Die Gartenlaube (1881)/Heft 20
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No. 20. | 1881. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
(Fortsetzung.)
Es war am andern Morgen. Aurel stand in seinem Arbeitszimmer an einem Fenster und blickte auf den Hausgarten hinab; dieser breitete sich auf einer ansehnlichen Fläche aus, die darauf deutete, daß das alte Schloß zu seiner Sicherung hier breite Gräben gehabt, welche, nun zugeschüttet, den üppigen Wuchs mächtiger Zierbäume beförderten. Die dunklen Pyramiden der Coniferen spreizten da unten anspruchsvoll ihre Arme aus, und die Glycinien bewarfen wie leichte, kokette Mädchenschönheiten die hochmüthigen Nachbarn mit blauem Blüthenabfall, während die Eichen mit dem eigensinnigen, capriciös gekrümmten und verdrehten Astgewirre mürrisch dazustehen schienen. Ueber den grünen Wipfeln all dieser Bäume aber lag ein mattblauer Himmel, an dem langsam vorrückende, mächtige weiße Wolken heraufzogen, die immer grauer und eisenfarbener wurden und zuletzt dem Tageslichte einen unheimlich fahlen Schimmer verliehen. Es war, als ob sie zugleich den Druck herzbeklemmender Trauer vermehrten, der auf Aurel’s Seele lag, aber er war ein zu klar blickender Mann; sein Auge war für die Erscheinungen des Lebens zu groß und unumwölkt, als daß er pessimistisch bei der Frage hätte verweilen können, ob es denn nun einmal im Schicksale der Menschenkinder liege, daß sie jede erreichte Höhe, jedes erfüllte Streben zu büßen haben mit einem Schmerze, der ihrer auf der endlich erreichten Höhe unausbleiblich harre. Er, der beneidetste Mann im Staate, hatte sich nur aufgeschwungen, um auf seiner einsamen Höhe zu erkennen, welches Glück das Leben für ihn hätte haben können. Er konnte den Gedanken, der gestern in ihm geweckt war – von dem trüben Menschheitsschicksal, daß sich das Bessere dem Unwürdigeren geopfert sehen müsse, nicht wieder los werden. Er gelangte, indem er diesen Gedanken verfolgte, zwar zu einem bitteren Selbstvorwurfe des Egoismus und der Ueberhebung; er warf sich das Unbrüderliche dieser Art zu denken vor; mußte ihm nicht in der That das Glück seiner Schwester ebenso nahe gehen, als das eigene? Konnte er nach so flüchtiger Bekanntschaft überhaupt nur über sie urtheilen? Barg ihr Herz nicht vielleicht Schätze der Empfindung, Gefühle zartester und edelster Weiblichkeit, ihr Charakter nicht vielleicht Eigenschaften, vor denen sich Alles, was in ihm war, beschämt in den Schatten stellen mußte? Aber es handelte sich ja nicht blos um Lily; es handelte sich auch um Regina’s Glück, und diese durfte er – dessen war er sich in tiefster Seele bewußt – über alle Frauen, die er kannte, stellen. Und wie himmelhoch stand sie über ihrem Bruder, der jetzt wieder zu jedem scharfen Urtheil berechtigte, jetzt, wo er feig den Kampfplatz verlassen hatte!
Aurel hatte bisher vergeblich auf die Uebersendung der Documente gewartet, welche ihm sein Vater versprochen und die er dem Herzoge vorzulegen hatte. Er begann besorgt daran zu denken, was seinen Vater abhalten möge, sie zu schicken – hoffentlich hatte der alte Herr sich nicht in irgend einen neuen Streit verwickelt beim Abzuge von Schallmeyer, oder bei einer zu lebhaften und hitzigen Erkundigung, die er nach den Einbläsern und Veranlassern der räthselhaften und bösartigen Indiscretionen der „Rothen Flagge“ angestellt. Hatte ihm das Unglück vielleicht den Doctor Milchsieber, den fleckigen Apollo, in den Weg gesandt? Dann war freilich Alles zu befürchten. Und dabei wendeten sich Aurel’s Gedanken jenem giftigen Preßerzeugniß wieder zu, dessen Ursprung in so großes Dunkel gehüllt war. Hätte er in einer größeren Welt gelebt, so hätte er sicherlich solche Ergießungen eines Winkelblattes verachtet, wie er ja längst gewohnt war, die Partei-Angriffe, die oft so hämischen und boshaften Deutungen seiner Absichten und seiner Maßnahmen zu übersehen, oder, wo sie gar zu grobe Entstellungen enthielten, in dem tonangebenden Blatte der Regierung ruhig widerlegen zu lassen. Aber in seiner kleinstädtischen Welt mußten ganz persönliche Verdächtigungen, welche zu widerlegen unter seiner Würde war, unheilvolle Wirkungen hervorbringen, seinen Feinden zu einer gar nicht abzusehenden Ausbeutung dienen, und wenn sie dem Herzoge vorgelegt wurden, auch diesen für einen Minister erkälten, den er gezwungen war, wider so niedrige Insinuationen in Schutz zu nehmen.
Aurel entschloß sich endlich, nach seinem Wagen zu verlangen und an dem neuen Quartier seines Vaters vorzufahren, um sich dort die Documente von diesem geben zu lassen.
Als er eben die Klingel gezogen und den Befehl gegeben hatte, vernahm er draußen Schritte; mit dem Diener zugleich und dessen Anmeldung zuvorkommend, stürmte der alte Thierarzt herein.
„Schöne Geschichte das,“ rief er mit bestürztem Gesicht, „da soll nun doch das Wetter dreinschlagen – die Papiere sind mir gestohlen, Aurel.“
„Unmöglich,“ sagte Aurel, „gestohlen – die Documente über Lily’s Trauung –“
„Die eben!“
„Die Du mir noch vor zwei Tagen zeigtest?“
„Zum Teufel sind sie, gestohlen, fort aus meinem Schranke – Secretär nennt Ihr das Ding wohl hier – gestohlen!“
„Du bist sicher, daß Du sie dort verwahrtest?“
„Sicher genug – ich nahm sie daraus, als ich sie Dir zeigte, und verschloß den Schrank dann wieder.“
[322] „Er ist erbrochen?“
„Nicht die Spur einer Gewalttat daran.“
„Und nichts Anderes ist genommen als jene Papiere?“
„Nichts Anderes, als die Papiere – Lily’s Taufzeugniß, die Heirathslicenz und der Trauschein … Du hast gesehen, wie ich sie in einem Taschenbuche verwahrte, das noch andere Papiere von Werth enthielt – an diese ist nicht gerührt – nur Lily’s Papiere sind verschwunden.“
„Wann entdecktest Du den Diebstahl?“
„Heute – heute in der Morgenfrühe. Kam gestern nicht mehr zu dem Umzuge, den ich vorhatte. Hatte erst mit Lily zu debattiren, die ja nicht fort wollte, wie Du weißt. Dann, als ich mit Schallmeyer die Rechnung abschließen wollte, war er nicht da. Mußte ihm nachlaufen in sein Bierhaus, in ihr Hauptquartier, wo sie die ‚menschenwürdigen Zustände des Arbeiters der Zukunft‘ bei Faullenzen, Biertrinken und Räsonniren in Scene setzen …. hatte nicht mehr den Fuß hineingesetzt seit dem ersten Mal, wo ich diese Sorte Menschen kennen gelernt. Traf ihn auch, den Schallmeyer, hatte seine Känguruhschnauze mit einem wunderlichen Insect, einem Burschen, der aussah wie ein Heuschreck, zusammengesteckt – tuschelten und mauschelten da heimlich in der Ecke, die Beiden, der Becker, und …“
„Der Becker? Das ist ein Mensch, den Gollheim, wie ich höre, zu allerlei Spionirdiensten benutzt.“
„Gollheim? Nun ja; denke, ich hörte so etwas. Und so hätten wir’s denn …“
„Du glaubst …?“
„Was ist da viel zu glauben? Es ist offenbar. Es liegt auf der Hand …“
„Ich fürchte, daß Du Recht hast, Vater,“ versetzte Aurel tief nachdenklich; „obwohl ich einem Manne von Gollheim’s Stellung schwer ein Verbrechen zutrauen kann. Ein so thörichtes obendrein! Wir können ja die Papiere neu anfertigen, uns drüben neue ausstellen lassen.“
„Bist Du dessen so sicher? Doch höre weiter! Die Beiden schweigen offenbar sehr betroffen, als ich zu ihnen trete; Schallmeyer erhebt auch wider meinen Abzug keinen Einspruch; wir gehen heim und rechnen in gutem Frieden ab; dafür bekommt das Känguruh am späten Abend noch einen ‚Raw‘, einen Streit mit dem jungen Herrn Falster, der nun auch ausziehen will …“
„Der junge Mensch, den ich neulich im Garten bei Lily fand?“
„Derselbe – will mit uns in unser neues Quartier abrücken.“
„Er beweist eine große Anhänglichkeit an Euch, Vater.“
„Weshalb sollte er nicht? Lernt von mir. Explicire ihm, wie sie’s in seinem Geschäft drüben machen – ist ein geriebener Bursche, wird gut werden, denk’ ich. Und so bleiben wir denn die Nacht noch bei Schallmeyer; heute Morgen rücken wir aus, und wie wir im neuen Quartier sind und auspacken, und ich mein Taschenbuch aus dem Koffer nehme, um es zu öffnen und die Papiere daraus hervorzuholen, welche ich zu Dir hinüberbringen sollte – da seh ich die Bescherung – fort sind sie – gone away – verschwunden – weg!“
„Du hast Dich überzeugt, daß sie nicht etwa anders wohin gerathen daß nicht vielleicht Lily sie an sich genommen.“
„Schwerlich! Haben Alles durchsucht. Aber sie sind und bleiben fort – gestohlen!“
„Ich habe Dich gleich von vornherein so ungern zu diesem ‚alten Freunde‘ ziehen sehen,“ sagte Aurel gedämpft und sinnend.
„Wie konnte ich wissen, daß aus dem alten Freunde ein Dieb geworden? Denn er – er ist es ganz ohne Zweifel, der mir die Papiere gestohlen hat, um sie dem alten Gollheim zu verkaufen; zweifelst Du daran?“
„Leider – nein“ sagte Aurel. „Wenn er mit Becker verkehrte, nicht im Mindesten.“
„Es war so leicht für ihn, der sicherlich alle Schlüssel und alle verschlissenen Schlösser an seinen alten Möbeln kannte, meinen Schrank zu öffnen.“
„Es war ohne Zweifel leicht für ihn.“
„Und nun laß den Burschen beim Kragen nehmen, ihn einstecken, ihm den Proceß machen und womöglich ihn hängen!“
„Du scheinst über die Machtbefugniß eines Ministers noch immer ziemlich im Unklaren Vater!“ versetzte Aurel, trübe lächelnd.
„Wirst doch nicht Minister sein, um Dir gefallen zu lassen …“
„Was Jeder sich gefallen lassen muß; da, wo er nicht einen Schatten von Beweis hat, um sein Recht verkürzt zu werden.“
„Sodaß sich Jeder hier sein Recht selber nehmen muß?“
„Ich bitte Dich, Vater, daran nicht zu denken. Du würdest das Uebel bedeutend ärger machen. Denke, wie triumphirend die ‚Rothe Flagge‘ wehen würde, wenn Du Dich hinreißen ließest, mit Beschuldigungen Schallmeyer’s aufzutreten, welche diesen veranlaßten, Dich als Verleumder vor Gericht zu ziehen, und dann die ganze Stadt zu dem Glauben brächten, wir hätten die Documente niemals besessen“
„So bin ich hier in eine ganz verfluchte Räuberhöhle gefallen,“ rief der alte Thierarzt, zornig aufspringend; „unter lauter Niedertracht und …“
„Laß uns lieber, statt das zu erörtern, berathen, wie wir möglichst bald den Verlust ersetzen! Doch – auch dazu fehlt mir im Augenblick die Zeit. Ich muß zum Herzog und ihm erklären, weshalb ich seinen Befehl nicht erfüllen kann; vielleicht werde ich nachher mit dem Polizeidirector wegen des Diebstahls sprechen – ich werde sehen. Unterdeß begieb Dich heim und schreibe mir alle nöthigen Adressen auf, an die wir uns drüben zu wenden haben, um die Documente neu zu beschaffen – ich werde unsere diplomatischen Vertreter in Washington alsdann auffordern, die nöthigen Schritte zu thun …“
„Ich glaube nicht,“ warf der alte Lanken ingrimmig ein, „daß sie solch eine ‚Licence‘ drüben zweimal ausstellen, und was den Pfarrer, der Lily getraut hat, angeht, so wissen wir nicht, ob er das Pfarrersein nicht längst aufgegeben hat, um Shopkeeper in Frisco oder Schafzüchter in Australien zu werden.“
„Mag sein – verzagen wir darum nicht! Schwierigkeiten lassen sich besiegen. Schreib’ mir also vorläufig alle nöthigen Notizen auf! Ich muß zum Herzog.“
Aurel warf sich rasch in die nöthige Toilette und eilte dann nach unten, wo sein Wagen auf ihn harrte. Der alte Thierarzt folgte ihm langsamer die Treppe hinab und gab durch einige Verwünschungen, die er vor sich hinmurmelte, dem grenzenlosen Mißvergnügen Ausdruck, das über die ganze Wirthschaft in dem alten Lande seine biedere Republikanerseele erfüllte.
Als Aurel an der Residenz vorgefahren und dem Herzog gemeldet worden war, empfing ihn dieser mit einer noch um eine Nüance kühleren Gemessenheit, als gestern.
„Sie bringen mir Ihre Documente selber, Lanken?“ fragte er.
„Ich bringe Ihnen nichts, Hoheit,“ versetzte dieser, „nichts als den Ausdruck des Bedauerns, daß ich Ihre Befehle nicht erfüllen kann.“
„Nicht? Und weshalb nicht?“ entgegnete der Herzog, offenbar sehr befremdet aufschauend.
„Weil die Papiere nicht mehr in den Händen meines Vaters sind – sie sind ihm entwendet, gestohlen, um gleich das rechte Wort zu gebrauchen.“
„Gestohlene? Seine Documente?“
„Er hat sie bis gestern in seinem Secretär verwahrt – heute haben sie – und nur sie allein – sich nicht mehr gefunden.“
„Wie ist das zu erklären?“
Aurel zuckte die Achseln … als er zu antworten zögerte, fuhr der Herzog lebhaft, fast zornig fort.
