Halb hinter dem Hügel verborgen zeigen sich die Ruinen des Klosters Rosenthal, in dem die Leiche des geächteten vierten Heinrich eine Zeit lang stand, ehe sie nach aufgehobenem Banne in die Kaisergruft nach Speier gebracht werden durfte. Eben läßt ein Sonnenblitz den Speierer Dom erkennen, und gleichzeitig tritt auch der von Worms aus dem Duft der Ferne.

Höher steigend, passiren wir an senkrechter Felsenwand, die eine schöne Erztafel schmückt, den Friedensplatz, bis wir das höchste Plateau erreichen und nun durch dichteren Wald zum Durchgange des alten Ringwalles gelangen. Der unvorbereitete Fremde würde ihn ahnungslos überschreiten, weil mächtige Bäume empor wuchsen auf der starken, ihn bedeckenden Humusschicht. Da stehen wir einigermaßen enttäuscht auf der Hochfläche vor vier aussichtslosen, in Tannendickicht verschwindenden Wegen. Der mittlere führt uns jedoch plötzlich auf eine freie, sammetgrüne Waldwiese, auf der mit geschlossenen Thüren und Fenstern „das Waldhaus“ steht, von Bänken umgeben, doch ohne Wirth und Wirthin, die den Trunk uns bieten könnten. Dicht gegenüber rauscht in finsterer Tannennacht ein Brünnlein des Sanct Jakob, von Alters her berühmt, und nach der andern Seite hin lehnen sich an die Stämme der Fichten die moosbedeckten Trümmer des Klosters und des Hofes. Jede fernere Aussicht fehlt; die Tannen stehen so dicht, daß ihr finsterer Schatten alles Leben unten sterben läßt; ihre eigenen Zweige verdorren; nur die Pilze gedeihen noch, die giftigsten am besten.

Nach einer anderen Richtung uns wendend, halten wir ebenso unerwartet vor dem Ludwigs-Thurm, wo wir wieder Reste des Ringwalles entdecken. Wer den Thurm besteigt, hat hier nach drei Richtungen hin abermals die bereits beschriebene Fernsicht, zugleich den freien Blick nach Süden und Westen auf die prächtige Kette der Vogesen mit den drei Zacken des Trifels.

Wir steigen vom Thurme herab und wandern durch dichte Waldwege dem „Königsstuhl“ zu, der letzten etwa zwanzig Fuß hohen Felsengruppe, die den hier völlig sichtbaren Ringwall überragt und über die Tannen hinweg nach der Ruine und dem Dörflein Ruppertsecken auf dem nächsten Berge schaut.

Auf steilem Waldpfade geht es jetzt hinab nach der Mordkammer, das enge dunkle Mordkammerthal entlang, das, sich an den Hünenberg anlehnend, bei Tage gerade kein Grauen einflößt. Ein klarer Bach durchströmt es, und dieser mündet auf die feuchten Mordkammerwiesen, von wo er auf die Ebene zueilt.

Die Ueberlieferung berichtet zweimal von einem entsetzlichen Blutbade, von Verrath und Wortbrüchigkeit, die hier zu furchtbaren Katastrophen führten; das erste Mal in der frühen Zeit der Germanenkriege – das zweite Mal aus der Zeit des Bauernkrieges, wo ein Fürst der Lothringer hier umzingelte Bauern niedermetzeln ließ, nachdem sie auf sein Ehrenversprechen des freien Abzuges die Waffen abgeliefert. Sicher verbürgte Anhaltspunkte für den Ursprung des Namens fehlen indeß. Am Ausgange des durch junge Tannenpflanzung scheinbar geschlossenen Thales liegt der Mordkammerhof, ein armes einsames Bauernhaus, in dem sich der Wanderer gewöhnlich durch frische Milch, Brod und Eier zum weiteren Marsche stärkt.

Von hier aus kann man, um den Berg wandernd, nach Dannenfels zurück gelangen, wir aber geleiten den Leser auf einem durch herrlichen Hochwald führenden Wege nach dem Falkenstein und dem Thale gleichen Namens.

Auf steilem Felsenkegel erhebt sich die noch imposante Ruine, während tief unten sich das Dörfchen Falkenstein um den Fuß des Felsens schmiegt und an ihm emporsteigt. Ein überraschend schönes, völlig neues Bergpanorama breitet sich hinter den schwärzlichen Felsblöcken und der düsteren Ruhe aus. Steil geht es nun hinab in's hübsche Dorf, das im Gegensatze zu der übrigen Gegend ein rein katholisches Gepräge trägt, dann in das vom pfälzischen Verschönerungsverein wiederum mit den schönsten und sorgfältigsten Anlagen versehene Falkensteinerthal.

Zwischen senkrechten Felsenwänden zieht sich dieses Waldthal an den Ufern eines kleinen Baches entlang; mächtige Bäume wölben sich oben von den Abhängen darüber hin, ein grünes Dämmerlicht verbreitend. Durch die üppigste Waldflora, an gewaltigen Felsblöcken vorbei, die, malerisch über einander gethürmt, ganz von sammetnem Moosteppich umkleidet sind, läuft der Pfad am Ufer des Flüßchens neben dem breiteren Fahrwege her und steigt immer steiler an der Felswand auf, sodaß ein eisernes Geländer den Wanderer vor Schwindel bewahren muß; dann verschwindet er in Felsenhöhlen, wo Tische und Bänke von Stein zur Rast einladen, läuft an jähem Abhang durch das Innere des Felsens in gehauenem Gange, und wo er wieder an’s Tageslicht

[583] tritt, da verbirgt er sich bald auf’s Neue zwischen dunkelrothen wie aus Erz gegossenen Felskolossen, die den Mauern einer Burg ähnlich sehen; am Ende führt er steil abwärts der Sohle des Thales zu und – leuchtendes, sonnendurchschienenes Smaragdgrün überrascht das Auge des Wanderers, das durch ein Felsenthor in eine freiere Waldlandschaft blickt.

Ganz verschieden von diesem Thale ist das Wildensteinerthal, das sich an den mächtigen Abhang des Herculesberges schmiegt. Inmitten einer Wildniß, der jedes Gepräge der Menschenhand fehlt, ragt auf fast unnahbarem Felsenkegel zwischen zwei waldigen Bergrücken der Wildenstein empor, nur niedrige Trümmerreste mit dem noch erhaltenen Brunnen der Burg tragend. Netze wilder Ranken, wilde Immortellen, seltene duftende Blumen und Brombeergestrüpp bedecken den steilen Pfad, der seitwärts über den hohen Rücken des „grauen Thurmes“ uns plötzlich der Burg dicht gegenüber führt, von der uns nur die tiefe Schlucht trennt. Der Blick schweift hier über die in weiten Wellenlinien abfallenden Bergrücken nach der Ebene und dem Dorfe Steinbach.

In dieser Wildniß hausten die Rauhgrafen vom Wildenstein, verwandt mit den Grafen von Bolanden, ein wildes, übel berüchtigtes Geschlecht. Wer sich vom Berge her der Schlucht nahte, den suchte es durch herabgerollte Felsblöcke zu zerschmettern, die oft leichter ihr Ziel trafen als die Mordwaffe. Und wehe den Zügen der Kaufleute, die am schwarzen „Spitzfels“ vorbei die Schlucht passirten! Im Waldesschatten geborgen, lag der Hinterhalt, und das Hülfegeschrei der Ueberfallenen verhallte in der sonst menschenleeren Einsamkeit.

Durch die Thalsohle führt der Weg nun am Bache entlang nach dem „reißenden Fels“, einer phantastisch ausgezackten, in zwei scharfen Spitzen hoch über das Walddickicht aufstrebenden Felsenwand. Etwa hundert Schritte von da ragt wie ein Zuckerhut der Spitzfels empor, oben mit einem eisernen Pfeile geziert.

Das sind die zum Donnersberge gehörenden Partien, von denen die Falkensteiner Partie recht rüstige Fußgänger fordert. Die Villa stellt indeß auch einen Wagen zur Disposition.

Wer nun diese Bergwelt lieb gewonnen und mit ihr für die ganze schöne Pfalz ein erhöhtes Interesse empfindet, der versäume nicht, dem Zuge in die Berge weiter zu folgen!

In Annweiler erschließt sich ihm schon vom hohen Kegel des Trifels, und mehr noch von der Höhe des gewaltigen Rehberges aus eine Bergwelt, die ein Meer von spitzen Berg- und Felsenhäuptern aus mächtigem Hochwald hebt; hochrother Sandstein giebt selbst dem nackten Grunde an den Abhängen und auf den Wegen eine fremdartige Färbung; Burg steigt auf neben Burg; neben dem Trifels, wo Richard Löwenherz gefangen saß, bis der Sänger Blondel ihn fand und befreite, wo des heiligen Reichs Insignien von dem Truchseß Werner von Bolanden gehütet wurden, ragen die Ruinen der Burgen Anebos und Scharfenstein auf gleichen Bergspitzen empor. Am Schlusse des Thales schaaren sich Hunderte von Berghäuptern an der Grenze des Elsaß, darunter der Drachenfels, der Berwartstein, die Lützelnburg, der Wassichenstein, der Orensberg mit seiner absonderlichen, doch imposanten Form. Die gewaltigste Burgruine der Pfalz, die Madenburg, welche sich hier noch hinter dem nackten „Wetterberg“ verbirgt, bietet den großartigsten Blick in die Berge auf der einen und in die Ebene auf der anderen Seite.

Noch eigenthümlicher, wenn auch nicht so großartig, wie die eben geschilderte Partie, ist das „Dahner Thal“. Von Annweiler aus ist die Station Hinterweidenthal leicht erreicht, von da fährt die Post in einer halben Stunde nach Dahn. Hier überraschen uns Felsenformen höchst bizarrer Art. Wie gewaltige indische Götzen, oft mit einem Schlapphute angethan, treten die Felsen hinter einander aus dem Walde hervor. All dies übertrifft aber das Felsenschloß von Alt- oder Grevendahn, das Cyclopenhände aus aufgethürmten Blöcken errichtet zu haben scheinen, während Menschenhände nachhalfen und Gänge, Treppen, Keller und Verließe hinein gruben. Auch einen „Jungfernsprung“ mit entsprechender Sage giebt es im Dahner Thal.

Wer die schöne Bergkette entlang nach Süden wandert, dem bieten reiche, blühende Städte wie Dürkheim, Neustadt, Landau die edelsten Trauben und feurigen Wein bei guten und nicht theuren Gasthöfen. Ein gemüthliches, heiteres Völkchen macht ihm die Landschaften noch lieber, denen Geschichte und Sage den Zauber höchster Romantik verleihen, während allenthalben der thätige pfälzische Verschönerungsverein auch für den verwöhnten Fuß sorgte und Berge und Wälder mit den schönsten Wegen schmückte.




Die Spuren des vorgeschichtlichen Menschen in Deutschland.
Betrachtungen zur prähistorischen Ausstellung in Berlin.
Von A. Woldt.
I.
Europa im Werden. – Das Diluvium und die Eiszeit. – Die deutsche anthropologische Forschung und die prähistorische Ausstellung zu Berlin. – Wie es zur Diluvialzeit im Braunschweigischen aussah. – Thierische und menschliche Wanderbesuche in Mitteleuropa. – Ein Blick auf die deutschen Höhlenfunde. – Noch ein Wort über die diluviale Landkarte von Europa.


