Die Gartenlaube (1881)/Heft 21

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 21.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Bruderpflicht.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Der alte Herr stockte einen Augenblick. Es war, als ob er der Grasmücke, die solche Ausdrücke von Ludwig nicht hingehen ließ, Zeit lassen wolle, wider den „Windhund“ zu protestiren. Aber die Grasmücke protestirte heute nicht dawider; nicht mit dem gerigsten Zucken ihrer Wimper protestirte sie, und Lanken fuhr deshalb heftiger fort:

„Und dann, Du bist Ludwig’s Weib; er ist Dein Mann und wird genug vom Gentleman in sich haben, um sein Weib gegen Beleidigungen zu schützen; Du lebst an der Seite Deines Mannes, den Du nun einmal liebst; vornehm oder nicht vornehm geboren – Du bist nun einmal Gräfin Gollheim – Gräfin, Lily, und wenn der alte Gollheim todt ist …“

Lily machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

„Vater,“ sagte sie dann, ihn mit dem Ausdruck rühriger Neugier anblickend, „ist Dir daran viel gelegen, daß ich eine Gräfin bin?“

„Mir?“ fragte Lanken überrascht.

Lily lachte plötzlich höchst unmotivirt laut auf. Vielleicht nur über das verwunderte Gesicht, das der alte Thierarzt bei dieser Frage machte. Gleich darauf jedoch nahmen ihre Züge wieder einen sehr trübsinnigen Ernst an. Sie blickte eine Weile zum Fenster hinaus; dann brach sie, wie zerstreut, einen kleinen Geraniumzweig ab und zerriß, wie aus Gedanken erwachend, Stengel und Blätter heftig in kleine Stücke.

„Und ich mache mir gar nichts daraus,“ sagte sie zornig, „gar nichts, gar nichts! Ich mache mir aus Allem nichts, aus den Documenten, die fort sind, nichts, aus Aurel’s Ministerschaft nichts, aus Ludwig, der mich verlassen hat, nichts. Ich wollte, ich hätte ihn nie gesehen und wüßte gar nicht, daß er auf der Welt sei, und ich wäre nie hierher gekommen, und ich wäre lieber in dem Meere ertrunken, das mich hierher gebracht hat, und am liebsten möchte ich gar nicht mehr leben, und ich möchte todt sein.“

Bei diesen Worten beugte Lily sich nieder, legte ihre Stirn auf die Fensterbank vor ihr und begann bitterlich zu weinen.

Der alte Thierarzt stand da und starrte höchst betroffen auf das wunderliche Gebahren seiner Grasmücke. So war ihm sein sonst immer heiteres, leichtherziges, übermüthiges Töchterchen noch niemals vorgekommen. Er sprach einige tröstende Worte zu ihr – vergebens! Er begann auf Ludwig, der sie allein gelassen, bis ihr in der Einsamkeit so quälende Gedanken gekommen, zu schelten. Er sprach davon, daß Aurel gerade jetzt, wo er gar keine Rücksichten mehr zu nehmen brauche, desto energischer für die Anerkennung ihrer Rechte „in’s Zeug gehen“ würde – aber das Alles hatte keine Wirkung; die Grasmücke weinte und weinte, und Lanken blieb nichts übrig, als dröhnenden Schrittes und zornkochenden Herzens im Zimmer auf und ab zu schreiten. Es hatte ja auch das nur noch gefehlt, um ihn rabiat zu machen – nur noch das, daß der schurkische Diebstahl der Documente seinem Sohne die Stellung gekostet hatte, und daß die Grasmücke in Folge von dem Allen da nun vor ihm saß und so herzbrechend weinte, als ob sie nie in ihrem ganzen Leben wieder ihre Flügel ausbreiten und sich aufschwingen werde in die sonnigen Lufthöhen ihres fröhlichen Uebermuths. Es war zum Rasendwerden; es war um sich ein Leids anzuthun, oder besser irgend einem Anderen, z. B. diesem feigen Schwiegersohn, dessen Durchgehen ja doch die Hauptschuld trug. Hätte Ludwig treu zu seinem jungen Weibe gestanden, so wäre Lily ruhig und voll glücklicher Zuversicht, das arme Kind, das nun einmal sein Herz an den Unglücksmenschen verloren hatte und mit ihrer ganzen Seeleninnigkeit an ihm hing und jetzt so unglücklich war, daß sie leben mußte, ohne von ihm zu hören, ohne ihn zu sehen. Es war ja auch natürlich, daß ihr Herz darüber zu brechen drohte. War es denn nicht schändlich, sie so zu verlassen? Und in demselben Maße, wie sie die Einsicht über sich kommen fühlte, wie schändlich es war, daß der Mann, den sie liebte, sich so pflichtvergessen gegen sie benehme – in demselben Maße mußte sie sich unglücklich und immer unglücklicher fühlen.

Einstweilen aber war nun nichts zu machen. Wenn die Grasmücke eine Erleichterung darin fand, sich einmal auszuweinen, so war es am besten, man ließ sie sich ein Genüge darin thun – gegen Frauenzimmerthränen hatte der alte Thierarzt keine irgend einen Erfolg verheißende Mittel kennen gelernt, und bei Aurel Hülfe suchen, ihn herbeiholen, daß er Lily durch seinen Zuspruch und durch Mittheilung dessen, was er jetzt thun werde, tröste – das war ihm ja für heute auch verwehrt. Darum ging er davon, suchte in seinem Zimmer nach Rohrstock und breirändigem Hut, welch letzteren er trotzig auf die wettergebräunte Stirn drückte, und eilte in’s Freie hinaus, um frische Luft zu schöpfen.

Er ging zur Stadt hinaus in die grünen Gartenanlagen, welche dieselbe, vom Residenzparke auslaufend, wie mit freundlichen Armen umfaßten, als ob der Herrschersitz sein Völklein mit blumigen Banden an sich schließen wolle – ein Vergleich, der dem alten Republikaner nun freilich nicht kam; er hatte, während er mit seinen schweren Nagelschuhen über die Kieswege dahin stapfte, anderen Gedanken nachzuhängen. Nach einer Weile wurde er in [338] diesen seinen Gedanken gestört. Einzelne Männer und kleine Arbeitergruppen schritten rasch an ihm vorüber; es waren deren so viele, die ihn überholten und weiter eilten, daß sie ihm auffallen mußten.

„Bei diesen wackeren Thebanern ist irgend etwas in den Bänken,“ sagte er sich und folgte ihnen gemächlich nach. Er kam auf diese Art in die Akazien-Allee, welche zum Bahnhof führte, und sah, daß die sämmtlichen Arbeiter, gemischt mit bürgerlich gekleideten Herren, in demselben Bürgergarten verschwanden, in welchen er bei seiner Ankunft Aurel gezogen, um von diesem das niederschmetternde Geständniß zu erhalten daß er, sein Sohn, sein eigenes Fleisch und Blut, ein herzoglicher Minister sei. In dem Garten selbst, in dem heute kein einziger Gast an den offenen Tischen verweilte, drängte sich Alles einem hinten an das Wirthschaftsgebäude angebauten Fest- oder Tanzsaal zu, dessen geöffnete Thüren weit aufklafften für Alles, was Lust hatte einzutreten. Diese Lust verspürten nicht wenige; Lanken fand im Saal mehrere Hunderte von Männern versammelt, auf Bänken, Stühlen, Tischen und Fensterbrüstungen sitzend, rauchend, die Bierseidel neben sich, wenn Platz für Seidel da war, und in Ermangelung des Platzes sie in der Hand haltend, aber Alle schweigend, um den Redner, der auf einer Art Tribüne im Hintergrunde stand, nicht zu unterbrechen – für Störung sorgte ja ohnehin schon die fortwährend vor neu Eintretenden sich öffnende und wieder zufallende Thür.

Der Redner aber war Niemand anders als der unvermeidliche Doctor Milchsieber, und unter ihm, an einem großen runden Tische, sah Lanken seinen Freund, das „Känguruh“, nebst vier oder fünf anderen Herren, welche jener ebenso zutreffend zoologisch unterzubringen gewiß bereit gewesen wäre, wenn er darum ersucht worden wäre. Für den ersten Moment begnügte er sich mit einer allgemeinen Artenclassificirung, indem er halblaut ausrief:

„Da ist ja das ganze Schlangennest bei einander.“

Doctor Milchsieber – das war offenbar – hatte seine Gläubigen zu einem „Meeting“ zusammenberufen; die wie ein Comité aussehende Gesellschaft an dem runden Tische unter ihm deutete auf etwas, wie einen Verein, auf periodische Zusammenkünfte dieser Art in dem Gartenlocal; jedenfalls war jetzt Doctor Milchsieber im besten Zuge, seinen Hörern etwas klar zu machen – etwas klar zu machen, was allerdings, wenn man ihn nur eine kurze Weile hatte mit dem tiefsten Brustton edler Ueberzeugung reden hören, ganz außerordentlich klar war und ganz merkwürdig offen auf der Hand lag, so klar wie das Licht der Sterne und der alten Sonne am Himmelszelt. Man begriff gar nicht, welche Sorte von Menschengehirnen dieser Mann vor sich sah, dieser Mann, der da mit so viel warmströmender Beredsamkeit, so hitzig, daß sein ganzer Apollo-Kopf in diesem Augenblick nur noch ein einziger blutrother Fleck war, auseinandersetzte: es sei das Recht des Arbeiters, den Staat nach seinen Bedürfnissen einzurichten und die Zukunft so zu gestalten, daß Menschenwerth und Geltung, so zu sagen der Adel, der nach den vorurtheilsvollen Begriffen einer von Fürsten und Pfaffen verdorbenen Vergangenheit im Kopfe und im Herzen gesucht sei und gewissermaßen darin gesteckt habe, nur noch in den fleißigen Armen und schwieligen Händen als seinem wahren Sitz gefunden werde und von diesen als seinem einzig richtigen Boden, auf dem er erwachsen könne, ausgehe.

„Der Adel, der früher im Kopf steckte, zieht sich in die Fäuste – und dann nach dem Gesetz des weiteren Fortschritts in den Bauch! Auch gut!“ sagte der alte Thierarzt ingrimmig vor sich hin, doch laut genug, daß die Nächststehenden ihm über die Störung unwillig ein: „Ruhig – still da!“ zuriefen.

Doctor Milchsieber arbeitete weiter. Er erhitzte und schürte seine Beredsamkeit zu einem wahren Glühofen, in dem die Gründe, die packenden Schlagworte, die Phrasen nur so prasselten, und endlich, nach Verlauf einer Viertelstunde, konnte der Ofen die Gluth gar nicht mehr fassen; die Sätze fingen an zu knattern wie petroleumbegossene Scheiter; sie zischten wie Raketen aus einander, und dann, dann gab es als Schlußeffect ein großes Feuerrad von sprühenden Invectiven, von knatternden Witzschlägen, von zu Weißglühhitze gebrachten Gemeinplätzen wider den armen alten, nur noch von Pfaffen verehrten Herrgott, wider die unglückliche, nur von betrunkenen Poeten bewunderte erbärmliche Weltschlacke Erde und die bejammernswerthe, von blödsinnigen Metaphysikern und Philosophen mißleitete Menschheit … ein wahres zischendes, sprühendes, mit seinem Funkenregen schwindligmachendes Feuerrad war es, aus dem wie aus einer Nabe der Kopf des Doctor Milchsieber gleich einer glühenden Kugel blickte.

Es war natürlich, daß solch eine oratorische Leistung die empfänglichen Zuhörer fortriß; sie wurden lauter und lauter mit ihren bewundernden Unterbrechungen und beifälligen Zurufen – Bekräftigungen aller Art schwirrten durch die Versammlung; mit den Bierseideln wurde im Ueberschwang der Begeisterung auf die Tische und Bänke gestoßen, oder ein lautes Gelächter erschütterte die Wände, bis, als Milchsieber bei seinen Endworten angekommen und noch ehe diese ganz gesprochen waren, ein tosendes Beifallgeschrei und Gelärm ausbrach.

In Lanken hatte die Rede selbst nur eine grimmige Verachtung hervorgerufen, fast ein Mitleid mit all diesen phrasenhaften Dummheiten und lahmen Witzen. Der Beifallsturm aber, der Jubel allgemeiner Zustimmung machte ihn wild; das Maß Alles dessen, was er gestern und heute nun schon erleben müssen, war voll und das Gefäß schäumte über.

„Unsinn!“ rief er sich abkehrend laut aus, „ist der miserabelste Unsinn, den ein Mensch vorbringen kann; ist, calculire ich, der ekle Schleim, worin die Narren eingeweicht werden, wie die Stockfische im Salzwasser, damit man sie nachher verpfeifen kann …“

Diese heftig ausgestoßene Gemüthserleichterung des alten Herrn hatte auf seine Nachbarn, welche sie angehört, unmittelbar eine explosionartige Wirkung, wie es bei einer der allgemeinen Strömung so kühn sich entgegenwerfenden Opposition nicht anders sein konnte. Lanken wurde angeschrieen; Fäuste streckten sich nach ihm aus; Stöße fuhren ihm in den Rücken und in die Rippen; ein allgemeines Halloh entstand, in welchem es bald nicht mehr möglich war, das, was gerufen wurde, zu verstehen, während die allgemeine Tendenz der entstandenen Bewegung in ihrer Richtung auf ein gründlich gewaltsames Hinauswerfen des alten Herrn aus dem Local nur desto deutlicher verständlich war.

Aber der alte Herr war nicht umsonst so viele Jahre lang Farmer gewesen und hatte bei der Arbeit muskulöse Arme und eisenfeste Fäuste bekommen. Auch hatte er ein unerschrockenes Herz in der Brust, und so wehrte er sich wie ein Löwe. Dadurch bekamen die Herren vom Comité Zeit, sich beschwichtigend heranzudrängen; Doctor Milchsieber, dem es gar nichts verschlug, einen glänzenden oratorischen Triumph über einen Opponenten zu erringen, rief, sich zwischen Lanken und seine Bedränger werfend:

„Laßt doch den Herrn, wenn er anderer Meinung ist, sich aussprechen! Laßt uns doch hören, was er zu sagen hat! – Jedem Mann seine freie Meinung! – Auf die Bühne, alter Herr, auf die Bühne mit Ihnen! Wir kennen uns ja – Sie sollen nicht sagen, daß wir unsere Gegner nicht zu Worte kommen lassen …“

Lanken athmete von seinem Ringkampfe auf, wischte sich die Stirn mit seinem Tuche ab, unter dem her seine Augen den Doctor mit einem verzehrenden Zorne anglühten, und rief:

„Laß die Bühne gern Leuten wie Ihnen. Bin nicht gekommen, hier Reden wider Leute wie Sie zu halten. Aber meine Meinung will ich Ihnen nicht vorenthalten. Meine Meinung kann jeder hören, der Lust hat. Ist, daß Sie lauter Unsinn vorgebracht haben – blutigen Unsinn! Was wissen Sie hier von der Zukunft, von der Sie so viel geschwatzt haben? Wird sich abspielen nicht hier, sondern in Amerika, die Zukunft – wissen Sie! Nicht hier, wie Sie’s träumen! Sind fertig, die Menschen hier, mit diesem alten Lande. Haben’s cultivirt, haben’s beackert, haben’s drainirt und halten es säuberlich gejätet aller Orten. Wege laufen die Kreuz und die Quer wie zwischen Gartenbeeten; an jeder Gabelung steht ein Wegweiser: Schoppenstedt drei, Komma, fünf Kilometer. Jeder Baum und jeder Strauch hat seinen Herrn, jedes Stück Wild, denk ich, eine Nummer hinten aufgebrannt. Jeder Bach hat seine Rinne vorgeschrieben bekommen, jeder Fluß seinen Pegel, an dem ihm vorgezeichnet ist, wie hoch er steigen darf. Was ist denn nun für den Menschen, der auf den Kampf mit der Natur angewiesen ist, hier noch zu thun? Er hat die Natur ‚klein gekriegt‘ – sehr klein! Und aus Mäßigung fängt er nun zu hadern an mit denen, die dabei die Hauptarbeit gethan und also auch das größte Stück bekommen haben. Die Arbeit des Armes soll dabei so gut wie die des Kopfes gewesen sein? Wenn ein Erfinder wie Stephenson brütend über seinem Maschinenmodell sitzt, tritt der Hanswurst zu ihm und sagt: ‚Sieh, auf meiner Stirn hängt der Schweiß, den mir meine Capriolen im Circus ausgepreßt haben, wie auf Deiner Stirn die Schweißperlen, die [339] Deine Gedankenarbeit Dir auspreßt. Müh ist Müh, Schweiß ist Schweiß – wir haben gleiche Rechte, Du und ich; wir wollen auch unsere Lebensweise ausgleichen, unsern Besitz! Wir wollen einen Staat, wo Jeder gleiches Futter bekommt. Wir wollen den großen Zukunftstrog sehen, einerlei, wenn auch Jeder seinen Ring daran bekommt, an den er gekettet wird und fest liegt.‘

„Unsinn! Dummheiten! Ich sage Ihnen, Herr, ich, der es kennt; Amerika ist der Boden der Menschheitszukunft. Da ist eine große, unbezähmte, der Menschenkräfte und der Menschenordnung spottende Natur. Und mit ihr ringen um die Existenz, mit ihr kämpfen, um sie sich zu unterwerfen, das erfordert ganze, volle Menschen mit zäher, eiserner Kraft. Und Menschen mit zäher, eiserner Kraft, von denen ein Geschlecht nach dem andern die Art oder die Karsthacke vererbt, sie wollen nichts hören von Angekettetsein, vom Staatstrog, vom Casernenleben. Sie wollen die Ellenbogen frei haben. Freiheit wollen sie, Freiheit für Jeden; die Freiheit, zu genießen, was sie errungen haben, oder es aufzusparen für die Ihrigen, ihre Kinder; Freiheit für den Reichen, seine Schätze durch’s Fenster zu werfen oder sie auf eine waghalsige Speculation zu setzen; Freiheit für den Armen, sich durchzuschlagen, so gut er’s versteht; Freiheit für jede Kraft, sich einzusetzen und sich zu bewähren oder – unterzugehen. Solch eine Welt, wie diese ist und sein wird, wird die bestimmende sein für die Zukunft der Menschheit und ihr erstes Gesetz wird sein die Heiligkeit des Eigenthums, ihr Wahrspruch aber: Zum Teufel mit Allen, die mich und meine solide Kraft in die große Solidaritätscaserne mit allen unsoliden Burschen, die mich nichts angehn, einsperren wollen!“

Es war ein wunderliches Stück Beredsamkeit, was der alte Thierarzt da hastig und überstürzt vorbrachte – übermäßig viel ruhiger Gedankenentwickelung war nicht darin; aber für einen Mann, den man eben gestoßen und geschüttelt und angeschrieen hatte und den der eigene innere Zorn noch ärger schüttelte, bewies es so viel muthiger Geistesgegenwart, als man billig von ihm in seiner Lage erwarten konnte. Leider jedoch fand es weder diese noch irgend eine andere Anerkennung bei seinen Zuhörern.