„Erklären Sie mir das, Lanken!“
„Ich kann Hoheit nur von den näheren Umständen unterrichten. Mein Vater wohnte im Hotel garni eines gewissen Schallmeyer, eines Mannes, der bereits einmal mit den Sicherheitsbehörden in Conflict geraten ist; dieser Mann, der sicherlich eine genaue Kenntniß von den seinen Miethern in Gebrauch gegebenen Möbeln und Geräthen besitzt, steht in Verbindung mit einem Marstallbedienten Becker, der die rechte Hand seines Vorgesetzten sein soll.“
„Gollheim’s?“
Aurel verbeugte sich zur Bejahung.
Der Herzog betrachtete ihn eine Weile mit sehr ernsten, mehr und mehr sich verdüsternden Zügen. Eine Falte zog sich zwischen seinen Brauen zusammen; dann drückte er mit der Hand die Enden seines blonden Schnurrbarts in seine Mundwinkel und kaute einige Augenblicke schweigend darauf. Es war das bei ihm ein Symptom einer bedeutenden Verstimmung.
[323] „So bin ich arg in eine häßliche Geschichte verwickelt; Graf Gollheim wird sogleich in Folge meiner Aufforderung hier sein – und wenn ich ihm rathe, seinen Frieden mit Ihnen zu machen, wird er triumphirend aus das zurückkommen was er schon gestern behauptete; man wolle ihn zum Opfer eines Schwindels machen; die Documente seien nicht da, gar nicht vorhanden …“
„Er behauptete das vielleicht so bestimmt, weil er schon damals den Entschluß, sich ihrer zu bemächtigen, gefaßt hatte,“ warf Aurel ein.
Der Herzog schwieg wieder eine Weile; dann wandte er sich mit einer gewissen Heftigkeit ab.
„Hören Sie, Lanken,“ sagte er und in seiner Stimme vibrirte der tiefe Verdruß, den ihm persönlich die ganze Angelegenheit machte, „zwei mir so nahe stehende Männer, wie Sie und mein Oberstallmeister, dürfen sich nicht solche Vorwürfe einander machen. Er wirft Ihnen vor, Sie böten die Hand zu einem Schwindel – und Sie werfen ihm vor, er sei ein Dieb. Ich bitte Sie, wohin sind wir da gekommen? Ich kann nicht zwischen zwei Leuten stehen, die in einem solchen Kampfe liegen; Sie müssen selbst begreifen, daß ich den Einen fallen lassen muß, nein, daß ich eigentlich Beide entlassen müßte, wenn ich dadurch nicht jedenfalls Einem Unrecht thäte …“
„Gewiß, Hoheit, ich begreife das … und da hinzukommt, daß in meine Schale noch die Verleumdung und all die Gehässigkeit fällt, welche ein Angriff in der Presse wider mich enthält …“
Aurel fixirte bei diesen Worten den Herzog, um aus seinen Mienen zu lesen, ob er von jenem Angriffe Kunde habe, und der Herzog ließ ihn keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß sich eine diensteifrige wohlwollende Seele gefunden, die höchsten Ortes Alles berichtet hatte.
„Es ist wahr,“ sagte der Herzog, „von etwas Derartigem bliebe mein erster Rathgeber besser unberührt …“
„So ist denn meine Schale die schwerere, Hoheit – und ich glaube deshalb nur Ihren eigenen innersten Gedanken wiederzugeben, wenn ich sage: es ist am besten, ich verzichte aus das Glück, Eurer Hoheit in einer so hohen Vertrauensstellung weiter zu dienen.“
„Thun wir nichts Unüberlegtes, Lanken!“ fiel der Herzog jetzt doch wieder zögernd ein, „aber ich muß Ihnen leider einräumen …“
„Daß auch längere Ueberlegung wohl zu keinem anderen Ergebniß führte,“ fuhr Aurel mit sehr bewegter Stimme fort. „Der Schritt wird mir bei meiner warmen Hingebung für Eurer Hoheit Person sehr schwer – aber er muß gethan werden. Ich werde noch heute mein Entlassungsgesuch einreichen“
Der Herzog wandte sich ab. Er schaute eine Weile schweigend, die Hände auf dem Rücken, zum Fenster hinaus; dann schüttelte er den Kopf, seufzte und wandte sich wieder zu Aurel:
„Ich glaube Ihnen ja, daß die Documente da waren und daß sie Ihnen genommen sind, aber ich glaube nicht, daß Gollheim eines solchen Schurkenstreichs fähig ist, sie Ihnen stehlen zu lassen. Nimmermehr! Und Niemand wird es Ihnen glauben. Niemand! Alles wird gegen Sie sein. Und ich, ich kann Sie nicht in Schutz nehmen gegen den Sturm, der sich wider Sie erheben wird. Das ist die einfache Lage der Sache. Die logische Folgerung ist allerdings …“
„Daß Sie meine Demission annehmen, Hoheit!“
„Leider. Ich bedauere es unendlich; es wird mir sehr schwer mich von Ihnen zu trennen. Sie sind ein Mann von Gemüth, Lanken. Sie brachten in unsere Conferenzen nicht allein einen Kopf für die Geschäfte, sondern auch ein Herz für mich – ich habe das recht wohl durchgefühlt; ich habe auch gehofft, Ihre Dienste blieben mir für immer gesichert, und am Ende würde ich Sie auch heute noch festhalten, wenn …“
„Wenn? Hoheit vollenden Ihre so gütigen Worte nicht.“
„Nun, offen heraus -: wenn Sie so viel Tact besessen hätten, den alten Revolutionär von Vater, diesen alten Roßarzt von hier fern zu halten – wenn ich verschont geblieben wäre mit all den Commentaren, die man in meiner Umgebung darüber gemacht hat und noch macht.“
„Hoheit,“ antwortete Aurel, „Sie haben mir eben den Schmerz, daß ich aus Ihrem Dienste scheiden muß, gemildert durch die gütige Art, mit der Sie das Gemüth betonten, und den warmen Herzschlag, womit ich Ihnen gedient – ich bin stolz auf diese Anerkennung - aber wer seinem Fürsten ein treues Gemüth zeigen kann, der wird auch vor Allem den Vater, und was er ihm schuldet, in der Seele tragen“
Der Herzog nickte gedankenvoll dazu.
„Nun ja, darin haben Sie Recht,“ sagte er, „und nun gehen Sie mit Gott, Lanken! Ich werde nun bald diesen Berserker von Gollheim hier haben – und Sie dürfen ihm nicht begegnen. Adieu, Lanken! Wir werden uns ja wiedersehen – überlegen Sie, welche Stellung Sie von nun an wünschen, und lassen Sie mir Ihre Eingabe darüber zukommen! Die Geschäfte führen Sie natürlich weiter, bis ich Ihren Nachfolger ernannt habe.“
Der entlassene Minister verbeugte sich; der Herzog drückte ihm warm die Hand, und Aurel ging.
Als er dann über den Schloßhof davonfuhr, sah er Gollheim, der den kurzen Weg von seinem Hotel zur Residenz zu Fuß machte, triumphirend und mit langen Schritten daherkommen. Gollheim begab sich zu der befohlenen Audienz bei dem Herzog. Aurel ließ wenige Augenblicke nachher seinen Wagen halten; er befahl, indem er ausstieg, seinem Kutscher heimzufahren und trat mit raschem Entschlusse in das Haus Gollheim’s; in den Empfangssalon geführt, ließ er Regina um eine kurze Unterredung bitten.
Sie kam, noch in ihrer Morgentoilette; unter dem Spitzenhäubchen, das ihrem ausdrucksvollen Kopfe eine weiche, echt weibliche Anmuth gab, erröthete sie hoch vor innerer Bewegung.
„Sie, Aurel!“ rief sie mit einer gedämpften Stimme, in welcher etwas von Schrecken zitterte, aus, „was kommen Sie mir zu verkünden? Wie bleich Sie aussehen!“
„Thu’ ich das, Regina? Dann ist’s, weil ich Ihnen etwas zu verkünden habe, was mir den letzten Hoffnungsanker zerbricht; ich habe vom Herzog eben meine Entlassung erbeten.“
„Und er hat sie Ihnen gegeben?“
„Er hat sie mir gegeben.“
Von Regina’s Wange schwand nun ebenfalls alle Farbe.
„O mein Gott – wie geschah das?“ fragte sie, erschüttert in den nächsten Sessel niedergleitend.
„Es blieb mir nichts Anderes übrig. Ich sah, wie man beim Herzog wider mich gewühlt hatte – und die Handhaben waren ja dazu in Fülle gegeben.“
„Der Vater wird triumphiren,“ fiel Regina ein. „Alles, was ich bei ihm versucht hatte, glitt wirkungslos von ihm ab. Ich mußte ihm ja gestehen, daß Ludwig die unbegreifliche Feigheit gehabt, aus Furcht vor seinem Zorn, aus Angst auch vor dem stürmischen Drängen Ihres Vaters, auf und davon zu gehen; daß er entschlossen sei, nicht zurückzukehren, sondern ruhig abzuwarten, welchen Austrag die Sache finden würde. Das schien meinem Vater eine wahre Freudenbotschaft zu sein. Wenn er bei einem Streit vor Gericht sich nicht seinem Sohn gegenübersehen würde, so war für ihn, schien es, Alles gut, Alles gewonnen; ich sah jetzt, wie sehr er gefürchtet hatte, Ludwig’s Leidenschaft für Lily, Ludwig’s Widersetzlichkeit und Auflehnung wider ihn könnten ihm das Spiel verderben. Als er gehört, daß sein Sohn nicht Stirn gegen Stirn ihm entgegentreten werde, ward Alles, was ich sprechen konnte, Schall und Rauch.“
„Ich kann mir denken,“ versetzte Aurel, „daß Ludwig’s Erklärung vor Gericht seine letzte Furcht war, nachdem er sich dessen, was er sonst zu fürchten, glücklich bemächtigt …“
„Bemächtigt? Wessen hätte er sich bemächtigt?“
„Es wird mir schwer, es Ihnen mitzutheilen; es ist bitter, einer Tochter Dinge von ihrem Vater zu gestehen …“
„Um Gotteswillen, sprechen Sie weiter, Aurel!“
„Ich muß es, und darum sei es! Ihr Vater bedient sich eines gewissen Becker zu Diensten persönlicher Art …“
„Ich weiß, ich weiß; der Mensch war mir immer so verhaßt.“
„Der Mensch ist in Intimität mit dem Wirth des Hotels, in welchem mein Vater und Lily wohnten, bemerkt worden. Dieser Wirth ist ein höchst fragwürdiger Charakter. Nun wohl, im Hause dieses Mannes sind meinem Vater Ludwig’s und Lily’s Heiraths-Documente gestohlen worden.“
„Um Gotteswillen!“ rief Regina, in unsäglichem Erschrecken die Hände zusammenschlagend, „das ist ja fürchterlich.“
„Sie wissen ja,“ fuhr Aurel fort, „Ihr Vater behauptet, diese Documente existirten nicht oder seien gefälscht. Auch dem Herzog hat er dies ausgesprochen. Der Herzog hatte deshalb die Documente von mir verlangt. Er wollte sie heute Ihrem Vater vorlegen – vielleicht wollte er sich, unter dem Eindruck der [324] Behauptungen Ihres Vaters stehend, vorher von ihrer zweifellosen Gültigkeit und Echtheit selbst überzeugen; genug, ich sollte sie ihm übergeben und konnte es nicht. Ich konnte nur sagen: sie sind uns geraubt, und damit sprach ich eine Beschuldigung gegen Ihren Vater aus, so schwer, daß dem Herzog nichts übrig blieb, als über Ihren Vater eine Criminaluntersuchung zu befehlen oder meine Entlassung anzunehmen.“
Regina sah mit starren Blicken Aurel an; sie war tief erbleicht und offenbar ganz fassungslos.
„Mein Vater ein Intrigant, ein Dieb – nein, nein, Aurel, es ist nicht möglich, meine ganze Seele bäumt sich dawider auf – es ist nicht möglich,“ rief sie jetzt aufspringend mit dem Tone einer Herzensangst, die etwas furchtbar Erschütterndes hatte.
„Es ist furchtbar, Regina, aber es ist nicht anders. In der weiten Welt ist nur ein Mensch, für den, außer uns, diese Documente einen Werth haben. Und dieser ist Ihr Vater.“
„Und mein Vater,“ murmelte Regina mit ihren bleichen Lippen „mein Vater hat Creaturen, wie diesen Becker …“
Sie rang die Hände, machte ein paar Schritte vorwärts, dann aufathmend mit etwas, was wie ein Weheschrei aus furchtbarster Herzenspein war, stieß sie hervor.
„Aurel, das ertrage ich nicht; das geht über meine Kraft. Ein Bruder, der zu feige ist, sein eigenes, ihm vertrauendes junges Weib zu schützen und zu vertheidigen. Ein Vater, der Documente stehlen läßt – und der dadurch zugleich Sie, Sie, Aurel, um seine ganze Lebensstellung bringt, Sie stürzt, das Land seines – ja, seines Retters beraubt; denn das waren Sie, Aurel, sein guter Genius – ich verstehe nicht, wie ich leben soll unter ihnen – es peitscht mich von hinnen, fort von diesen Menschen, in die Weite, in die Welt, wenn es sein muß, in den Tod hinein.“
Regina war in einer Aufregung, wie Aurel sie nie gesehen; mit flammenden Augen, mit vor Leidenschaft glühenden Zügen ergriff sie seinen Arm, und ihn beinahe krampfhaft mit den zarten Händen umspannend, fuhr sie fort:
„Aurel, wir sind beide freie, willensstarke, unabhängige Menschen – wir sind zu gut, unterzugehen in dieser Umgebung, zu sterben an denen, die unser Glück sein, an denen wir das Leben haben sollten. Lassen Sie uns Rettung und Heil suchen in der Flucht! Ich bin die Ihre, Aurel, nehmen Sie mich für immer und ewig, und fliehen wir, weit, weit von hier, in die fernste Ferne, in irgend ein Sonnenland, nach Italien, nach Indien, wenn es sein muß – auf eine stille Meeresinsel, wenn Sie es wollen!“
„Welcher Gedanke, Regina!“ rief Aurel bestürzt aus.