Unzählige Jahrtausende führen uns zurück in jene große Epoche der Erdentwickelung, welche von den Geologen die Tertiärzeit genannt wird. Längst dahingesunken in den Staub waren damals schon die riesigen Sauriergeschlechter; hoch bedeckten die Schichten des Jura die Reste des Urvogels, des Archäopteryx, und tief im Grunde des Kreidemeeres lagerten die Reste der früheren Meeresfauna neben mächtigen Knollen des deutschen Urculturmaterials, des Feuersteins. Die beiden ersten großen Säugethierperioden folgten auf einander; die Vorläufer der Wiederkäuer und Pferde, das Urschwein, die Waldaffen wurden abgelöst durch riesige eigenthümliche Elephanten- und Rhinocerosarten, durch anders geartete Pferde und Affen, durch Hirsche, Giraffen, hunde- und katzenartige Raubthiere.

Das Relief von Europa tritt uns zur Tertiärzeit als ein beträchtliches, von zahlreiche Meeresarmen durchschnittenes Festland entgegen, in dessen immergrünen Urwäldern mit ihren Feigen-, Lorbeer-, Kampher- und Seifenbäumen, mit ihren Myrthen und Palmen, späterhin aber mit Sumpfcypressen, Tannen und Bäumen mit fallendem Laub sich der allmähliche Uebergang des paradiesischen, echt tropischen Klimas in ein subtropisches kennzeichnet. Eine Zeit großartigster vulcanischer Thätigkeit vollführt der Hauptsache nach die Hebung der heutigen Hochgebirge, der Pyrenäen, Alpen, Karpathen, des Kaukasus, und durch den vulcanischen Ausbruch ungeheurer Lavamassen werden die Basaltgebirge in Mitteldeutschland, Eifel, Siebengebirge, Westerwald, Vogelgebirge, Rhön, die Basaltgebirge Böhmens und die ungarischen und siebenbürgischen Trachytgebirge gebildet. Höher und höher steigen in den Hochgebirgen die Gipfel und Ketten in die oberen kälteren Schichten der Atmosphäre empor, deren Niederschläge auf ihnen sich bald in gewaltigen Mengen von Schnee und Eis anhäufen und, zu riesigen Massen vereint, ausgedehnte Gletscher bilden, welche langsam, mit unwiderstehlicher Gewalt ihre Eisströme gegen die Ebene vorschieben und die Felstrümmer der Gebirge als langgestreckte Moränen hinabtragen.

Das ist die Weltbühne, auf der sich das jüngste Zeitalter der Erde, die Quatenär-Epoche abspielt, jene Periode, die mit dem Auftreten des Herrn der Schöpfung, des Menschen, bei uns in Deutschland zusammenfällt. Das ist jene gewaltige Zeit des Diluvium, der Sündfluth, wie man sie nach uralter Sage benennt, wo der Schutt des Hochgebirges und die verwitterten und abgebrochenen Felsstücke der Bergeshöhen sich auf dem Rücken der Eisströme hinuntertragen ließen in die Ebene, wo die Gletscher Skandinaviens die Gesteine der nordischen Gebirge als Findlinge oder erratische Blöcke über Norddeutschland und bis in die Mitte von Holland hinein ausstreuten, wo die Alpengletscher über den Bodensee hinaus und weit in die Rheinebene vordrangen und die obersten Schichten der Tertiärperiode oft Hunderte von Fuß hoch mit Geröll- und Lehmablagerungen bedeckt wurden.

[584] Das Vordringen der Gletscher der Eiszeit erreichte schließlich sein Ende, sei es, daß die Berggipfel genügend abgetragen waren, sei es, daß kosmische Ursachen zur Geltung kamen – darüber ist die Wissenschaft noch nicht einig. Das Eis nahm allmählich seinen Rückzug, und die wildrauschenden mächtigen Gletscherströme verloren einen Theil ihres Wasserreichthums. Es nahte jene Zeit, bei deren Erforschung der Geologe dem Anthropologen brüderlich die Hand reicht, jene Zeit, welche die allerersten „Urkunden“ der „Wissenschaft vom Menschen“, der Anthropologie, aufbewahrt hat. Bei der Durchmusterung der ihr angehörenden Schichten handelt es sich nicht mehr ausschließlich um Knochenreste untergegangener Thiergeschlechter, sondern um die Thätigkeitsspuren eines neuen Wesens, eines erfindungsreichen, herrschenden Organismus, der, man weiß nicht woher, plötzlich auftaucht – eben des Menschen.

Das specielle Bestreben, die ersten Spuren des Auftretens von Menschen in Deutschland bis zu jener Zeit zu ermitteln und zu untersuchen, wo die geschichtlichen Nachrichten einsetzen, hat sich in der „Deutschen anthropologischen Gesellschaft“ zusammengefaßt, welche soeben die unvergeßlichen Tage ihrer elften Jahresversammlung, 4. bis 12. August 1880, in Berlin gefeiert hat. Ihre Arbeiten haben das Material zur Construction einer „deutschen Prähistorie“, einer Geschichte des Menschen vor der Geschichte in unserm Vaterlande, in der zur Zeit erreichbaren Vollständigkeit geliefert, und sie hat jüngst in Verbindung mit der erwähnten Jahresversammlung dem Publicum in Berlin vom 5. bis 21. August eine Ausstellung wichtiger Funde aus der Urzeit geboten, welche den Gedanken nahe legt, einmal die Ergebnisse dieses ganzen Forschungsgebietes für einen weiteren Leserkreis zusammenzufassen. Zum Voraus sei betont, daß es sich hier nicht um Phantasien und Hypothesen, sondern um unbezweifelbare Resultate der allernüchternsten Untersuchung handelt.

Wir stehen vor der dritten großen Säugethierperiode auf Erden. Das Mammuth tritt auf und durchstreift in zahllosen Heerden fast ganz Europa, mit ihm in Gesellschaft leben das doppelhörnige Rhinoceros und jene fürchterlichen gewaltigen Höhlenraubthiere: der Höhlenbär, die Höhlenhyäne und der Höhlenlöwe; ferner erscheinen der Wisent, der Auerochs oder Ur (Bos primigenius), das Elenthier, der Riesenhirsch, das Renthier, der Moschusochse, Lemming, Fuchs, Wolf, Edelhirsch, Schwein, Pferd etc. Durch einen glücklichen Zufall ist eins der ältesten aller bisher in Deutschland bekannten, mit Spuren der Menschenhand versehenen vorgeschichtlichen Fundstücke, ein ausgezeichnet schön geschlagener Feuersteinschaber mit uralter weißer Patina, von einem der kenntnißreichsten und sorgsamsten Forscher, Dr. Alfred Nehring, Oberlehrer am Gymnasium in Wolfenbüttel, entdeckt und die Localität von ihm so ausgezeichnet untersucht, verglichen und beschrieben worden, daß wir auf Grund seiner umfassenden Studien uns sehr wohl ein Bild von dem damaligen Mitteleuropa vergegenwärtigen können.

Versetzen wir uns im Geiste zurück in jene weit entlegene Zeit der Diluvialepoche, so finden wir, daß das von Nehring untersuchte Gebiet, von einer Anzahl untergegangener Geschöpfe abgesehen, fast ganz genau den Steppencharakter besitzt, den Westsibirien heut noch hat. In jenem Punkte von Mitteldeutschland, der in der Nähe des heutigen Dorfes Thiede bei Wolfenbüttel und bei Westeregeln im Kreise Wanzleben liegt, ragten damals weit über die flache Steppe hin eine Reihe zackiger, isolirter Gypsfelsen, etwa so, wie die Kreideklippen von Rügen heutzutage weithin sichtbar sind. Ueber die Steppenflora hinweg huscht und springt jene zahlreiche Schaar der kleinen Nagethiere: Steppenmurmelthiere, Zieselmäuse, Springmäuse, Wühlmäuse, Hasen, Pfeifhasen. Von weiter her aus der Umgegend streift in flüchtigen Sprüngen die Antilope und das Pferd vorüber, verfolgt vom Wolf und jenem gräulichen Ungeheuer, dem Höhlenbären. Die gigantisch-grotesken Silhouetten weidender Trupps von Mammuthelephanten und doppelhörnigen Rhinocerossen (Rhinoceros trichorhinus) zeigen sich hin und wieder am Horizont, während zur Nachtzeit allsommerlich jene riesigen katzenartigen Raubthiere: der Höhlenlöwe und die Höhlenhyäne die Gegend durchstreifen und mit ihren Gebissen selbst den größten Thieren gefährlich werden. Zur Winterzeit, wenn diese Bestien sich südlich gewandt haben, beleben Renthierherden, Polarfüchse und Lemminge die mit Schnee bedeckte Landschaft. Hoch oben auf den Gypsfelsen horsten Bussarde, Eulen und andere Raubvögel und nähren sich von kleinen Nagern, Fledermäusen, Vögeln und Fröschen.

Unter den überhängenden salzhaltigen Felsen lagert eine Schaar Menschen, unsere ältesten bis jetzt bekannten Urväter in Deutschland, umherstreifende Jäger, die vielleicht mit Weib und Kind zu gemeinsamem sommerlichem Jagdzuge bis hierher vorgedrungen sind. Ein Feuer brennt in ihrer Mitte, an dem sie das Fleisch der Nashörner, Pferde und anderer Thiere rösten und dann verzehren. Die größeren, mittelst Feuersteinschabern vom Fleisch entblößten Knochen werden vielfach von ihnen gewaltsam mit Steinen zertrümmert, um das Mark zu gewinnen; die das Gehirn umgebenden größeren Knochen werden durchweg zerschlagen.

Später bricht die Horde auf; schlau vermeidet sie die Begegnung mit den Raubthieren; listig und gewandt lauert sie dem jagdbaren Wild auf seinem Pfade auf, von einem Tage zum andern lebend, ohne Wohnsitz, vielleicht der jährlichen Wanderung der Thierwelt folgend, im Kampfe mit den Elementen, mit den Raubthieren und oft wohl auch mit dem Hunger. Ganz so wie unsere heutigen uncivilisirten Naturvölker können wir uns diese unsere Urahnen zur Mammuthzeit vorstellen; vielleicht sind die Eskimos des arktischen Nordens die ihnen am meisten verwandten Typen.

Es giebt noch eine Reihe anderer Localitäten in Deutschland, an denen in den letzten Jahren menschliche Reste, Knochen und Werkzeuge mit den Resten diluvialer Thiere, namentlich des Mammuthelephanten, des doppelhörnigen Rhinoceros, des Höhlenbären und anderer, zusammen gefunden sind. Als ein Seitenstück zu jener obengenannten Felsengruppe von Thiede und Westeregeln kann die im Jahre 1874 in der Nähe von Gera im Dolomit bloßgelegte „Lindenthaler Hyänenhöhle“ bezeichnet werden, welche neben Feuersteinmessern zahlreiche Ueberreste derselben Thierart enthielt und welche ihr wissenschaftlicher Erforscher, Professor E. Liebe in Gera, als einen Hyänenhorst nachgewiesen hat. Ferner haben wir in Westfalen die bekannte Höhle von Balve im Regierungsbezirk Arnsberg zu nennen, welche eine von denjenigen Localitäten ist, die der Mensch schon frühzeitig und wahrscheinlich während einer sehr langen Dauer als Wohnort benutzt hat. Schon vor mehr als zehn Jahren hat Virchow diese Höhle untersucht. Der Boden besteht hier aus drei Hauptschichten, deren obere vorzugsweise mit Renthierknochen angefüllt ist; die darunter folgende, welche sehr viele abgerollte Steine enthält, lieferte Reste des Bären, und in der dritten haben sich Mammuth- und Rhinocerosknochen gefunden. Außerdem enthielt die Höhle menschliche Kunstproducte, Feuersteinmesser und spätere Reste gebrannter Topfgefäße. Auf der Berliner prähistorischen Ausstellung waren zahlreiche Gegenstände aus dieser Höhle vorhanden, darunter Feuersteinwaffen, ein zugeschliffenes Geweihstück, ein Rhinocerosknochen mit bearbeitetem Rande des abgebrochenen Theiles.