„Herr!“ schrie ihm, als er jetzt aufathmend inne hielt, Doctor Milchsieber entgegen; „Sie kramen da die Grundsätze des allererbärmlichsten Egoismus aus, mit denen vor einer gebildeten Gesellschaft zu debütiren ein reifer Mann, wie Sie, sich schämen sollte …“

„Schämen“ – Lanken’s Faust ballte sich, und er erhob sie, seiner nicht mehr mächtig, und brachte sie Milchsieber’s noch immer feuerrothem Gesichte bedenklich nahe – „schämen … das wagen Sie mir zu sagen, Sie, der …“

Lanken fühlte sich schon wieder ergriffen, gestoßen, von Flüchen umschwirrt – das gab seiner Besonnenheit den Rest und wüthend rief er aus:

„Sie, der zu einer Bande gehört von Dieben, von Spionen …“

Zu enden wurde er durch eine Faust verhindert, die in sein Halstuch fuhr. Wie rasend schlug er jetzt um sich, um sich loszuringen; ein wüstes Geschrei erhob sich; eine rohe und widerwärtige Scene folgte, die nicht zu schildern ist. Zu gutem Glücke für des wackern alten Herrn heile Gliedmaßen dauerte sie nicht gar zu lange. Denn, wie aus der Erde gewachsen, standen nach einer Weile von wenigen Minuten vier, fünf Polizeileute da, die Lanken von seinen Drängern befreiten. Mit zwei andern Männern – es waren die, mit denen er hauptsächlich zu ringen gehabt hatte und deren Kampflust bei ihrem Anblicke wunderbar schnell erstarb – nahmen sie ihn in die Mitte, während ein ebenfalls wie aus der Erde gewachsener Herr in einer Dienstmütze nahe der Eingangsthür auf einem Stuhle stand und herrisch von da herunter rief: „Die Versammlung ist aufgelöst; die Anwesenden werden aufgefordert, aus einander zu gehen – räumen Sie das Local und gehen Sie sofort aus einander!“

Ein Schreien, Grunzen, Toben folgte; Lanken war es eine Wohlthat, aus dem Tohuwabohu zu entkommen und zwischen seinen Beschützern heil und unverletzt in’s Freie zu gelangen. Leider nur begnügten sich diese nicht mit ihrer Schützerrolle. Sie hielten ihn wie die beide andern Männer, deren sie sich bemächtigt, fest und führten sie weiter, zu dem Gartenlocal hinaus, und da die beiden Andern, welche größere Erfahrung in solchen Vorgängen haben mußten, ohne viel Protest sich führen ließen und nur lebhaft mit einander flüsterten, ließ sich auch Lanken, ruhig sein Schicksal erwartend und neugierig auf die weitere Entwickelung, fortführen.

Daß diese Entwickelung sich abspielen könne in dem Gebäude der Polizeidirection der Residenz, schwante ihm so ungefähr wohl, aber keineswegs ihr letztes Ende – er hätte wohl sonst gegen seine Verhaftung laut und lebhaft protestirt. Das Ende dieser Entwickelung entsprach nicht seiner Erwartung; denn er wurde nicht, wie er vermuthete, vor einen höheren Beamten geführt, dem er über sich hätte Auskunft geben können und mit dem er wohl bald zu einer Verständigung gekommen wäre; sondern man brachte ihn einfach in eine Haftzelle, ohne für sein Protestiren eine andere Antwort zu haben, als: er werde am nächsten Morgen zum Verhör gelangen.




12.


Aurel Lanken hatte unterdeß die Stunden in einer schwer zu schildernden Aufregung und Thätigkeit zugebracht. Die Abgabe der Geschäfte erforderte eine Menge augenblicklich zu treffender Maßnahmen und Verfügungen, die er einem Nachfolger nicht überlassen konnte; Papiere mußten geordnet und gesichtet, aufgeschobene Bescheide ertheilt werden – und dabei war Aurel in einer Gemüthsverfassung, die seine Gedanken jeden Augenblick von dieser Bedrängniß ablenkte, um ihn innerlich einer ganz andern Bedrängniß anheimfallen zu lassen.

Es lag ein so großes, aber auch so bitteres, unsäglich bitteres Glück in dem, was Regina ihm gesagt – in diesem Vorschlag zur Flucht mit ihm, zu der sie ihn ja förmlich gedrängt hatte. – Es war das offene Geständniß einer unbedingten Hingabe, ja mehr noch, einer Leidenschaft, wie sie für ihn nicht beglückender, nicht berauschender sein konnte. Aber wie furchtbar, wie herzbrechend bitter, das höchste Glück so nahe vor sich zu sehen und davor zu stehen mit zitternden, von unzerreißbaren Banden gefesselten Händen, die es nicht ergreifen, sich nicht nach ihm ausstrecken können!

Doch – es war das Muß, das unerbittliche, nicht umzustoßende, nicht zu erweichende Muß, dem er sich zu beugen, dem er alle schönen Träume von Lebensglück und Zukunft zu opfern hatte, und in der eisernen Härte dieses Muß lag der einzige Trost! Ueber den Schmerz, aus seinem Wirkungskreise scheiden zu müssen, half ihm gerade dieses Versunkensein in die persönlichsten Gefühle fort. Es war so Vieles, was er angeregt und aufzubauen begonnen, so mancher Keim war von ihm gepflanzt und gepflegt worden, weil darin eine für die Landeswohlfahrt fruchtbare Entwickelung vorauszusehen war; so Manches bedurfte noch seiner festen, schützenden Hand, wenn es nicht untergehen oder unter den Einflüssen einer anderen Denkrichtung verkümmern sollte. Aber das Alles verlor den Stachel seiner Bitterkeit in dieser Stunde, wenn er sich sagte: sei es drum – du bist nicht allweise, und guten Willens können auch Andere sein. Vielleicht wird der, welcher nach dir kommt, mit weniger Idealismus, als du, dem Lande ein praktischerer Verwalter sein und bald schon Niemand mehr es bedauern, daß du gingst.

Beschäftigt, wie er war, dazu durchwühlt von allem, was in diesen Stunden in seiner Brust vorging, hatte Aurel Sorge getragen, daß nicht noch Neues, Belästgendes auf ihn eindrang; er hatte seinem Diener befohlen, Niemand zu ihm zu lassen und einlaufende Briefschaften aller Art an sich zu nehmen, bis er sie ihm abfordere.

So kam es, daß er erst am andern Morgen, als der Diener ihm das Frühstück hereinbrachte, alles was eingelaufen war, vielleicht ein Dutzend verschiedenartigster Sendungen zugleich empfing; als er zerstreut sie durch die Hände gleiten ließ und die Adressen überflog, stutzte er bei der einer dieser Adressen – sie war von der Hand seines Vaters geschrieben. Rasch riß er das Couvert auf und las zu seinem nicht geringen Erstaunen:

„Lieber Aurel – sitze hier im Polizeigewahrsam – sie haben mich hier in Numero Sicher untergebracht, weil ich den Unsinn in der Socialistenversammlung nicht ruhig anhören konnte – wunderliche Logik – sitze aber fest. Habe ein wenig gelärmt, und in Folge davon haben sie mir Papier und Schreibzeug gegeben, damit ich es Dir mittheilen könn; wirst ja im Stande sein, mich bald wieder heraus zu lootsen. Dein Vater.“

Betroffen, erschrocken hatte Aurel diese Zeilen überflogen – ein wenig gedemüthigt und empört auch über seines Vaters transatlantische Neigung, sich in „Raws“ einzulassen, die ihn so arg [340] compromittirten. Es war dies nun schon das zweite Mal. Zunächst aber mußte gehandelt werden, um ihn seiner mißlichen Lage rasch zu entziehen; deshalb ließ Aurel sofort seinen Wagen anspannen und warf sich, als dieser vorgefahren war, hinein, um sich auf die Polizeidirection bringen zu lassen.

Als er auf dieser ankam, deren Hauptgeschoß die Wohnung des Directors enthielt, wurde er diensteifrig in den Salon hinausgeführt, einen etwas düster und streng aussehenden Raum mit einer bescheidenen, altfränkischen Einrichtung, die aber heute ein heiteres Bild gewährte, da sie durch eine wohlbesetzte Frühstückstafel belebt war, an der zwei alte Herren sich niedergelassen hatten; sie waren in lebhafter Conversation begriffen: und diese beiden alten Herren waren Niemand anders, als der gestrenge Polizeichef der Residenz und der alte Thierarzt selber, der seinem Sohne bei dessen Eintreten heiter und vergnügt zunickte. Der Polizeidirector sprang auf. „Excellenz sind es selber,“ rief er, Aurel entgegengehend, „in der That, ich kann mir Glück wünschen zu diesem kleinen Ereigniß, welches mir die Ehre verschafft, die beiden Herren hier zu einem morgendlichen Symposion zu vereinigen – ich darf doch bitten, mit uns vorlieb zu nehmen.“

Es war ein gemüthlicher dicker Herr mit einem rothen Gesichte, der Polizeidirector, in seinem Wesen und Plaudern die Harmlosigkeit selber – nur die ungewöhnlich lebhaften runden, grauen Augen leuchteten von etwas wie einer energischen Intelligenz, der nicht ganz „über den Weg zu trauen“ war.

Aurel reichte ihm die Hand und nahm zwischen den beiden Grauköpfen, die sich so gut und friedlich zu unterhalten schienen, Platz, um sich nun zunächst das Vorgefallene erzählen zu lassen. Der Polizeidirector hatte erst am gestrigen Abende spät aus dem ihm überbrachten Tagesrapporte die Namen der Verhafteten ersehen, und nun Lanken schon am frühen Morgen sagen lassen, daß er ihn bei sich zu sehen wünsche und zu seinem Frühstücke heraufzukommen bitte. Beim Frühstücke hatte sich dann das Verhör in eine harmlose Conversation einkleiden lassen, deren Ende nur Entschuldigungen des gestrengen Polizeihauptes für seine Myrmidonen waren – die Commissare und Polizisten hatten eben strenge Befehle, gegen Ruhestörungen jeder Art bei den Arbeiterversammlungen unnachsichtlich und ohne Ansehen der Person einzuschreiten. Daher das Vorgefallene!

Auch Aurel mußte dies gelten lassen, und nachdem man sich darüber ausgesprochen, hörte er mit Interesse, daß der Director und sein Vater eigentlich gute alte Freunde waren; denn in dem Sturmjahre des „Völkerfrühlings“ hatte der Director, der damals noch sehr jung gewesen, auch ein wenig in die „Farbennuance“ – „Welche die Ochsen nicht vertragen können,“ fiel der alte Lanken lachend ein – hinübergeschillert, und mit dem Thierarzte auf einem gar nicht üblen Fuße gestanden. Jetzt gedachte er nur lächelnd dieser „röthlichen Ansichten“. „In der Jugend,“ sagte er, „freut sich der Mensch an Giebelbauten und denkt, es komme Alles auf die Spitze an; wenn er reifer wird, lernt er einsehen, daß die Spitze nicht so wesentlich ist, daß eine Krone da oben ein recht gutes, beruhigendes Ding, aber das Leben auch unter einer Dogenmütze oder einem Präsidentencylinder erträglich ist, und daß Alles auf das Fundament des Staatslebens ankommt, welches da ist ein richtiges und verständiges Wahlgesetz. Das Volk ist das Material des Staatsbaues,“ demonstrirte der rothe gemüthliche Herr mit den funkelnden Aeuglein eifrig weiter; „und wer ein richtiger Baumeister sein will, der sieht sich das Material an, ehe er es benutzt, verwendet das gute, tüchtige, und wirft das schlechte bei Seite. Das sollten unsere Gesetzgeber und Constitutionenmacher sich zum Muster nehmen. Das allgemeine directe Stimmrecht gewähren – das heißt als Baumeister Hausteine, Quadern, Ziegel, Brocken, Klötze, Geröll und Geschiebe unterschiedlos zum Baue verwenden! Wird feste Mauern geben, haltbare Arbeit das! Werden’s ja sehen!“

Das waren nun bureaukratische Anschauungen, gegen welche der alte Thierarzt jeder Zeit bereit gewesen wäre sehr lebhaft zu polemisiren, an denen aber längeren Antheil zu nehmen Aurel heute nicht in der Stimmung war; und so drängte dieser denn nach einer Weile, nachdem er den Chef des Sicherheitsdienstes wiederholt versichert hatte, daß er seinen Organen die stricte Ausführung ihrer Instructionen durchaus nicht verdenken könne, zum Aufbruche. Der alte Lanken würde sich eigentlich recht gern noch ein Weilchen mit dem gestrengen Manne, der ihn hatte einsperren lassen, in gemüthlichen Discussionen ergangen haben, zu innigerer gegenseitiger „Anbiederung“. Aber Aurel mahnte ihn daran, daß es die höchste Zeit sei, heim zu eilen, um Lily zu beruhigen, die wegen des nächtlichen Ausbleibens ihres Vaters in großer Unruhe sein müsse.

Von dem Gedanken an die Grasmücke ergriffen, sprang denn auch der alte Herr lebhaft von seinem Stuhle auf – es drängte ihn nun auch, sich dem Polizeidirector zu empfehlen, und nachdem dies mit einer Wärme geschehen, die nur der aufrichtigsten Versöhnlichkeit entstammen konnte, bestiegen Beide Aurel’s Wagen, um nun ohne Verzug die Wohnung Lanken’s zu erreichen und Lily’s Sorgen ein rasches Ende zu machen.

„Ich habe die ganze Nacht an sie gedacht, die arme Mücke!“ sagte, als sie im Wagen saßen, der alte Herr. „Hätte mir sonst wenig daraus gemacht, einmal das Innere solch einer menschenfreundlichen Anstalt kennen zu lernen. Habe gesehen, außer der Ehre der Einladung ist die übrige Bewirthung nicht groß und nicht viel Aufhebens davon zu machen. Aber habe die Nächte schon übler zugebracht in meinem Leben, und wenn mir nicht all das Gift, das ich hier in den letzten Tagen habe schlucken müssen, am Herzen gefressen, hätt’ ich auf dem Strohpfühl geschlafen so gut wie daheim – und dann die arme Lily, das arme Geschöpf! Wie unsäglich besorgt sie sein wird! Sie ist so gut gegen ihren ‚dear Governor‘, wie sie mich nennt; sie hängt an mir mit der vollen Innigkeit ihres Herzens –“

„Die Du doch auch voll erwiderst, Vater,“ fiel Aurel ein; „denn im Grunde war es für Dich doch kein geringes Opfer, Deine Farm, die Du geschaffen und gepflegt und an der sicherlich Dein ganzes Herz hing, zu verlassen und fremden Menschen zu übergeben, blos weil Lily’s Köpfchen nun einmal darauf gestellt war, einen jungen Blondin von Weltfahrer zu lieben –“

„Nun,“ unterbrach der alte Lanken seinen Sohn, „was das Herz angeht und was die Farm, so sind es zwei verschiedene Dinge; jenes, siehst Du, ist mir darüber nicht gebrochen, daß ich diese für ein recht gutes Stück Geld losgeworden bin. Was aber das Herüberziehen, die Rückwanderung in diese von Gott verlassenen Himmelsstriche angeht – na, hätt’s wissen können, daß ich für die Welt hier nicht mehr tauge – aber siehst Du, Aurel, mußt’ ja schon, mußt’ der Grasmücke nun einmal folgen; denn was hab’ ich sonst auf der Welt noch als das Kind? Ist nun einmal mein Herzblatt, das Kind,“ fuhr er mit einem Tone fort, in welchem eine ihn überkommende tiefe Rührung zitterte, „und was kommt es viel auf einen solchen abgenutzten und verschlissenen Invaliden der Arbeit, wie ich einer bin, an – wenn nur das Kind glücklich wird! Von meinem Kind könnt’ ich mich nicht trennen, Aurel, niemals, niemals!“

(Fortsetzung folgt.)




Aus dem Reiche San Marco’s.

Poesie und Sage haben über manche Epoche des Mittelalters einen bestrickenden Zauber ergossen, der uns wie ein duftiger Schleier das wahre Bild jener Zeiten verbirgt. Aber nehmt den Schleier hinweg – und was Ihr seht, kann nicht anders als abscheulich genannt werden.

Solch ein duftiger Schleier liegt auch über Venedig ausgebreitet. Von früher Kindheit an wird unsere Phantasie durch glänzende Bilder von der märchenhaften Lagunenstadt genährt, unser Sehnen und Verlangen vor anderen Städten auf diese gelenkt.