„Es ist das Beste, das Einzige; ich bin reich, Aurel, durch meine Mutter; auch Sie haben genug, um frei sein zu können.“
„O mein Gott, welche Aussicht schließen Sie da vor den Augen meiner Seele auf, die davon trunken vor Glück werden könnte!“ sagte Aurel, ganz überwältigt sich in einen Sessel werfend und verzweiflungsvoll die Hände vor seine Stirn pressend. „Mit Ihnen zu fliehen, Regina, an ein schönes sonniges Meeresufer, da ein Heim zu gründen, das, von immergrünen Wipfeln beschattet, zwei Menschen umschirmt, welche nur ihrer Liebe und in einer Gedankenwelt leben, die hoch ist wie die Palmen, unter denen sie wandeln, rein wie der Strand zu ihren Füßen, den die ewig plätschernde Meereswelle bespült – mein Gott, welch ein Bild, welch eine Aussicht, welch eine Lockung –“
„Können wir Gerechtfertigteres, Weiseres thun, Aurel?“
„Nein – wenn wir es dürften!“
„Ah, Sie – wollen nicht, Aurel?“
„Ich darf nicht.“
„Dürfen!? Sie sind jetzt frei wie der Vogel in der Luft.“
„Ich bin frei; ich könnte ziehen, wohin es mich treibt – aber ich könnte eines nicht mit mir nehmen, ohne das ich nicht zu leben weiß, auch an Ihrer Seite, Regina, nicht zu leben weiß.“
„Und das ist?“
„Meine Selbstachtung. Ich könnte mich nicht achten, wenn ich nur an mein Glück dächte, und nicht an die Pflicht, die mich hier fesselt. Ich muß meiner Schwester geleugnetes Recht, ihre bedrohte Ehre vertheidigen, retten. Sie hat nur mich hier, der es vermag; ich darf nicht von hier gehen, bis –“
„Also Sie wollen mich dieser Schwester opfern?“
„Opfern – das ist nicht das rechte Wort, Regina; ich muß einstehen für meine Pflicht, damit neben meiner auch Ihre Achtung mir bleibt.“
Regina athmete mehrmals stürmisch auf; es war, als ob sie dem Sturm der in ihr erweckten Leidenschaft durch irgend einen heftigen Schrei, einen gewaltsamen Ausbruch Luft machen müsse, und diesen mit allem Aufgebot ihrer Selbstbeherrschung zurückdränge, und dann ließ sie sich in eine Ecke des Sophas fallen, verbarg ihr Gesicht in den Polstern und begann krampfhaft zu schluchzen. Tieferschüttert legte Aurel seine Hand an ihre Stirn, wie um ihr Gesicht zu erheben und es sich zuzuwenden.
„Regina, seien Sie stark, seien Sie ganz Sie selbst – sagen Sie mir, daß ich Recht habe –“
Sie wehrte heftig seine Hand ab.
„O, Sie lieben mich nicht, Sie lieben mich nicht, Aurel,“ schluchzte sie, erstickt fast von ihren strömenden Thränen, „um Gottes Barmherzigkeit willen, gehen Sie jetzt, lassen Sie mich!“
Aurel stand wie vernichtet. Was beginnen dieser Leidenschaft gegenüber? Reden? Es war vergeblich. Harren, bis Regina ihre Fassung wiedererlangt? Er durfte es nicht. In jedem Augenblick konnte Graf Gollheim nach Hause zurückkehren. Er durfte diesem Manne in dieser Stunde nicht begegnen; es blieb ihm nichts übrig als zu gehen. Regina machte noch einmal eine wie abwehrende Bewegung mit der Hand, und er ging.
Der alte Thierarzt Lanken hatte, nachdem er seinen Sohn verlassen, sich heimbegeben und zunächst sich damit beschäftigt, den Willen des letzteren zu erfüllen und Namen von Behörden, Menschen, Orten jenseits des Oceans aufzuschreiben, deren Aurel bedürfen konnte, um sich neue Anfertigungen der die Trauung seiner Schwester mit Ludwig Gollheim bezeugenden Actenstücke zu verschaffen. Und dann hatte er geharrt auf Aurel’s Erscheinen. Das Harren machte seine unwirsche Stimmung nicht milder; es gingen ihm allerlei Phantasiebilder vor den Augen vorüber, aus denen er eine besänftigende und tröstende Wirkung auf sein verwundetes Gemüth schöpfte. Besonders malte er sich die unglückliche magere Leiblichkeit Schallmeyer’s aus, wie er diese mit genialer Verachtung aller sanctionirten Gesetze und Regeln der edlen Boxerkunst so gewaltsam durcharbeitete, daß kein Cuvier mehr feststellen konnte, ob dies so gründlich in seinem Organismus erschütterte Wesen ein wirkliches Känguruh sei oder nicht.
Während Lanken sich diesen angenehmen Vorstellungen hingab – Lily war im Nebenzimmer und beschäftigte sich mit einer zierlichen Holzmalerei, worin sie mit Hülfe guter Schablonen recht Achtungwerthes leistete – verflossen die Stunden schnell. Aber sie brachten nicht den erwarteten Aurel, endlich nur seinen Diener, der ein Billet übergab und sich, ohne Antwort zu verlangen, wieder entfernte. Lanken erbrach das Billet und las die folgenden Worte von der Hand seines Sohnes:
„Erwarte mich heute nicht! Das Ergebniß meiner Verhandlung mit dem Herzoge ist meine Entlassung gewesen – Du siehst, meine Ministerschaft steht nicht mehr zwischen Deinen väterlichen Gefühlen und Deinem Sohne. Das wird Dir zu großer Befriedigung gereichen; mir giebt es so viel zu denken und zu thun, daß ich die übrigen Stunden dieses Tages für mich bedarf. Also bis morgen!“
Der alte Herr starrte diese Zeilen sehr betroffen an. Aurel nicht mehr Minister? Nicht möglich! Er stürzte zu seiner Tochter hinüber, die eben ihre Holzmalerei gelangweilt fortgeworfen hatte und nun vor dem Spiegel stand; sie war beschäftigt, ihre kirschrothen Lippen mit einem Tuche von den kleinen Farbenstrichen zu reinigen, welche ihr Pinsel, den sie mit diesen hübschen Lippen gespitzt hatte, darauf zurückgelassen.
„Da haben wir die Bescherung, Lily! Lies einmal! Das hat diese infernalische Bande zu Wege gebracht. Gott verdamme das Hundegezücht!“
Lily hatte das Billet ruhig mit den Augen überflogen und reichte es ihrem Vater zurück.
„Aurel ist nicht mehr Minister? O!“ sagte sie sehr gefaßt, „was ist er denn jetzt? Und ist es eine Sache, daß Du so darum fluchen mußt, Governor?“
„Na, fragt die Grasmücke noch? Begreifst Du nicht, wie nachtheilig es für uns ist, wenn Dein Bruder nicht mehr die Macht hat, als Erster im Staate für uns einzustehen?“
Lily hatte sich lässig auf ihren Stuhl am Fenster niedergelassen
[325][326] und blickte nachdenklich durch die grünen Geraniumstöcke, welche die Wirthin da aufgestellt hatte, in’s Freie.
„Hat er nicht mehr die Macht?“ fragte sie jetzt halblaut. „Und welche Macht haben wir denn, Vater? Und wenn wir alle Macht hätten und könnten erreichen, daß wir alle Menschen hier uns zu Füßen liegen sähen, wie sie jetzt alle wider uns sind – was für ein Glück wäre das?“
„Was für ein Glück? Wunderliche Frage –“
„Sie ist gar nicht wunderlich,“ fiel, aus ihrer lässigen Ruhe jetzt plötzlich zur Heftigkeit übergehend, Lily ein – „begreifst Du denn nicht, daß ich gar kein Glück mehr darin sehen kann, in dem dunklen stillen Hause dieser Grafenleute zwischen Verwandten zu leben, die mich hassen und verfolgen, gezwungen, mit ihren Freunden zu verkehren, die mich verachten, weil ich nicht so vornehm bin, wie sie zu sein glauben? Begreifst Du das nicht?“
„Nun höre Einer diese Ideen der Grasmücke an!“ rief bestürzt der alte Thierarzt aus. „Aber ich bitte Dich, das wäre vorher zu überlegen gewesen, ehe Du die Hand dieses Windhundes von …“
Eine Sommerfahrt durch den Griechischen Archipel.
Nachdem ich vier lange Jahre unter dem strahlenden, sonnigen Himmel und in der balsamischen Luft der Hochebenen von Südafrika verlebt, hatte ich im Frühling 1875 meine Rückreise nach Europa längs der ostafrikanischen Küste angetreten und dabei einen längeren Aufenthalt innerhalb der sonnenglühenden Mauern von Zanzibar genommen. Hiernach hatte ich dann im Monat August den backofenähnlich erhitzten Kessel des Rothen Meeres durchzogen, im Lande der Pharaonen einige Tage der Ruhe gepflegt und schließlich mich auf einem Dampfer des österreichischen Lloyd nach Constantinopel eingeschifft.
Das Deck des Schiffes war, wie es ja gewöhnlich bei den Schiffen im Orient der Fall, zur Hälfte mit zahlreichen verschleierten türkischen Frauen angefüllt, die durch eine Barrière von den übrigen Passagieren abgesperrt waren. Ein Türke, und sei es auch der vornehmste, pflegt in der Regel nur den Deckplatz zu nehmen, da der Comfort und die Gesellschaft des Ersten Platzes ihn nicht reizen und überdies die eigene mitgenommene Kost von Brod, Zwiebeln, Gurken und Melonen seinem einfachen Geschmacke ungleich mehr zusagt, als die reichbesetzte Tafel der Ersten und Zweiten Kajüte. Wir hatten diesmal ausnahmsweise einen Pascha in der Cabine, der aber dessenungeachtet seinen mitreisenden Harem auf dem Deck schlafen ließ. Auch verschiedene türkische Officiere, theils in sehr abgeschabten, theils in brillanten neuen Uniformen, befanden sich an Bord; das Deck war überhaupt mit türkischen und griechischen Reisenden dermaßen überfüllt, daß man sich nur mit Mühe seinen Weg hindurchbahnen konnte durch diese eng zusammengeknäulte Masse von menschlichen Wesen, welche mit gekreuzten Beinen auf Hunderten von kleinen Teppichen zusammenhockten. Ein Kaffeewirth, der sein „fliegendes Kaffeehaus“ auf Deck aufgeschlagen hatte und zugleich Brod buk und Süßigkeiten verkaufte, lief fortwährend zwischen den bunten, rauchenden und still in sich versunkenen Gruppen hin und her, um seine Anwesenheit durch den unermüdlich wiederholten lauten Ruf: „Kaffeedschi! Kaffeedschi!“ allseitig in Erinnerung zu bringen und zugleich „Atésch“ (Feuer) herumzugeben. Die einfache und jedesmal nur wenige Kupfermünzen kostende Nahrung, welche der Kaffeedschi den türkischen Reisenden bietet, überhebt sie der kostspieligen Nothwendigkeit das Restaurant und die Table d’hôte des Schiffes in Anspruch zu nehmen, und was das Nachtlager betrifft, so ist dasselbe ja in heißer Sommerszeit ganz ungleich angenehmer auf dem kühlen Deck, als in den schwülen und engen, durchhitzten Cabinen.
Die Passagiere des Zweiten und Dritten Platzes hatten, wie dies auf solchen Schiffen trotz der gedruckten Verbote zu geschehen pflegt, rücksichtslos das ganze Hinterdeck überschwemmt, sodaß diejenigen des Ersten Platzes selten einmal eine Bank frei fanden, um sich darauf auszuruhen. Es waren zwar einige Lehnstühle mit der Aufschrift „Primo Posto“ aufgestellt – welcher Passagier Erster Classe möchte aber wohl so ungalant sein, eine ruhebedürftige Dame von einem dieser bequemen Stühle gewaltsam wegtreiben zu wollen? Auf der anderen Seite jedoch wurde für mich der plebejische Charakter dieses Lloyddampfers dadurch wieder aufgewogen, daß letzterer als ein deutsches Schiff (denn Triest ist und bleibt in meinen Augen eine deutsche Stadt) mich nach so langer Abwesenheit vom lieben Vaterlande außerordentlich angenehm anheimelte, und überdies hier den Passagieren in Bezug auf Toilette und sonstige Befindlichkeiten viel weniger Zwang auferlegt wurde, als auf den großen, sichtlich hauptsächlich für Nabobs und Millionäre bestimmten englischen Prachtschiffen.
Am zweiten Tage nach unserer Abfahrt von Alexandria schwammen wir in den Griechischen Archipel ein. Ich kenne kaum etwas Angenehmeres, als auf einem comfortablen Schiffe bei glatter See und hellem Sonnenschein durch diese malerische Inselwelt hindurchzudampfen, namentlich in den Frühlingsmonaten, wenn ein frisches Grün diese malerischen Bergformen umkleidet und die letzteren daher noch nicht die braune, verbrannte Färbung des Sommers und Herbstes angenommen haben.
Geht auch diesen Eilanden der Reiz einer üppigen Baumvegetation vollständig ab, wie solche z. B den Inselarchipel im Lake George in Nordamerika so paradiesisch schön erscheinen läßt, so tragen doch auf der andern Seite die elegant geschwungenen Linien ihrer mächtigen Bergformen, welche oft auf ihren höchsten Punkten mit weiß herüberglänzenden Häuschen oder dunkeln Klöstern gekrönt sind, ferner die zu den verschiedenen Tageszeiten so anmuthig wechselnden goldgelben, dunkelbraunen, blauen, violetten, rosenfarbenen und purpurnen Lichter, welche Berge und Thäler so mannigfaltig umkleiden, vor Allem aber die großen Erinnerungen, die aus grauer Vorzeit her alle diese Plätze mit einem geheimnißvollen Schleier von Poesie umweben, mächtig dazu bei, dieser Inselwelt einen bestrickenden Reiz zu verleihen. Namentlich in den stillen Nächten, wenn unser Schiff mit seinen funkensprühenden Schloten wie ein feuriger Drache über die schwarzen Fluthen dahinglitt, ein bleiches Mondlicht die Bergspitzen mit silbernen Nebeln umspann und hier und da an den dunkeln Ufern und auf den kühngezackten Bergkämmen helle Lichter und Feuer aufblitzten – dann versank ich immer in ein phantastisches Träumen, angeregt durch den zauberhaften Anblick dieser sagen- und erinnerungsreichen Küsten und eingewiegt durch den gedämpften Rhythmus unserer Dampfmaschine.