Unter den westfälischen Höhlen ist noch die von Geheimerath Schaaffhausen in Bonn untersuchte Martinshöhle in Letmathe zu nennen. Er fand in ihr, außer Feuersteinmessern und Steinkernen, zahlreiche von Menschen aufgeschlagene Thierknochen, darunter solche vom Höhlenbären und Rhinoceros. Derselbe Gelehrte hat im Verein mit von Cohausen die sehr interessante Höhle bei Steeten an der Lahn wissenschaftlich erforscht. Als man die Höhlensohle zwei Meter tiefer legte, stieß man am Eingange, „noch ehe die eigentliche Höhle erreicht war, auf unzählige, aber immer zerschlagene Knochen, Geweihe und Zähne und dazwischen auf eine Menge von Feuersteinmessern. Beim weiteren Vorgehen traf man nicht ganz so tief eine Brandschicht und in mitten derselben einen großen Haufen Asche und verbrannte Knochen aller Art. Eine Mischung und durch Kalkfiltrate bewirkte unmittelbare Verbindung von mächtigen Elfenbeinsplittern mit Feuersteinmessern giebt von dem Zusammenleben des Menschen mit dem Mammuth ebenso Zeugniß, wie ein solches mit dem Renthier bereits constatirt ist. Man kann sagen, daß die Ausgrabung mitten in die Küchenabfälle, ja in die ganze Unordnung der Küche selbst gefallen ist“.

Aus dieser Höhle von Steeten befanden sich auf der deutschen prähistorischen Ausstellung ein elfenbeinernes „Falzbein“ mit Gitterverzierung, ein aus einer Rippe gebildetes ähnliches Instrument, mehrere andere Knochenstücke mit eingekratzter Verzierung, Vogelknochen mit eingefeilten Zickzacklinien, Oberarmbeine von Menschen, ein Mammuthzahn, Steinspähne, ein zu einem Dolch gearbeiteter Mammuthknochen, Thonscherben, zahlreiche Reste vom Bären, Renthier, Hirsch, Pferd, Rhinoceros u. dergl. m. Was den Mammuthknochen-Dolch betrifft, so äußerte sich Geheimerath Schaaffhausen

[585]

Im Tode vereint.
Von Ludwig Auerbach.
Mit Originalzeichnung von Prof. Paul Thumann.

Er hielt ihre fiebernden Hände,
Sah unverwandt sie an,
Bis sie zum ewigen Schlummer
Die Augen zugethan.

Er weinte nicht, wie die Leute
Es fordern als Liebespflicht;
Ein rührendes Lächeln selber
Verklärte sein Angesicht.

Die Freunde kamen am Abend,
Der Todten Wächter zu sein;
Er dankte; er hieß sie gehen:
„Die heiligste Nacht ist mein!“

Sie kamen am andern Morgen;
Sie pochten; sie öffneten zag –
Da neben der todten Gattin
Der Greis entschlummert lag.

Er hielt ihre starren Hände,
Die Lippen darauf gepreßt; –
Nun läutete draußen die Glocke –
Ein zweites Vermählungsfest.

[586] im Jahre 1877 auf dem deutschen Anthropologen-Congreß in Constanz folgendermaßen: „Ich muß nach Ausmessung verschiedener Knochen großer Thiere bei der Ansicht bleiben, daß dieser Knochendolch mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein Stück Mammuthknochen ist. Heute wird bei uns fossiles Elfenbein von Mammuth in großer Menge verarbeitet, dessen gute Erhaltung wir der Kälte des nordischen Klimas verdanken.“

Auch für die Gegend bei Weimar fehlt es nicht an Beweisen für die Gleichzeitigkeit des Menschen mit den Thieren der Diluvialzeit. Als im Dorfe Taubach an der Ilm ein Hausbesitzer unmittelbar hinter seinem Hofe einen Keller anlegen wollte, stieß er dicht unter der Erdoberfläche, und zwar unterhalb einer Schicht von Lehm und festem Tuffstein, auf eine Schicht von lehmigem Sand, welche auf einem Raum von nur zehn Schritt Länge und drei Meter Tiefe ein förmliches Museum von Gegenständen der Urzeit enthielt. Der Besitzer konnte ein kleines Zimmer seines Hauses ganz füllen mit den prächtigsten Schädeln und Knochen diluvialer Thiere: Elephant, Rhinoceros, Auerochs, Riesenhirsch fanden sich hier neben braunem Bär, Edelhirsch, Reh und Wildschwein. In der sandigen Schicht, welche zahlreiche Geröllsteine führte, kam neben diesen Knochen eine Reihe von Gegenständen zum Vorschein, welche die Spur des Menschen anzuzeigen schienen: Feuersteinscherben mit ganz weißer Patina, deutliche Stücke von Holzkohlen, ein angebrannter Zehenknochen eines größeren Säugethieres und scheinbar geschlagene Stücke von Extremitätenknochen sehr großer Säugethiere.

Es kann natürlich nicht die Absicht dieser kurzen Besprechung der deutschen Prähistorie sein, alle in Deutschland aufgefundenen Beweise des gleichzeitigen Zusammenlebens des Menschen mit den Thieren jener fern entlegenen Diluvialzeit vorzuführen. Erwähnt sei nur noch, daß in Süddeutschland schon seit langer Zeit der verdienstvolle Stuttgarter Geolog Prof. Dr. Oscar Fraas sich an die Erforschung der ältesten Spuren des Menschen gemacht und überhaupt zuerst die Thatsache constatirt hat, daß der Mensch in Deutschland schon mit den ausgestorbenen Geschlechtern der großen Dickhäuter und Fleischfresser zusammen gelebt hat. Die Höhlenausgrabungen von Hohlestein im Jahre 1862, vom Schussenrieder Moor im Jahre 1866, vom Hohlefels im Jahre 1872 und von der Ofnet im Jahre 1876 haben reichliche Beweise dafür und der Wissenschaft zugleich mit die ältesten Fundstücke geliefert, die Deutschland über die Existenz des Menschen auf seinem Gebiete besitzt.

Unter den berühmtesten Belegstücken, welche dieser Forscher auf der prähistorischen Ausstellung im Abgeordnetenhause zu Berlin vorführte, befand sich das vielleicht älteste Haubeil, ein Bärenkiefer, nebst einem danebenliegenden geöffneten Markknochen mit einem Loch, in welches der Eckzahn des Kiefers genau paßt, ferner von der vielbesprochenen Renthierstation Schussenried, die unmittelbar auf der Moräne des ehemaligen Rheingletschers errichtet ist, sechs Stück mit Feuersteinsplittern bearbeitete Rengeweihe, viele Feuersteinsplitter, Messer und Schaber, sowie ein ehemals als Trink- und Schöpfgefäß benutzter Renthierschädel. Vom Hohlefels waren bearbeitete Knochen, Pferdezähne, die durchbohrt sind, um zum Schmucke zu dienen, Feuersteinsplitter u. dergl. m. da.

Wir können hiermit die Betrachtung jener diluvialen Epoche schließen, in Bezug auf welche hoffentlich jeder unserer Leser überzeugt sein wird, daß laut obiger Beweise wirklich der Mensch damals bereits gelebt und daß er das Dasein eines umherschweifenden Jägers geführt hat. Ohne festen Wohnsitz, ohne Heimath irrte er umher, den Spuren des wandernden Wildes folgend, heute unter überhängenden salzigen Gypsfelsen, morgen in einer Höhle seinen Wohnsitz aufschlagend. Wie viele Jahre jene Epoche hinter unserer Gegenwart zurückliegt, vermag kein Gelehrter mit irgend welcher Bestimmtheit anzugeben.

Schwerlich lag übrigens damals Europa innerhalb seiner heutigen Meeresgrenzen. Alfred Nehring wenigstens nimmt auf Grund seiner Untersuchungen über die quaternäre Fauna von Thiede und Westeregeln an, daß die Westgrenze von Europa in der Zeit nach der Gletscherperiode wahrscheinlich mit der sogenannten Hundertfaden-Tiefenlinie des heutigen Meeres zusammenfiel und daß der Süden von Europa bereits eine feste Landverbindung mit Nordafrika besaß. Trockenen Fußes hätten also hiernach zur Diluvialzeit Menschen und Thiere von Afrika aus an den beiden Binnenseen vorbei, die damals das mittelländische Meer bildeten, nach Norden wandern können; trockenen Fußes hätten sie Großbritannien und Skandinavien zu erreichen vermocht. Viele Jahrtausende später wäre alsdann erst die Küstengliederung von Europa erfolgt; das Flußsystem in Deutschland hätte sich herausgebildet, und als die Staub- und Schuttlagen zwischen den Gypsfelsen von Thiede und Westeregeln solche Höhe erreicht hatten, daß die Klippen davon ganz überdeckt wurden, war eine so immense Zeit verflossen, daß die Steppenfauna einer Waldfauna Platz gemacht, das Klima sich verändert hatte und die Zeiten des Cäsar und Tacitus herangekommen waren. Es bleibt sehr merkwürdig, daß wir nach jener gewaltigen diluvialen Zeit, wo der Mensch mit dem Mammuth und Höhlenlöwen um die Herrschaft der Erde stritt, bis zum Hereinbrechen der nächsten prähistorischen Periode, von der uns reichlichere Kunde zu Theil geworden ist, beinahe nichts wissen. Mit unserer Kenntniß von der Existenz des Menschen gleichzeitig mit jener Thierwelt erlischt für uns für viele Jahrtausende die Urkunde der prähistorischen Forschung fast ganz, um späterhin eine um so deutlichere Schrift aufzuweisen.




Die deutsche Gesellschaft für Handelsgeographie.
Ein Beitrag zum Capitel unserer Auswanderungs- und Colonisationsfrage.


Die vielen geographischen Vereine, welche in den verschiedenen Ländern der alten und neuen Welt seit Jahrzehnten bestehen, bezwecken bekanntlich eine Erweiterung der geographischen Kenntnisse, theils durch Vorträge und Schriften, theils durch Beschaffung pecuniärer Mittel für die Erforschung unbekannter Theile unseres Planeten. Sie haben unstreitig viel für die Wissenschaft geleistet, dagegen zogen sie die praktische Anwendung der Erdkunde auf die Förderung des Handels und der Colonisation weniger in den Bereich ihrer Thätigkeit, ein Mangel, dem man zunächst in Paris abzuhelfen suchte, indem dort im Jahre 1873 verschiedene Mitglieder der Chambres syndicales und der Geographischen Gesellschaft, darunter sehr hervorragende Männer, wie Admiral Baron de la Roncière le Noury, Ferdinand von Lesseps, Delesse, Quatrefages und Andere, zu einem Comité zusammentraten, welches die Gründung einer handelsgeographischen Gesellschaft bewirkte. Von dieser wurde zunächst die Herausgabe von Specialkarten Frankreichs für Industrie, Handel und Ackerbau, von handelsgeographischen Handbüchern und ähnlichen Werken betrieben, überhaupt eine sehr umfangreiche Thätigkeit entwickelt. Lyon, Bordeaux und Marseille folgten zunächst dem gegebenen Beispiele, aber auch in anderen Städten Frankreichs, sowie in Lissabon, Madrid, Antwerpen, Rom, Quebec, St. Gallen etc. entstanden theils selbstständige handelsgeographische Vereine, theils wurden Sectionen für Handelsgeographie in den dort bereits bestehenden geographischen Vereinen gebildet.

Im Jahre 1878 während der Pariser Weltausstellung wurde auf Anregung der Société de géographie von Bordeaux ein internationaler handelsgeographischer Congreß zusammenberufen. Derselbe stand unter der Protection der französischen Regierung und hielt seine Hauptversammlungen im Trocadero-Palast, seine Sectionssitzungen in den Tuilerien ab. Auf demselben waren die Regierungen von Italien, Belgien, Portugal, Norwegen, Rumänien, den centralamerikanischen Republiken und Brasilien, sowie außer den französischen geographischen Gesellschaften und Handelskammern viele geographische Vereine des Auslandes vertreten, unter letzteren die geographischen Vereine von Berlin und Leipzig.