„Ja, schon als Knabe liebt’ ich sie – sie lebte
Wie eine Feeenstadt in meiner Brust –“

singt Childe Harold, der Vielgewanderte.

Und wirklich! wenn wir die grandiosen Marmorpaläste der wunderbaren Stadt, ihre schimmernden Kirchen durchwandern, wenn wir vom Marcus-Thurm auf das fluthenumrauschte Gewirr von Häusern und Kuppeln niederschauen und dabei ihrer Vergangenheit gedenken, so fühlen wir uns zur höchsten Bewunderung hingerissen für diesen Staat, der seine Herrschaft nach allen Küsten der Adria

[341]

Der Bravo von Venedig.
Nach der Aquarelle von Professor Karl Werner.

[342] trug, für dieses „Volk von Königen“, dessen Thaten, „auf Dogengräbern in den Stein gehauen“, noch lange für die Nachwelt leben werden. Wir begreifen dann, daß schon so mancher Jüngling den romantischen Wunsch gehegt, zur Zeit des Tizian in Venedig gelebt zu haben; es scheint uns erklärlich, daß schon so manche Jungfrau das Loos der schönen Catarina Cornaro oder der Bianca Capello beneidet hat.

Und doch – nehmt den Schleier hinweg von diesem Venedig! Die Ereignisse, die sich einst in seinen Mauern abspielten, werfen ihre düstern Schatten bis in unsere Tage. Noch heute liegt es auf der königlichen Stadt wie ein schwerer, dumpfer Bann – eine Stimmung, welcher Platen in seinen herrlichen venetianischen Sonetten den treffendsten Ausdruck gegeben hat:

„Es scheint ein langes, ew’ges Ach zu wohnen
In diesen Lüften, die sich leise regen.“

Und wir vernehmen diesen Wehlaut im Geiste, wenn wir auf der Seufzerbrücke stehen, über welche die Verurtheilten einst zum letzten Gange schritten, wenn wir im Dogenpalast hinabsteigen zu den berüchtigten feuchtkalten „Pozzi“ oder hinauf zu den glühendheißen Bleikammern, deren Bau die raffinirteste Grausamkeit ersonnen hat. Diese Stätten der Qual und der Verzweiflung bilden eine entsetzliche Folie für die benachbarten goldstrotzenden Säle, in welchen Tintoretto die Heldentaten der edlen venetianischen Geschlechter verherrlicht, Paolo Beronese den heiteren, üppigen Lebensgenuß gefeiert hat. Diese erzählen von Glanz und Siegen, jene aber flüstern von Hinterlist, Verrath und Mord – auch vom Morde durch die Hand der Staatsjustiz.

Nach den spanischen Ketzergerichten kennt die Weltgeschichte vielleicht keine einzige so furchtbare Institution wie den Rath der Drei in Venedig. Er war der Schlußstein des immer höher strebenden und sich eng und enger centralisirenden venetianischen Aristokratenregiments, hervorgegangen aus dem Schooße des Rathes der Zehn, jenes gefürchteten Polizeigerichtes, das sich hinwiederum aus dem im zwölften Jahrhundert entstandenen Großen Rathe entwickelt hatte, und zwar nach einer Volksempörung wider den Dogen Vitale Michiel den Zweiten, welche die bestehende Verfassung stürzte und die Dogenwürde zur bloßen Titulatur herabsinken ließ. Jede Beschwörung, jede Auflehnung gegen das bestehende Regiment aufzuspüren und im Keime zu ersticken – das war seine vornehmste Aufgabe. Zur Erreichung dieses Zweckes war ihm die weittragendste Macht, eine Gewalt ohne Schranken und ohne Verantwortlichkeit verliehen. Unter Anwendung jedes Mittels durfte er die Verdächtigen vor sein Tribunal laden, durfte er ihr Geständniß durch die entsetzlichsten Torturen erzwingen; denn nur zum Schein hatte sich der neben ihm fortbestehende Große Rath, dessen engeren Ausschuß er bildete, die Prüfung der Sentenz vorbehalten.

Die drei Staatsinquisitoren wurden alljährlich durch das Loos gewählt, und zwar zwei von ihnen aus dem ebenfalls noch fungirenden Rathe der Zehn, der dritte aus dem des Dogen. Letzterer ward nach seiner Kleidung – einem weiten Talar von carmoisinrother Seide – vom Volke der „Rothe“ genannt, während die beiden Anderen aus demselben Grunde die „Schwarzen“ hießen. Die Wahl, welche Keiner ausschlagen durfte, blieb strenges Geheimniß und ward nur wenigen vertrauten Staatsdienern bekannt. Den Angeklagten gegenüber wahrten die Drei ihr Incognito durch schwarzseidene Masken. Sie versammelten sich in einem nur mäßig großen, im zweiten Stockwerke des Dogenpalastes befindlichen Gemache, das heutigen Tages seine alte Einrichtung leider nicht mehr zeigt. Es muß einen düsteren Anblick gewährt haben; denn seine Wände waren mit dunklem Leder bekleidet, Schränke und Tische aus Nußbaum- und Lärchenholz gefertigt. Eine von der Decke herabhängende Bronzelampe war so eingerichtet, daß sie ihren Schein voll auf den Platz warf, den der Angeklagte einnehmen mußte, den übrigen Theil des Gemaches aber in einem geheimnißvollen Dunkel ließ. Die Zimmerdecke zierten kostbare Gemälde von Tintoretto, welche die vier theologischen Tugenden darstellten – eine beißende Ironie auf die herrschsüchtigen, üppigen und habgierigen Oligarchen, die dort im Dunkel zu Gericht saßen!

Mit der seit dem fünfzehnten Jahrhundert in Italien eingetretenen Verderbniß der Sitten und den Intriguen, welche eifersüchtige fremde Fürsten gegen die vielgehaßte Republik anzettelten, vergrößerte sich die Wirksamkeit des schreckliche Inquisitionsgerichtes mehr und mehr. Mit ihr wuchsen der Argwohn und die Spionage im Solde der Drei, die darauf ausgingen, sich zu Mitwissern aller Familiengeheimnisse, ja eines jeden in der Stadt gesprochenen Wortes zu machen, und da man die Denuncianten meist reich belohnte, so fanden sich Spione in allen Classen der Bevölkerung, selbst unter den Geistlichen, die nicht einmal mehr das Beichtgeheimnis ehrten. Keiner durfte seinem Nächsten trauen; denn nur zu oft bedienten sich Gemeinheit und persönliche Rache der falschen Anklage für ihre schändlichen Zwecke. Den Angeber erfuhr man nie. Er brauchte nur den Zettel, der seine Klage enthielt, in die im Dogenpalast befindlichen marmornen Löwenmäuler – vom Volksmund bezeichnend bocce parlante (redende Mäuler) genannt – zu werfen, um seines Erfolges sicher zu sein.

War das Opfer des Angebers, dessen Proceß der Oeffentlichkeit völlig entrückt war, erst in den Staatsgefängnissen verschwunden, so brauchte er es in der Regel nicht weiter zu fürchten; denn frei kam so leicht Niemand vor einem Gerichte, dessen Schreiber der einzige Vertheidiger des Angeklagten war. Venedigs Kerker waren fest und verschwiegen. Dennoch hielten es die Drei in vielen Fällen für gerathen, die ihnen Mißfälligen ganz bei Seite zu schaffen. Wollte man ein Exempel statuiren, so hängte man den Verbrecher, das Gesicht verhüllt und auf der Brust eine Tafel, welche seine Schuld, nicht aber seinen Namen nannte, nächtlicher Weile zwischen den beiden Säulen der Piazetta auf – ein Verfahren, welches an das der Vehme erinnert. War hingegen Heimlichkeit am Platze, so ward der Verurtheilte in seinem Kerker erwürgt und sein Leichnam in den verrufenen vom Volke mit Schauder betrachteten Canal Orfano geworfen.

Mit der Einsetzung des Rathes der Drei hatte sich der venetianische Staat bis zur letzten Consequenz entwickelt. Und in dieser letzten Entwickelung sehen wir ihn als eine egoistische, herzlose Adelsherrschaft die beständig für ihr Dasein zittern und dieses durch starre Härte und gesteigerte Wachsamkeit zu erhalten suchen mußte. Ein ursprünglich weise berechnetes, weit verzweigtes System von Collegien, welches, gegenseitiger Controlle unterworfen, nirgends selbstständige Glieder auswies, diente jetzt nicht mehr dem allgemeinen Wohle, sondern nur noch der eifersüchtigen Aufrechthaltung engherziger Interesse einzelner Gewalthaber. Ein Organismus, dem niemals frisches Leben zuströmen kann, auf welchem zudem der Fluch des Geheimnisses lastet, wird schließlich zum traurigsten aller Zustände, zu Stillstand und Fäulniß gelangen. Und dies war auch das Schicksal Venedigs, dessen Jahrhunderte lang andauerndem Todeskampf zuletzt das Machtwort des corsischen Eroberers ein Ende machte.

Ein treues Bild des bereits an seinen inneren Schäden schwer erkrankten venetianischen Staatslebens, zu einer Zeit, da auch die äußere Macht Venedigs durch die Osmanen und sein Reichthum durch englische und holländische Kauffahrer empfindliche Einbuße erlitten hatten, ein Bild, das geeignet ist alle poetischen Illusionen über die geschilderten Zustände zu zerstören, liefert der Cooper’sche Roman „Der Bravo“. Der amerikanische Schriftsteller schildert das damalige Venedig und sein Leben mit düsteren Farben mit zu düsteren vielleicht; denn er scheint manchmal zu vergessen, daß dieselben Einrichtungen und Gesetze, deren Immoralität und Unmenschlichkeit er uns an traurigen Beispielen nachweist, vor ihrer späteren Ausartung Venedig groß gemacht haben. Doch läßt sich so ziemlich alles, was er aufstellt, mittelst gleichartiger Fälle beweisen. Noch existirt ein langes Verzeichniß der Grundsätze, welche das geheime Tribunal zur Richtschnur seiner Handlungen nahm, sowie eine Reihe von Regierungsmaximen, von den Franzosen in Venedigs Archiven aufgefunden, welche uns das tyrannische und eigennützige Verfahren des Staates und namentlich das erbarmungslose Wirken der Drei in erschreckend klarem Lichte zeigen.

Unter einem „Bravo“ verstand man in Venedig einen Menschen, der aus dem Meuchelmord ein Geschäft macht und sein Stilet im Dienste eines Jeden gegen einen Jeden arbeiten läßt. Die venetianischen Edelleute machten häufig von diesem Mittel, sich unbequemer Gegner zu entledigen, Gebrauch, und auch die Regierung soll es zu Zeiten nicht verschmäht haben. Cooper’s Held ist aber nur dem Scheine nach ein Bravo, in Wirklichkeit ein edeldenkender, armer Mensch, der durch schändliche Intriguen gezwungen wird, der von ihm tödtlich gehaßte Inquisition als Agent und Spion zu dienen. Geflissentlich in den Ruf eines Meuchelmörders gebracht, wird er als solcher auch verurtheilt, als die herzlose Politik seiner Quäler dieselbe nöthigt, ihr bisheriges Werkzeug fallen zu lassen. Die spannende Erzählung, deren tragisches Ende erschütternd wirkt, dürfte auch in Deutschland hinreichend bekannt sein, um diese kurzen Andeutungen genügend erscheinen zu lassen.

[343] Cooper's Tendenz wendet sich vorzugsweise an das nordamerikanische Leserpublicum, das er ausdrücklich warnt, „in dem Namen Republik eine Aehnlichkeit mit den gerechten und daher populären Institutionen seines eigenen Landes zu finden“. Er will darlegen, „wie die Menge in den Netzen einer Geheimpolitik sich verfängt“, und „was die Nichtverantwortlichkeit einer aristokratischen Regierungsform heißen will“. Seine Anschauung gipfelt in dem Satze: „Die Lüge ist die Mutter aller Verbrechen, und nie hat sie einen zahlreicheren Nachwuchs, als wenn sie ihren Ursprung vom Staate selbst ableitet.“

Der beifolgende Holzschnitt, nach einem größeren Aguarell Karl Werner’s gefertigt, behandelt eine der Hauptscenen des eben besprochenen Romans. Er zeigt uns den vorgeblichen Bravo vor dem Rathe der Drei. Mit edlem Freimuthe steht der Unglückliche, der das ganze Truggewebe, in das er verstrickt ist, klar durchschaut und wohl weiß, daß sein Untergang bereits beschlossen ward, unter der ihn hell bestrahlenden Lampe. Er kennt ja längst den Dank, den San Marco für seine Diener hat, und verschmäht es, durch Bitten oder Lügen sein Leben von solchen Richtern zu erkaufen.

Karl Konrad.




Republikanische Hofetiquette.
Ein amerikanisches Sittenbild.

Wer etwa glauben wollte, daß es in dem „Weißen Hause“ in Washington, der Wohnung des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, ganz in demokratisch-republikanischer Einfachheit zugehe, und daß aus diesem Gebäude alle und jede Etiquette verbannt sei, der würde sich sehr irren. Ist auch der oberste Executivbeamte der großen Republik nur ein „König im Frack“, wie er oft wegen der großen ihm eingeräumten Rechte und Gewalten genannt wird, so gelten doch auch in seinem bürgerlichen Hause Regeln, welche denjenigen sehr nahe kommen, die in einer fürstlichen Hofhaltung üblich sind. Vor der Gründung des nordamerikanischen Freistaates waren die Hauptstädte der Colonien die Sitze von ebenso vielen Hofhaltungen der Gouverneure, an denen goldgestickte und besternte Uniformen und kostbare Damentoiletten glänzten, und als nach Beendigung des Unabhängigkeitskrieges die Frage: „Ob Republik oder Monarchie“, endlich zu Gunsten der ersteren entschieden und General Georg Washington zum Präsidenten erwählt worden war, fiel zwar der königliche Aufwand, aber keineswegs die königliche Etiquette weg.

Der „Vater des Vaterlandes“ war seiner Geburt, seiner Erziehung und seinem ganzen früheren Leben nach in gesellschaftlicher Hinsicht aristokratisch angelegt, so sehr er auch in politischer Beziehung ein grundsätzlicher Republikaner gewesen sein mag; so lange er an der Spitze der Regierung stand, war von seinem Hause alles, was an demokratische Gleichheit angestreift hätte, streng verbannt. Der Sitz der Regierung war in den ersten Jahren der Republik in New-York, und dort, wo kurz vorher die englische Aristokratie, Officiere und Civilisten, den gesellschaftlichen Ton angegeben, hielt Georg Washington „republikanischen Hof“, wie die damalige „Gesellschaft“ es selbst gerne mit besonderem Stolze ausdrückte. Mit gepudertem Haupte, in kurzen Beinkleidern und Schnallenschuhen mußte erscheinen, wer zu dem republikanischen Hofe und seinen Festlichkeiten zugelassen war, und der einzige merkbare Unterschied zwischen früher und jetzt war die blaue Officiersuniform, welche die Stelle der rothen eingenommen hatte.

Besonders bemerkenswerth waren zu damaliger Zeit die Neujahrsempfänge des Präsidenten, „Präsidenten-Levers“ genannt, bei denen jedoch nur die hohen Civil- und Militärwürdenträger, die fremden Gesandten, die Mitglieder des Congresses und sonstige ausgezeichnete, an dem republikanischen Hofe eingeführte Personen mit ihren Damen erschienen, während alle Andern von der Betheiligung an diesem Empfange ausgeschlossen waren. Diese Hofetiquette hat sich nicht nur während der zwei Regierungstermine Georg Washington’s, sondern auch unter seinen Nachfolgern in der Präsidentschaft erhalten, bis General Andrew Jackson zum obersten Regierungsbeamten erkoren wurde. Jackson, der Sieger in der Schlacht von New-Orleans und im Seminolenkrieg, war keineswegs der Mann der Etiquette. Er hatte als junger Advocat eine verheirathete Frau entführt, war mit ihr geflohen, und nachdem der verlassene Ehemann eine Scheidung erwirkt, hatte er sich mit ihr ehelich verbunden. In New-Orleans hatte er wenige Tage vor der Schlacht das Kriegsgesetz proclamirt, einige unzufriedene Bürger verhaften lassen, und als Richter Hall mit einem Habeas-Corpusbefehl einschreiten wollte, ließ er diesen selbst in’s Gefängniß werfen. Nachdem die Engländer geschlagen und New-Orleans gerettet war, verurtheilte ihn derselbe Richter Hall wegen Ungehorsams gegen die richterliche Autorität (contempt of court) zu einer Geldstrafe von eintausend Dollars, welche der siegreiche General ohne alle Weigerung bezahlte. Jackson führte einen Ton in der Stadt Washington und im „Weißen Hause“ ein, welcher von dem am „republikanischen Hofe“ gewohnten grell abstach.

Schon am Tage von Jackson's Regierungsantritt, bei der feierlichen Einführung in’s Amt, muß es im „Weißen Hause“ arg zugegangen sein, wenn die Beschreibung, welche ein Zeitgenosse, Richter Story, davon macht, nicht übertrieben ist. „Die verschiedensten Personen,“ sagt Story, „hatten sich eingefunden, die feinsten Leute, wie die gemeinsten Kerle. Um den Präsidenten zu sehen, sprangen sie mit ihren dicken, schmutzigen Stiefeln auf die seidenen Stühle und kauten dabei ihren Tabak. Erfrischungen standen und lagen in Massen bereit, unter Anderem ganze Fässer voll Orangenpunsch. Als die Aufwärter herbeikamen, um das Getränk herumzureichen wurden sie von der Menge wild angefallen. Man zerbrach die Gläser; der Punsch schwamm auf dem Estrich. Alles schrie und lärmte, drängte und stieß laut und bunt durch einander. Es war für die Diener ganz unmöglich, durchzudringen und auch den im Hintergrunde mit Ungeduld harrenden Damen einige Erfrischungen zu bringen. Endlich rollten sie die Fässer mit Punsch hinab in die Gärten, um die Menge dorthin zu locken. Es war ein widerlicher, gräßlicher Anblick; die Regierung des Pöbelkönigs hatte begonnen.“

Unter Jackson’s Präsidentschaft scheint das Volk auch zum ersten Male zum Neujahrsempfange zugelassen worden zu sein, wobei es, wenn auch nicht so bunt, wie am Inaugurationstage, doch immerhin sehr plebejisch zugegangen sein muß. Der Präsident ließ nämlich im sogenannten Ostzimmer den Neujahrsgratulanten einen großen Käse aufstellen von dem sich Jeder, so viel er wollte, herunterschneiden konnte, und von dem die Abfälle, wie die gesellschaftliche Chronik aus jener Zeit meldet, auf den kostbaren Teppichen zertreten wurden.