Die ionischen Inseln und Chios bieten dem Auge wahrhaft paradiesische Landschaften, von denen schon der geistvolle Fürst Pückler sagte, daß er sich so und nicht anders „die Gefilde der Seligen“ vorstelle. Syra, Tinos, Naxos und die übrigen südlicher gelegenen Cycladen und Sporaden, sowie Rhodos entbehren zwar den größten Theil des Jahres hindurch des schönen grünen Vegetationskleides, bieten aber dafür andere Reize, z. B. das schillernde Bild der fortwährend wechselnden Sonnenlichter und Schattenreflexe, welche die malerisch geformten Berggruppen und zerrissenen Seitenthäler und Klüfte mit prächtigen brennenden Farben umkleiden. Von den zahlreichen Bergspitzen dieser Inseln sieht man oft eine ganze Reihe von Nachbarinseln tief unter sich, von glühend blauem Aetherdufte umflossen, aus dem silbernen Meeresspiegel heraufleuchten; diese herrlichen Aussichten bilden die Hauptreize der griechischen Inselwelt.
Des Abends sahen wir hier und da rothglühende Feuerstreifen auf den Meereilanden, die sich langsam schlängelnd längs der Bergabhänge fortbewegten – ein Zeichen, daß auch hier Jahr für Jahr der verderbliche Gebrauch des Abbrennens des verdorrten alten Grases fortgesetzt wird, über den ich mich schon in den Ländern der Kaffern von Südafrika so oft geärgert hatte und welcher gewiß die Hauptschuld daran trägt, daß auf diesen Inseln kein junger Baumwuchs mehr aufkommen kann, und daß sie, die in der schönen [327] alten Hellenenzeit lauter baumbedeckte grüne Paradiese waren, jetzt in der Mehrzahl so baum- und wasserarm geworden sind. Diese Inseln sind, obgleich sie teilweise noch unter türkischer Herrschaft stehen, doch beinahe ausschließlich von griechischer Einwohnerschaft bevölkert – soweit ich Sie kennen gelernt, eine höchst freundliche, liebenswürdige, einfache und ehrliche Bevölkerung; ich fand hier meine schon öfter gemachte Erfahrung bestätigt, daß Insulaner gewöhnlich eine liebenswürdigere Menschenrasse sind, als die Bewohner das nächstliegenden Festlandes von gleicher Volksrasse. In Folge seiner Weltabgeschlossenheit und des darauf hervorgehenden Bedürfnisses, einmal etwas Neues zu hören, pflegt der Insulaner namentlich gegen den Fremden mehr gastfrei, offener und entgegenkommender zu sein, als der von Touristen und Geschäftsreisenden so viel mehr überlaufene Festländer. Auch das Familienleben ist aus gleichen Gründen auf Inseln im Durchschnitte wohl inniger und gemütlicher, als auf dem Continente. Mir für meine Person ist das Leben auf Inseln immer unendlich sympathisch erschienen, namentlich in solchen Inselparadiesen wie Madeira, Zante, Chios, und ich begreife vollständig den gleichen Naturhang des feinfühlenden Bernardin de Saint Pierre, wenn derselbe in seinem unsterblichen „Paul und Virginia“ einen lebensmüden Greis dem wüsten und sinnverwirrenden Taumel der Welt entfliehen läßt, damit er seinen Lebensabend in stiller Zurückgezogenheit auf einem solchen abgelegenen schönen Eilande verbringe. Freilich: keine Regel ohne Ausnahme; so ist es z. B. bekannt, daß die größten Spitzbuben Constantinopel’s meist von den Inseln Tinos, Corfu, Cephalonia, Malta und einigem anderen in dieser Hinsicht speciell berüchtigter Eilanden gebürtig sind. Die moralische Verderbtheit dieser Leute dürfte aber leicht daraus sich erklären, daß die genannten Inseln zu dicht übervölkert sind und ein großer Theil ihres überflüssigen Bevölkerungszuwachses zu stetiger Auswanderung gezwungen ist; natürlich werden nun die mit Dampfschiffen so leicht und rasch zu erreichenden, nahe gelegenen Großstädte: Constantinopel, Smyrna und Alexandria mit solchen Proletariern unaufhörlich massenhaft überschwemmt; arme Teufel aber sind selbstverständlich in allen Großstädten der Welt der Demoralisation viel leichter abgesetzt als bemittelte Leute.
Nachdem wir die Inseln Skarpanto, Kos, Leros, Patmos, Rikaria und in einiger Distanz Samos, die Residenz des Fürsten von Samos, passirt hatten, hielt unser Dampfer zwei Stunden lang bei der Insel Chios an. Hier war es, wo mir bei einem halbstündigen Anslandgehen die edelste Frauengestalt begegnete, welche ich je in der Welt gesehen – eine von jenen beinahe überirdischen Schönheiten, deren erster Anblick das Herz wie mit einem elektrischen Schlage durchzuckt und uns in der Brust den Athem versetzt, indem er uns nur den einen Wunsch in der Seele erregt: vor einer solchen Himmelserscheinung niederzuknieen und in ihr das Spiegelbild des Urquells aller Schönheit und Vollkommenheit anzubeten. Es war eine junge Dame von sechszehn bis achtzehn Jahren, in welcher mir die herrliche Vestalis Tuscia der Dresdener Antikensammlung lebendig geworden erschien – ein treues Bild des uns durch zahlreiche Statuen überlieferten althellenischen Typus, mit dem Ausdrucke einer holden kindlichen Unschuld und eines klaren, himmlisch reinen Seelenspiegels.
Es war schon Abend geworden, als unser Dampfer sich wieder in Bewegung setzte. Die vielen allmählich aufblitzenden Lichter der Stadt, namentlich aber die vielfarbigen Lichtpunkte an den Leuchttürmen und an den Masten der Schiffe, die sich zitternd im Meere wiederspiegelten, gaben dem letzten Theile der Aus- und Einschiffungsscene, die unter einem großen Lärm vor sich ging, einen höchst malerischen Hintergrund. Verkäufer der berühmten chiotischen Süßigkeiten (Fruchtgelees in Gläsern und Rochatlikum, die beliebte Leckerei der Haremsdamen, ein auf der Zunge allmählich zerfließender sehr süßer Teig von geronnenen Fruchtsäften) boten schreiend ihre Waare aus und setzten viel davon an unsere zahlreichen Passagiere ab. Gespenstisch standen überall auf den Hügeln und Höhen zahlreiche kleine steinerne Windmühlen mit kurzen radartig ausstrahlenden und rasch sich drehenden Segelflügeln, deren pittoreske Silhouetten allen Landschaften dieses Archipels ein charakteristisches Gepräge verleihen.
Am nächsten Morgen dampften wir in den schönen, breiten Meerbusen von Smyrna ein, der mir ein alter Bekannter war. Wir passirten die „Brüder“, zwei gleich hoch neben einander aufragende sehr malerische Bergspitzen, und warfen gegen acht Uhr im Hafen von Smyrna Anker. Wie war ich aber erstaunt, als ich meinen Fuß an’s Land setzte! War das die engwinklige, luft- und lichtlose Stadt, in der ich nach noch im Jahre 1868 so beengt und bedrückt gefühlt hatte? Die zahlreichen, auf Palissaden im Wasser stehenden Kaffeehäuser, wo waren sie hin mit ihren luftigen und aussichtsreichen Verandas, mit ihren wehenden bunten Flaggen, ihren über den Wasserspiegel herübertönenden Guitarren- und Fiedeltönen und ihrem allabendlichen reichen Lichtergeflimmer? An die Stecke dieser malerischen Uferscenerien war ein breiter und vornehmer steinerner Quai getreten, der das früher ganz verdeckte Gesammtbild der Stadt für den ankommenden Reisenden offen gestellt hatte.
Die Bevölkerung von Smyrna zählt 150,000 Seelen, hauptsächlich Griechen und Türken, nebst einem Bruchtheil von Armeniern und Juden. Die griechische Bewohnerschaft zerfällt in zwei Classen, die einander grimmig hassen und niemals sich durch Heiraten mit einander vermischen, nämlich in die römisch-katholischen Griechen, die für sich die Bezeichnung „Smyrnioten“ besonders in Anspruch nehmen, und die orthodoxen Griechen. Diese beiden Classen wohnen getrennt von einander in verschiedenen Stadttheilen
Die deutschen Diakonissinnen der vom Pastor Fliedner errichteten Anstalt haben inmitten der Stadt eine große und vortreffliche und weithin in der ganzen Türkei berühmte Mädchenlehranstalt (nebst Hospital), deren helle weiße Säle sehr sauber, geräumig und luftig sind und wo Hunderte von jungen Mädchen aus den besten griechischen, armenischen, levantinischen (das ist im Oriente ansässigen europäischen) und selbst einige aus türkischen Familien eine vorzügliche Erziehung erhalten. Die Culturmission der deutschen Nation macht sich also hier in Smyrna in einer sehr rühmenswerten Richtung: in der Erziehung der Jugend geltend. Außerdem muß ich noch bemerken, daß das comfortabelste Hotel in Smyrna (die Pension Müller), der beste und gesuchteste Clavierlehrer (Herr Unger) und die geübteste Feuerwehrcompagnie deutsch sind: diese vier Richtungen des deutschen Culturelements repräsentiren also unsere Nation in der kleinasiatischen Metropole in durchaus würdiger Weise.
Die Bevölkerung von Smyrna ist eine äußerst vielsprachige. Ich fand, daß die Töchter der sämmtlichen Familien, in denen ich eingeführt wurde, regelmäßig in fünf Sprachen sich geläufig ausdrücken konnten: im Griechischen, Französischen, Italienischen, Englischen und Deutschen, viele außerdem auch noch im Türkischen und Armenischen. Wie oft passirte es mir, wenn ich entlegene unbelebte Straßen durchwanderte, daß schmucke kleine Mädchen, die plaudernd vor den Hausthüren saßen, mir freundlich ein deutsches „Guten Tag“ zuriefen! Hätte ich ein englisches, französisches oder italienisches Aussehen gehabt, so würden sie mir mit gleicher Liebenswürdigkeit ein „Good morning“, „Bon jour“ oder ,„Bon giorno“ zugerufen haben.
Die Frauen und Mädchen von Smyrna sind schon von Alters her wegen ihrer Schönheit berühmt gewesen und sind es noch jetzt. Trotzdem dürfte die Stadt sich nur zum Wallfahrtsorte für solche heirathslustige Garcons eignen, die keinen Anspruch auf Zubringung einer Mitgift erheben; denn allen jenen reizenden „blumenbedeckten Abgründen“, wie einer unserer neueren Romandichter so ungalant die heiratsfähigen Mädchen zu bezeichnen beliebt, fehlt es hier in Smyrna in der Regel an dem nervum rerum, an einem gleich mitgegebenen oder doch wenigstens später mit Sicherheit zu erwartenden baaren Vermögen.
Die Umgebungen von Smyrna sind ganz reizend und namentlich die benachbarten Villendörfer Budschah und Burnabat reich an den geschmackvollsten Gartenhäusern mit schönen Gärten und Fernblicken. Das Leben auf dem Lande ist hier noch überraschend billig; in den netten Hotels von Budschah wird dem Fremden eine tägliche Pension von vier Mark achtzig Pfennig abverlangt.
Eisenbahnen verbinden die Stadt Smyrna einerseits mit Aya Solúk, den Ruinen von Ephesus, und Aidin (Güssel-Hissar), andererseits mit Magnesia. Die Ruinen von Ephesus zeigen dem Auge ein weit ausgedehntes prächtiges und das Gemüth tief ergreifendes Trümmerfelde sie sind reich an umgestürzten und zerbrochenen Marmorsäulen von mitunter riesenhaftem Umfange. Schwermütig weiden jetzt einzelne Schäfer ihre Heerden zwischen den einsamen gras- und buschumwachsenen Trümmern, und die ganze Gegend ist durch Moräste und Sümpfe äußerst ungesund geworden. [328] Die nächste Umgebung von Smyrna ist in neuester Zeit öfters durch Räuberbanden sehr unsicher gemacht worden. Selbst den unmittelbar im Rücken der Stadt emporragenden Schloßberg, der von gewaltigen Ruinen gekrönt ist und von dessen Höhe man eine herrliche weite Rundsicht genießt, durfte man nicht ohne Waffen besteigen.
Aber nicht allein außerhalb der Stadt lauern die Briganten, sondern auch innerhalb ihrer Mauern, wenn auch in dem unverdächtigen Costüm anständiger Leute. Es giebt nämlich im Handelsstande von Smyrna vielleicht mehr als an irgend einem anderen Platze der Welt eine gewisse Sorte von Geschäftsleuten aus allen Nationen, deren Haupthätigkeit im Betrug und in der Plünderung der ihnen vertrauenden großen und kleinen Capitalisten besteht. Ich selbst habe über diese Herren leider persönlich die unerwünschtesten Erfahrungen zu machen Gelegenheit gehabt. Betrügerische Bankerotte sind das Hauptmittel, mit dem sich diese gewandten Speculanten zu bereichern pflegen. Natürlich giebt es auf der anderen Seite auch eine Anzahl von guten und streng ehrenhaften Kaufmannsfirmen, es muß aber eben Jeder, der mit Smyrna in Geschäftsverbindung treten will, erst sehr genaue Personal-Vorstudien machen, ehe er Gelder oder Waaren nach diesem Platze zu senden riskiren darf.
Smyrna hat mit den meisten Seestädten des mittelländischen Meeres die Eigenschaft gemein, daß ein jedes der besseren Häuser (meistens bunt angemalte Holzbauten) sein pittoreskes Aussichtsthürmchen und sein plattes Dach zum Spazierengehen hat. Eine Abendpromenade auf einem solchen Dachplateau giebt nicht nur eine herrliche Aussicht auf Meer und Schiffe, Gärten und Gebirge im Lichte der untergehenden Sonne, sondern auch auf zahlreiche schlanke Mädchentaillen, anmuthige Frauenköpfe und eine fröhlich sich tummelnde Kinderwelt; denn alle diejenigen Familien, denen platte Dächer zur Disposition stehen, lieben da oben in den kühlen Abendstunden die erfrischende Seeluft einzuathmen.