Unter den Berathungsgegenständen des Congresses erwähnen wir nur die Berathungen über die Anlage des Panama-Canals, über die Bildung handelsgeographischer Museen aus den Erzeugnissen aller Länder und Völker, welche damals nahezu vollständig auf der Weltausstellung vertreten waren, sowie einen Bericht des Herrn Brau de Saint Pol-Lias über die von ihm gegründete Société des Colons Explorateurs, welche die Erforschung wenig bekannter Länder mit der Ausbeutung ihrer Naturschätze zu verbinden [587] bestrebt und bereits seit einigen Jahren auf ihrer ersten Niederlassung in der Provinz Deli auf Sumatra thätig ist.

Eine planmäßige Colonisation, wie die genannte Gesellschaft sie beabsichtigt, ist gewiß ein rühmliches und wirthschaftlich wichtiges Unternehmen, und wollte Gott, daß in unserem Vaterlande sich ebenfalls Leute finden möchten, welche dem Beispiele des Herrn Brau de Saint Pol-Lias nacheiferten; denn eine Betheiligung von Deutschen an dem französischen Unternehmen, wie sie der genannte Herr allerdings wünscht, möchte sich doch wohl aus naheliegenden Gründen verbieten.

Wir gedenken schließlich noch eines auf dem Congresse gemachten Vorschlages bezüglich der Einrichtung von Conseils d'emigration in allen Ländern.

Wo wäre ein solcher Auswanderungsrath wohl mehr am Platze, als gerade in Deutschland, dessen starke Auswanderung sich bisher in bedauernswerther Weise zersplittert und völlig derjenigen Leitung entbehrt hat, welche nöthig ist, um sowohl die Wohlfahrt der Auswandernden, wie die wirthschaftlichen Interessen der Heimath in der Weise zu wahren, daß die Arbeit unserer ausgewanderten Landsleute so viel wie möglich dem Vaterlande dienstbar gemacht wird! Leider haben wir in Deutschland bisher vergeblich auf die Ausführung jenes hochwichtigen Vorschlages des Pariser Congresses gewartet.

Wir sehen hier davon ab, die Thätigkeit der ausländischen handelsgeographischen Vereine, sowie die des im vorigen Jahre stattgehabten internationalen handelsgeographischen Congresses zu Brüssel des Näheren zu besprechen; dieser Aufsatz soll sich wesentlich mit der uns zunächst angehenden Wirksamkeit der deutschen Gesellschaft für Handelsgeographie beschäftigen, von deren Begründung die „Gartenlaube“ seiner Zeit ihren Lesern einen kurzen Bericht erstattet hat (vergl. 1879, Nr. 15 unter „Blätter und Blüthen“).

Es bestand schon vor Jahren eine Gesellschaft für Handelsgeographie in Stettin, aber sie widmete sich vornehmlich der Pflege localer Interessen. Wohl sind Männer, wie der rühmlichst bekannte Kartograph Dr. Henry Lange, der kürzlich verstorbene Altmeister der Geographie Professor Wappäus, Dr. E. Friedel, Begründer des märkischen Provinzialmuseums, der Afrikareisende Dr. O. Kersten, Franz Maurer und Andere schon vor vielen Jahren der Frage näher getreten, wie der Ueberschuß unserer Volkskraft, die deutsche Auswanderung, zu Nutz und Frommen des Vaterlandes verwerthet werden könne, aber ihre Bemühungen, den Strom der deutschen Auswanderung in richtige Bahnen zu lenken, blieben erfolglos, ja es wurde ihnen sogar eine hartnäckige und gehässige Opposition bereitet. Erst im letzten Jahrzehnt, nachdem der Milliardenrausch vorüber und der Alp der wirthschaftlichen Krisis immer schwerer auf Handel und Wandel zu lasten begann, wurden die Stimmen lauter und lauter, welche tadelnd beklagten, daß die Regierung des deutschen Reiches der Förderung deutscher Interessen auf dem Gebiete des Welthandels und der Auswanderung zu wenig Aufmerksamkeit zuwende. Als nun gar in den Ländern lateinischer Zunge handelsgeographische Vereine in’s Leben gerufen wurden und in dem Pariser Congresse einen Ausdruck ihrer großen wirthschaftlichen Bedeutung fanden, da konnte es auch in Deutschland nicht schwer halten, eine ähnliche, auf dem Princip der Selbsthülfe beruhende Vereinigung anzubahnen und die Ideen zu verwirklichen, welche die ebengenannten Männer seit vielen Jahren angeregt hatten.

Nach langen Vorberathungen, die schon vor dem Pariser Congresse begannen, erfolgte im November 1878 in Berlin die Gründung eines Vereins, für den zunächst die Bezeichnung „Centralverein für Handelsgeographie, Auswanderung und Colonialpolitik“ in Aussicht genommen wurde, der sich aber thatsächlich, nachdem man, um Mißdeutungen vorzubeugen, von diesem Namen Abstand genommen, als „Centralverein für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Auslande“ constituirte. Zum ersten Vorsitzenden desselben wurde Dr. Jannasch, Mitglied des kaiserlichen statistischen Bureaus, zum zweiten Vorsitzenden Dr. Henry Lange und zum Schriftführer Dr. O. Kersten gewählt. Den Statuten zufolge erkennt es der Verein als seine Aufgabe, einen regen Verkehr zwischen den im Auslande lebenden Deutschen und dem Mutterlande anzubahnen und zu unterhalten, sowie über die Natur- und die gesellschaftlichen Verhältnisse der Länder, wo Deutsche angesiedelt sind, Aufklärung zu gewinnen und zu verbreiten. Auf Grund der genommenen Kenntnisse des Auslandes ist er bestrebt, die Auswanderung nach den Ländern zu fördern, welche der Ansiedelung Deutscher günstig sind und in welchen das deutsche Volksbewußtsein sich lebendig zu erhalten vermag. Der Verein hofft durch Errichtung von Handels- und Schifffahrtsstationen die Begründung deutscher Colonien bewirken zu können. Er erkennt in der Förderung der Handelsgeographie eine seiner hauptsächlichsten Aufgaben und unterhält zu diesem Zwecke mit deutschen und ausländischen handelsgeographischen Vereinen einen freundschaftlichen Verkehr.

Zur Erleichterung der Geschäftsführung errichtet der Verein ein ständiges Bureau, welchem, unter Leitung und Mitwirkung des Vorstandes, die Aufgabe zufällt, über deutsche Ansiedelungen im Auslande Auskunft zu ertheilen, über dieselben fortlaufende Berichte zu veröffentlichen, Auswanderern und im Auslande befindlichen Deutschen wirksamen Rechtsschutz zu verschaffen, Auswanderungslustige mit den Schwierigkeiten und Gefahren, welche ihrer harren, bekannt zu machen, Verbindungen für wissenschaftliche, wie Handelszwecke anzubahnen und zu unterhalten, eine Bibliothek anzulegen und zu verwalten, Vorträge zu veranstalten, das Studium der Colonialpolitik anderer Staaten zu veranlassen, insbesondere aber in jeder Weise die Bestrebungen des Vereins zu bethätigen.[1]

Wir brauchen die Wichtigkeit dieser Bestrebungen nicht noch einmal hervorzuheben, die hier mitgetheilten Sätze aus den Statuten sprechen sie deutlich genug aus, und die Erfolge, welche der Verein in der kurze Zeit seines Bestehens errungen, haben ihm bereits einen ehrenvollen Platz unter den geographischen Vereinen Deutschlands gesichert. Aus der Mitgliederliste ersehen wir die Namen sehr hervorragender Männer und Corporationen, die zum Theil mit sehr hohen Beiträgen betheiligt sind und ebenso dem Gelehrten-, dem Militär- und dem Beamtenstande, wie dem Stande der Kaufleute und der Fabrikanten angehören. Nicht allein über ganz Deutschland vertheilen sich die Vereinsmitglieder, deren Gesammtzahl bereits auf circa 1500 gewachsen ist, sondern es giebt deren in den entferntesten Theilen der Erde. In Brasilien bestehen z. B. schon acht Zweigvereine, nämlich in Porto Alegre, Rio Grande, São João de Montenegro, Santa Cruz, Pelotas, Joinville, Santa Leopoldina und Mont-Alverne; in Sidney wurde während der gegenwärtigen Weltausstellung daselbst ebenfalls ein solcher in's Leben gerufen, und manche andere sind in der Gründung begriffen.

Im Leipziger Zweigverein war es, wo ein Mitglied, Herr Dr. E. Jung, welcher mit den australischen Verhältnissen vertraut ist, als der Erste energisch auf die Wichtigkeit der Beschickung der Weltausstellungen von Sidney und Melbourne seitens der deutschen Industrie hinwies, und der Verein beschloß, durch ein von genanntem Herrn zu verfassendes Flugblatt die industriellen Kreise Deutschlands, sowie die Handelskammern für das Project zu interessiren. Der Berliner Centralverein, sowie die Reichstagsabgeordneten Stephani und Witte traten in richtiger Würdigung der Wichtigkeit dieser Angelegenheit energisch für dieselbe ein, und so erfolgte denn seitens der Reichsregierung die Bewilligung von 200,000 Mark für die officielle Beschickung der Ausstellung in Sidney. Ueber 700 deutsche Aussteller betheiligten sich an derselben, und trotz der Kürze der Zeit, welche ihnen bis zur Absendung ihrer Producte verblieben war, haben sie doch so Vorzügliches geleistet, daß der zum Reichscommissar für die australische Weltausstellung ernannte Geheime Rath Reuleaux, dessen hartes Urtheil über Deutschlands Industrie-Erzeugnisse auf der Weltausstellung von Philadelphia noch nicht vergessen ist, melden konnte: „Die Scharte von Philadelphia ist ausgewetzt.“

Auch den politischen und Handelsverhältnissen auf den Samoa- oder Schifferinseln schenkte der Centralverein ein reges Interesse, wozu er besonders durch die Berichte veranlaßt wurde, welche ihm seine Mitglieder Capitain zur See Freiherr von Schleinitz, Capitain-Lieutenant Darmer und Andere, sowie auch der Zweigverein Sidney über jene ferne Inselgruppe zugehen ließen. Auf Grund dieser Berichte, welche sich in den Vereinsschriften veröffentlicht finden, glaubte er die patriotische Pflicht zu haben, für Erhaltung der Godeffroy'schen Plantagenunternehmungen auf den [588] Südsee-Inseln eintreten zu müssen und unterstützte mit allem Nachdruck die darauf hinzielende Regierungsvorlage, die sogenannte Samoavorlage, welche dem diesjährigen Reichstage zur Berathung vorlag. Selbst die Ablehnung derselben seitens des Reichstages hat ihn durchaus nicht entmuthigt; er wird sein Ziel, Deutschlands Handelsbeziehungen zu den Südsee-Inseln und dem australischen Festlande zu sichern und zu erweitern, unbeirrt verfolgen und hat begründete Hoffnung, daß diesem reinpatriotischen Streben die Anerkennung und Betheiligung der Nation für die Dauer nicht vorenthalten bleiben werde.

Einen schätzenswerthen Dienst leistet der Centralverein dem deutschen Handel durch Herausgabe der Wochenschrift „Export“, indem er in derselben die Originalcorrespondenzen von auswärtigen Mitgliedern über die mercantilen Verhältnisse des Auslandes veröffentlicht; daneben widmet er aber auch im genannten Blatte der Auswanderung und Colonisation die nöthige Aufmerksamkeit in Uebereinstimmung mit seinem weiter oben mitgetheilten Programm.