Standen schon diese Anfänge der Verwaltung des Präsidenten Jackson in scharfem Gegensatze zu dem aristokratischen Tone, der zu Washington’s und seiner unmittelbaren Nachfolger Zeiten an dem „republikanischen Hofe“ herrschte, so sollten bald durch eine verrufene Frau nicht blos scandalöse Störungen in das höhere gesellschaftliche Leben der Bundeshauptstadt gebracht werden, sondern es wurde selbst eine Auflösung des Cabinets dadurch herbeigeführt. Der Präsident hatte nämlich, trotz des energischen Abrathens seiner Freunde, mit der ihm eigenen Halsstarrigkeit einen schlecht beleumdeten Major und Advocaten, Namens Eaton, zum Kriegsminister ernannt. Dieser Eaton hatte die Wittwe eines Zahlmeisters der Kriegsflotte geheirathet, die Tochter eines Wirthes der Bundeshauptstadt, welche sich durch ungemeine Schönheit, aber auch durch freches Benehmen auszeichnete und nur unter dem Namen „die Pompadour“ oder „die Aarons-Schlange“ bekannt war; sie wurde begreiflicher Weise von den Gemahlinnen der anderen Minister und überhaupt von der vornehmen Welt in den gesellschaftlichen Bann gethan und nur in den Häusern derjenigen fremden Gesandten zugelassen, die keine Frauen hatten. Als der Präsident endlich soweit ging, seinen Ministern über ihr Benehmen gegen die Frau des Kriegsministers Vorstellungen zu machen, wurde ihm bemerkt, daß in Familienangelegenheiten die Herren Minister keine Einmischung, selbst nicht von Seiten des Oberhauptes der Republik, duldeten. Die Auflösung des Cabinets, freilich unter Angabe anderer Gründe, war der Schlußact dieses Skandals am demokratischen Hofe des „Pöbelkönigs“.

In neuerer Zeit ist dies nun freilich alles anders geworden. Von Hofskandalen hat man seit Jackson’s Zeiten nie wieder gehört,

[344] und namentlich der letzte Präsidentenhaushalt konnte in jeder Beziehung dem amerikanischen Volke als ein nachahmungswürdiges Muster dienen. Demokratische Einfachheit und fürstliche Etiquette finden sich im Weißen Hause, wenn auch nicht verschmolzen, doch neben einander gereiht. Wenn auch weder Fässer mit Orangenpunsch noch Käselaibe zur Bewirthung des Volkes aufgestellt werden, so hat doch jeder anständig gekleidete, nüchterne und sauber gewaschene Mensch freien Zutritt in das Wohngebäude des Präsidenten und zu den gewöhnlichen Audienzstunden von Morgens zehn bis Nachmittags zwei Uhr zu dem Präsidenten selbst. Man kann dort täglich, namentlich zur Zeit der Congreßsitzungen, Schaaren von Bürgern und Bürgerinnen, oft unter Führung des Congreßrepräsentanten ihres Bezirks, das Audienzzimmer betreten und dem Präsidenten durch ein Schütteln der Hand ihre Achtung bezeigen sehen, und während der Saison - das heißt im Januar und Februar - giebt die Gemahlin des Präsidenten öffentlichen Empfang, welcher jeden Samstag von drei bis fünf Uhr Nachmittags stattfindet. Um diese Zeit sind alle Empfangszimmer geöffnet, und Vornehm und Gering, Reich und Arm hat Zutritt und marschirt im Zuge bei der Präsidentin vorbei, welche, von den besonders hierzu eingeladenen Damen der Minister, Senatoren und sonst bevorzugter Personen umgeben, jedem und jeder Besuchenden die Hand giebt und sich mit Einzelnen unterhält.

Eigentliche Staatsdiners giebt es wenige, und da die Gemahlin des vorigen Präsidenten Hayes in ihrem Hause den Gebrauch von Wein nicht duldete, so waren diese Diners in der letzten Zeit fast ein Gegenstand der Verspottung. Nur als vor einigen Jahren die russischen Großfürsten mit dem russischen Kriegsgeschwader in die amerikanischen Gewässer kamen und ihnen zu Ehren ein Gastmahl im Weißen Hause gegeben wurde, setzte es der Staatssecretär durch, daß trotz der Schrullen der Frau Präsidentin den Gästen, wie dies bei solchen Gelegenheiten an königlichen Tafeln gebräuchlich, Wein credenzt wurde, während der Präsident selbst und seine Familie sich mit Kaffee begnügten.

Außer einigen Empfangsabenden des Präsidenten, zu denen Jedermann Zutritt hat, findet einmal im Winter zu Ehren des diplomatischen Corps ein Lever statt, zu welchem nur die höheren Civil- und Militärwürdenträger, die Mitglieder des Senates und Repräsentantenhauses und hervorragende Bürger mit ihren Familien eingeladen werden. Das Ceremoniell ist dem bei fürstlichen Soirées sehr ähnlich. Die Gäste ziehen bei dem Präsidenten und seiner Gemahlin vorüber und werden von dem als Ceremonienmeister fungirenden Beamten aus dem Haushalte dem Präsidenten vorgestellt, welcher dem so Vorgestellten die Hand reicht und ihn dann seiner Gemahlin vorstellt. Im Uebrigen geht es so wie etwa an dem gastfreundlichen Hofe des Königs von Sachsen zu.

Die hauptsächlichste officielle Feierlichkeit, bei welcher förmliche Hofetiquette mit republikanischer Einfachheit Hand in Hand geht, ist der Neujahrsempfang im „Weißen Hause“. Wie in den monarchischen Residenzstädten durch gedruckte Hof-Ansagen, so wird in der Bundeshauptstadt der Vereinigten Staaten das am ersten Tage des neuen Jahres in dem Hause des Präsidenten zu beobachtende Ceremoniell in den Zeitungen bekannt gemacht. Zu dieser Feierlichkeit wird das „Weiße Haus“ mit Allem, was die Treibhäuser des botanischen Gartens, des landwirthschaftlichen Departements und der mit der Präsidentenwohnung verbundenen Gärten liefern können, geschmückt und die Musikcapelle des Marinecorps in ihren glänzenden Uniformen in der geräumigen Vorhalle stationirt, damit sie während des Empfanges durch Vorträge nationaler Melodieen die feierliche Stimmung erhöhe.

Statt der an fürstlichen Höfen bei solchen Gelegenheiten aufgestellten Livréebedienung fungiren hier Polizisten der Hauptstadt in ihren einfachen, aber kleidsamen Uniformen, um sowohl vor als in dem Hause ordnend und leitend einzugreifen. Der Empfang, welcher programmgemäß vier Stunden dauert, von denen die beiden ersten den officiellen Persönlichkeiten und die beiden letzten dem Volke gewidmet sind, wird um 11 Uhr Vormittags durch die Cabinetsmitglieder und das diplomatische Corps eröffnet, denen in Zwischenräumen von je 15 Minuten die Mitglieder des obersten Bundesgerichtes, die Senatoren und Congreßrepräsentanten, dann die Officiere der Armee und Flotte und die sonstigen höheren Beamten folgen. Wenn man die glänzenden Uniformen der Diplomaten und die nicht minder glänzenden der höheren Armee-Officiere bei dieser Gelegenheit betrachtet, so möchte man wirklich zweifeln, ob man an einem „republikanischen Hofe“ sich befindet.

Um 1. Uhr des Nachmittags wird das Haus dem Volke geöffnet, und jetzt beginnt der echt demokratische Theil des Festes. Jeder anständig aussehende Mensch, Mann oder Frau, hat jetzt Zutritt zu dem obersten Beamten des Landes. In langen unabsehbaren Reihen, ohne Unterschied des Ranges oder des Standes, der Hautfarbe oder des Geschlechtes, in vollkommen demokratischer Gleichheit, bewegen sich die Bürger und Bürgerinnen durch die Säle und schütteln im Vorbeizuge ihrem Präsidenten die Hand, welcher, umgeben von seiner Familie und den geladenen Damen, mit derselben freundlichen Miene, die er für den reichsten Bürger zur Verfügung hat, den armen anspruchslosen Neger und Schuhputzer begrüßt. Wer dir heute Morgen den Bart geschoren oder die Stiefel geputzt, ist jetzt vielleicht dein Vormann in der Reihe; denn er ist früher als du auf dem Platze gewesen und die Neuankommenden haben sich dem Ende der Reihe anzuschließen.

So wird man empfangen „am Hofe“ der durch die Werke der friedlichen Arbeit gewaltig emporwachsenden amerikanischen Republik.

L. B.




Deutschlands Kampf mit der Nordsee.
Wie wir unsere Nordsee-Inseln schützen.

Während der Festländer den klaren Landsee oft mit einem Auge vergleicht, nennt umgekehrt der seegewohnte Küsten- und Inselbewohner viele jener Eilande, welche unsere Nordseeküste umsäumen, in poetischer Deutung des Bildes, das sie gewähren, „Oog“, d. h. Auge. Wangeroog, Spiekeroog, Langeoog bringen in der letzten Silbe ihres Namens jenen Vergleich zum Ausdruck. Und wahrlich! als ob ein Stück Meeresboden, müde der ewigen Nacht, einmal einen Blick hätte hineinwerfen wollen in die sonnenbeschienene Welt, so ragen die grauen Dünenhäupter aus den Fluthen empor - unheimlich und fremdartig.

Wie ein gelblicher Streifen zieht sich, an hellen Tagen vom Festlande aus deutlich erkennbar, jene Inselkette längs der Küste hin. In starrer Eintönigkeit reiht sich ein Eiland an das andere, von diesem getrennt durch einen breiten Wasserstreifen, das sogenannte „Seegat“.

Es ist ein seltsames Gemälde, das sich beim Betreten einer dieser Inseln vor uns entrollt. Weithin erstreckt ein grauer Strand sein ungastliches Gestade, und halb im Sande versunken, lagern die Gerippe einiger Wracks, deren dunkle Umrisse sich scharf abheben von der blendenden Sandfläche. Allmählich steigt diese empor, den Uebergang zur eigentlichen Insel, den Dünen, bildend, und statt des üppigen Grün, das in den reichen Marschgegenden des benachbarten Festlandes das Auge erquickt, fristet hier nur der Sandhafer ein kümmerliches Dasein. Finster und ernst blicken die Sandriesen hinab auf die weite See, zu ihren Füßen aber rauscht die Brandung ihr eintöniges Lied - heute wie vor Tausenden von Jahren. Alles schweigt ringsum, nur der unangenehme Schrei einer Möve unterbricht hin und wieder die traurige Einförmigkeit. Der Geist der Verlassenheit lagert über dieser Landschaft, die, jeder Cultur unzugänglich, dazu bestimmt erscheint, zahllosen Schiffen und Seeleuten ein frühes Grab zu bereiten.

Und doch sind gerade diese Inseln für unser Vaterland von unschätzbarem Werth; denn wie gewaltige Forts einer Festung erheben sie sich vor unseren Küsten und gestatten dem drohenden Feinde, der stürmischen Nordsee, nur einen schmalen Durchgang durch die sie trennenden Zwischenräume, die „Seegaten“. Zweimal täglich ergießt das Meer durch diese Oeffnungen hindurch seine Fluthen über das zwischen der Inselkette und den Deichen des Festlandes belegene Fluthgebiet, und ebenso oft innerhalb vierundzwanzig Stunden strömen jene Wassermassen in die eigentliche See zurück. Ihr Kommen und Gehen ist an ewige Gesetze gebunden; denn mit dem Augenblick der tiefsten Ebbe beginnen die Fluthen hinein zu brausen auf das Watt, um nach genau sechs Stunden und zwölfeinhalb Minuten den umgekehrten Weg anzutreten und nach Verlauf derselben Zeit abermals zurückzukehren.

[345] So geht es fort in ewigem Wechsellauf, und mühelos läßt sich genau die Stunde bestimmen, in welcher an einem beliebigen Tage nach Hunderten von Jahren das Wasser an einem bestimmten Punkte der Küste seinen höchsten Stand erreichen wird. Ich sage an einem bestimmten Punkte; denn nicht an allen Stellen unserer Küste tritt der höchste, beziehentlich der niedrigste Wasserstand zur selbigen Stunde ein, vielmehr ist dieser Eintritt abhängig von der geographischen Lage eines jeden einzelnen Punktes.

Es leuchtet ein, daß die dem Ocean entstammende Fluthwelle die westlichsten unserer Inseln und somit die hinter diesen belegene Küste früher erreichen wird, als die weiter östlich gelegenen, und so hat denn auch, um ein Beispiel anzuführen, Wangeroog an demselben Tage erst um neuneinviertel Uhr Hochwasser, wo dasselbe bei Borkum bereits um neuneinviertel Uhr eingetreten ist.

Die Niveaudifferenz zwischen höchster Fluth und niedrigster Ebbe innerhalb einer „Tide“ beträgt an unseren Nordseeküsten durchschnittlich 2,4 Meter. Multiplicirt man mit dieser Zahl den Flächenraum der Wattstrecke, welche sich hinter jeder Insel befindet, so erhält man einen Begriff von der Wassermasse, welche sich alltäglich zweimal durch ein „Seegat“ auf das Watt und damit gegen die Küsten ergießt.

Daß die einströmenden Fluthen bei stürmischem Wetter oft das Doppelte, ja sogar das Dreifache der genannten Höhe erreichen, möge nur nebenbei Erwähnung finden; denn die erst vor Kurzem von der „Gartenlaube“ gebrachte ausführliche Schilderung der verheerenden Wirkung der Sturmfluthen (vergl. Jahrg. 1880, Nr. 51) erspart uns hier ein genaueres Eingehen auf diesen Gegenstand.

Wie gewaltig aber auch die See, in ihren innersten Tiefen aufgewühlt vom stürmischen Nordwest, einherbraust gegen das flache Land, es vermag doch nur ein Theil derselben, dank der schützenden Inselkette, das Watt und damit die Küstendeiche zu erreichen, und auch dieser erreicht sein Ziel nur in gebrochener Kraft. So sind denn unsere Inseln unzählige Mal die Retter des bedrohten Festlandes gewesen.

Gleich einem Feinde aber, der zunächst die schützenden Forts zu vernichten strebt, um sich alsdann mühelos der belagerten Veste zu bemächtigen, arbeitet auch das Meer unablässig an der Vernichtung der sich ihm in den Inseln entgegenstellenden Bollwerke. Jede größere Sturmfluth reißt Bresche in die schützenden Dünenketten, und rastlos geschäftig arbeiten in den Zwischenpausen die Strömungen an der Beseitigung der Trümmer. Unmerklich führen sie dieselben fort, um sie tief am Grunde des Meeres wieder abzulagern - so ebnen sie sich den Weg für weitere Erfolge.

Dünenschutzwerke auf den deutschen Nordsee-Inseln.
Nach einer Skizze auf Holz gezeichnet von Rudolf Cronau

Ganze Inseln sind auf diese Weise ein Opfer der Fluthen geworden. Die noch im vorigen Jahrhundert vorhandenen Eilande Bandt und Büse sind jetzt völlig verschwunden, Juist und Langeoog in der Mitte durchbrochen. Auch ein großer Theil der Insel Wangeroog mit Einschluß des ganzen nicht unbedeutenden Dorfes wurde durch den Sturm vom 1. Januar 1855 vernichtet. Nur der mächtige, jetzt rings von den Fluthen umgebene Kirchthurm blieb erhalten und bezeichnet die Stätte, wo einst dieses Dorf gestanden.

Aehnliche, wenngleich nicht so tragische Verluste wie Wangeroog haben die übrigen Inseln unserer Nordseeküste zu verzeichnen. Borkum, Norderney, Baltrum und Spiekeroog - sie alle haben noch in dieser Hälfte des Jahrhunderts nicht unbedeutende Strecken ihrer Dünenketten eingebüßt. Die völlige Vernichtung aller dieser Eilande erschien nur noch eine Frage der Zeit, und für die Bewohner der Inseln und der Küstenstriche eröffnete sich eine düstere Zukunft. Da reichten in letzter Stunde die Regierungen der in Mitleidenschaft gezogenen Staaten den schwer Bedrängten die rettende Hand.

Wie am Festlande selbst, so beschlossen sie in richtiger Erkenntniß der Gefahr, auch auf den Inseln den Kampf gegen das verheerende Element aufzunehmen und durch Erhaltung derselben die Küste selbst zu retten.

Das erste energische Vorgehen in dieser Richtung bleibt das Verdienst der früheren hannoverischen Regierung. Zwar waren schon seit Anfang des vorigen Jahrhunderts von den ostfriesischen Ständen Gelder für die Unterhaltung der Inseln bewilligt worden. Dieselben erwiesen sich indeß als nicht entfernt ausreichend, und die zum Theil durch aus Holland herbeigerufene Sachverständige, durch sogenannte „Dünemeiers“, angelegten Werke noch weniger.