Nach siebenstündigem Aufenthalte und nachdem ich noch durch die Güte meines in Smyrna lebenden Freundes Stöckel die Bekanntschaft des bekannten deutschen Consuls Julius Frobel, des einstigen Genossen Nobert Blum's und Mitgliedes des deutschen Parlaments von 1848, gemacht, lichteten wir von Neuem die Anker und dampften wieder hinaus in die lange und weite, einem stundenbreiten Strome gleichende Bai. Unser Schiff hatte in Smyrna viele neue Passagiere an Bord genommen und das Verdeck war in Folge dessen gedrängt voll von fremdartigen Gestalten. Das Fenster meiner Privatkajüte ging nicht unmittelbar auf die See hinaus, sondern auf einen Corridor innerhalb der Schiffswand, der mit Gruppen von türkischen Frauen und Kindern angefüllt war und zu dem die männlichen Passagiere des Deckes weder Zutritt noch Einblick hatten, Türkische Kinder sind mit ihren frischen blühenden Gesichtchen und ihrem geschmackvollen bunten Costüm immer eine angenehme Erscheinung. Gilt in den Vereinigten Staaten mit Recht das Wort: „Amerika hat keine Kinder“, da eben die letzteren dort fast durchgängig einen in so außerordentlichem Grade frühreifen, selbständigen und unabhängigen Geist offenbaren, so scheint mir der Orient das Land der Kinder par excellence zu sein. Diese schmucken kleinen Türken und Türkinnen erschienen mir immer so still, so sanft und bescheiden, so respectsvoll und gehorsam gegen ältere Personen, daß sie mir fast wie kleine Engel vorkamen.
Das Türkenkind ist gewohnt, in jedem alten Manne mit weißem Barte ein ihm vorgesetztes höheres und verständigeres Wesen zu sehen, dessen Weisungen ohne Widerrede zu gehorchen ihm eine unweigerliche und ausdrücklich vom Koran gebotene Pflicht ist. Woher diese Verschiedenheit der Kindernatur in Amerika und im Orient? Ihr Grund liegt in der Erziehung; denn in der Türkei wird das Kind in strengem Gehorsam und straffer Disciplin auferzogen; in Amerika wird ihm in Allem vollständig der freie Wille gelassen, damit es ein würdiger, selbstbewußter und willensstarker Bürger der Republik werde. Beide Methode habe ihre guten Seiten, aber auch ihre Gefahren. Für edel angelegte, hoch und reich begabte Naturen mag im Allgemeinen die amerikanische Erziehungsmethode die bessere sein, für niedere und leitungsbedürftige aber (und bilden diese nicht leider die Mehrzahl der Menschen?) ist es entschieden die türkische.
Vor meinem Fenster hatte sich auf weichen bunten Kissen und Teppichen eine Gruppe von jungen Türkinnen von zwölf bis zwanzig Jahren gelagert (hier zu Lande sind schon die zwölf- bis vierzehnjährigen Mädchen vollkommen erwachsen und heirathsfähig), deren freies ungenirtes Wesen mich nicht wenig belustigte; sie hatten es wohl bemerkt, daß ich sie öfter durch das Fenster beobachtete; ich habe jedoch wiederholt die Erfahrung gemacht, daß Türkinnen sich vor Europäern nur dann ängstlich zu verschleiern und zu verbergen pflegen, wenn sie wissen, daß ein türkischer Mann sich in der Nähe befindet, fühlen sie sich aber vor der Ueberwachung eines solchen sicher, so scheint es ihnen Spaß zu machen, sich vor dem europäischen Fremdling so wenig zu geniren, als wenn auch er nichts weiter als ihresgleichen wäre. Da ich nun häufig einige leckere Süßigkeiten von der Table d'hôte meinen türkischen Reisegefährtinnen durch das kleine Fenster zuschob, so steckte sich zwischen uns rasch eine Art Freundschaft her. Die Türkinnen sind oft sehr anmuthige Erscheinungen, freilich nur bedingungsweise; sie tragen ihr Haar rings herum in unter den Ohren hinlaufender gleicher Linie verschnitten, gerade so, wie es die Ritterpagen des Mittelalters bei uns zu tragen pflegten. Diese Haartracht steht den intelligenten weißen und oft höchst edel geschnittenen Gesichtern sehr hübsch. Das Costüm freilich, der lange unförmliche, rosenfarbene, purpurrote, braune, grüne oder orangene Zeugmantel mit seinem vollständigen Mangel an Taille – die katzenartige, platte Rundung des Kopfes, welche durch die dickanliegende Verschleierung desselben hervorgebracht wird, und die gräßlichen weiten und losen und jedes Absatzes entbehrenden gelben Ritterstiefel, an denen gleichfarbige Pantoffeln plump und schwerfällig hin- und herschleppen, bilden in ihrem Ensemble wohl die geschmackloseste, unschönste und widerwärtigste Tracht, die jemals für Evastöchter erfanden werden konnte. Viele der vornehmeren Türkinnen sind übrigens in den letzten Jahren zu der Einsicht gekommen, daß ihre traditionelle Fußbekleidung die ungefälligste von der Welt ist und daß ihre niedlichen Füßchen sich unendlich hübscher in eleganten Wiener oder Petersburger Stiefeletten ausnehmen. Es ist daher schon gar nicht mehr selten die Perle des Harems in den feinsten europäischen Absatzstiefelchen einherwandern zu sehen. Der geheimnißvolle Gesichtsschleier, der Stirn Nase und Kinn Quer umspannt, hat sich auch in den letzten Jahrzehnten allmählich immer mehr und mehr verdünnt und ist jedenfalls unvergleichlich gefälliger, als die schwere dunkelfarbige Gesichtsmaske, deren unsägliche Häßlichkeit mich immer so sehr bei den arabischen Fronen von Zanzibar empört hat.
Wenn diese kleinen Modenveränderungen und Neuerungen allmählich so fortschreiten, dürfte vielleicht binnen ein paar Jahrzehnten auch der bunte lange Mantel und die weiten bauschigen Beinkleider einer europäischen Taillenrobe und zierlich beränderten schneefarbigen Pariser Jupons weichen. In schlanken Taillen werden freilich die Türkinnen (ausgenommen solche, die noch in der frühesten Jugend stehen) wohl nie besonders glänzen, da die Disposition zur Körperfülle mit zunehmenden Jahren fast allgemein bei ihnen, wie ja überhaupt bei den Frauen des südlichen Europa, sich geltend macht. Zum Glück für sie verlangt aber gerade der Schönheitssinn der türkischen Männer eine solche Corpulenz, und eine elfenhaft-zierliche, englisch-amerikanische Taille würde daher vermuthlich den Frauen vollständig die Herzen ihrer Gatten entfremden.
Nachdem wir die langgestreckte Bai von Smyrna hinter uns hatten, passirten wir die schönen Inseln Mitylene, Tenedos und Lemnos und fuhren dann in die herrliche Wasserstraße der Dardanellen ein, deren raschfluthender Meerstrom fortwährend mit zahlreichen Segel- und Dampfschiffe überdeckt ist. Sowohl am Eingange der Straße wie auch beim Austritte derselbe in Gallipoli hielt unser Schiff eine halbe Staude an und dampfte nun in das spiegelglatte Marmara-Meer hinein, dessen entfernte Ufer wir nie ganz aus den Augen verloren.
Am 23. August früh sah ich endlich die mir so wohl bekannten eleganten Contouren der zahlreichen runden Moscheekuppeln und schlanken Minarets von Constantinopel sich am nordöstlichen Horizonte abzeichnen, und um 7 Uhr warfen wir in der Mitte des herrlichsten vom lichten Glanze der Morgensonne überflutheten Rundpanoramas im „Goldenen Horne“ Anker. Endlich, nach 41/2 Jahren, betrat ich nun wieder den heimatliche Boden Europas, und ich fühlte mein Herz freudig schlagen.
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Der Culturkampf in der protestantischen Kirche.
Ein Blick in die Geschichte des deutschen Protestantismus (vergl. Nr. 17) hat gezeigt, wie sich die Bewegung, welche gegenwärtig die protestantische Kirche erschüttert, historisch entwickelt hat. Die Geschichte der orthodoxen Kirche ist zugleich auch das Gericht über dieselbe, und diesem Gericht fällt gleichzeitig die ganze Reaction anheim, insofern sie das Geistesleben des protestantischen Volkes in Formen hineinzuzwingen sucht, welche sich schon in der Vergangenheit als für den Geist des Protestantismus unangemessen erwiesen haben. Wollen wir aber die ganze Tragweite der gegenwärtigen kirchlichen Bewegung richtig würdigen, so muß zu dem Urtheil, das die Geschichte gesprochen, noch die Einsicht in die Gefahren kommen, die aus der kirchlichen Reaction für unser Volksleben entstehen.
Was die kirchliche Reaction im letzten Grunde so gefährlich macht, ist die Geschicklichkeit, mit der sie die edelsten und reinsten Kräfte des menschlichen Gemüths zu den niedrigsten und verwerflichsten Zwecken zu mißbrauchen versteht. Wir rechnen mit Recht das religiöse Vermögen zu den höchsten Kräften des Menschen. Es ist ja die Kraft, mit welcher der Mensch sich seiner eigenen Unendlichkeit bewußt wird, die Kraft, mit der er die ewigen Ideale erfaßt und sich an ein unbedingtes geistiges Princip hingiebt.
Gewiß hat manchen „Gartenlauben“-Leser schon einmal der Weg am schönen Sonntagsmorgen in ein friedliches, von der großen Heerstraße der Civilisation abseits gelegenes Dorf geführt. Sobald vom Thurme herab die Glocken erklingen, fängt die stille Dorfstraße an, sich zu beleben. Ehrbar und gemessen zieht Alt und Jung, festlich geschmückt, zur Kirche, und auf manchem harten, gramgefurchten Antlitz sieht man einen hellen Sonnenblick der Freude aufleuchten. Sie alle wollen sich in der sonntäglichen Feststunde, wenn auch nur für kurze Augenblicke, über den Staub der Alltäglichkeit erheben, wollen ihre Sorgen vergessen und sich ihrer höheren geistigen Würde einmal wieder bewußt werden. Für wen hätte ein solcher Anblick nicht etwas unbeschreiblich Rührendes, möchte er auch sonst zu den kirchlichen Fragen stehen, wie er wolle!
Für einen großen Theil unseres Volkes ist die Religion nichts Geringeres als die ganze Summe seines geistigen Lebens. Das moralische Gefühl, der Sinn für das Schöne und das Streben nach Erkenntniß, alles ist dem Volke, so lange es sich im Zustande ursprünglicher Naivetät befindet, zusammengefaßt in seiner Religion. Es kniet vor seinen Heiligenbildern, weil ihm dieselben in der ihm allein verständlichen Sprache des Bildes von der Hoheit des sittlichen Ideals erzählen. Es schaut in der gütigen Mutter Gottes den Begriff des ewig Weiblichen, der ewigen Ideen verkörpert. Seine Capellen, seine Heiligthümer und Altäre vergegenwärtigen ihm die Ideen einer ewigen Gerechtigkeit und Heiligkeit.
Wer will das Kind schelten, wenn seine Phantasie der Puppe, die es im Arme hält, Leben verleiht, oder wenn es in seiner Märchenwelt wie in einer realen Welt zu Hause ist? So vermag auch das Volk im Kindesalter der Menschheit im kleinen Zeichen und Bilde Unendliches zu empfinden. Wenn es in überströmendem Gefühle seine Processionen feiert oder voll brünstiger Andacht auf den Knieen liegt vor den schlichten Kreuzen, die am Wege stehen, so drückt es in allen diesen Geberden und Gebräuchen ursprünglich nichts aus, als seine Sehnsucht und seine Schmerzen, sein Jubeln und seine Freude. Es lebt in der Welt der Wunder, wie das Kind in seiner Märchenwelt, und der schöpferische Volksgenius verbindet in glücklicher Einfalt Sinnliches und Uebersinnliches, unbekümmert darum, ob eine solche Verbindung vor dem Forum des exacten Denkens bestehen könne oder nicht.
Nun tritt aber im Leben des Volkes früher oder später ein Augenblick ein, wo es diesen Standpunkt der ursprünglichen Naivetät verläßt, wo es zum Bewußtsein des Gegensatzes zwischen dem Sinnlichen und dem Uebersinnlichen erwacht und demgemäß das Unzureichende jener früheren Vermischung beider empfindet.
Im Protestantismus ist dieser Augenblick thatsächlich eingetreten. Das protestantische Volk hat im Großen und Ganzen von diesem Baume der Erkenntniß gekostet und damit die Grenze, welche den Zustand der kindlichen Naivetät von dem selbstbewußten Leben trennt, überschritten. Nach einem unabänderlichen Gesetze des geistigen Lebens ist es schlechterdings unmöglich, jenen früheren Zustand wirklich wieder herzustellen. Jeder derartige Versuch führt vielmehr mit innerer Nothwendigkeit zur Heuchelei oder zum Aberglauben, den widerwärtigsten Carricaturen der Frömmigkeit.
Aberglaube und Heuchelei, diese unvermeidlichen Erscheinungen kirchlicher Reaction, sind deshalb keine natürlichen Gewächse des menschlichen Herzens. Sie sind künstliche Producte, die da entstehen, wo die Priester dazu kommen und den Menschen einreden, die ewige Idee sei nothwendig an eine bestimmte sinnliche Darstellung gebunden, wo somit die geistige Entwickelung gewaltsam gehemmt und die durch fortschreitende Bildung immer schärfer getrennte Verbindung des Sinnlichen und des Geistigen künstlich wieder hergestellt wird. Ob dann die Idee des Unendlichen an ein heiliges Gebäude, ein heiliges Thier und einen heiligen Hain, oder an ein heiliges Buch, das sogenannte „Wort Gottes“, eine heilige Lehre, die kirchliche Dogmatik, oder an eine geweihte Hostie und andere Sacramente unzertrennlich und wunderartig gebunden erscheint, das macht für die Sache selbst keinen Unterschied.