Daß sich gerade in Südbrasilien die meisten Zweigvereine gebildet haben, läßt darauf schließen, daß die dortigen deutschen Colonisten die Bestrebungen des Centralvereins zu würdigen wissen und nach Kräften zu fördern Willens sind. Sie haben freilich oft genug in völliger Uebereinstimmung mit den officiellen Berichten der dortigen deutschen Consulate Zeugniß abgelegt von ihrem Wohlergehen, aber es bisher nicht vermocht, den Widerstand zu brechen, welcher der deutschen Colonisation in Südbrasilien sowohl amtlich, wie von Seiten des Publicums hier in ihrer Heimath bereitet wird. Dies hoffen sie jetzt mit Hülfe des Centralvereins zu erreichen, dem sie eine hierauf bezügliche an den deutschen Reichstag gerichtete Petition zur Uebermittelung an letzteren übersenden werden. Es ist nicht zu leugnen, daß von der brasilianischen Regierung viel, unendlich viel auf dem Gebiete der Colonisation gesündigt worden, und gerade der Centralverein ist eifrigst bestrebt, mit unnachsichtlicher Härte diese Fehler aufzudecken, aber desto mehr wird er für jene urkräftige deutsche Colonisation in Südbrasilien eintreten, welche trotz der Seitens des Staates begangenen Fehler sich zu so hoher Blüthe entwickelt hat und gerade für Deutschlands Handel außerordentlich wichtig geworden ist. Während unsere Volkswirthschaftslehrer die Auswanderung von Deutschen nach den Vereinigten Staaten als einen Totalverlust an unserem Nationalvermögen beklagen, pflegen die nach Ländern romanischer Zunge auswandernden Deutschen Sprache und Sitte der Heimath zu bewahren und Pioniere für deutschen Handel und deutsche Cultur zu werden; wenigstens war dies in Südbrasilien der Fall, wo mit Hülfe der deutschen Colonisation der englische und französische Handel aus dem Felde geschlagen wurde und der deutsche Handel sich eine dominirende Stellung errungen hat. Es liegt dies in der Natur der Sache. Dem überaus praktischen und thätigen Yankee gegenüber ist der schwerfälligere Deutsche – wenigstens auf dem Gebiete des Handels und der Industrie – der Lernende, den romanischen Stämmen Südamerikas gegenüber aber ist er der Lehrende, der Ueberlegene, und die größeren Unterschiede in Sprache und Sitte schließen dort sein Aufgehen im einheimischen Element, den Verlust seiner deutschen Eigenart, den wir an unsern Landsleuten in Nordamerika so tief beklagen, aus.

Was bisher der deutschen Colonisation in Südbrasilien gefehlt hat, das ist eine planmäßige Leitung derselben und ein unausgesetzter Zufluß neuer Arbeitskräfte aus Deutschland. Diese in völliger Unabhängigkeit von der brasilianischen Regierung zu erzielen, wird das Bestreben des Centralvereins und seiner südbrasilianischen Zweigvereine sein, welche letztere insofern der Auswanderung nach dort bereits einen großen Dienst leisten, als sie den Ankömmlingen mit Rath und That zur Seite stehen, damit sie nicht in die Hände eigensüchtiger Speculanten, die es dort wie überall giebt, fallen, sondern wohl untergebracht werden. Auch sind jene Vereine beschäftigt, durch Aussendung von Fragebogen an deutsche Ansiedler eine möglichst eingehende und genaue Statistik zu gewinnen, um demnächst mit der Logik der Zahlen zu beweisen, was deutscher Fleiß in jenem gesegneten Himmelsstriche zu erreichen im Stande ist.

Selbstverständlich wird sich die Thätigkeit des Centralvereins auf dem Gebiete der Colonisation nicht ausschließlich auf Südbrasilien erstrecken, sondern er wird auch andere geeignete Länder berücksichtigen, besonders die im Stromgebiete des La Plata liegenden; doch glaubte er seine Aufgabe gerade dort beginnen zu sollen, wo bereits starke deutsche Gemeinwesen vorhanden waren und sich erfreulich entwickeln, obgleich ihnen bisher nicht die mindeste Theilnahme vom Stammlande zugewendet wurde.

Angesichts des zunehmenden internationalen Verkehrs und der Erweiterung von Deutschlands Handels- und Colonisationsinteressen im Auslande hat der Verein schon häufig Veranlassung genommen, die Nothwendigkeit des Abschlusses von Consularverträgen mit überseeischen Staaten und die Vermehrung der deutschen Berufsconsulate daselbst zu betonen; er wird, soweit überhaupt ein Privatverein derartige der Competenz des Staates unterstellte Angelegenheiten zu fördern vermag, durch Wort und Schrift dafür thätig sein.

Noch haben wir zu erwähnen, daß es dem Centralverein bereits gelungen ist, zu einer Bibliothek und einem handelsgeographischen Museum einen erfreulichen Grund zu legen.

Die deutsche Presse ist dem Berliner „Centralverein für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Auslande“ durchaus freundlich begegnet und hat dessen Bedeutung für die wirthschaftliche Wohlfahrt des Vaterlandes unumwunden anerkannt. Und in der That – es ist aller Grund zu der Hoffnung vorhanden, man werde mit Hülfe der in allen Theilen der Erde lebenden Vereinsmitglieder im Laufe der Zeit ein Institut schaffen, welches für die Entwickelung unseres Geschäftsverkehrs mit fremden Völkern von hoher Bedeutung sein wird.

Alfred Waeldler.




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 46. Eine Gemsjagd.


Sonnenklar strahlte ein reifkalter Spätoctobermorgen über die Berge herein – irre ich nicht, war’s gerade am Tage St. Galli, als der Herzog Ernst der Zweite von Sachsen-Coburg-Gotha, der rastlose Jäger, in seinen ausgedehnten wildreichen Revieren der Hinterriß in Tirol die erste Treibjagd des Jahres auf Gemsen abhielt. Nach frühzeitig erfolgtem Aufstieg in die Berge bis hinauf zu den Schroffen der Hochalpen, wo die Jagd abgehalten werden sollte, waren die Schützen endlich an ihrem Bestimmungsorte angekommen, vom dienstthuenden Wildmeister bald angestellt, und zwar so, daß der gezwungene Wechsel, den die Gemsen vor den Treibern nothwendig annehmen mußten, an erster Stelle vom hohen Jagdherrn selbst, ihm zur Seite aber durch den Prinzen Leiningen und den Grafen Erbach-Erbach besetzt ward. Weiter unten hingegen, am Fuße einer gerölligen Halde und dicht vor einer Latschendickung, hatten Mr. Barnard, der damalige englische Gesandte am Coburger Hofe, Freund Gerstäcker und meine Wenigkeit ihre Stände angewiesen bekommen. Nachdem hiernach das Signal, der sogenannte Hebschuß, zum Ablaufen für die in stundenweitem Umkreise harrenden Treiber gegeben worden war, schlug mir, dem Neuling in dieser Art Jagd, denn doch das Herz merklich heftiger; regte mich doch die Hoffnung auf möglichen, mir gewünschten „guten Anblick“ und dabei anzubringenden erfolgreichen Schuß nicht wenig auf. Um so vorsichtiger und strenger nahm ich Alles in Obacht, um ja nicht durch eine etwa jählings über mich kommende Ueberraschung außer Fassung gebracht und gar vom Jagdfieber ergriffen zu werden. Darum stand ich denn regungslos wie aus Stein gemeißelt, nur des Auges unmerkliche Bewegung zum Umblick nach allen Richtungen hin nicht hemmend, und wartete so in der mich umgebenden lautlosen Gebirgseinsamkeit mit Spannung der Dinge, die da kommen sollten.

Dabei mochte wohl schon gut eine volle Stunde vergangen sein; inzwischen hatte auch nicht ein einziger Ton das lauschende Ohr berührt, aus dem man die Annäherung von Wild oder Treibern hatte schließen können; kein Zeichen bekundete dem bis zur Ueberreizung ausspähendem Auge auch nur das Geringste vom Gange der zu erhoffenden Jagd – da, endlich, an einer fernen, mir [589] gegenüber gelegenen, jäh abstürzenden Wand erschien plötzlich ein am schwindelnden Hange sich fortbewegendes Pünktchen, das für eine Gemse halten zu dürfen ich meiner aufgeregten Phantasie gern verwilligte, besonders da ihm in einiger Entfernung ein gleiches Etwas folgte. Als aber in ganz gemessenen Abständen dieselbe Erscheinung sich wiederholte und so zuletzt eine Kette lebendiger Punkte bildete, da muthmaßte ich, wie es sich später auch als richtig herausstellte, daß es die Linie der Treiberleute sein möchte,

Gemsen auf der Flucht.
Nach der Natur aufgenommen von Guido Hammer.

die, in für mich geradezu unbegreiflicher Weise, am schaurigen Gesenke ihren Weg hinnahmen. Indeß zerbrach ich mir hierüber nicht weiter den Kopf, hatte doch der Leben bietende Anblick wahrhaft erlösend auf mich gewirkt und den Bann, der ob der langen, vergeblichen Erwartung schon recht drückend auf mir gelastet, mit einem Male gebrochen; froh und frei darüber aufathmend, fühlte ich, wie sich im Nu alle meine Lebensgeister wieder zu neuer Hoffnung anfrischten. In dieser bekümmerte es mich denn auch durchaus nicht, daß die lebendigen Colonnen wieder hinter vorspringenden Gebirgsmassen verschwanden, wenigstens konnte ich mir nun aus dem Erspähten schon leichter ein Bild vom Getriebe der mir so neuartigen Jagd schaffen, ein Umstand, der mich meinen aufmerkenden Blick nun auch nicht mehr, wie erst, allzu sehr in’s Unbestimmte hinaus richten ließ.

Wiederum war geraume Zeit verflossen, in welcher all mein Denken in erneuerter Erwartung sich gipfelte, als ein Ton an mein Ohr schlug, welcher mich mit freudigem Bangen erfüllte, glich er doch genau dem mir von Gebirgsjägern als Warnzeichen der Wachtgemsen bezeichneten. Ich mußte also eine Gefahr witternde Gemse in der Nähe vermuthen. Und in der That hatte ich richtig geschlossen; denn nicht lange nach nochmaliger Wiederholung des gleichen Lautes fiel der erste dröhnende, die tiefe Stille weithin durchhallende Schuß vom Stande des Herzogs aus, dem rasch hinter einander noch vier Schüsse folgten, sodaß das knatternde Echo in dem vielfach zerrissenen Geklüft unserer Umgebung kein Ende nehmen wollte.

[590] Wenige Minuten darauf aber bot sich mir ein Anblick dar, der mich beinahe vergessen ließ, daß ich selber mit der Büchse in der Hand dastand; so sehr ward davon vor Allem mein Malerauge in Anspruch genommen. Und dies konnte – leider! muß ich hinzufügen – auch ohne Eintrag für den Jäger in mir geschehen; denn die in vollster Flucht daherstürmenden Gemsen, die eben dem Herzog angelaufen und von ihm und seinen beiden Nebenschützen beschossen worden waren, bogen, ehe sie uns Untenstehenden auf Schußweite nahe gekommen, ab, dabei seitwärts eine kleine grasige mit Steintrümmern übersäete Blöße überfliehend, und strebten wieder der Höhe zu, wobei sie denn abermals in’s Feuer der dort verbliebenen fürstlichen Schützen kamen. Offenbar scheute das geängstete Wild die weitere Tiefe, in welcher unser Kleeblatt verloren Posto gefaßt.