Ein mit den nöthigen Mitteln und genauer Sachkenntniß unternommener Versuch, der Vernichtung der Inseln Einhalt zu thun, wurde erst in diesem Jahrhunderte zu Ende der fünfziger Jahre, und zwar auf Norderney gemacht. Unter Besiegung der mannigfachsten Schwierigkeiten wurde das kühne Werk glücklich durchgeführt, und noch heute gelten die dortigen Anlagen als Muster.

Als später jene Inselkette in den Besitz der preußischen Regierung gelangt war, wurde von dieser im Laufe des letzten Jahrzehntes auch die Befestigung der übrigen meist bedrohten Inseln kraftvoll gefördert. Borkum, Baltrum und Spiekeroog wurden durch mächtige Bollwerke gesichert, an deren Vollendung noch heute gearbeitet wird. Auch von der oldenburgischen Insel Wangeroog suchte man zu erhalten, was man noch besaß. Unter Mitwirkung des Reiches wurden hier die erforderlichen Schutzbauten angelegt, da dieses, wohl nicht mit Unrecht, durch die Vernichtung des Eilandes die Versandung der Einfahrt des Jahdebusens, und somit der Einfahrt zu dem für kriegerische Zwecke bebauten Wilhelmshafen, befürchtete.

Die Werke selbst, welche auf den genannten Inseln bereits [346] ausgeführt worden oder noch in der Ausführung begriffen sind, bestehen, wenngleich verschieden in den Einzelheiten der Construction, im Wesentlichen aus zwei Haupttheilen, aus den eigentlichen Dünenschutzwerken und einem System von sogenannten Buhnen. Auf sämmtlichen Eilanden befinden sich dieselben an der Nordwest- und Westseite, da erfahrungsgemäß von dieser Seite her die Zerstörung erfolgt.

Den Zweck der Dünenschutzwerke verräth schon ihr Name. Es sind kräftige Bollwerke, dazu bestimmt, die Gewalt der Wellen von den wenig widerstandsfähigen Dünen fern zu halten. Dem entsprechend ziehen sich dieselben innerhalb des Gebietes von Ebbe und Fluth am Fuße der letzteren entlang, stets bereit den Anprall der Wogen aufzunehmen. Mit den Deichen des Festlandes haben sie nichts als den Zweck gemein, und auch diesen nicht in jeder Beziehung; denn, während jene dazu bestimmt sind, den Wogen jedes Betreten des fruchtbaren Binnenlandes zu verwehren, haben die Dünenschutzwerke oft nur den Zweck, als Wellenbrecher zu dienen, da die hinter ihnen liegenden Dünen alsdann genügen, den gebrochenen Fluthen eine Grenze zu setzen. Nur wo jene fehlen, müssen die Dünenschutzwerke dieselbe Function wie die Deiche des Festlandes übernehmen. In jedem Falle aber bleibt die Construction beider eine wesentlich verschiedene.

Statt der einfachen Klaideiche mit ihrer Decke aus Strohgeflecht, die sich dem gewaltigen Anprall der unmittelbar aus dem Becken der Nordsee einherstürmenden Wogen gegenüber als viel zu schwach erweisen würde, gelangt bei den Dünenschutzwerken schweres Mauerwerk aus Ziegel-, Bruch- oder Quadersteinen und aus Beton zur Verwendung, dessen Stärke häufig einen Meter übersteigt. Besondere Sorgfalt wird auf die Fundirung derselben verwendet.

Die Höhe der Werke ist je nach ihrem Zweck eine verschiedene. Sollen sie zugleich als Deiche dienen, so steigt dieselbe auf 5 Meter und mehr über den normalen Hochwasserstand. Bei den eigentlichen Wellenbrechern dagegen ist die Höhe des Steinkörpers eine erheblich geringere; denn letzterer übersteigt die tägliche Fluth nur um 1,5 - 2 Meter. Um die Wirkung dieser Wellenbrecher zu erhöhen, befindet sich inmitten des Steinkörpers ein tief hinabreichendes starkes Pfahlwerk eingerammt und eingemauert, das diesen noch etwa um 2,5 Meter überragt. Obwohl sie den Fluthen in ihrem oberen Theile den Durchgang nicht ganz verwehren, genügen doch derartige Bollwerke, um auch bei den stärksten Stürmen die Kraft der See zu brechen, während die runde Beschaffenheit der Pfähle den Wellen selbst eine ungünstige Angriffsfläche bietet. Dünenschutzwerke nach diesem Princip haben aus Borkum, Norderney, Baltrum und Spiekeroog Anwendung gefunden.

Den zweiten Haupttheil sämmtlicher Inselbefestigungen machen, wie bereits bemerkt, die Buhnen aus. Ihre Aufgabe besteht darin, der geräuschlosen, aber darum nicht minder gefährlichen Thätigkeit der Strömungen entgegenzutreten und dadurch die Erhaltung des vor den Dünenschutzwerken befindlichen Strandes zu sichern; denn mit der Vernichtung des letzteren müßten auch jene unfehlbar unterwühlt und dadurch ein Opfer der Fluthen werden. So schützen also die Buhnen die Dünenschutzwerke, diese wieder die Inseln und die letzteren endlich die Küste.

Rechtwinklig zu den Schutzwerken und am Fuße derselben beginnend, erstrecken sich die Buhnen weit hinaus in die See, während ihre Breite zwischen sechs und elf Metern wechselt und ihre Länge gewöhnlich 150 Meter beträgt. Ebenso groß ist die seitliche Entfernung derselben von einander. Hoch über den Strand hervorragend brechen sie die gegen das Dünenschutzwerk gerichteten Strömungen, und indem sie diese dazu zwingen, den Sand, welchen sie mit sich führen, fallen zu lassen, tragen sie nicht wenig dazu bei, den Strand zu erhöhen.

Entsprechend dem Angriff, welchem die Buhnen ausgesetzt sind, ist auch ihre Construction eine besonders kräftige. Ihren Hauptkörper bilden Faschinen, welche, um Unterströmung zu verhüten, tief in den Strand eingegraben sind. Dicht an einander gereihete Pfähle, von denen etwa viertausend Stück auf eine solche sechs Meter breite Buhne kommen, geben demselben genügende Festigkeit und den nöthigen Schutz nach der Seite hin, während eine Quaderdecke den oberen Abschluß bildet. Wie gewaltig die Blöcke dieser letzteren sein müssen, erhellt wohl am besten daraus, daß die See bei stürmischem Wetter Steine von tausend und mehr Pfund Gewicht mit Leichtigkeit von ihrem Platze entfernt und oft Hunderte von Metern mit sich fort führt.

Am gefährlichsten erscheint die Fluth indeß, wenn sie im Winter mit Hülfe gewaltiger Eisblöcke die ihr von Menschenhand gesetzten Schranken zu durchbrechen sucht. Fast ebenso hoch als die ihr entgegenstehenden Werke thürmen sich dann die Eisschollen vor diesen empor und drohen dieselben durch ihre Masse zu erdrücken. Aber eben ihre Masse macht sie weniger gefahrvoll. Sie läßt dieselben zu einem Bollwerk für die Dünenschutzwerke werden und diese dadurch um so leichter allen Gefahren widerstehen.

Es würde uns zu weit führen, wollten wir hier die Mittel besprechen, durch welche es gelungen ist, die vielen Schwierigkeiten zu überwinden, die der Anlage der oben besprochenen Bauten entgegen standen. Möge es genügen zu constatiren, daß dies geschehen. Auf fast allen Inseln unserer Nordseeküste von Borkum bis Wangeroog ragen jetzt festungsähnliche Werke wie die oben geschilderten empor, den bedrohten Theilen sicheren Schutz verleihend. Gar stattlich schauen die Steinkolosse hinab auf den gedemüthigten Gegner zu ihren Füßen, dem sie noch im letzten Augenblick die schon sichere Beute entrissen.

So sind denn auch an der Nordmark unseres Vaterlandes Siege zu verzeichnen über einen Feind, der von Alters her tückisch diese Grenze umlauert und der Opfer wahrlich nicht wenige gefordert hat. Mögen dieselben dauernd sein!




Die Trunksucht und ihre Bekämpfung.
Eine brennende Frage der Gegenwart.
Von Franz Mehring.

Unter allen Genußmitteln ist nächst dem Tabake auf der ganzen weiten Erde keins so verbreitet, wie der Alkohol, und nur die allerrohesten Wilden begnügen sich mit dem Wasser als Getränk. Soweit die geschichtliche Kunde reicht, sagt sie den Völkern aller Zeiten und aller Zonen den Hang zum Genusse berauschender Flüssigkeiten nach. Die verschiedensten Gewächse sind dieser Neigung dienstbar gemacht worden, Rebe und Palme, Mais und Reis, Pfeffer und Zuckerrohr, Hirse und Hopfen, Gerste und Weizen bis hinab zu der bescheidenen Knollenfrucht der Kartoffel. Und wo das Pflanzenreich nicht den nöthigen Stoff darbot, griff man in’s Thierreich über; die alten Germanen bereiteten ihren Meth aus Honig, und Humboldt bewunderte 1829 in den dürren Kalmückensteppen die Spürkraft gewisser Nomadenvölker, die sich aus Stutenmilch alkoholische Genüsse zu verschaffen wußten.

Natürlich ist dieser Hang an und für sich nichts Böses; wer denkt so beschränkt, das edle Naß des Bieres zu schmähen oder gar die köstliche Blume firnen Weines? Unsittlich wird der erlaubte Genuß erst durch das Uebermaß, und hierin waren wir Deutschen freilich von altersher übel berufen. Bekanntlich berichtet schon Tacitus, daß es bei den Germanen als keine Schande gelte, Tag und Nacht immerfort zu trinken; Karl der Große und die späteren Kaiser erließen Verbote über Verbote gegen die Trunksucht, und Martin Luther schreibt über dieses schwere Volkslaster:

„Es muß jedes Land seinen eigenen Teufel haben, Wälschland seinen, Frankreich seinen; unser deutscher Teufel wird ein guter Weinschlauch sein und muß ‚Sauff‘ heißen, der mit so großem Saufen Weins und Biers nicht kann gekühlt werden, und wird solcher, fürchte ich, ewig Deutschlands Plage bleiben bis an den jüngsten Tag.“ Bis heute ist er es geblieben und wüthet auf deutscher Erde recht als ein Feind des menschlichen Geschlechts.

Nicht zwar, als ob jener altväterische Glaube eine volle Wahrheit enthielte, als ob unser nationaler Charakter unrettbar zur Trunksucht neigte! Die eigentliche Wurzel des Uebels liegt vielmehr in den klimatischen Verhältnissen; nicht in Deutschland trinkt man mehr, als etwa in Frankreich und Italien, sondern im Norden überhaupt mehr, als im ganzen Süden. In England und Irland, in Schweden und Norwegen, in Polen und Rußland, also unter den verschiedensten Volksstämmen, Angelsachsen und Kelten, [347] Skandinaviern und Slaven, Finnen und Lappen ist die Trunksucht ebenso und meist noch weit schlimmer verbreitet, als im deutschen Volke. Das rauhere Klima und der unfruchtbarere Boden erheischen ein ungleich größeres Maß anregender, belebender, stärkender Genußmittel, als unter der milden Sonne des Südens nothwendig ist; dies ist der entscheidende Gesichtspunkt der ganzen Frage, den man nie aus den Augen verlieren darf, falls man das entsetzliche Laster der Trunksucht erfolgreich bekämpfen will.

Wenn die höheren Stände unseres Volks soviel mäßiger und nüchterner geworden sind, als im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert, wo die schamloseste Völlerei gerade an Höfen und in Klöstern am ärgsten tobte, so wäre es thöricht anzunehmen, daß wir aus so viel besserem Stoffe gemacht seien, als das gewaltige Geschlecht, welches die Reformation vollbrachte; vielmehr haben uns die riesigen Fortschritte des menschlichen Verkehrs, die massenhafte Zufuhr von Kaffee, Thee, Zucker, von ausländischen Weinen und nicht zuletzt auch die Erfindung, den Alkoholgehalt des Bieres beträchtlich zu vermindern, an ungleich gesundere oder mindestens unschädlichere Stärkungsmittel gewöhnt, als sie in jenen Tagen selbst den reichsten Leuten erreichbar waren.

Freilich dieser Lichtseite eines unverkennbaren Fortschrittes steht eine um so dunklere Schattenseite gegenüber, die man so vor dreihundert oder selbst nur vor hundert Jahren nicht kannte, jener menschen- und völkervernichtende Branntweinteufel, in welchem die Trunksucht unserer Epoche ihre kennzeichnende Gestalt gewonnen hat. Noch im vorigen Jahrhundert wurde in Deutschland nur wenig Branntwein destillirt und zwar nur aus Korn; diese Brennerei beschränkte sich fast nur auf einzelne größere Städte, wie Münster, Nordhausen etc.; zudem ließ man das Getränk jahrelang im Keller liegen, damit es seinen brennenden Geschmack verliere und weniger berauschend wirke. Dieser Stand der Dinge war noch nicht gefährlich; erst die unaufhörlichen Kriege im Anfange dieses Jahrhunderts trugen die Liebe zum Branntwein in jedes Haus, in jede Hütte; die Soldaten suchten in ihm Ermuthigung und Kraft, die Bürger Vergessenheit für ihre Entbehrungen und ihr Elend. Die größere Nachfrage rief Brennereien auch auf dem platten Lande als Nebengewerbe der Gutsbesitzer und Pächter hervor, namentlich in Hannover und Braunschweig, doch auch damit war die Branntweinpest noch nicht geboren, wenigstens nicht in ihrer schlimmsten Gestalt. In dieser Form sprang sie vielmehr, eine gepanzerte Furie, aus dem unscheinbaren Leibe der Kartoffel hervor. Seitdem man entdeckte, daß man Branntwein nicht nur aus Korn, sondern noch lohnender und massenhafter, aber freilich auch viel schlechter, aus Kartoffeln herstellen könne, verzog sich diese Brennerei aus dem kornbauenden Nordwestdeutschland in das kartoffelbauende Nordostdeutschland, in die altpreußischen Provinzen östlich der Elbe und nahm hier einen ungeheuren Aufschwung, und zwar namentlich dadurch, daß die Großgrundbesitzer die Geldentschädigungen, welche ihnen für Ablösung der Frohndienste von den Bauern gezahlt wurden, zur Anlage von Branntweinbrennereien verwandten. Schon 1827 wurden in Preußen 125 Millionen Quart Schnaps gebrannt, in Hannover dagegen, das noch fünfzehn Jahre früher am meisten Branntwein in Deutschland hervorgebracht hatte, nur 18 Millionen Quart.

Diese geschichtliche Entwickelung hat in mannigfacher Beziehung bestimmend auf die deutschen Geschicke gewirkt; ihre moralische Beurtheilung unterliegt allerdings den allerverschiedensten Urtheilen. Herr von Kardorff pries vor einigen Jahren im Reichstage überschwänglich die „Spritindustrie“, wie unsere Junker wohlklingend die Branntweinbrennerei nennen; er rühmte ihr nach, daß sie jetzt 3000 Menschen auf der Quadratmeile ernähre in Gegenden, wo früher nur 1000 Menschen auf gleichem Raume gehaust hätten, daß die Brennereien ein nothwendiger Absatzmarkt für die Kartoffeln seien, indem sie diese schwer zu transportirenden Bodenfrüchte in den leicht transportablen Alkohol verwandelten, und daß sie endlich durch zahlreiche Futterrückstände den Acker fruchtbarer machten. Hiergegen suchte dann freilich der scharfsinnige Socialist Engels mit großem Aufwande von Gelehrsamkeit in einer grimmigen Streitschrift nachzuweisen, daß jene Vermehrung der Bevölkerung nur ein proletarisch verkommenes Helotengeschlecht für den Junkerdienst erzeugt habe, daß der billige und giftige Kartoffelfusel nicht nur ganz Deutschland verheerend überschwemmt habe, sondern auch in großen Mengen exportirt werde, um im Auslande den Cognac, Rum, Wein zu verfälschen, daß die ganze „Spritindustrie“ die deutsche Entwickelung um Jahrzehnte zurückgeworfen habe, theils durch die Entsittlichung und Verwilderung der Massen, theils durch den socialen Rückhalt, den sie dem Junkerthum gebe.

Es kann und soll hier nicht näher auf einen Streit eingegangen werden, der wohl auf beiden Seiten arge Uebertreibungen hervorgerufern hat; soviel steht jedenfalls historisch fest, daß in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts das Branntweintrinken eine grauenvolle Landplage wurde; sie rief in allen vaterlandsliebenden Kreisen die größten Besorgnisse hervor und legte dem greisen Könige Friedrich Wilhelm dem Dritten das treffliche Herrscherwort auf die Lippen, er werde den Tag als den schönsten seiner Regierung segnen, an welchem die Branntweinsteuer keinen Pfennig mehr einbrächte.

Erst allmählich, in den vierziger Jahren, besserten sich diese traurigen Zustände einigermaßen. Sowohl der Fortschritt der nationalen Gesittung, der mehr Licht und Luft in die arbeitenden Classen brachte, wie das freiere Leben im Staate, das sich in mancherlei Fürsorge für die unteren Volksschichten kundgab und diese höheren Zielen nachstreben lehrte, endlich aber auch die Wirksamkeit begeisterter Mäßigkeitsapostel und ähnliche Umstände trugen dazu bei. Aber an der Wurzel wurde das Uebel allerdings nicht gepackt. Der Branntwein blieb das Lieblingsgetränk in den weitesten Kreisen; er galt und gilt noch heute großen Schichten des Volkes als unentbehrlich, und diese Ansicht ist ja kürzlich auch von sehr hoher staatsmännischer Seite vertheidigt worden. Man wird nur an dieser „Unentbehrlichkeit“ zweierlei unterscheiden müssen: Unentbehrlich ist der Branntwein allerdings, so lange er den arbeitenden Classen, sei es wegen der geringen Höhe ihres Lohnes, sei es wegen des hohen Preises anderer Genußmittel, als einziges Erfrischungs- und Stärkungsmittel für Bewältigung schwerer Anstrengungen zugänglich ist. Fällt diese Voraussetzung fort, so ist er schlechthin entbehrlich; denn er wirkt immer schädlich auf Geist und Körper - natürlich mit Ausnahme der Fälle, in denen er als Heilmittel verordnet wird - und muß in jedem Betrachte jedem anderen Genußmittel, wie Bier, Kaffee, Thee etc. nachstehen. So lautet das Urtheil der medicinischen Wissenschaft, und ihr gebührt hierin das entscheidende Wort.