Zuerst hatte der überwallende Impuls des Herzens die Menschen vor der Ahnung des Unendlichen auf die Kniee geworfen. Dann kam die Hierarchie und erklärte solch Knierutschen für nothwendig zur Seligkeit. Zuerst hatte das liebende Herz mit den Geistern seiner Todten liebende Gemeinschaft gepflogen; es hatte auf Schritt und Tritt den trauten Ton der Verstorbenen zu hören, das geliebte Antlitz zu sehen geglaubt. Dann kam die Orthodoxie und versteinerte diese Empfindungen des Gemüths zu einem Dogma von der Auferstehung des Fleisches. Die leeren Schalen der Frömmigkeit, die früher einmal einen natürlichen, lebensvollen Kern gehabt haben, werden mit einem künstlichen, übernatürlichen Nimbus ausgestattet; die orthodoxen Formeln und Gebräuche erhalten den Stempel des göttlichen Mysteriums; der Vernunft wird Schweigen geboten: das ist der einfache, aber mit entsetzlicher Sicherheit wirkende Apparat, mit dem die kirchliche Orthodoxie arbeitet.
Und ist es einmal gelungen, bei dem Volke einen solchen Talisman, der es von der ewigen Verdammniß erretten und gegen die Folgen der menschlichen Fehler sicher stellen soll, einzuführen, dann ist das Volk zum willenlosen Werkzeug der Hierarchie geworden, der es abergläubische Verehrung zollt. Dann wird die Menschheit zum geistigen Krüppel, der nicht auf eigenen Füßen, sondern nur auf untergestellten Krücken gehen zu können glaubt.
Wo aber bleiben alsdann die ewigen Ideen, die das Volk, so lange es seinem freien schöpferischen Genius folgte, unter der Hülle sinnlicher Bilder und Vorstellungen anschaute und die seinen religiösen Gebräuchen Weihe und Gehalt gaben? Sie sind der Orthodoxie schließlich vollständig abhanden gekommen, seitdem man sie in kirchlichen Lehrformeln und Ceremonien zu besitzen behauptete. Die Wahrheit hat für den Orthodoxen ihre Unendlichkeit verloren; denn man kann sie in Taschenbuchformat als Katechismus oder Testament mit sich umhertragen. Die Liebe ist nicht mehr unendlich; denn sie hat ihre Grenze an den Kirchenmauern; sie wird engherzig und intolerant gegen die Menschheit, die außerhalb dieser Kirchenmauern steht. Selbst die Tugend ist nicht mehr unendlich; denn sie findet sich ab mit Dingen, die vom sittlichen Standpunkt aus völlig gleichgültig sind, die der schlechte Mensch ebenso gut vollbringen kann wie der kirchliche Heilige. Der Werth des Menschen wird nach seinen theologischen Meinungen geschätzt. Und wo einmal in der Religion das Mysterium für obligatorisch erklärt ist, fehlt nur noch ein Schritt, um auch die Lüge für officiell zu erklären.
Wer sieht nicht, wie viele Tausende und Abertausende unserer Volksgenossen um uns her in dieser Weise an ihrem Geiste verkrüppelt und verstümmelt einhergehen? Es wirkt ja so Vieles zusammen, was der Hierarchie ihr trauriges Handwerk, den menschlichen Geist auf die Folter zu spannen, so erschreckend leicht macht. Edlere Regungen, wie die Pietät gegen die Traditionen und Gebräuche der Väter, wie die freundliche Erinnerung an vergangene schöne Tage der Kindheit, in denen man „halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen, Gebete lallte“ und in solchem Lallen Seligkeit und Genuß fand, werden systematisch ausgebeutet, um nachgeborene [330] Generationen, welche doch eben weiter lernen sollten, auf dem Standpunkte „der Väter“, erwachsene Männer und Frauen in den Kinderschuhe festzuhalten. Dazu kommen die niederen Mächte im Menschen, Eigennutz und Sinnlichkeit, Feigheit und Furcht, der Hierarchie entgegen, um ihre Herrschaft über die Gemüther zu befestigen Man sagt den Menschen in ihrer Jugend, in der das Gemüth noch weich und empfänglich für den Schrecken ist, der Gott, der ihre zeitliche und ewige Wohlfahrt in der Hand habe, verlange von ihnen, daß sie ihre Vernunft und ihr Gewissen der kirchlichen Satzung unterwerfen. In der Angst ihres Herzens sind dann unter Hundert auch Neunundneunzig bereit, das vernünftige Denken für eine Sünde, den Zweifel für eine größere Sünde und den offenen Widerspruch gegen die clericale Satzung sogar für eine Todsünde zu halten. Man hat den Menschen zu einer Zeit, wo ihre sittlichen Begriffe noch unentwickelt waren, gesagt, daß der Gott, den sie als den Inbegriff der höchsten Vollkommenheit ansehen, grausam, rachgierig sei und in „unerforschlichem Rathschlusse“ den Fluch auf alles Natürliche, auf die Erde und die ganze Welt gelegt habe. Um Gottes willen glauben sie deshalb auch verfluchen und verdammen zu müssen. An der Erde und ihren Freuden gehen sie vorüber mit verschlossenen Augen. Arbeit ist ihnen eine Strafe für die Sünde. Wo soll da ein kräftiges, gesundes, ein freies Geschlecht herkommen?!
Das ist das Unheimliche an der kirchlichen Reaction, daß sie nicht nur wie andere reactionäre Strömungen den äußeren Wohlstand berührt, sondern auch das geistige Leben der Nation in’s innerste Herz trifft. Sie schlägt Wunden, an denen Mancher sich verblutet. Sie schafft kranke, gebrochene geistige Existenzen – Wahrlich, ernst genug ist der Kampf, in dem wir stehen, um der Frage, wie diesen Gebahren vorgebeugt werden kann, volles Gewicht zu verleihen.
Die Erfahrung hat bedeutsame Winke darüber gegeben, wie die Frage gelöst werden muß.
Ein erfolgreicher Kampf gegen die kirchliche Reaction – das lehrt die Geschichte aller Zeiten – hat sich vor allen Dingen mit der Hierarchie aus einander zu setzen. Treffend sagt hierüber der geistvolle und gelehrte Verfasser der „Geschichte des Materialismus“, Alb. Lange: „Man verbreite die Wissenschaft; man rufe die Wahrheit auf allen Gassen und in allen Sprachen und lasse daraus werden, was daraus wird! Den Kampf der Befreiung aber, den absichtlichen und unversöhnlichen Kampf richte man gegen die Punkte, wo die Bedrohung der Freiheit, die Hemmung der Wahrheit und Gerechtigkeit ihre Wurzeln hat: gegen die weltlichen und bürgerlichen Einrichtungen, durch welche die Kirchengesellschaften einen depravirenden Einfluß erlangen, und gegen die unterjochende Gewalt einer perfiden, die Freiheit der Völker systematisch untergrabenden Hierarchie. Werden diese Einrichtungen beseitigt, wird der Terrorismus der Hierarchie gebrochen, so können die extremsten Meinungen sich neben einander bewegen, ohne daß fanatische Uebergriffe entstehen und ohne daß der stetige Fortschritt der Einsicht gehemmt wird. Es ist wahr, daß dieser Fortschritt die abergläubische Furcht zerstören wird. Fällt die Religion mit dieser abergläubischer Furcht dahin, so mag sie fallen; fällt sie nicht, so hat ihr idealer Inhalt sich bewährt, und er mag dann auch ferner in dieser Form bewahrt bleiben, bis die Zeit ein Neues schafft!“
Daneben giebt uns die Geschichte die weitere unzweideutige Lehre, daß ein Sieg über die kirchliche Reaction nur zu erhoffen ist unter voller Anerkennung des religiösen Gefühls und seiner Bedürfnisse. Es giebt Fanatiker der Aufklärung, unter deren Füßen die zarten sinnigen Blüthen des frommen Gemüths zertreten werden. Es giebt eine nüchterne Prosa, einen sich abhetzenden Industrialismus, der für die Welt der Ideale keinen Raum mehr hat. Das Volk aber verlangt nach ewigen Ideen; es verlangt sein Leben anzuknüpfen an ein Unbedingtes, und es hat ein unveräußerliches Menschenrecht auf Befriedigung dieses Verlangens. Kann es diese Ideen nicht in ihrer ganzen Reinheit und Unendlichkeit erhalten, so nimmt es dieselben, in welcher Gestalt sie ihm nur geboten werden. Und wenn es dafür den Preis seiner Vernunft und seines Gewissens zahlen soll, es zahlt ihn schließlich selbst auf die bloße Möglichkeit hin, daß es dafür eine Stunde der Erhebung über den Staub der Alltäglichkeit eintauscht.
Hat das Volk nur die Wahl zwischen einer Kirche, die den Geist kasteit, die ihm das Joch vernunftwidriger Dogmen auferlegt, und einer Welt ohne Religion, ohne ein Unbedingtes und Ewiges, so wird es in seiner Wahl, wenigstens im Großen und Ganzen, nicht schwanken, auch wenn die Dogmen der Kirche noch hundertmal vernunftwidriger wären. Religiöse Verirrungen lassen sich nur auf demselben Boden bekämpfen, auf dem sie entstanden sind. Mit wissenschaftlichen Beweisen wird man den „Gläubigen“ ihre vermeintliche Glaubenswahrheiten nicht wegdiscutiren.
Religiöse Befreiung kann nur durch Religion selber geschehen. Was sucht der Mensch in der Religion? Die Erhebung über das Wirkliche, den Frieden in allem Streit. Diese Erhebung, dieser Friede ist aber unabhängig von den Dingen, welche die Orthodoxie als Bedingung dafür aufstellt, und wird vollkommener und reiner durch eine freie, dem ganzen geistigen Sein des Menschen entsprechende religiöse Entwickelung gewonnen. Wohl fällt auf dem Standpunkte geistiger Reife jene primitive Einheit des Ideals und der sinnliche Anschauung fort. Der Mensch wird sich bewußt, daß alles Vergängliche nur ein Gleichniß ist, daß auch die Begriffe, die wir uns von dem Ewigen machen, nur unzulängliche Bilder des Unaussprechliche sind. Aber die Einheit, die für die Anschauung und die Vorstellung zerstört wird, wird für das Gemüth und den Willen bestehen bleiben. Das entwickeltere Bewußtsein wird die ewigen Ideen, die den wahren Gehalt der Religion ausmachen nicht mehr in irgend einem Dogma oder einer kirchlichen Institution zu besitzen wähnen, sondern dieselben vielmehr im Leben zu verwirklichen suchen. Die Einsicht in den unendlichen Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und dem Ideal wird ihn gerade anspornen, diesen Widerspruch durch fortschreitende sittliche Arbeit an sich selber und an Andere immer mehr zu überwinden.
Man macht in der Theologie den Unterschied zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion. Man sollte ihn besser machen zwischen natürlicher und künstlicher Religion. „Die natürliche Entwickelung der Religion in ihren verschiedenen Formen,“ sagt Theodor Parcker, der edle und freisinnige amerikanische Prediger, „ist eine der schönsten Erscheinungen in der Welt; das sieht man an dem blos persönlichen Maßstabe eines Menschen; das erkennt man an dem nationalen Maßstabe eines großen Volkes. Aber ach! Die Menschen pfuschen nur zu gern der Natur in’s Handwerk. Sie begnügen sich nicht, einfach zu entwickeln, zu vervollständigen und zu vervollkommnen, was von selbst begann, sondern sie ändern nach individuellen Einfällen, sodaß die allgemeine, ewige und unabänderliche Grundkraft die Form ihrer persönlichen, zeitweiligen und wechselnden Launen annehmen soll.“
Ohne Zweifel haben gerade die Freisinnigen und Gebildeten gegenwärtig noch eine große Schuld unserem Volke gegenüber abzutragen. Wenn die Menschen eine natürliche und freie Befriedigung ihres religiösen Bedürfnisses nicht finden können, kommen sie schließlich aus reiner Verzweiflung dahin sich der Reaction und der Bigotterie aus Gnade oder Ungnade zu ergeben. Es ist eine seltsame Erscheinung in der Gegenwart, daß Männer, welche im Vordertreffen für die Freiheit und Selbstständigkeit des Geistes kämpfe, welche mit Aufopferung und Selbstverleugnung an der Veredlung der Menschheit arbeiten, welche also diese praktische, natürliche Frömmigkeit in vollem Maße besitzen, daß diese Männer allen kirchlichen Arbeiten „kühl bis an’s Herz hinan“ gegenüber stehen. Sie geben vor, über die Religion hinaus zu sein, und haben doch so viel Religion, so viel Glauben an die Macht des Guten, an den Sieg der Gerechtigkeit und Wahrheit, an die Existenz einer unbedingten sittlichen Norm.
Die kirchliche Orthodoxie dagegen, die ihren Glauben so laut in die Welt hinausposaunt, ist durch und durch materialisirt. Sie hat viel politische Kargheit und Berechnung, aber herzlich wenig Idealismus. Sie baut auf materielle Dinge, auf das Kirchenvermögen, auf Staatshülfe und äußere Macht, aber herzlich wenig auf die Kraft des Geistes.
Das ist ein auf die Dauer unerträglicher und unhaltbarer Zustand. Außerhalb der Kirche könnte das Volk manch hohen idealen Sinn finden, aber es sucht ihn dort nicht, weil jene Männer mit Worten und Begriffen das nur zu oft verneinen, wovon ihr Leben doch so lautes Zeugniß giebt. Bei dem officiellen Kirchenthume dagegen sucht das Volk sein Ideal, aber es findet dasselbe nicht, sondern allzu oft nur todten Dogmatismus und starre Buchstaben. Dabei werden die Wenigen, die in der Kirche für eine freiere und idealere Auffassung der Religion eintreten, allmählich [331] matt und muthlos, weil gerade Die, welche sich über das Gemeine erhoben haben und von der Weisheit des Jahrhunderts durchdrungen sind, sie im Stiche lassen und den Punkt nicht finden können, in welchem sich alle edleren Bestrebungen zur Einheit des religiösen Charakters zusammenschließen.