Diesmal ward ich Augenzeuge der unmittelbaren Wirkung des Feuers. Da ich jede Aussicht auf einen anzubringenden Schuß aufgeben mußte, war ich nur noch bestrebt, das mir so interessante Alpenwild möglichst lange im Auge zu behalten. Zu diesem Zweck umsprang ich behend eine mir die Aussicht versperrende, weit vorschneidende Felsenkante und konnte so denn auch wirklich die unvergleichliche Flucht der unaufhaltsam Emporstürmenden weithin verfolgen und mit ansehen, wie eben ein stattlicher Bock aus der Mitte des Rudels die Kugel empfing. Davon augenblicklich zum Tode verwundet, stürzte das edle Thier rücklings zusammen und kopfüber in die jähe Tiefe.

Die anderen Flüchtigen aber, denen noch mehrere Schüsse, doch ohne sichtbaren Erfolg, nachgesandt wurden, flohen nun in verdoppelt beschleunigter Hast über das angenommene zerklüftete Terrain dahin. Mit unglaublichen Sätzen überfielen hierbei die auf’s Aeußerste Erschreckten die ihren Pfad kreuzenden gähnenden Risse und Schlünde, sodaß die stahlgesehnten Springer wie im Fluge über das starre Geklipp und auf kaum handbreit erscheinenden Simsen der senkrecht abstürzenden Felsenwände hineilten, um ihre schützenden, für Menschen unzugänglichen Stände in den himmelanstrebenden Jochen zu gewinnen. Dabei hörte man noch lange hinterher, als bereits das letzte Stück außer Sicht gekommen, daß durch die eisenharten Schalen der Entschwundenen losgetretene lockere Gestein zur unabsehbaren Tiefe poltern.

Darauf aber folgte lautlose Ruhe – tiefes Grabesschweigen lag wieder ringsum über dem weiten, weiten Gebirge, als berge es auch nicht ein lebendes Wesen mehr in sich. Doch bald schwand diese Täuschung. Der in Alles eingreifende Mensch störte von Neuem die hehre Naturstimmung; aus dem Lärmen der beendeten Jagd erscholl nun das Abrufen der Schützen von ihren Ständen, und in das Juchzen und Jägergeschrei aus den Reihen der Treiber und des anderen Trosses mischte sich der frohe Jubel der glücklichen Schützen. Heitere, lustige Lebendigkeit trat überall an die Stelle der kaum entflohenen Todtenstille.

Als das ganze laute Jagdvölkchen zum Sammelorte gekommen, ergab es sich, wie viel der Beute errungen worden war; sie betrug im Ganzen immerhin fünf Gemsen. Vier Stück davon wurden von den herzukommenden Treibern sofort zur Stelle gebracht und gestreckt, während der zuletzt geschossene Bock, den ich abstürzen sah, erst noch von dem ihm nachgestiegenen Jäger heraufgebracht werden mußte. Die glücklichen Erleger des gefällten Wildes aber waren der waidgerechte, selten fehlende Herzog – mit drei Böcken, den eben zur Tiefe gefallenen mit inbegriffen – sowie der Prinz und der Graf, die je eine Gemse geschossen hatten. Außerdem waren noch mehrere Stück als angeschossen angesagt, auf deren Schweißspuren die geübtesten Jäger nun noch nachzogen.

Jetzt ward zum Abstieg verschritten. Bald erreichte die Jagdgesellschaft nebst dem ganzen nachfolgenden Troß eine verlassene Alm, auf deren noch saftig grüner Matte ein Pürschhaus stand; hier war bereits für den Herzog und seine Gäste ein schmackhaftes Mahl, aus Gems- und anderm Wildbraten nebst Tiroler Wein bestehend, vorbereitet und wurde von uns Allen in heiterster Laune und mit nicht wenig geschärfter Eßlust eingenommen. Dabei umstanden die Jäger und Treiber in malerischen Gruppen das Jagdhäuschen, an dessen vorgreifender Dachrinne einstweilen die erbeuteten Gemsen vermittelst ihrer Krickeln aufgehangen worden waren. Die wetterharten Männer genossen ebenfalls in ausgelassener Frohheit den ihnen gebotenen Imbiß. Nach dieser allgemeinen Stärkung ging’s dann unverweilt weiter bergein, hinab bis zum Thale, wo im hirschgeweihgeschmückten Saale des reizend gelegenen herzoglichen Jagdschlosses das Diner unser wartete.

Dieses Diner aber, welches durch die Betheiligung der geistvollen und anmuthigen Frau Herzogin verschönt wurde, gab dem so genußreich verlaufenen Jagdtage erst die rechte Weihe.

Und in unverlöschlicher Erinnerung an jene schönen Stunden, die mir bei meinem neuesten Besuche der Hinterriß im letztvergangenen Sommer wieder in lebendiger Frische vor die Seele traten, ist es mir ein wahres Herzensbedürfniß, an dieser Stelle schließlich noch dem ritterlichsten Alpenjäger, der mir so Herrliches geboten, in Dankbarkeit und mit ehrerbietigstem Gruß ein herzliches, bestgemeintes Waidmanns-Heil! zuzurufen.




Goethe und Friederike von Sessenheim.
Ein neues Streiflicht auf Goethe’s Jugendliebe.


Das berühmte „Goethe-Idyll von Sessenheim“ ist jetzt nach länger als hundert Jahren zu einer Art von beruhigendem Abschluß gelangt. Aus den Erträgen der unseren Lesern bekannten Sammlungen ist der „Friederiken-Ruh“ genannte Hügel dort angekauft und bereits zu einer bleibenden Gedächtnißstätte geweiht worden. Seitdem Goethe die Welt in seiner Selbstbiographie mit der theilweisen Enthüllung seines Sessenheimer Liebesidylls überraschte, haben sich die Gemüther nicht wieder von dem eigenthümlich bannenden Zauber desselben abzuwenden vermocht. Man erkannte den Einfluß auf seine Dichtung und deren rührendste Frauengestalten; das Dörfchen Sessenheim wurde ein Wallfahrtsort der Schwärmer und Literarhistoriker; es entstand der Friederiken-Cultus und die Friederiken-Forschung, und es sammelte sich im Laufe der Jahrzehnte eine besondere Friederiken-Literatur, die noch immer nicht zur Ruhe kommen will. Wohlwollende Moralisten beseufzten, zelotische Anschwärzer des Genius verleumdeten und verdammten, feinfühlende Poeten und Aesthetiker vertheidigten den Dichter. Ihn hier von einem sittlichen und humanen Standpunkte aus zu rechtfertigen wird jedoch nicht möglich sein und wäre auch nicht pietätvoll, dem eigenen reuevollen Bekenntniß seines hochreifen Lebensalters gegenüber. Für uns steht es fest, daß das einfache Landmädchen mit ihrer gläubigen Hingebung und stummen Entsagung in dieser Herzenstragödie größer dasteht, als der gewaltige Heros.

Wenn es gewiß ist, daß er der Nation kein „Gretchen“ gegeben hätte ohne das Schmerzensbild Friederikens in seiner Brust, so bleibt es doch ein peinliches Gefühl, daß er selbst diesen Schmerz verschuldet und vernichtendes Wehe untilgbar in den glücklichen Frieden des harmlosen Kindes geworfen hat. Diesen Flecken wäscht keine Bewunderung seiner Größe aus der Geschichte seines Lebens hinweg. Immerhin aber hat man es mit einem Goethe zu thun, an den man unbedingt keine alltäglichen Maßstäbe legen darf. Was er selber nach so langer Zeit über seine Beweggründe mitgetheilt hat oder durchschimmern läßt, giebt im Hinblicke namentlich auf die Schnelligkeit seines Gefühlswandels keine befriedigende Erklärung. Die Lichtung des halbdunkeln Vorganges ist ein Problem der Seelenkunde, eine Aufgabe der Goethe-Biographen geblieben. Die Einen sagen, Friederike sei ihm an Bildung nicht ebenbürtig gewesen, und er habe auch keine Möglichkeit gesehen, die einfache Pfarrerstochter in das Patricierhaus seines Vaters zu führen. Andere wiederum führen den Schritt auf eine frühe Erkenntniß seiner Mission zurück und spenden ihm Lob, daß er nicht durch einen vorzeitigen Herzensbund den freien Aufflug seines Genius gelähmt habe. Dies Alles läßt sich hören, aber es bleiben doch Fragen übrig, welche damit nicht gelöst sind, wenn man dem ritterlichen und auf hohe Ziele gerichteten Dichterjüngling nicht die leere Gewissenlosigkeit eines gewöhnlichen Leichtfußes beimessen will. Von besonderem Interesse wird daher der Versuch einer zum Theil neuen Erklärung sein, die uns einleuchtender als alle bisherigen erscheint, da sie ihre Gründe aus der ganzen Natur der Goethe’schen Charakteranlage und aus dem Gesammtwesen seines Genius schöpft. In dem augenblicklich im Erscheinen begriffenen letzten Bande von K. Biedermann’s hervorragendem und anerkanntem Werke „Deutschland im achtzehnten Jahrhundert“, welches wir hiermit der allgemeinen Beachtung warm empfehlen, findet sich auch eine auf den Sessenheimer Jugendtraum bezügliche Ausführung, die uns der Verfasser im Voraus und in Rücksicht auf die jüngst in Sessenheim stattgehabte Feier zum Abdruck freundlichst überlassen hat.

Nachdem Biedermann den Unterschied zwischen den früheren knabenhaften Liebeleien des jungen Goethe und der mit voller Gewalt ihn ergreifenden Liebe zu Friederike dargelegt hat, fährt er fort:

„Und dennoch barg auch dieses so reizende Verhältniß den Keim der Wiederauflösung schon vom Anfange an in sich. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir es mit einem Dichter zu thun haben, und zwar mit einem jener besonderen Art, wie Goethe war, dem nach Anlage und Gewöhnung Dichtung und Leben in gewissem Sinne in einander flossen. Wie es in Goethe’s Natur lag, seine Dichtung aus seinem Inneren herauszuspinnen (‚in seinen Busen greifen‘, nennt er es), ein Stück eigenen Lebens durch [591] einen Act der Selbstentäußerung in ein Gedicht, in ein Kunstwerk zu verwandeln, so gestaltet sich ihm auch das, was er erlebt, in seiner Auffassung und Empfindung leicht mehr oder weniger zu einer Art von poetischer Illusion. Nicht, als ob er nicht, was an ihn herantrat, Freude und Schmerz, Liebe und Freundschaft, wahrhaft und warm empfunden hätte, aber er empfand es doch nicht ganz so wie gewöhnliche Menschen.

Der Strom seines Empfindens ging gleichsam nicht direct von der Außenwelt zum Herzen, sondern erst durch das brechende Medium der Einbildungskraft hindurch. Dadurch erhielten seine Empfindungen vielleicht für den Augenblick eine gesteigerte Intensität, aber sie übten auf ihn nicht jene unmittelbar zwingende und fesselnde Macht, wie das bei Naturen von einfacherer Structur der Fall zu sein pflegt, sie nahmen nicht sein ganzes Wesen ein und hielten es fest, sondern sie traten hervor und schwanden, sie erglänzten und verblaßten, je nachdem der Strahl seiner dichterischen Phantasie entweder voll auf sie fiel, oder von ihnen abgleitend nach anderen Seiten sich lenkte.

Dichternaturen wie Goethe sind ganz geschaffen für ein Leben voll anmuthig wechselnder, mannigfaltig gestalteter Liebesepisoden, deren jede ein dichterisches Erlebniß oder ein erlebtes Gedicht darstellt, dagegen wenig oder gar nicht für ein dauerndes Verhältniß, in welchem die Realität des menschlichen und des bürgerlichen Daseins mit seinen Anforderungen an Arbeit oder Entsagung, seinen Sorgen, ja auch einem gewissen unvermeidlichen und selbst nothwendigen Einerlei und Gleichmaß der Stimmungen und Empfindungen ihr Recht behauptet.