Die Verwüstungen, welche auch heute noch die Trunksucht an dem Organismus des einzelnen Menschen, wie namentlich auch an dem der Gesellschaft anrichtet, sind ganz unabsehbar. Das classische Werk von Baer über den Alkoholismus deckt sie in allen ihren tausendfältigen Verzweigungen auf; hier muß genügen, darauf hinzuweisen, daß die Trunksucht die Ursachen der Krankheiten und der Sterblichkeit erheblich mehrt, daß ein großer Theil der Selbstmorde und ein noch größerer Theil der Geistesstörungen auf sie zurückgeführt werden muß, daß sie sich als die ergiebigste Quelle der Verarmung ganzer Volksschichten darstellt, daß sie alles Familienglück vernichtet, den Sinn für öffentliche Ordnung und Rechtssitte untergräbt, vor Allem endlich, daß ihre verheerenden Wirkungen auf Geist und Körper sich der Nachkommenschaft vererben, somit eine allgemeine Verschlechterung der Rasse herbeiführen und im buchstäblichen Sinne des Worts die Sünden der Väter an den Kindern rächen bis in’s dritte und vierte Glied. In innigster Verschwisterung steht die Trunksucht auch mit dem Verbrechen; seit Jahrzehnten ist in den verschiedensten Gegenden beobachtet worden, daß, je nachdem sie ab- oder zunimmt, auch die Verbrechen ab- oder zunehmen. Die Zahl der Gefangenen, welche mittelbar oder unmittelbar als Opfer der Trunksucht anzusehen sind, wurde 1877 in verschiedenen Anstalten Englands auf sechszig bis neunzig Procent der Insassen ermittelt, und in Deutschland hat der eben erwähnte Doctor Baer unter etwa 33,000 Gefangenen etwa 7000 Gelegenheits- und ebenso viel Gewohnheitstrinker gefunden.

Einen so verderblichen Krebsschaden zu heilen, ist sicherlich ein Ziel, das im höchsten Grade des Schweißes der Edlen werth ist. Die nächstliegende, aber auch äußerlichste und wirkungsloseste Waffe des Staats ist die Bedrohung des Trinkers mit Strafe. Sie ist seit tausend Jahren in den verschiedensten Staaten nach den verschiedensten Methoden gehandhabt worden, aber immer ohne nennenswerthen Erfolg; daß auf diesem Wege niemals eine wesentliche Einschränkung des Lasters selbst erreicht werden kann, giebt sogar die Begründung des neuesten Reichsgesetzentwurfes über die Bestrafung der Trunksucht zu. In die vier Wände des Trinkers kann das Strafrecht niemals dringen; es muß sich darauf beschränken den Schuldigen zu strafen, wenn er auf Märkten und [348] Straßen die öffentliche Ordnung stört. Damit ist aber einerseits außerordentlich wenig erreicht, und andererseits eine große sociale Ungerechtigkeit heraufbeschworen. Eine solche Strafbestimmung fällt fast nur auf die unteren Schichten des Volkes: sie reicht nicht in die „Region des silbernen Pfropfens“, um ein treffendes Wort aus der neulichen Reichstagsrede Albert Traeger’s zu gebrauchen; die Trinker aus den höheren Ständen können sich mit leichter Mühe der Gefahr entziehen, öffentlich in ärgernißerregendem Zustande betroffen zu werden. Hierdurch geräth aber die strafende Wirkung in ein umgekehrtes Verhältniß zur sittlichen Verschuldung; denn ein betrunkener Proletarier wird zwar gemeiniglich einen viel widerlicheren Anblick gewähren, als ein betrunkener Aristokrat, aber thatsächlich ist er doch nur einer viel gefährlicheren Versuchung bei viel geringerer Widerstandsfähigkeit unterlegen, als jener. Eine solche Schärfung der socialen Grundsätze ist gegenwärtig wenig angezeigt, am wenigsten, wenn die Wirkung des ganzen Vorgehens schon an und für sich so außerordentlich zweifelhaft ist.

Eher zu erwägen sind zwei andere Maßregeln gegen den Trinker: Es besteht offenbar ein gewisser Widerspruch zwischen dem geschriebenen Rechte und dem Rechtsbewußtsein des Volkes, wenn ein Verbrecher straflos bleibt, weil er die verbrecherische That in der völligen Bewußtlosigkeit des Trunkes gethan hat. Nach juridischer Logik mag die Sache unanfechtbar sein, aber für das natürliche Gefühl jedes gesitteten Menschen liegt hier zweifellos einer der Fälle vor, in denen „das höchste Recht das höchste Unrecht“ wird. Glücklicher Weise besteht der Widerspruch mehr auf dem Papier, als in der Wirklichkeit. Unsere Richter sind immer außerordentlich behutsam und vorsichtig in der Anwendung jener strafrechtlichen Bestimmung gewesen; trotz allen Spürens und Suchens hat man nur einen unzweifelhaften und etwa ein halbes Dutzend zweifelhafter Fälle entdeckt, in denen unsere Rechtsprechung nach dieser Richtung gefehlt hat. Immerhin bleibt eine gesetzgeberische Vorsorge zu wünschen, daß Verbrechen, die selbst in einer jede Verstandes- und Willenskraft des Urhebers ausschließenden Trunkenheit begangen werden, sich auch nicht einmal auf dem Papier jeglicher strafrechtlichen Ahndung entziehen können.

Die andere, erwägenswerthe Maßregel gegen den Trinker ist die Einrichtung von Trinkerasylen, in denen notorische Trunkenbolde zeitweise unter gewissen Freiheits- und Willensbeschränkungen untergebracht werden können. Bessernd auf den Trinker selbst werden solche Anstalten schwerlich wirken, schon deshalb nicht, weil die Behörden sich so starke Eingriffe in die persönliche Selbstbestimmung nur in solchen Fällen gestatten können und werden, in denen das Laster viel zu weit vorgeschritten ist, um noch heilbar sein zu können. Aber der eingesperrte Trinker ist wenigstens verhindert, die Seinen und damit auch das Gemeinwesen zu schädigen, und hierdurch ist schon viel erreicht. Solche Trinkerasyle sind seit zwei Jahren in England eingerichtet, und ihre Einführung auch in Deutschland ist von der hervorragenden Autorität Virchow’s angeregt worden.

In mancher Beziehung viel aussichtsreicher und wirkungsvoller, als Maßregeln gegen den Trinker, sind Maßregeln gegen das Getränk. Zwar der kürzeste Weg, das Verbot des Brennens und Verkaufens von Branntwein, ist auch hier der schlechteste; sieht man selbst von den mehr oder minder berechtigten Interessen der Landwirthschaft ab, so ist ein Verbot des Branntweinbrennens schon deshalb unausführbar, weil der Alkohol auch massenhaft für arzneiliche und gewerbliche Zwecke gebraucht wird. Wird er aber einmal producirt, so sind auch Beschränkungen in seinem Vertriebe schwer durchzuführen. Einzelne nordamerikanische Staaten haben namentlich den Kleinhandel mit Branntwein verboten, aber damit in keiner Weise die Trunksucht vermindert, sondern nur noch obendrein die entsittlichenden und verwildernden Folgen eines großartigen Schmuggels über die Bevölkerung gebracht.

Wohl aber ist eine hohe Besteuerung der Branntweinproduction, welche namentlich die kleinen, in jedem Betrachte schädlichen und überflüssigen Brennereien beseitigen würde, sehr möglich und sehr nützlich. Wie beschämend weit wir in dieser Beziehung hinter anderen Culturvölkern und selbst hinter dem halbbarbarischen Rußland zurückstehen, beweist die einfache Thatsache, daß die Branntweinsteuer in England über vierzehn, in Holland über sechs, in Rußland fünf, in Schweden vier mal so hoch ist, als bei uns. Hier ist zweifellos ein sehr hoher Sprung angezeigt, ohne daß schon die Gefahr eintritt, in den entgegengesetzten Fehler zu verfallen. Denn eine übertrieben hohe Branntweinsteuer ist allerdings auch zu vermeiden, nicht nur aus Rücksicht auf unsere Landwirthschaft, sondern auch, weil sie unfehlbar eine starke betrügerische Hinterziehung der Steuern hervorruft.

Daneben sind noch wirksame Maßregeln gegen den Schankbetrieb möglich, ohne die gesunden Grundsätze der Gewerbefreiheit zu verletzen. Nur nicht in der Form, daß man die gesammte Gastwirthschaft noch mehr unter das Damoklesschwert der polizeilichen Willkür rückt, als bisher; damit würde nichts gebessert, sondern nur manches verschlimmert werden. Vielmehr sollten die anständigen und reinlichen Lonale etwas weniger geplagt, dagegen die Schnapsbuden etwas stärker unter die Scheere genommen werden. Dieselben werden zwar dem Gewohnheitstrinker, der immer Quellen finden wird, an denen er seine Unmäßigkeit befriedigen kann, nicht den Weg zur Hölle erst pflastern, aber sie wirken verderblich und verführend auf die Gelegenheitstrinker und die heranwachsende Jugend, deren gute Sitten durch böse Beispiele verdorben werden. Der Mittel und Wege, durch welche der Schankbetrieb besser geregelt werden kann, giebt es gar mancherlei; neben Concessionsbeschränkungen, Schanksteuern etc. kann ein Verbot erlassen werden, welches dem Wirth untersagt, an betrunkene und unmündige Personen spirituöse Getränke zu verabfolgen, können die Gewürz-, Specerei-, Vorkostwaarenhandlungen gehindert werden, einen Kleinhandel mit Branntwein zu treiben, kann auch erwogen werden, ob man den Trinkschulden nicht, ähnlich wie den Spielschulden, die Einklagbarkeit nehmen könne, und Aehnliches mehr.

Ungleich wirksamer aber als durch alle die verhindernden und verhütenden Maßregeln, welche betreffs des Getränks und des Trinkers ergriffen werden können, werden die kräftigsten und tiefsten Wurzeln der Trunksucht abgegraben durch die geistige, materielle und sittliche Hebung der arbeitenden Classen. In dieser Beziehung erstreckt sich die Frage der Trunksucht über das ganze große Gebiet der socialen Frage. Hier steckt der eigentliche Kern des Uebels, und einzig durch seine Beseitigung ist eine wirksame Heilung möglich. Die Unmäßigkeit als individuelles Laster kommt ebenso unter den höheren, wie unter den niederen Ständen vor; sie wird immer wieder auftauchen, so lange Menschen eben Menschen sind, aber sie wird in diesen Grenzen einem gesunden und kräftigen Volke nicht gerade viel schaden. Das eigentlich Beschämende an der gegenwärtigen Bearbeitung der Trunksucht unter den modernen Culturvölkern liegt darin, daß die untersten Volksschichten diesem Laster entgegengetrieben werden, nicht weil ihre einzelnen Glieder ungewöhnlich unmäßig sind, sondern weil ihre sociale Lage so hoffnungslos ist, daß sie nur in den dumpfen und wilden Träumen des Rausches einen flüchtigen Schimmer von Erdenglück erhaschen können oder zu erhaschen glauben. Weil sie arm und elend sind, berauschen sie sich, und weil sie sich berauschen, werden sie noch ärmer und elender. Diesen unheilvollen Kreislauf gilt es zu brechen, um die Trunksucht aus ihrer festesten Burg zu vertreiben.

Die Größe und Weite dieser Aufgabe verbietet von selbst, alle Möglichkeiten ihrer Lösung auf engen Raume aufzuzählen. Es kann eben nur gesagt werden, daß jede Maßregel, welche auf die Hebung der arbeitenden Classen abzielt, zugleich das Laster der Trunksucht in’s Herz trifft. Bessere Erziehung und Schulbildung, Fortbildungsschulen, Volksbibliotheken, in großen Städten auch leicht zugängliche Kunstsammlungen, billige Theater, Arbeitervereine und gesundere Wohnungen erobern Schritt für Schritt den weiten und wüsten Raum, den jetzt noch das zerstörende Scepter des Alkohols beherrscht. Natürlich findet auch hier die Selbfthülfe der Gesellschaft ein weites Feld segensreicher Wirksamkeit, wobei namentlich auf Fabrik- und Gutsbesitzer, Aerzte und Lehrer, wie auch auf gemeinnützige Vereine aller Art gerechnet werden muß; eine offene Frage bleibt es, ob die Wiederbelebung der besonderen Mäßigkeitsgesellschaften angezeigt und nützlich ist. Die frömmelnde und muckerische Richtung, welche diese Vereine annahmen, hat sie den gebildeten Classen mehr entfremdet und ihren Namen verrufener gemacht, als ihre theilweise sehr fruchtbare und glänzende Wirksamkeit verdiente. In erster Reihe aber wird der Staat dafür zu sorgen haben, daß gesunde und kräftige Nahrung den arbeitenden Classen so zugänglich wie möglich gemacht wird. Der Geheime Rath Finkelnburg, ein hochstehender Reichs-Medicinalbeamter, sagt in einem Vortrage über die Trunksucht: „Sowohl jede directe Besteuerung wie indirecte Vertheuerung unserer naturgemäßen Lebensmittel, namentlich auch die Vertheuerung des Fleisches

[349]

Der Topfbinder.
Nach seinem Originalgemälde auf Holz gezeichnet von O. Schulz.




durch Ausschließung der ausländischen Zufuhr vom inländischen Markte, dient zur Steigerung des Trunksuchtsübels, zu dessen Bekämpfung der Staat sich in erster Reihe verpflichtet halten sollte. Auch diejenigen Ersatzmittel des Branntweins, welche ohne selbst als Nahrungsmittel einen Werth beanspruchen zu können, durch Substituirung eines unschädlichen Reizes die Entwöhnung der Massen von Branntwein zu vermitteln geeignet sind, das Bier, der Kaffee, der Thee und der Zucker, sollte der Staat von jeder Steuer frei erhalten.“ Und ähnlich schreibt Baer: „Das Bier ist der größte Feind des Branntwein; jede Erhöhung der Biersteuer ist eine mittelbare [350] Begünstigung des Branntweinconsums.“ Gleichartige Zeugnisse der unparteiischen Wissenschaft ließen sich hundertfach anführen.

Dies etwa sind in großen Zügen die Mittel und Wege, um die Trunksucht zu bekämpfen. Von dem so gewonnenen Standpunkte aus mag schließlich noch ein kurzer Blick auf den neuesten Reichsgesetzentwurf über die Trunkenheit geworfen werden. Derselbe bedroht erstens den Trinker, der in trunkenem Zustande öffentliches Aergerniß erregt, mit theilweise harten Strafen, worüber oben schon das Nöthige gesagt worden ist. Er will zweitens auch diejenigen Verbrechen, welche in einem die freie Willensbestimmung des Thäters ausschließenden Zustande der Trunkenheit begangen worden sind, strafrechtlicher Ahndung unterziehen, doch ist die juridisch-technische Fassung dieser an sich nicht unberechtigten Bestimmung so verunglückt, daß sie den lebhaften Widerspruch der namhaftesten Juristen selbst aus conservativer und ultramontaner Seite erregt hat. Drittens endlich soll mit Geldbuße oder Haft bestraft werden, wer bei Verrichtungen, die zur Verhütung von Feuers- oder Lebensgefahr besondere Aufmerksamkeit erfordern, sich betrinkt oder betrunken in andern als in Nothfällen solche Verrichtungen vornimmt, wogegen sich nichts einwenden läßt. Das Gesammturtheil über das Gesetz läßt sich dahin zusammenfassen, daß seine nützlichen Bestimmungen entweder nebensächliche Punkte betreffen oder aber einstweilen unbrauchbar gefaßt sind, während sein Hauptschlag gegen die Trunksucht mit der äußerlichsten, schwächlichsten und erfahrungsgemäß wirkungslosesten Waffe geführt wird.

Daß eine so unreife Frucht der Gesetzgebung so unzeitig das Licht der Welt erblickt hat, ist nur durch den reactionären Lärm über die drohende Zunahme der Trunksucht erklärlich, womit der liberalen Gesetzgebung etwas angehängt werden soll. Die Wahrheit dieses Geschreies ist keineswegs erwiesen und bei dem Mangel einer erschöpfenden Statistik auch gar nicht erweisbar; vielmehr sprechen mannigfache Gründe äußerer und innerer Natur dafür, daß unter der liberalen Gesetzgebung die Trunksucht nicht unerheblich abgenommen hat; ihr sichtbares Schwinden während des letzten Jahrzehnts stellt auch Doctor Baer als ganz zweifellos hin. Doch sei dem, wie ihm wolle – der Schaden ist jedenfalls noch immer sehr brennend und sehr groß; kann ihn die clerical-reactionäre Bundesgenossenschaft an der Wurzel ausreißen, so gebührt ihr zweifellos der Ruhm, in einer allerwichtigsten Frage des öffentlichen Wohls die liberalen Parteien glänzend überflügelt zu haben. Leider muß dahin gestellt werden, ob sie es kann – denn einstweilen will sie es noch gar nicht. Geht man nämlich ihrem Lärmen auf den Grund, so entdeckt man nichts, als den alten Kniff, ein sinnbethörendes Geschrei zu erheben, das einen sittlichen Klang hat, um diejenigen Maßnahmen zu hindern, die eine sittliche Wirkung haben würden. Oder wie soll man es anders nennen, wenn die Reaction mit dem rostigen Spieße der Polizei einige leere Lufthiebe gegen die Trunksucht führen will, während sie ihr thatsächlich einen nur um so breiteren Weg in's Volk bahnt, indem sie sich einerseits hartnäckig jeder Erhöhnung der Branntweinsteuer widersetzt und andererseits die gesunden oder unschädlichen Genuß- oder Nahrungsmittel den arbeitenden Classen entweder schon, wie Brod, Fleisch, Kaffee, vertheuert hat oder aber, wie das Bier, noch vertheuern will? Bei den altpreußischen Junkern mag eine derartige Taktik durch ihr Classeninteresse zwar nicht entschuldigt, aber erklärt werden, allein wie christliche Geistliche von dem Schlage des „Gottesmanns“ Stöcker, der auf Grund solcher „Socialreform“ sich als „zweiter Luther“ aufspielt, daran sich betheiligen können, ist unverständlich. Oder aber auch – es ist nur zu verständlich. Spricht doch schon dasjenige Buch, welches die Heuchler und Pharisäer so viel auf den Lippen und so wenig im Herzen tragen, das tiefe und wahre Wort. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“




Spargelbau in Braunschweig.