Soll denn wirklich, wie Schleiermacher sagt, der Knoten der Geschichte so auseinandergehen, daß das Christenthum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Unglauben endigt?
Nein, das Volk, das einst die Reformation aus seiner Tiefe herausgeboren, wird auch Kraft genug behalten, der orthodoxen Clerisei zu zeigen, daß es für die Freiheit seines Glaubens und Gewissens noch heute in die Schranken zu treten wagt.
Ein Volk, dessen Sänger einst gesungen haben „von Lenz und Liebe, von seliger goldener Zeit, von Freiheit, Männerwürde, von Treu’ und Heiligkeit“, das kann auf die Dauer sein Ein und Alles nicht finden in den Discussionen über neue Steuern und die Militärbudgets. Es wird neben der Magenfrage und der Existenzfrage sich noch einen Platz offen behalten für die Gewissensfrage.
Und wenn wir selber den Morgen nicht mehr grüßen werden, am dem der große Kampf in der protestantischen Kirche zu Ende geführt, an dem die Sonne ein freies Geschlecht bescheinen wird, das in idealer Begeisterung für alles göttlich Gute erglüht, dann trösten wir uns immerhin mit den Worten Fichte’s:
„Nein, verlaß uns nicht, heiliges Palladium der Menschheit, tröstender Gedanke, daß aus jeder unserer Arbeiten und jedem unserer Leiden unserem Brudergeschlechte eine neue Vollkommenheit und eine neue Wonne entspringt, daß wir für sie arbeiten und nicht vergeblich arbeiten – daß an der Stelle, wo wir uns abmühen und zertreten werden und, was noch schlimmer ist, gröblich irren und fehlen, einst ein Geschlecht blühen wird, welches immer darf, was es will, weil es nichts will als das Gute. Begeistere uns, Aussicht auf diese Zeit, zum Gefühle unserer Würde, und zeige uns dieselbe wenigstens in unseren Anlagen, wenn auch unser gegenwärtiger Zustand ihr widerspricht! Geuß Kühnheit und Enthusiasmus auf unsere Unternehmungen, und würden wir darüber zerknirscht, so erquicke (indeß der erste Gedanke: ich that meine Pflicht, uns erhält) uns der zweite Gedanke. Kein Samenkorn, das ich streute in der sittlichen Welt, geht verloren.“
Ein Besuch auf dem Sonnenstein.
„Du wirst nun schau’n die schmerzensreichen
Schaaren,
Die der Erkenntniß höchstes Gut verloren.“
Diese Worte Dante’s durchschwirrten mein Gemüth, als ich doch etwas bangen Herzens an einem sonst goldhellen Morgen die vielen Stufen zum Sonnenstein, der großen sächsischen Seelenheilanstalt, emporklomm. Das Leben ist schon an sich so aufregend und stellt zuweilen unbillige Anforderungen an die Widerstandskraft der Nerven, und da oben harrten meiner, zusammengedrängt, gleichsam auf einen Haufen gekehrt, alle Ideen, Leidenschaften und Irrthümer dieses Lebens – nur in grelleren Farben und Uebergängen und oft in einer absoluten Nacktheit, die auch den Gesunden mit Bangigkeit und Furcht vor sich selber erfüllen kann.
Und dennoch war der Eindruck im Ganzen ein beruhigender. Die tollsten Dissonanzen, die das Gemüth martern, werden am Ende übertönt durch die volle Harmonie der selbstlosesten Menschenliebe, von welcher die Unglücklichen umgeben sind. Man hat bis zum Ueberdrusse die Anklagen vernommen, daß unsere Zeit in krassen Egoismus versunken sei, und man glaubt schließlich daran, aber gerade unsere modernen Spitäler, Versorg- und Irrenhäuser stehen als redende Zeugen da, um diese Anklagen zu entkräften. Wo findet denn die Menschenliebe ihren reinsten und erhebendsten Ausdruck? Im Samariterthume! Und der stolze Sonnenstein, der mit seinen blanken, freundlichen Fensterreihen und seinen altdeutschen Giebeln weithin den Elbgau beherrscht, ist eine der festesten Burgen des modernen Samariterthums; sein Burgherr wägt einen Namen der an sich schon Vertrauen wachruft; er heißt Lessing, und er ist der Neffe des Pfarrersohnes aus Kamenz, der uns in seinem „Nathan“ ein Evangelium der Humanität geschaffen hat.
Ehemals diente die stolze Veste als Zwingburg wider die unterjochten Slavenstämme des Elbgaues, und gleichzeitig bildete sie den Grenzwall gegen die gewaltsamen Rückstauungen der slavischen Völkerwogen von Böhmen her. Im späteren Mittelalter sank ihre Bedeutung als Veste, wenngleich die Schweden vergeblich ihre Batterien darauf spielen ließen. Im Anfange dieses Jahrhunderts wurde sie schließlich in eine Seelenheilanstalt umgewandelt. Damals forderten endlich die Wissenschaft und die Menschlichkeit gebieterisch, daß man die Irren nicht mehr wie wilde Thiere in Ketten lege und mit Zuchthäuslern zusammensperre; sie forderten nicht mehr nur Verwahrung, sondern Heilung, soweit sie möglich. Auch die sächsische Regierung folgte der allgemeinen Reformbewegung man sonderte 1811 im Torgauer Zuchthause die Irren von den Züchtlingen, bildete eine eigene Direction dafür, und diese zog mit dreihundert Schutzbefohlenen im Sonnenstein ein. Damit wäre die Geschichte der Burg in Umrissen gegeben. Unter den Episoden ist nur eine wichtig, und zwar die jüngste; sie verdiente, daß man sie in die französische Sprache übersetzte und sie den Anklägern unserer Armee in Frankreich unter Kreuzband zustellte.
Am 12. September 1813 erschien Napoleon der Erste im Sonnenstein; ihm gefiel der Platz am Thore des Meißner Hochlandes; seine Sachen standen schief; er brauchte feste Stützpunkte für seine Armeen nothwendiger denn je und beschloß den Sonnenstein in eine Festung umzuwandeln.
Das Alles kann man an einem Feldherrn nur natürlich finden, aber nun kommt die abscheuliche Barbarei.
„Que l'on chassee ces fous!“, Man jage diese Narren fort!“ Mit diesen Worten ritt er hinweg. Vertragsmäßig hätte der Sonnenstein durch einen sächsischen Regierungscommissär geräumt und übergeben werden müssen, aber das lehnte man einfach ab, und die Creaturen des Corsen jagten buchstäblich nach dem Befehle „die Narren“ fort, und zwar in einer Zeit von drei Stunden, obwohl der Feind nicht im Geringsten diese Truppenabtheilung bedrängte. Man nahm den Wärtern die Schlüssel ab, trieb die Kranken – auch die bettlägerigen – auf den Höfen zusammen, drängte sie zu den Thoren hinaus und warf hinter ihnen die Thür in's Schloß. Die Niederträchtigkeit ging soweit, daß man nicht einmal den weiblichen Kranken Wäsche und Kleider herausgab, die doch für die französischen Soldaten völlig werthlos waren. Mit Thränen in den Augen bat der Director um Rückgabe eines Theils des Brodvorrathes, den man eine Stunde vorher abgeladen hatte – umsonst. Ohne Brod, ohne Viehstand, ohne Betten zogen 275 Seelenkranke in nothdürftiger Kleidung unter Jammern und Wehklagen hinab in die soldatenüberfüllte Stadt Pirna. Der Anblick soll nach den Berichten von Augenzeugen herzzerreißend gewesen sein, und das dürfen wir ihnen auf’s Wort glauben.
Mildherzige Bürger bereiteten den Unglücklichen Lagerstätten auf den Holzbänken der Pirnaer Stadtkirche. Die Tobsüchtigen und die Nervenfieberkranken mußte man in die Sacristei sperren.
So verfuhren die Herren Franzosen, die uns heute als Barbaren verschreien, in Freundesland – die Vorsehung hat sie gestraft; das Geheul der Irren und Elenden im Gotteshause zu Pirna hat seine Stätte gefunden.
Die Schlacht bei Leipzig öffnete auch den Irren wieder ihr freundliches Asyl, und seit dieser Zeit sind der Anstalt schwere Tage erspart geblieben; selbst Epidemien, die nirgends auf die Dauer ausbleiben, wo viele Menschen beisammen wohnen, sind auf dem Sonnenstein unbekannt.
Gewichtige Empfehlungsbriefe öffneten mir sofort die Anstalt, die sonst vor müßiger Neugier streng gehütet wird, und ich hatte die Genugthuung, gleich einer ärztlichen Conferenz beiwohnen zu können. Obenan saß Geheimrath Dr. Lessing, der Chef der Anstalt, mit einem freundlichen, wohlwollenden Lessing - Kopfe und einem Bismarck-Körper von urgermanischen Dimensionen. Unter seinem Präsidium waren die vier Anstaltsärzte und einige Assistenten neben dem üblicher Protokollanten vereinigt.
Der Dienst beginnt an diesem grünen Tisch sehr früh. Von siebeneinhalb Uhr ab treten sämmtliche Aufseher, Aufseherinnen, Wärter und Wärterinnen an und rapportiren vor der Wissenschaft ihre Beobachtungen, die sie während der Nacht in den Schlafsälen der Irren machen konnten. Hieran schließen sich die ärztlichen
[332][333] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [334] Visiten, die etwa von achteinhalb bis zehn Uhr währen, und dann folgt die zweite, die Hauptconferenz. Gegen Abend wiederholen sich die Rapporte des Aufseher- und Wärterpersonals, worauf die Aerzte abermals Visiten abhalten und zur dritten Conferenz zusammentreten.
Diese Concilien sind, rein menschlich genommen, vielleicht die interessantesten, die je abgehalten werden können; sie gelten dem innersten Seelenleben erkrankter Mitmenschen. Der gramsüchtige, erschütterte, wahnwitzige oder verödete Menschengeist wird hier zergliedert und bloßgelegt und der Urgrund seines Leidens verfolgt bis in die tiefsten Tiefen – und sollten diese Tiefen auch moralische Abgründe sein. Die Wissenschaft fordert es gebieterisch, und ohne Kenntniß des innersten Wesens der Krankheit fehlt der Boden für einen Heilplan vollends. Die realistische Tragik des modernen französischen Theaters ist nur ein Schattenspiel gegen die Tragik dieser Menschenschicksale, die sich oft in diesem Zimmer aufrollen und immer zu irgend einer Art von Abschluß gebracht werden. In dürftigen Worten: Man hält hier Rath über Neu-Aufnahme, unterrichtet sich über den Verlauf der Krankheiten, stellt Heilpläne fest oder modificirt dieselben, erklärt die Einen für genesen, die Andern für unheilbar, vergleicht und disputirt Diagnosen, erlöst oder verbannt einzelne Unglückliche aus den Isolirzellen oder in dieselben, sondert die verschiedenartigsten Elemente zu Stationen zusammen oder corrigirt die in diesem Punkte unvermeidlichen Mißgriffe und beschließt tausend Dinge, von denen jedes einzelne geeignet ist, auch den Laien mit einem unheimlichen Interesse zu fesseln.
Zu meinem Leidwesen ließen sich die Herren durch den Gast in ihren Berathungen bald unterbrechen, und die achtstündige Wanderung an der Seite des Chefs, eines vielerprobten und in Fachkreisen hochangesehenen alten Praktikers, begann.
Die Verwaltungsräume waren bald besichtigt; sie unterscheiden sich in ihrem geschäftlich-nüchternen Typus nicht von andern großen Anstalten. Auch das Leben auf den weitläufigen Höfen zeigt nichts Absonderliches. Man sieht eine große Schaar meist wohlgenährter, rotwangiger Leute, nett und adrett gekleidet, flink und gewandt den verschiedensten häuslichen Verrichtungen obliegen. Es sind harmlose Irre, die dem Arbeiterstand angehören und die sich auch hier in der Anstalt gern zu einer leichten, aber geregelten Beschäftigung herandrängen. Von Irrsinn kann der Laie nichts an ihnen entdecken; links und rechts treten sie zur Seite und grüßen voll Ehrfurcht ihren Director.
Anders gestaltete sich das Bild im Männergarten. An sich ist dies ein höchst anmutiger Park mit uralten Baumgruppen, wohlgepflegten Kieswegen und gutvertheilten Ruhesitzen. Wunderbar ist die Aussicht, die man von hier aus über das weite Land genießt. Die schöne Lage hat sogar einem benachbarten Gutshof den Namen „Himmelreich“ verschafft. Man blickt hinab auf den gewundenen Elbstrom, der eben die letzten Felsgruppen des Meißner Hochlandes durchbrochen und nun sich in den weiten lachenden Elbgau ergießt. Im Hintergründe erheben sich einzelne Tafelberge der Sächsischen Schweiz und die langgestreckten Gneiszüge des Erzgebirges mit ihren Basaltdurchbrüchen, die wie Riesenheuschober die Bergplateaus beleben. „Das ist auch eine Arzenei für unsere Seelenkranken,“ erklärte der Director im Angesicht der sonnenbeglänzten Gebirgslandschaft.
An den Männergarten schließen sich Pflanzgärten und Felder an, Versuchsfelder, auf denen die Garten- und Feldfrüchte Nebensache sind. Der Spaten gewinnt hier eine seelenheilende Bedeutung.
Auffällig am Männergarten ist, daß ihm alles Unterholz mangelt; man kann ihn so ziemlich mit einem Blick übersehen. Das Leben in diesem Garten ist seltsam und fremdartig.
Unser Auge ist gewöhnt, daß sich eine Anzahl von Menschen nach bestimmten, wenn auch unbewußten Regeln gruppiren; das Interesse concentrirt sich auf einen oder mehrere Sprecher; alle Gesichter richten sich auf einen Punkt und zeigen eine gewisse Analogie, so ungleich ihre Empfindungen auch sein mögen. Wie grundverschieden sind dagegen die Gruppen der Irren; hier fehlt der Mittelpunkt, wenn auch gesprochen wird und oft viel gesprochen wird; die Beziehungen sind verschoben; die Irren stehen durch einander, wie die Bildsäulen in einem Museum, wenn gebaut oder gescheuert wird. Das Volkswort „verrückt“ erhält hier eine räumliche, eine thatsächliche Erklärung, nur könnte man es in „verstellt“ abmildern.