Nichts zeigt deutlicher die Grundverschiedenheit der Naturen unserer beiden größten Dichter, Goethe’s und Schiller’s, als ihr so ganz verschiedenes Verhalten in Sachen der Liebe und der Ehe. Schiller hatte sehr zeitig den Drang nach einem festen Lebensverhältniß und ging denn auch nach einigen mißglückten Anläufen dazu und einigen flüchtigen Reizungen, bei denen er in der Wahl des Gegenstandes irrte, schon ziemlich früh ein solches ein mit einem ihm ebenbürtigen, ihn geistig und gemüthlich befriedigenden weiblichen Wesen. Goethe durchlief eine Reihe der anmuthigsten Liebesverhältnisse – von seiner frühesten Jugend an bis in sein höchstes Alter, von Gretchen, Käthchen und Friederike bis zu Minna Herzlieb, aber zu einem Lebensglück in der Ehe brachte er es nicht. – – –

Ihn selbst, den jugendlichen Dichter, überkam schon bald das peinliche Gefühl, daß dieses ganze rührende Sessenheimer Erlebniß doch nur ein schönes Spiel, kein ernsterer Bund für’s Leben sei. Jener Traum, in der Nacht nach dem Verlöbniß, wo Goethen die Straßburger Tanzmeisterstochter erscheint (die ihn geliebt hatte) und wo diese den Fluch, den sie einst über seine Lippen gesprochen, jetzt auf diejenige ausgießt, um deren willen Goethe diesem Fluche getrotzt – dieser Traum ist nur wie ein symbolisches Bild der Reue, die Goethe im Stillen darüber empfand, daß er ein liebendes Wesen an sich gekettet, trotz der geheimen Vorempfindung, daß er selbst sich nicht an sie dauernd werde ketten wollen. Dann folgen jene Aeußerungen in Goethe’s Briefe an seinen Freund Salzmann (bei einem Besuche in Sessenheim), wo er von dem ‚bösen Gewissen‘ spricht, ‚das mit ihm herumgehe‘. Genug, sein leidenschaftliches Verhältniß zu Friederike ‚fängt an ihn zu ängstigen‘. – – –

Obschon er auf diese ‚schmeichelnde Leidenschaft‘ bereits ‚ganz verständig Verzicht gethan‘, kann er sie dennoch ‚noch nicht loslassen‘; er ‚ergötzt sich an der lieblichen Gewohnheit‘, und ‚wenn die Gegenwart Friederikens ihn ängstigt, so weiß er doch nichts Angenehmeres, als abwesend an sie zu denken und sich mit ihr zu unterhalten‘. Er kommt seltener hinaus nach Sessenheim, aber ‚ihre Briefe wechseln desto lebhafter‘ und ‚er kann sich in solchen Augenblicken ganz eigentlich über die Zukunft verblenden‘.

So kam die letzte Begegnung und dann die Trennung heran. ‚Es waren peinliche Tage,‘ schreibt Goethe. ‚Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Thränen in den Augen, und mir war sehr übel zu Muthe.‘

So rasch gab ihn jedoch das Bild der verlassenen Geliebten nicht los. Von Frankfurt aus sandte er ihr einen schriftlichen Abschied. Beim persönlichen Scheiden war unausgesprochen geblieben, ob es eine Trennung nur für kurze Zeit, oder für immer sein solle. Er selbst war sich wohl des Letzteren bewußt; Friederike scheint es wenigstens geahnt zu haben. Die Antwort, die er jetzt von ihr erhielt, ‚zerriß ihm das Herz‘. ‚Es war dieselbe Hand,‘ schreibt er, ‚derselbe Sinn, dasselbe Gefühl, die sich zu mir, an mir herangebildet hatten. Nun erst fühlte ich den Verlust, den sie erlitt, und sah keine Möglichkeit, ihn zu ersetzen, ja nur ihn zu lindern. Sie war mir ganz gegenwärtig; stets empfand ich, daß sie mir fehlte, und, was das Schlimmste war, ich konnte mir mein eigenes Unrecht nicht verzeihen. Gretchen hatte man mir genommen, Aennchen hatte mich verlassen; hier war ich zum ersten Male schuldig; ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet, und so war die Epoche einer düsteren Reue, bei dem Mangel einer gewohnten erquicklichen Liebe, höchst peinlich, ja unerträglich.‘

Seine dichterische Phantasie stellte ihm jetzt alle Reize des nun abgebrochenen Verhältnisses, zugleich alle Schmerzen der von ihm Verlassenen auf das Lebhafteste vor, jedoch ohne daß ihm der Gedanke kam, jenes wieder anzuknüpfen und diese Schmerzen zu lindern. Alles, was er that, war, an sich eine Heilung und gleichsam Entsündigung zu vollziehen durch eine ‚poetische Beichte‘, um ‚durch die selbstquälerische Büßung einer innern Absolution würdig zu werden‘. Die beiden Marien, erzählt er, im ‚Götz‘ und im ‚Clavigo‘ (und, setzen wir hinzu, noch mehr vielleicht das Gretchen im ‚Faust‘), sowie die beiden schlechten Figuren, die ihre Liebhaber spielen, möchten wohl Resultate solcher reuigen Betrachtungen gewesen sein.

Nach dem Erscheinen des ‚Götz‘ schrieb Goethe an Salzmann, dem er ein Exemplar dieses Dramas gesandt hatte: ‚Wenn Sie das Exemplar von „Berlichingen“ noch haben, so schicken Sie es nach Sessenheim unter Aufschrift: „An Msll …“ ohne Vornamen. Die arme Friederike wird sich einigermaßen getröstet finden, wenn der Ungetrene (Weislingen) vergiftet wird.‘ Das war, zumal bei der so kurzen Zeit, die erst seit dem Bruche mit Friederike verflossen, ein fast zu grausamer Scherz, aber es bezeugt auf’s Neue, daß Goethe Friederike weit mehr mit der Phantasie als mit dem Herzen geliebt hatte.“

So weit das Biedermann’sche Buch! Das Idyll von Sessenheim hatte noch ein Nachspiel, über welches ebenfalls Goethe selbst berichtet, und zwar mit all der in sich gefaßten Ruhe (nicht mit Unrecht hat man es auch wohl Kälte genannt), die er schon so bald nach seiner stürmerischen Jugend sich immer mehr aneignete. Als Goethe bei Gelegenheit der Schweizerreise, die er 1779 mit dem jungen Herzog Karl August unternahm, von Straßburg aus in dem wohlbekannten Sessenheimer Pfarrhause eingekehrt war, schrieb er seiner Freundin, Frau von Stein:

„Die zweite Tochter hatte mich ehemals geliebt, schöner, als ich’s verdiente, und mehr als andere, an die ich viel Leidenschaft und Treue verwendet habe. Ich mußte sie in einem Augenblicke verlassen, wo es ihr fast das Leben kostete. Sie ging leise darüber weg, mir zu sagen was ihr von einer Krankheit jener Zeit noch übrig blieb, betrug sich allerliebst mit so viel herzlicher Freundschaft, daß mir’s ganz wohl wurde. Nachsagen muß ich ihr, daß sie auch nicht durch die leiseste Berührung irgend ein altes Gefühl in meiner Seele zu wecken unternahm. Sie führte mich in jene Laube, und da mußt’ ich sitzen, und so war’s gut ... Die Alten waren treuherzig. Ich blieb die Nacht und schied den andern Morgen, von freundlichen Gesichtern verabschiedet, sodaß ich nun auch wieder mit Zufriedenheit an das Eckchen der Welt hindenken und in Frieden mit den Geistern dieser Ausgesöhnten in mir leben kann.“

Und so möge denn auch die Einweihung der neuerrichteten „Friederiken-Ruh“ ein Act der Versöhnung sein zwischen dem Andenken an den großen Dichter, der mit seinem reichen Geiste so Bedeutendes und Nachhaltiges geschaffen, und dem an die liebliche Friederike, deren Seelenruhe und Lebensglück durch die Berührung dieses jungen Olympiers allerdings rettungslos zerstört ward, wenn auch sie selbst großmüthig und willensstark genug war, ihn dies nicht fühlen, ja kaum merken zu lassen.[2]




Blätter und Blüthen.


Noch einmal „Frauen und Mädchen als Gärtnerinnen“. Zu diesem Thema geht uns vom Vorstand des „Lette-Vereins“ in Berlin folgende Zuschrift zu:

„Der unterzeichnete Vorstand des Lette-Vereins hat mit Dank und lebhaftem Interesse von dem in Nr. 32 der ‚Gartenlaube‘ enthaltenen Aufsatze ‚Frauen und Mädchen als Gärtnerinnen‘ von H. Jäger Kenntniß genommen. Wir hätten zu den darin geäußerten Ansichten des Herrn Verfassers Mancherlei zu bemerken und möchten namentlich darauf hinweisen, daß der von ihm wahrgenommene unvertilgbare Fehler der Frauenarbeit, ‚das Bedürfniß nach Unterhaltung‘, doch wohl nur bei ungebildeten Frauen hervortritt; die Erfahrungen, welche wir an gebildeten Frauen gemacht, führen zu einem anderen Ergebniß. Wir wollen indeß eine Polemik nicht eröffnen, sondern anerkennen mit Dank die freundliche Absicht des rühmlich bekannten Herrn Verfassers und stimmen ihm vollständig bei, wenn er die Kunstgärtnerei als einen für Frauen sehr geeigneten Beruf erklärt.

Auch im Lette-Verein ist diese Ansicht schon seit Jahren vorherrschend, und wiederholt ist bei uns die Ausbildung von ‚Kunstgärtnerinnen‘ als Berathungsgegenstand für unsere Sitzungen auf die Tagesordnung gesetzt worden; wiederholt haben wir mit Autoritäten auf diesem Gebiete über die Frage verhandelt. Der verstorbene Gartendirector Meyer hierselbst, der Kunstgärtner und Baumschulbesitzer Spät und Andere haben uns stets ihrer warmen Theilnahme für die Angelegenheit versichert. Wenn der Lette-Verein noch keine ‚Versuchsanstalt‘ errichtet hat, wie Herr Jäger den Frauenvereinen vorschlägt, so unterblieb dies lediglich aus dem Grunde, weil wir bei den vielen Ansprüchen die an uns gestellt werden, nicht im Stande waren, das für diesen Zweck erforderliche Grundstück in der Nähe der Stadt anzukaufen.

Fände sich ein Gönner und Freund unserer Bestrebungen und insbesondere der Ausbildung der Frauen für den Beruf der Gärtnerin, der uns nur ein Capital von 12,000 bis 15,000 Mark zur Verfügung stellte, so sind wir überzeugt, daß auch die städtischen Behörden uns ihre Unterstützung

[592] leihen würden und daß es uns ebenso gelingen würde, eine Gärtnerinnenschule in’s Leben zu rufen und zur Blüthe zu bringen, wie uns dies mit unserer Handelsschule, Zeichenschule, Gewerbeschule, Setzerinnenschule, Kochschule, Wasch- und Plättschule etc. geglückt ist. Ob wir alsdann das praktische Erlernen nicht doch mit theoretischer Geschäftsbildung verbinden würden, darüber möchten wir für den Augenblick keine bindende Erklärung abgeben; zunächst handelte es sich darum, daß wir das Capital zum Anlauf des nöthigen Grund und Bodens für die Anstalt erhielten. Vielleicht erweckt diese Mittheilung in der ‚Gartenlaube‘ uns einen großmüthigen Helfer. Die Mühe und Arbeit, welche die neue Anstalt erforderte, würden wir zu den Sorgen für die alten gern übernehmen.