Vielerlei reiche Gaben sind es, welche der Frühling uns spendet; Schneeglöckchen und Primeln, Anemonen und Veilchen erscheinen als Sinnbilder poetischer Schönheit. Aber auch für unsern Tisch sorgt er; mancherlei Salate kündigen seinen Willen, zu geben, zuerst an; das früheste Gemüse, das er uns schenkt, ist der Spargel. Vielleicht hat dieser Umstand dazu beigetragen, dem Spargel seine Beliebtheit zu sichern, aber er besitzt auch an und für sich Eigenschaften, die es erklären, daß seine Cultur sich immer weiter ausbreitet. Unter den feinsten und geschätztesten Gemüsepflanzen steht der Spargel mit in erster Reihe; er ist von hohem Wohlgeschmack, leicht verdaulich und von nicht geringem Nährwerth; in der Zubereitung bietet er Gelegenheit zu der mannigfachsten Abwechselung, und seine edle Natur zeigt er auch darin, daß er im höchsten Grade empfindlich gegen die Verhältnisse ist, unter welchen er aufwächst. Nur wo Boden, Klima und Pflege ihm vollkommen zusagen, entwickeln sich alle seine Vorzüge, wo aber diese drei Erfordernisse nicht vereinigt wirken, da wird der Spargel stets ein so mangelhaftes Product bleiben, daß er sich selbst kaum mehr ähnlich ist.

Die ursprüngliche Heimath der Spargelpflanze ist Asien, aber auch in Europa findet sich jetzt wilder Spargel; in Italien und an der englischen Küste, namentlich in Cornwall und Lincolnshire, gedeiht er in großer Menge und findet auch als Nahrungsmittel Verwendung. Den veredelten Spargel baut man in Frankreich, England, Holland, ganz besonders aber in Deutschland, und in größerer Ausdehnung beschäftigen sich mit Spargelcultur die Städte Ulm, Kolmar, Darmstadt, Erfurt, Braunschweig und neuerdings auch Berlin und Stettin. Jede einzelne dieser Städte liefert ein verschiedenartiges Product, und nach dem individuellen Geschmack geben die Consumenten bald dieser, bald jener Stadt den Vorzug. Wenn aber die Lebhaftigkeit der Nachfrage in allen fünf Erdtheilen, sowie der fortwährend sich steigernde Anbau einen Beweis für die Güte des Productes liefern, so dürfte der Braunschweiger Spargel von keinem andern Producte der Welt übertroffen werden.

Die Anfänge des Spargelbaues in der Umgegend von Braunschweig reichen bis zum Beginn dieses Jahrhunderts zurück. Der vortrefflich geeignete Boden im Norden und Osten der Stadt begünstigt den Anbau in hohem Grade. Hier zeigt der einstige Meeresboden weitgedehnte Flächen jenes milden, lehmigen, tiefgründigen Sandes auf durchlassendem Untergrunde, der allein von allen Bodenarten geeignet erscheint, alle Vorzüge des Spargels zur höchsten Vollkommenheit zu entwickeln.

Nur auf diesen Flächen wird hier Spargel gebaut. Man zieht ihn aus Samen, den man von den stärksten und schönsten Pflanzen eingesammelt. Der Boden, auf dem eine Spargelplantage angelegt werden soll, wird durch tiefes Rajolen sorgfältig zubereitet; die eigentliche Anlage macht man im Frühlinge. Dazu zieht man neben einander lange Gräben, etwa sechszig bis achtzig Centimeter breit und ebenso tief, und schichtet die ausgehobene Erde an den Seiten sorgsam auf. In einer Entfernung von achtzig bis hundertzwanzig Centimeter setzt man in den stark gedüngten Boden die jungen Pflanzen ein und breitet die Wurzeln regelrecht aus. Wenn nun die Gräben aufgefüllt werden, so dient der nicht rajolte Erdboden als Weg zwischen den Beeten. Natürlich sind diese Wege so schmal wie möglich. Man verwendet bei neuen Anlagen nur einjährige Pflanzen, niemals mehrjährige, und zur Düngung bedient man sich vor Allem des Pferdedüngers, auch des Kuhdüngers. Fäcalstoffe verwendet man nicht gerne; ja, in den größeren Plantagen wird von ihrem Gebrauche ganz abgesehen. In Zeiträumen von zwanzig Jahren müssen die Anlagen erneuert werden. Im Winter erhalten die Beete keinerlei Bedeckung, denn der Frost schadet den Pflanzen nicht. Die Plantagen liegen ohne Umzäunung im freien Felde, und ein in der Nähe gelegenes Bretterhäuschen dient dem Wächter, der zur Spargelzeit Tag und Nacht auf seinem Posten ist, zum Aufenthalte; auch verwahrt man die nöthigen Geräthschaften darin. Freie, sonnige Lage der Plantagen ist besonders erwünscht. Die größte derselben ist dreihundert Morgen groß, und die Gesammtfläche, welche in der näheren und weiteren Umgebung der Stadt mit Spargel bestellt ist, umfaßt etwa 2200 Morgen. Die erste Anlage einer Plantage ist mit viel Arbeit und bedeutenden Kosten verknüpft, sie rentirt aber bei guter Pflege sehr reichlich, auch gewährt sie den Vortheil, daß die eigentliche Arbeitszeit nur zwei Monate, etwa vom 20. April bis 20. Juni umfaßt.

In besonders günstigen Jahren wird der erste Spargel auch wohl schon in den ersten Apriltagen gestochen; das eigentliche Versandgeschäft beginnt gegen Ende des genannten Monats, und wie in Amsterdam die Ankunft der ersten frischen Häringe, so wird in Braunschweig der erste frisch gestochene Spargel alljährlich durch die Zeitungen angemeldet. Dann beginnen in den Spargelplantagen die Tage der regsten Arbeit. In den kleineren Anlagen sticht man den Spargel gern in den frühesten Morgenstunden und gegen Abend, auch wohl dreimal täglich; in den größeren Plantagen sehen Arbeiter den ganzen Tag über nach und sammeln die Ernte ein. Man verwendet in den Anlagen vielfach weibliche Arbeitskraft. Auch gilt es, gerade während dieser Zeit die Beete von Unkraut rein zu halten und ungebetene Gäste zu vertilgen, die sich in Gestalt von Feldmäusen und Hamäusen einfinden und sich als nie zu sättigende Verehrer der zarten, jungen Sprossen documentiren.

Die Fülle der Ernte und der Wohlgeschmack des Productes sind ganz vom Wetter abhängig. Kalte Regentage drücken den Ertrag der Beete auf die Hälfte oder noch weniger herab, und starker Wind macht die aufsprießenden Spargelköpfe leicht blau; in beiden Fällen wird auch der Wohlgeschmack beeinträchtigt. Wenn aber die schweren grauen Wolken von dannen ziehen, die Sonne hoch und glühend am Himmel steht und kein Lüftchen sich regt, wenn alle Welt sich windet unter den Qualen einer „Bärenhitze“ (wie der Braunschweiger sagt), dann liegt der hellste Sonnenschein auch auf dem gebräunten Gesichte des Spargelbauers; denn an solchen Tagen füllen die Stunden ihm Korb auf Korb mit schneeweißer, duftiger, zarter Waare von feinstem Wohlgeschmack; dann nimmt in den Exportgeschäften die Arbeit auch Nachts kein Ende, und in alle Weltgegenden tragen die Eisenbahnzüge das vielbegehrte Gemüse. Doch

[351] ein gar zu reiches Glück ist bekanntlich ein verhängnißvolles Geschenk der Götter; auch der Spargelbauer zieht die guten Mittelernten den überreichen Jahren vor; denn der Segen der letzteren wird auf Kosten der folgenden Jahre gewonnen; die Beete sind durch die außerordentliche Leistung erschöpft und zeigen sich zwei, drei nachfolgende Sommer hindurch weniger ergiebig. Der Gesammtertrag der Braunschweiger Anlagen beläuft sich in Durchschnittsjahren auf etwa zwei Millionen Pfund.

Das Verfahren bei der Ernte ist in den Spargel-Ländern verschieden. Der Franzose läßt seinen Spargel etwa drei Centimeter hoch über die Erde aufschießen; der Engländer läßt ihn sogar zehn Centimeter lang oder noch länger emporwachsen und erzielt auf diese Weise ein scharf schmeckendes, ordinäres Product; in Deutschland, und besonders in Braunschweig, sticht man den Spargel, sobald sein Köpfchen aus der Erde hervorschaut. Steht er auch nur einige Stunden länger, so gewinnt er bei heißem Wetter sogleich eine bläuliche, noch später eine grüne Farbe, und sein Werth ist sofort beeinträchtigt. Es leuchtet ein, wie sorgsam der Spargelbauer seiner Beete warten muß, wie viel Arbeitskraft in heißer Zeit eine große Plantage erfordert.

Die Länge, bis zu welcher man den Spargel sticht, geht nicht über zwanzig Centimeter hinaus. Möglichst dicke Stangen, sogenannten Riesenspargel zu erzielen, ist man in Braunschweig keineswegs bemüht, da diese übermäßig dicken Stangen erfahrungsmäßig an Geschmack viel zu wünschen übrig lassen. Doch kommen auch hier Stangen vor, welche bei vierundzwanzig Centimeter Länge einen Umfang von sechszehn Centimeter und ein Gewicht von vierhundert Gramm haben.

Die Ausbeute jedes ganzen oder halben Tages wird in möglichst kühlen, schattigen Localen sogleich sortirt, und zwar unterscheidet man nach der Stärke, der Gleichmäßigkeit und der Weiße der einzelnen Stangen drei Abstufungen, die man mit den Namen „Erste Sorte“, „Mittelspargel“ und „Suppenspargel“ bezeichnet. Die „erste Sorte“ ist ausgesuchte, schneeweiße, ganz glatte Waare, jede Stange mindestens zwei Centimeter stark; „Mittelspargel“ ist etwas schwächer und nicht ganz so sorgsam nach dem Aussehen sortirt, immer aber durchaus fehlerfrei; „Suppenspargel“ ist ein sehr weiter Begriff; er umfaßt Alles, was in den beiden ersten Sorten nicht unterkommen kann, alle krummen, blau und grün gewordenen und alle an Stärke nicht hinreichenden Exemplare; man verwendet ihn meistens zu Suppen, und daher sein Name.

Sicherlich - und mit Recht - würden unsere sorgsamen Hausfrauen mich nun tadeln, wenn ich sie nicht auch mit den Preisen des Spargels bekannt machte. Diese Preise sind nun allerdings sehr wechselnd. Je früher die Jahreszeit und je günstiger das Jahr, desto höher steigt der Werth der Waare; auch momentan ungewöhnlich starke Nachfrage steigert wohl die Preise ein wenig; am niedrigsten pflegen sie von Mitte Mai bis Mitte Juni zu stehen. Sie betragen nach ihren höchsten und niedrigsten Sätzen in Braunschweig für „erste Sorte“ 65 bis 110 Pfennig, „Mittelspargel“ 30 bis 70 Pfennig, „Suppenspargel“ 10 bis 35 Pfennig pro Pfund. Am feinsten von Geschmack ist guter „Mittelspargel“.

Dem Versand des frischen Spargels, wozu meist „erste Sorte“ verwendet wird, sind bestimmte örtliche Grenzen gezogen. Würde der Spargel länger als achtundvierzig Stunden unterwegs bleiben, so würde sein Werth beeinträchtigt werden, namentlich bei heißen Tagen. Man verpackt ihn in Körbchen aus Tannenholz ohne weitere Zuthat, sowie er frisch aus der Erde kommt. Die Hauptorte, wohin er versandt wird, sind Berlin, Magdeburg, Leipzig, Dresden, Breslau, Köln, Hannover, Bremen, Hamburg, Lübeck, Kiel, Kopenhagen. Auch nach Stockholm findet der Versand statt, und sogar Erfurt und Mainz, die selber bedeutenden Spargelbau treiben, beziehen regelmäßig nicht unerhebliche Mengen von frischer Waare aus Braunschweig.

Mit den letzten Junitagen ist die Saison geschlossen. Wollte man den Spargel noch länger stechen, so würde man die Ernte des kommenden Jahres vernichten und die Beete arg schädigen, wo nicht ganz zerstören. Man läßt die Spargel dann zu grünen Büschen aufschießen; von den kräftigsten derselben nimmt man Samen, und im Herbst schneidet man alle Stauden kurz über der Erde ab und benutzt sie als Feuerungsmaterial oder zur Einstreu.

Mittlerweile haben aber die Conservenfabriken dafür gesorgt, daß auch in den übrigen Monaten des Jahres frischer Spargel stets für die Tafel bereit sei. Nicht allein in Braunschweig und dem naheliegenden Wolfenbüttel, sondern auch in anderen Städten, besonders in Lübeck, verarbeiten Conservenfabriken große Massen Braunschweiger Spargels. Sie verwenden fast nur erste Sorte. Die Stangen werden auf’s sauberste geschält, aufrecht neben einander in Blechbüchsen gestellt, und zwar ohne jede Beigabe von Salz oder Essig, sodann verlöthet und im Dampfbade gahr gekocht. Vor dem Gebrauche werden diese Blechbüchsen eine halbe Stunde in kochendes Wasser gestellt, dann geöffnet und der Spargel angerichtet; er ist von frisch gestochenem kaum zu unterscheiden. Die Büchsen haben ein halb bis vier Pfund Inhalt und kosten pro Kilo etwa drei Mark. Auch Brech- oder Gemüsespargel wird in derselben Weise zubereitet; er kostet pro Kilo etwa eine Mark achtzig Pfennig.

Der Versand des conservirten Spargels erstreckt sich über alle Erdtheile. Die Blechbüchsen werden mit Sägespähnen fest in Kisten gepackt und so verschickt. Besonders große Posten gehen, von den enropäischen Ländern abgesehen, nach China, Japan, Indien, ferner nach Melbourne und Sidney, nach Centralamerika und nach New-York.

Ferdinand Sonnenburg




Blätter und Blüthen

Auf dem Thurm der Hallenser Marktkirche. Es war im Winter des Jahres 184* - da lebten unter den Commilitonen der ehrsamen Universität Halle sieben Studenten in engem Bund der Freundschaft und der Fidelität; sie verbrachten in Lust und Durst manch vergnügten Tag, und wenn die Seidel in munterer Runde kreisten, hätte man glauben können und sollen, daß diese Sieben einer und derselben Verbindung angehörten. Das war aber nicht der Fall; vielmehr waren sie Mitglieder drei verschiedener Verbindungen, der „Br.“, der „Westphalen“ und der „Thüringer“.

Diesen gleichgestimmten, gleichdurstigen sieben Kehlen, denen der § 11 als das höchste Gebot erschien, war es manchmal recht schwer geworden, an einem kaum „angebrochenen Abende“ das häusliche Lager aufzusuchen. Es gab sogar Abende, wo die hellen Thränen dem Aeltesten, Ehrwürdigen mit dem hölzernen Arm (auch Götz von Berlichingen genannt) über die gerötheten Wangen in den Bart liefen, wenn sie alle in stummer Verzweiflung bei hellem Mondenschein über den Markt zogen, „still“ zwischen dem Löwen-Brunnen und dem Rothen Thore standen und dann den verlangenden Blick nach Abhülfe des Leidens in die Höhe zu den Spitzen der beiden Kirchthürme schweifen ließen, die eben der Thürmer, sein bekanntes Signal gebend, umkreiste. O du glücklicher Thürmer! Hab’ Erbarmen, laß dich bekneipen! Ob man nicht dort oben noch etwas bekäme?

Diese lustige Frage wurde viel und ernstlich beleuchtet, und zwei cand. jur., also Diplomaten, wurden für den folgenden Tag mit einer feierlichen Anfrage bei dem erhabenen Thurmwächter um Anweisung eines Kneipraumes in seiner allerhöchsten Wohnung beauftragt. Der Erfolg ihrer diplomatischen Mission überstieg die kühnsten Erwartungen; er, der überirdische Alleinbeherrscher zweier östlicher und westlicher Reiche, erklärte sich gern bereit, den Herren den Einlaß nicht vorzuenthalten, vorausgesetzt, daß diese den nöthigen Stoff für den Lebensunterhalt mitbrächten. O, welche Labung, welche Erquickung, nach elf Uhr dem § 11 in solcher Freiheit, über alle irdischen Dinge und Bewohner – auch über den Herrn Pedell – erhaben, huldigen zu können!

Am nächsten Abend bei etwas Mondschein, sonst bedecktem Himmel, sieht man die Sieben still und ruhig, wie sonst noch nie um diese Zeit, über den Markt gehen; immer Einer den Andern zu noch größerer Ruhe mahnend, erscheinen die sieben Verschworenen an der Thurmthür; ein verabredetes Zeichen wird unten gegeben und hat beim Thürmer günstigen Erfolg; knarrend öffnet sich die Thür, und mit seltener Hast drängt sich die lustige Schaar hinein. Knarrend schließt sich wieder die Thür, und nun adieu ihr irdischen Götter, wie ihr auch alle heißt, Polizei, Gensd’arm, Pedell, adieu Universitätsrichter, adieu Curator! Es lebe § 11!

Augenblicklich herrscht zwar das Dunkel der Unterwelt: kein Lichtstrahl dringt in dieses Siebengewirr, und unterdrücktes Kichern und Lachen über den gelungenen Streich füllt den Raum. Aber allmählich entwirrt sich der Knäuel; es holpert, es stolpert Alles in heiterster Laune den nur den beiden Abgesandten bekannten verheißungsvollen Weg hinauf. Endlich ist die dornenvolle schmale Stiege überwunden, der obere Rand des edlen Naß, das Allen vorangetragen wurde, wird zuerst vom Mondschein begrüßt; es glänzt wie ein Meteor in hellem Schein und lockt nun die Folgenden zu schnellerem Gehen. Da sind sie Alle oben und werden auf’s herzlichste bewillkommnet vom überirdischen Hofstaat, dem Herrn Thürmer, seiner Frau, seinen beiden Kindern männlichen und weiblichen Geschlechts. An dem westlichen Thurm vorbei, über die verbindende Brücke schreitend und sich östlich wendend, treten jetzt die Sieben in das Gemach des Thürmers ein; es wird nun alsbald das nächtliche Revier eingerichtet und die köstliche Zeit benutzt. Parlamentarische Verhältnisse gab es zwar damals in Deutschland noch nicht, aber man hatte doch das Vorgefühl davon, und die eigenthümliche Umgebung inmitten einer freien himmlischen Region ließ es geboten erscheinen, einige gesetzliche Bestimmungen zu treffen, damit in diesem hehren Reiche alles in bester Ordnung verliefe. Das Statut wurde entworfen und enthielt 13 Paragraphen (unter Anderem durfte Niemand über die Barrière in die Tiefe springen, wenn er auch versprach, sofort wieder zu kommen); der neugeborene Bund erhielt den Namen „Thurmia“, und in seinem Banner waren die Farben blau und grau (Himmel und Dämmerung) vorherrschend.

Da für jede Stellung im Leben auch jedes Menschenkind seinen amtlichen Namen haben muß, so griff man hier ohne Zaudern aus der Reihe der Heiligen für das Siebengestirn die Namen der großen und kleinen Propheten und vergab nach den übereinstimmenden Eigenschaften der damaligen und jetzigen Träger die Namen. Da saßen sie alle in ihrer Würde, jeder nach Ansehen und Verstand, nach Gabe oder Hauspump benamset; ich sehe noch Jesaias, Jeremias, Hesekiel, Habakuk etc. Aber damit war die Namenvertheilung nicht erschöpft; auch der, dem wir diese Möglichkeit der Existenz verdankten, mußte einen Namen von classisch-biblischem Klange haben, ebenso sein Weib und seine Kinder. So wurde er Noah, sie Barbara, das Töchterlein Judith, der Sohn Amor genannt. Dem ganzen Staatswesen entsprechend, fehlte auch nicht die Ordensvertheilung; da sah man den Mondscheinorden etc.

Es war ein geräumigeres Zimmer, als man denkt, und ursprünglich wenig durch Möbel eingeengt. Die Fenster waren nach dem Rathhause zu durch Laden geschützt, während die übrigen dem vollen Mondlichte freien Eintritt gewährten; die Tafel war so gestellt, daß der Vorsitzende mit dem Gesichte dem Rathhause nebst dessen feindlichen Bewohnern zugewendet saß; rechts und links reihten sich die übrigen Mitglieder an. So überaus verlockend und reizend dieses Revier war, es, hatte doch auch seine dunkle Seite; denn gerade über der Tafel hing in langem Bogen der zur Feuerglocke

[352] führende Strang, und wen kommt nicht einmal die Lust im Leben an, Etwas zu wagen! Freilich 25 Thaler Strafe für unzeitiges Signal war das Gegenmittel für zu feurige Liebhaber.

Da saßen sie denn, die alten Kneipiers, in der reellsten seligsten Seligkeit ihres Hochgenusses; es schien ihnen nichts zu fehlen; sie waren die „Glücklichen“, seliger, wie sie auf dem „hohen Olymp“ nicht sein konnten. Gesang und Trank, Witz und Scherz wechselten, wie es der Augenblick eingab.

Bald fand sich auch ein „Thurmia“-Dichter und mit ihm das Farbenlied und das „Allgemeine“, dessen Anfang Nachts, wenn der alte Noah die Thürme umhumpelte, Barbara anstimmte, indem sie rief. „Es hat ja geplumpert etc.“ Eine reizende Zugabe war die musikalische Bildung Noah’s. Wie still sassen die alten Sünder da, wenn Noah sich erweichen und aus der Posaune einen Choral ertönen ließ! Weniger rührend als erheiternd war das musikalische Auftreten des jungen Sprößlings, der eben den ersten Studien verschiedener Blech- und Holzinstrumente oblag und in den Stunden so abgerichtet war, daß er bei seinem Vortrage genau 75 Tacte abzählte und sofort von vorn anfing, wenn er durch ein leises Gelächter der Zuhörer darin unterbrochen war. Das mache ihm aber auch einer nach unter solchen Stimmungsgenossen – Nachts um halb Zwölf 75 Tacte zu zählen, ohne aus der Fassung zu kommen, zumal noch unter der Aussicht des väterlichen Schutzgeistes!

Hin und wieder schlich sich auch wohl dieser Letztere, dem allgemeinen Gelage entfliehend, auf den Rundgang. Dort, auf dem Theile, der sich dem mächtigen Kirchendache zuwendet, stellte er sich mit dem Rücken gegen die Wand, mit den Füßen gegen das Geländer und fing, durch äußere und innere Stimmung getrieben, zu philosophiren an. Wenn er dann wieder zu uns in’s Zimmer zurückkehrte, welch wunderbare Gedankensprünge und Sprüche kamen da zum Vorschein! Leben, Liebe, Elend, Sterben, Hinabstürzen vom Geländer – Alles durch einander, wie es solche Stimmung mit sich bringt. Wir bildeten ein seltsames Gemisch von Menschen, das noch seltsamer wurde, wenn der verständige, lebenserfahrene Noah sich mit seiner Thurmphilosophie dazwischen mischte.

Aber unser Thurmphilosoph war auch ein praktischer Mann – trotz seiner Neigung zum einsamen Träumen und Nachdenken; denn er verstand es, sich mit den Dienern der Unterwelt, der Polizei, obgleich er nur selten zu ihnen hinabstieg, in gutem Einvernehmen zu halten, sodaß dieselben, wenn manchmal in stiller Nachtstunde ganz wunderbare Klänge von oben an ihr Ohr schlugen und dunkle Gestalten über die Brücke schlichen, die Augen und Ohren schlossen. Aber der Verräther schlief doch nicht für lange, wie überall, wo es gilt, harmloses Wesen durch Spionage zu stören. Die alte Schlange der Bosheit, des Neides konnte es nicht ruhig mit ansehen, daß dort in höhern Regionen eine kleine Zahl lustiger Menschen hin und wieder einige zwar absonderliche, aber unschädliche Stunden verlebte; wir unschuldigen Sieben sollten durchaus, so hieß es, dort oben kirchen- und staatsverbrecherische und Gott lästernde Gespräche führen; so fand sich denn auch wirklich eines schönen Tages der betreffende Untersuchungsbeamte nebst Protokollführer in der Höhe ein, um den Ort der That zu beschauen, die verbrecherischen Schriften etc. mit Beschlag zu belegen und den ehrenwerthen, gottesfürchtigen Noah gerichtlich zu vernehmen. Noah vor dem Richter! Wohl selten hat sich aus solcher Höhe eine Gerichtsscene abgespielt. Noah war stolz, daß nichts von Allem gefunden wurde, worauf man gefahndet, und wußte auf die Fragen, ob es wahr sei, daß diese nächtlichen Herren schlechte Witze über Kirche und Staat gemacht, nur höflich zu erwidern.

„Ja, Witze machen sie, aber immer nur gute!“

Das Semester ging zu Ende; die Sieben wurden nach allen Richtungen zerstreut. – – –

Nachschrift der Redaction. Damit schweigt unser Berichterstatter. Was ist nun aus den lustigen Studenten und ihrem Wirthe geworden? Nur über drei Mitglieder der „hohen Gesellschaft“ vermögen wir Aufschluß zu geben. Der einstige Bruder Studio, der uns die obige fröhliche Geschichte erzählt hat, er ist nach zurückgelegtem Studium ein namhafter Arzt und Schriftsteller geworden. Seit einigen Monaten ist er – todt, und nur seinem Nachlasse entnahmen wir das hier Mitgetheilte. Todt ist auch der alte Thurmwächter, todt seine Gemahlin Barbara. Mannigfaches Leid war in der stillen Thurmwohnung eingekehrt, und in Verzweiflung stürzte sich im Herbst des verflossenen Jahres der getreue Wächter von seinem hohen Wachtposten auf das Straßenpflaster Halles - am anderen Morgen fand man die Leiche seiner Frau in den Fluthen der Saale.




Die Anwendung der Electricität als Triebkraft macht, seitdem das Princip der elektrischen Kraftübertragung (vergleiche „Gartenlaube“ 1879, Seite 630 bis 632) zur Geltung gekommen ist, alle Tage neue Fortschritte und wird auf der diesjährigen „elektrischen Ausstellung“ in Paris sicherlich großes Aufsehen erregen. Eine der neuesten Anwendungen ist die für einen elektrischen Fahrstuhl mit Sicherheitsvorrichtung, wie er bereits aus der Mannheimer Gewerbe-Ausstellung (1880) in Betrieb gewesen ist und demnächst auf der Patent- und Musterausstellung in Frankfurt am Main wieder erscheinen wird. Die Berliner Firma Siemens und Halske beabsichtigt demnächst einen elektrischen Landwirthschaftsbetrieb durch ihre dynamo-elektrischen Maschinen vorzubereiten, wobei alle landwirthschaftlichen Arbeiten: Mähen, Dreschen, Pflügen etc., durch Elektricität verrichtet werden sollen.

Es ist dabei zunächst an solche Landgüter gedacht, deren weicher Boden den Dampfpflug nicht zu tragen vermag und die mit einem Dampfkessel von circa acht Pferdekraft und einer nicht über fünf Kilometer langen elektrischen Transmission ausreichen. Die Versuche der schon in unserem oben erwähnten Artikel sogenannten französischen Industriellen haben seitdem eine bedeutende Ausdehnung erreicht, und ein von Chrétien und Felix errichteter elektrischer Krahn hat sich in der Nähe der Zuckerfabrik von Sermaize auf das Beste zum Ausladen der Runkelrüben aus den Kähnen bewährt. Ebenso hat man die erwähnten Versuche mit dem elektrischen Pfluge fortgesetzt und eine Geschwindigkeit des Pfluges von 210 Fuß in der Minute erreicht, wodurch 215 Quadratfuß Land bearbeitet wurden.

Aehnliche Resultate hat der bekannte vor einigen Monaten verstorbene Pariser Chocoladen-Fabrikant Menier, der zugleich eine Fabrik zur Herstellung elektrischer Kabel betrieb, erhalten, sodass derselbe beabsichtigte, sein 1200 Hectare umfassendes Gut Noisiel sowie seine übrigen Besitzungen nur noch mit elektrischen Pflügen zu beackern. Die Hauptsache ist, daß die zum Betriebe der elektrischen Maschinen erforderliche mechanische Kraft nicht durch Dampfmaschinen, sondern von einem fünf Kilometer von dem Gute entfernten Wasserfall der Marne geliefert wird. Schon jetzt setzt derselbe acht dynamo-elektrische Maschinen in Thätigkeit, um die Menier’sche Chocoladenfabrik mit elektrischem Licht zu beleuchten.

Die Gramme’sche Gesellschaft zu Paris hat im vorigen Jahre eine elektrische Transmission hergestellt, die doppelt so lang ist, wie die bekannten Drahtseiltransmisionen in Schaffhausen, um die durch Turbinen gewonnene Arbeitskraft in eine von dem Gefälle fünf Kilometer entfernte Fabrik zu leiten. Das Resultat ist aber insofern kein günstiges, als von den 70 Pferdekräften der Turbinen nur etwa die Hälfte am andern Ende der elektrischen Transmission wiedergewonnen wird. Es würde also jedenfalls richtiger sein, solche Fabriken an der Stelle auzulegen, wo die Naturkraft disponibel ist, wie dies schon an obiger Stelle von uns betont wurde.




Der Topfbinder. (Mit Abbildung S. 349.) Die immer seltener werdenden Mitglieder der ehrbaren Zunft der Topfbinder sind allemal große Künstler, aber nicht „vor dem Herrn“, sondern vor der lieben Dorfjugend, die stets mit besonderem Interesse dem Schaffen dieser Meister zusieht. Wohl jedes Kind hat viel „Zerbrochenes“ auf dem Gewissen, und mit großer Genugthuung scheinen daher auch die Kleinen auf unserem heutigen Bilde den Mann zu betrachten, der so geschickt den durch ihre Ungeschicklichkeit verursachten Schaden wieder gutzumachen versteht. Die eigentliche Heimath der Topfstricker haben wir bereits einmal (Nr. 11 dieses Jahrgangs) unsern Lesern in Bild und Wort vorgeführt. Daher heute genug mit diesen wenigen Zeilen!




Anfrage. Giebt es in der Rheinprovinz Anstalten („Alters-Asyle“), in welchen alte Männer für den Rest ihrer Tage gegen Bezahlung gut verpflegt werden?




Kleiner Briefkasten.

C. L. in C. Sie fragen an, ob die sogenannten Promessen (gemeinschaftliches Spielen einer Anzahl Loose von Lotterie-Anleihen) auf solider Basis beruhen oder nicht. Hätten Sie sich die Mühe genommen, ein wenig nachzurechnen, würden Sie selbst gefunden haben, daß derartige Unternehmungen stark auf die – Leichtgläubigkeit des Publicums speculiren. Hier ein Beispiel aus dem von Ihnen eingesandten Prospect: zwanzig Theilnehmer spielen zusammen zehn Loose der badischen Lotterie-Anleihe von 1845 (sogenannte 35 Gulden-Loose), jeder also ein halbes Loos. Der Cours dieser Loose ist, während wir dies schreiben, 136 1/4, ein halbes Loos kostet demnach 68 1/8 M. und Sie bezahlen dafür 150 M. Freilich haben Sie dabei Antheil an 10 Loosen, unter denen moglicherweise ein Haupttreffer sein kann. – Zu rathen ist Jedem, der es nun einmal nicht lassen kann, bei solchem Gesellschaftsspiel sich zu betheiligen, dies wenigstens bei einer als solid bekannten Firma zu thun und sein Geld nicht dem ersten besten unbekannten Agenten anzuvertrauen; denn es ist schon vorgekommen, daß Unternehmer oder deren Agenten mit dem erhobenen Gewinne das Weite gesucht und den Spielern das Nachsehen gelassen haben.

M. Z. in Reval. Die Anwendung der Elektricität in der Müllerei, wie sie die Amerikaner neuerdings versucht haben, ist insofern von einem großen culturhistorischen Interesse, als sich darin ein Gedanke wiederholt, den man schon vor mehreren tausend Jahren gehabt hat. Ueber eine älteste Anwendung der Elektricität in den Gewerben erzählt uns nämlich Plinius: „In Syrien verfertigen die Frauen kleine Schwungräder für die Spindeln aus Bernstein, und nennen ihn Räuber (Harpax), weil er Blätter, Spreu und Fasern der Kleider an sich zieht.“ Wie hier die anziehende Kraft des geriebenen .Bernsteins, dem bekanntlich die große Naturkraft ihren Namen – Elektricität heißt Bernsteinigkeit – verdankt, benutzt wurde, um das Gespinnst von der Spreu zu reinigen, so haben amerikanische Mühlen-Ingenieure über den Griessieden ein über zwei Walzen laufendes, endloses Band aus Hartgummi angebracht, welches durch Reibung gegen ein Schaffell elektrisch wird und nun die zu entfernenden Kleintheilchen anzieht, welche nachher durch eine Bürste in einem besonderen Behälter abgekehrt werden. Die Idee scheint im höchsten Grade originell zu sein, und dennoch bestätigt sie nur das alte Sprüchwort: „Nichts neues unter der Sonne!“

Charles le Blanc in Wien. Die Adresse des beklagenswerthen Mädchens ist uns leider unbekannt. Sollen wir Ihre Gabe zu einem andern mildthätigen Zwecke verwenden? Wenn nicht, so bitten wir um Angabe Ihrer Adresse.

„Alter Abonnent“ in Sprottau. Wir warnen Sie vor all diesen „Herren“, soll heißen: Beutelschneidern.

T. E. Derartige Vertrauensangelegenheiten können nur mit offenem Visir, das heißt brieflich, nicht aber auf dieser öffentlichen Tribüne der Anonymität verhandelt werden. Bitte, Ihre Adresse! An uns wird es nicht fehlen, Ihnen gefällig zu sein.

E. W. in Bunzlau. O, Sie schlechter Leser! Spangenberg’s Bild „Der Zug des Todes“ finden Sie bereits in Nr. 15. unseres Jahrg. 1879.

Sophie R. in Suczawa. Wir bedauern, Ihnen nicht rathen zu können.

M. H. in Leipzig. Jedes gute Conversationslexicon giebt Ihnen die gewünschte Auskunft.