Der Vorstand des Lette-Vereins in Berlin.“




Der Nord-Ostsee-Canal. Der schon vielfach erwogene Plan, die Nord- und Ostsee durch einen Canal zu verbinden, ist neuerdings wieder von dem Ingenieur Dahlström aufgenommen und ausführlich erläutert worden („Der Nord- und Ostsee-Canal als Durchstich mit Endschleußen etc.“), doch scheinen sich die Umstände auch jetzt nicht für die Ausführung viel günstiger zu gestalten als früher. Graf Moltke hatte (1873) im Reichstage geäußert:

„Wir bauen den Canal für Schweden und Rußland, für Amerika, Frankreich u. s. w. Nun kann man sagen, in diesem Falle würden diese Staaten sich auch an den Kosten der Anlage betheiligen. Vielleicht, meine Herren, aber dann würde dieser Canal ein internationaler, es würde dann auch der ganze militärische Nutzen verloren gehen; denn im Kriege würden wir den neutralen Canal gar nicht benutzen können, während wir noch im letzten Kriege sehr bedeutende Versendungen nach der Jahde bewirkt, selbst kleinere Kriegsschiffe durch den schon vorhandenen Eidercanal übergeführt haben. Ob der schon vorhandene Canal mit außerordentlich viel geringerer Summe sich nicht in besseren Zustand wird versetzen lassen, das will ich dahin gestellt sein lassen. – Was nun den militärischen Nutzen betrifft, so ist behauptet worden, daß wir durch den Canal die Möglichkeit gewönnen, die Flotte von einem Meer in das andere zu bringen, also in dem einen Meere doppelt so stark aufzutreten. Meine Herren, ganz richtig ist das auch nicht. Zunächst können wir in beiden Meeren engagirt sein. In einem Kriege mit Frankreich, dem Dänemark beiträte, können wir die Ostseeflotte in der Ostsee nicht entbehren. Allerdings könnten wir unter Umständen die Schiffe der Ostseeflotte in der Nordsee verwerthen, aber ich glaube, Schiffe wie den ‚Prinz Friedrich Karl‘ und den ‚König Wilhelm‘ können wir in der Ostsee gar nicht gebrauchen.“

Der projectirte Nord-Ostsee-Canal des Ingenieurs Dahlström.

Der scharfsinnige Stratege schien inzwischen seine Ansicht modificirt zu haben. Zunächst weil jetzt in kaiserlichen Marine mehr mittelgroße und kleinere Schiffe gebaut werden und man von Panzerkolossen zurückgekommen ist, sodaß unsere Flotte jetzt zum größten Theil in beiden deutschen Meeren verwendbar ist. Ferner soll jetzt nicht der Staat den Canal in der Hauptsache bauen, sondern nur die Mehrkosten tragen zu den Anforderungen militärischer Zwecke. Endlich ist seit 1873 die Kauffahrteimarine von Segelschiffen zu Dampfern übergegangen, die jetzt zumeist den Verkehr der Klein- und Küstenschifffahrt in der Nord- und Ostsee unterhalten. Und die Zukunft gehört den Dampfern, die bei ziemlicher Fahrgeschwindigkeit und geringem Kohlenverbrauch auch günstige Winde benutzen und werthvolle Güter expediren können, ohne die normalen Frachtsätze zu überschreiten. England thut das längst, während wir unsere Ein- und Ausfuhr durch Dampfer gegenwärtig nur zum kleinsten Theil selbst besorgen und unsere Küstenschifffahrt arg darniederliegt. Wir brauchen einen Wasserweg, welcher die ganze deutsche Küste verbindet und die ersten See- und Handelsstädte einander näher bringt.

Der Canal fängt bei Holtenau an der Ostsee an, geht über Knoop, Königsförde und Rendsburg bis Wittenbergen, mündet hier in den alten Eidercanal, der nahe bei Brunsbüttel in die Elbe führt, und ist im Ganzen etwa dreizehneinviertel Meile lang, das ist etwas über die Hälfte des Suezcanals. Um ihn auch für die deutschen Kriegsschiffe passirbar zu machen, wird er fünfzig Meter Wasserfläche breit, also mehr als die doppelte Breite des größten Kriegsschiffes, und sechseinhalb Meter tief sein. Diese Tiefe wird nöthigenfalls durch Endschleußen noch vergrößert werden können. Die Kosten sind auf fünfundsiebenzig Millionen Mark veranschlagt, zu denen der Staat etwa die Hälfte beiträgt, während die andere Hälfte in Actien beschafft werden soll, deren Dividende nach Anschlägen der Ertragsfähigkeit fünf Procent erreichen wird. Da der Bau des Suezcanals zehn Jahre in Anspruch genommen hat, so würde der Nord-Ostsee-Canal wohl in fünf Jahren ausgeführt werden können. Dies der Plan des Ingenieurs Dahlström.

Die Regierung dürfte aber nicht geneigt sein, den Plan zu fördern. Wie überhaupt Fluß- und Canalbau in Deutschland unter befremdlicher Gleichgültigkeit zu leiden hat, so hat auch dieser Plan in den maßgebenden Kreisen wenig Freunde. Als im letzten Winter der Verein für Canalwesen das Dahlström’sche Project discutirte, hat sich Feldmarschall Moltke nachdrücklich dagegen erklärt. Es ist also nicht anzunehmen, daß sobald andere Auffassungen sich geltend machen werden. Ohne staatlichen Beistand aber kann hier nichts ausgeführt werden.




Noten-Tonzeiger, erfunden von Organist Bartmuß in Bitterfeld. Leichter dürften die Tonstufen in der Notenschrift dem Nichtmusiker wohl nirgends klar gemacht werden können, als es mit Hülfe dieses Instrumentchens geschieht. Es besteht aus einer langen Pfeife, in der sich ein Stempel oder Pfropfen leicht auf und ab schieben läßt. Dieser Stempel erzeugt durch die Abgrenzung der in Schwingungen versetzten Luftsäule die Höhe und Tiefe der Töne; der Ton selbst entsteht dadurch, daß der das Instrument Benutzende die Pfeife vermittelst eines in dieselbe hineinführenden Schlauches anbläst. Mit der Verschiebung des Stempels ist ein Zeiger in Verbindung gesetzt, der in doppelter Weise die betreffende Note anzeigt, welche den durch die Stellung des Stempels von der Pfeife hervorgebrachten Ton auf dem Papiere markirt: einmal auf Notensystemen, die über einander stehen, um das Verhältniß der Hohe und Tiefe recht deutlich vor die Augen zu führen, sodann auf einem System, die Noten neben einander, wie sie der Sänger beim Singen vor sich liegen hat. Die gleichzeitige Beschäftigung des Auges und Ohres machen das Instrument zu einem vorzüglichen Anschauungsmittel; der Lernende erzeugt den Ton, bestimmt dessen Höhe und Tiefe durch das Versetzen des Stempels und findet an den Scalen die betreffende Note angezeigt. Der Ton des unter Patentschutz stehenden Noten-Tonzeigers ist weich und dient dem Sänger auch nach dieser Seite hin als Muster; der Preis des Instrumentchens, das wohl geeignet ist, den Chorgesangsdirigenten, Gesangs- und Schullehrern eine große Arbeit von den Schultern zu nehmen, und das hier deshalb empfohlen wird, ist ein geringer. Die Firma Edm. Stoll in Leipzig hat für Deutschland den Verlag desselben.




Die künstliche Herbeiführung des Regens. In einem Artikel des vorigen Jahrganges der „Gartenlaube“ wurde (Seite 537) mitgetheilt, wie man beim Vorwalten gewisser Luftzustände durch eine einfache Veranstaltung den Himmel veranlassen kann, seine Schleußen zu öffnen. Wir wissen nicht, was das Genie des Menschen in dieser Richtung noch erreichen wird; vorläufig ist von einem bloßen auf rationellen Grundlagen beruhenden Projecte zu berichten, welches denselben Zweck verfolgt, wie das an genannter Stelle beschriebene Verfahren, nämlich in Zeiten anhaltender Trockenheit und Schwüle das Gleichgewicht der Luftschichten zu zerstören. Die Idee, deren Urheber der virginische General Ruggles ist, beabsichtigt, mittelst Luftballons mehr oder weniger beträchtliche Dynamitmassen in die Region der feuchten Strömungen zu führen und dann, sei es durch den elektrischen Funken, oder durch einen Zünder, der erst wirkt, wenn sie die höchste Steigung erreicht haben, die Explosion herbeizuführen. Es ist freilich die Frage, ob eine momentane Explosion so günstig wirken könne, wie der anhaltende heiße Luftstrom eines größeren Brandes, indessen versuchen ließe sich das Experiment ja wohl ohne erhebliche Schwierigkeiten und Kosten. Natürlich würde ein erfahrener Meteorologe zu Rathe gezogen werden müssen, um den geeignetsten Zeitpunkt abzupassen.



Kleiner Briefkasten.

Treue Verehrerin am schönen Rhein. Die bewußte Erzählung von Levin Schücking finden Sie in unserm Jahrgang 1858, Nr. 6 u. f.

R. R. in Schw. Das beste Mittel, Tintenflecke aus Stoffen aller Art zu bringen, besteht darin, daß man die befleckte Stelle ein bis anderthalb Tag in ungekochte Milch bringt.

Th. I. G. in Philadelphia. Der „Rettungs-Anker“ (Philadelphia, Pennsylvania) mit dem Motto „Hoffe!“ ist ein ebenso nichtswürdiges literarisches Machwerk, wie verwandte deutsche Bücher, nur daß er fast wörtlich aus einem der letzteren gestohlen ist. An der amerikanischen Herausgeberfirma „Deutsches Heil-Institut“ beklagen wir am meisten den Mißbrauch des Wortes „deutsch“ zur Empfehlung so unsauberer Lectüre.

C. in Hannover. In Bezug auf den Broihan-Streit verweisen wir Sie auf zahlreiche Zuschriften im Jahrgange 1878 und 1879 der Berliner Zeitschrift „Bär“.

E. K–z. in Berlin. Hier die gewünschte Adresse: Theodor Kirchhoff, Office of M. Wunsch & Co. 206 Kearny Street N. E. Corner of Sutter. San Francisco.

J. H. in L., Kurland. Innigen Dank im Namen der Unglücklichen!



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir weisen die Aufmerksamkeit unserer Leser auf vorstehenden Passus ganz besonders hin. Möchten sie, im Fall der Eine oder der Andere einmal über Auswanderungs-Angelegenheiten Auskunft zu haben wünscht, das genannte Bureau direct, statt auf dem Wege unserer Vermittlung interpelliren! Uns und ihnen wird damit Zeit gespart werden.
    D. Red.
  2. Der Verlauf der in dem obigen Artikel erwähnten, am Nachmittag des 18. Juli stattgehabten Einweihung ist, den uns zugegangenen Berichten zufolge, ein ebenso erfreulicher wie erhebender gewesen. Von Straßburg aus führte ein Extrazug Hunderte von Theilnehmern herbei, die auf dem Sessenheimer Bahnhof mit Ansprache und Gesang empfangen wurden und durch das Gedränge der aus ver näheren Umgebung herbei geströmten Schaaren kaum zum Festplatze gelangen konnten. Nachdem hier der akademische Gesangverein das „Erwache, Friederike!“, componirt von Jakobsthal, vorgetragen, folgte die Festrede und die Uebergabe der Friederiken-Laube an Sessenheim. Der Bürgermeister nahm die Schenkung mit dem Versprechen treuer Pflege und Ueberwachung des Adoptivkindes dankend entgegen, und der Chor intonierte sein „Seht die Stätte – die geweihte!“ Mit einem Hoch auf das reichbegabte schöne Elsaß schloß die eigentliche Feier. – Was folgte, war ein zwangloses Gelage im schattigen Baumgarten der „Krone“. D. Red. 

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Storm’s