Hier hat Jeder sein eigenes Tempo. Einige gehen wie hinter einem kleinstädtischen Leichenzug; andere eilen, wie die Schneider an hohen Festtagen zu ihrer ungeduldigen Kundschaft; Einzelnen genügt auch dieses Tempo nicht mehr; sie streiten laut mit dem Himmel oder mit dem Fußboden, und ihr Gang ist ein Spiegelbild von der Hetzjagd der Ideen in ihrer kranken, fast immer mit inneren, nur für sie hörbaren Stimmen kämpfenden Seele. Der Morgenländer erklärt diese Art der Irren für heilig; das ist mir hier verständlich geworden. Wie der Schritt sicher, fest und energisch, so ist auch die Satzbildung, in der sie ihren Irrsinn laut werden lassen, meist correct und gut gegliedert; die Stimme ist kraftvoll; der Strom ihrer Worte erhebt sich zuweilen bis zur Begeisterung, bis zur Erhabenheit eines Sehers, und alles Getragene, auch wenn es unverständlich, hat ja auf naive Gemüther immer eine bestimmte Wirkung.
Die gefährlichen, zu Insulten geneigten Kranken erhalten auch zu eigenem Schutze handfeste Wärter als Begleitung. Auffällig häufig sind diese gewaltthätigen Patienten die wohlerzogensten Leute, die für gewöhnlich die besten Manieren an den Tag legen, aber es ist, als ob die künstlichen Schranken, der wohlgefügte Aufbau der Bildung, der auch im Leben so vieles Unheimliche verbirgt, von dem Irrsinn um so gewaltsamer durchbrochen würde, etwa wie ein eingedämmter Krater seine Schranken mächtiger durchbricht, als ein offener.
Weniger aufregend sind die Scenen in den vorhin beregten Pflanzgärten und auf den Anstaltsfeldern. Der Irrsinn verbirgt sich hier völlig hinter einer lustigen Geschäftigkeit; man sieht, die Kranken sind glücklich dabei; der Instinct mag ihnen sagen, daß die physische Arbeit für Körper und Geist eines der vornehmsten Heilmittel ist. Nur der Größenwahn weist sie auch hier im Irrenhause weit von sich; namentlich hat man mit gebildeten Oekonomen und Officieren seine liebe Noth; denn bei ihnen sitzt der Irrwahn, daß die körperliche Arbeit entehre, von gesunden Tagen her zu fest, als daß er schnell ausgerottet werden könnte.
Der Friedhof liegt ebenfalls am Männergarten; er ist ein Idyll. Kein pomphaftes Grabmal drängt sich anspruchsvoll hinein in diesen Gräberfrieden; uralte Bäume beschatten ihn, und die Grabhügel liegen so still und weltvergessen darunter – das ganze Bild ist in die freundlich-ernste Poesie der Todesruhe getaucht. Jetzt schlummern sie still, die Unglücklichen, deren Seele nur zu oft wider die Leibesschranken getobt, bis diese zusammenbrachen und der Friede einzog in das zerrüttete Haus. Hoffen wir zu den Sternen, daß diese ihre Seelen nicht unsterblich gewesen sind, wie sie es nach den Consequenzen frömmelnder Anschauung ja sein müßten!
Ganz im Hintergrunde der Anstalt, am Ende des großen Gartens, erhebt sich das Reservehaus. Director Lessing ließ es zur Vorsorge erbauen, für den Fall, daß epidemische Krankheiten auf dem Sonnenstein ihren hier doppelt unheimlichen Einzug halten würden. Die Epidemien sind ausgeblieben; die herrliche Bergluft scheint ihnen ein unbezwinglicher Widersacher zu sein – dafür haben leider die Seelenkranken so überhand genommen, daß jetzt auch das Reservehaus völlig von ihnen besetzt ist.
Der Gesammt-Krankenbestand auf dem Sonnenstein mag das halbe Tausend bald erreicht haben. Jede Station verfügt über ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und das nöthige Zubehör. Die großen Corridore sind gemeinschaftlich und die Wohnungen der dritten Classe einfach, doch behaglich in ihrer Ausstattung; nichts erinnert an die gewohnte Anstalts Uniformität. Die Kranken wohnen hinter blumigen Gardinen. Im Schlafzimmer, das meist dicht an der Wohnstube liegt, schläft auch der Wärter mitten unter seinen Schutzbefohlenen, nur geschirmt von der Liebe und dem Vertrauen, das er sich bei ihnen zu erringen wußte. Die Betten sind peinlich sauber und die Linnen breiten sich darüber aus wie Schlehdornblüthe. Kranke aus gebildeten Ständen, die wegen Mittellosigkeit in der dritten Classe untergebracht werden mußten, sendet man rücksichtsvoll in eigene Stationen, giebt ihnen entsprechende Wärter und angemessene Beschäftigung und beköstigt sie ihren Lebensgewohnheiten gemäß.
Die zweite Classe weist Zimmer von guter altbürgerlicher Einrichtung auf; sie sehen etwas altfränkisch, aber höchst gemüthlich und behäbig aus, und das Hyperzierliche der modernen französischen Einrichtungen fehlt ihnen glücklicher Weise. Die Kranken der ersten Classe wohnen vornehm, doch ohne Luxus.
Im Reservehaus ist leider einer Station von tieferschütterndem Charakter zu gedenken. Es ist kein Tobhaus – im Gegentheil: [335] hier herrscht die Ruhe des Todes; wie Wachsfiguren stehen die Unglücklichen an den Wänden umher; wie man sie nach dem Ankleiden Morgens hingestellt, so bleiben sie stehen, bis man ihnen zu Mittag die Speisen einflößt. Hier herrscht kein Irrsinn mehr – hier herrscht die Geistesverödung; es sind Lebendig-Todte, die nur noch athmen. Bei einzelnen sind die Glieder wachsartig beweglich; hebt man einen Arm, so bleibt er frei stehen; die Augen sind erloschen; die ganze Haltung der Figur zeigt, daß sie nur steht, weil sie der Wärter lothrecht hinstellte. Man ist betroffen, daß es Mitmenschen geben kann, die nur noch wie Pflanzen vegetiren. Und doch leuchtet gerade hier der Stern der Menschlichkeit wieder um so heller auf. Die Wärter, die hier thätig sind, stehen über dem Samariter; es gehört noch mehr als Menschenliebe, es gehört Entsagung und Heldenmuth dazu, unter lebenden Marionetten, unter Larven sein Leben zu verbringen und diese zu warten und zu pflegen, zu füttern und zu reinigen wie Säuglinge. Wenn ich recht vernommen, sind die betreffenden Wärter genesene Seelenkranke – sie haben selbst gelitten, und so mag die ganze Barmherzigkeit für ihre Leidensgenossen durch die Hand des Schicksals geweckt worden sein.
Im Frauengarten, der ähnlich angelegt ist wie der Männergarten, wiederholen sich dieselben Bilder, nur in’s Weibliche übersetzt. Im Ganzen trifft man hier auf weniger Selbstgefühl, man sieht mehr duldende, leidende, schwermüthige Gesichter. Der Größenwahn, der drüben im Männergarten mit theatralischen Gesten einherschreitet, scheint hier seltener; dagegen waren die, welche an Sinnestäuschungen leiden, zahlreicher; ferner sah ich hier mehrfach das hüpfende Zurückweichen vor einem unsichtbaren Gegenstand, wie es der große Charakterdarsteller Döring als König Lear mit vieler Naturtreue wiedergab.
Merkwürdig war mir, daß sehr viele von den Angeredeten im Anfang die klarsten Antworten gaben; in der Regel sprachen sie augenscheinlich gern und eine zeitlang auch correct, aber allmählich verdunkelte sich das Vorstellungsvermögen; der Redefluß trübte sich mehr und mehr, und zuletzt verlief er in den Sand der verworrensten Anschauungen. Rührend war auch hier die Ehrfurcht und das Vertrauen der Kranken zu ihrem Heilbringer und obersten Wächter, dem Director der Anstalt, so weit sie ihn erkannten. Klagen, mit denen die Irren sehr freigebig sind, habe ich nirgend vernommen; nur ein Weib in der sogenannten Tobstation warf sich mit gutem Anstand dem freundlichen Manne vor die Füße und bat in herzzermalmenden Tönen um Entfernung ihrer Bettstatt aus der Isolirzelle. Natürlich schwebte mir ein Gefängnißraum mit allerhand eisernen Sicherheitsmaßregeln vor; ich wurde neugierig diese Zelle kennen zu lernen, und als ich sie nun sah, war mein erster Gedanke: Wenn doch jeder Arme sich eines so freundlichen, luftigen und gesunden Schlafraumes erfreuen könnte.
Der ganze Unterschied zwischen einer Isolirzelle und einem gewöhnlichen Schlafzimmer besteht darin, daß die Thürschlösser fehlen, die Wände mit glatten Holztafeln überkleidet und statt eines Ofens Heißwasserrohre in zweidrittel Zimmerhöhe angebracht sind. Das Fenster ist nicht kleiner, als jedes andere; nur hat man es durch Jalousien geschützt; dazwischen herein grüßen Weinranken, sodaß trotz des abgedämpften Lichtes ein Vergleich mit einem Gefängnißraum nicht aufkommen kann.
Wie sich die höheren Stände im Leben weniger natürlich geben, so geben sie sich auch im Irrsinn. Lange, lange Reihen von Wohnungen der ersten und zweiten Classe bin ich durchwandert, ohne auf eine Seelenkranke zu stoßen, die auch der Laie sofort als solche erkennen konnte; nur einige hielten sich die Ohren fest zu. Die Damen stickten, lasen, schrieben oder musicirten; sie erhoben sich zur üblichen Vorstellung, worauf nichtssagende Worte gewechselt wurden, denen das übliche verbindliche Lächeln mit der üblichen Abschiedsverneigung logisch nachfolgte – ganz wie in der Welt draußen auch.
Einen freundlichen, schier anmuthigen Anblick gewährte das große Waschhaus. Jugendliche Wäscherinnen in großer Zahl, Irre aus dem Arbeiterstand, mit schneeweißen Jäckchen angethan, rührten mit Krücken in den dampfenden Kupferkesseln oder standen an den Waschfässern und bewegten den Mund nicht langsamer, als die Hände. Die traditionelle Gesprächigkeit am Waschfaß muß sehr tiefe Wurzel geschlagen haben, da selbst der Irrsinn nichts daran ändern kann. Mit einer wahrhaft einschmeichelnden Beredsamkeit und einer glockenhellen Stimme erzählte hier ein blutjunges, bildhübsches Bauernkind von einer „albernen Stimme“, die ihr immer dazwischen spräche, wenn sie etwas reden wolle, und rührend fragte sie, ob der Herr Geheimrath die „alberne Stimme“ nicht bald verscheuchen könne. Es schien ihr schwer auf dem Hetzen zu liegen, daß sie sich in ihrer Unterhaltungsgabe beeinträchtigt sah. Tragischer war der Irrsinn eines anderen jungen Weibes; sie klagte sich des Kindesmordes an und zwar indirect – sie versicherte in Einem fort, sie habe ihr Kind nicht erkälten wollen, wenn sie es auch in die Kälte hinausgetragen. Der Irrenarzt giebt nichts auf derlei Reden, so bedenklich sie auch erscheinen. –
An dem Tobhaus der Männerabtheilung wollen wir geschlossenen Auges vorübergehen; nur über die Zwangsjacke möchte ich einige Worte sagen, weil ihr schrecklicher Name zu ganz irrigen Vorstellungen geführt hat. Diese Jacke, eine ebenso einfache, wie geniale englische Erfindung, ist aus starken Stoffen gefertigt; sie wird auf dem Rücken geschlossen; ihre Aermel haben etwa die doppelte Länge eines Menschenarmes und laufen in schmale Lederbänder aus, die ebenfalls auf dem Rücken verbunden werden, sodaß der Kranke beide Arme wie ein Verwundeter in der Binde trägt; damit sind seine Wärter vor ihm und er ist vor sich selbst geschützt; sein Anblick ist keineswegs so traurig, wie der eines Gefesselten.
Der Mittag unterbrach unsere Wanderung. Um das seltsame Leben in der Anstalt ganz kennen zu lernen, sollte ich unter Irrsinnigen speisen. Meine geheime, ich möchte sagen unheimliche Neugier sollte enttäuscht werden. Die Frau Director machte die Honneurs; der Herr Director präsidirte, und rings um die Tafel saßen fünf Herren aus den besten Gesellschaftskreisen. Der ganze Proceß vollzog sich nicht anders, als man es an guten Hoteltafeln gewöhnt ist, und das Gespräch war gesund und logisch.
„Herr Geheimrath, ich möchte fast glauben, Sie haben mich hier mystificirt!“ rief ich nach Aufhebung der Tafel verwundert aus, „so scharf und so gerecht urtheilen sonst nur vernünftige Leute, und die sind selbst unter den gesunden nicht sehr dicht gesäet.“
Ich gebe zu, es ist die Elite meiner Anstalt, und doch war ein ernsthaft Kranker darunter,“ war des Directors Antwort. Dieser Herr gehört zu denen, die sich jeden Tag einmal „geistig räuspern“ müssen; er schreit in aller Frühe sein Seelenleid in eine gewisse Röhre hinab, und dann ist er für den Tag erlöst von seiner Krankheit und völlig zurechnungsfähig. War der Anfall des Morgens besonders stark, so trägt der Director kein Bedenken, ihn selbst nach Dresden zum Besuch des Hoftheaters oder eines Symphonieconcertes zu beurlauben. O Menschenseele, was für ein dunkles, unauflichtbares Ding bist du!
In den vierzig Jahren, während welcher Director Dr. Lessing als Herr der Samariterburg da oben residirt, fanden 7813 Seelenkranke Aufnahme; davon mußten 1832 als unheilbar erklärt werden, 1502 verstarben in der Anstalt, 1404 wurden relativ und 2592 völlig geheilt entlassen. Wenn man bedenkt, daß den öffentlichen Anstalten immer nur die schweren Fälle zugewiesen werden, so sind diese Heilresultate relativ immerhin erfreuliche.
Für den Wärter gilt als erstes Gebot: verschaffe dir Zuneigung und Vertrauen. Die Furcht wäre bald wachgerufen im Irren, aber sie gewährt nicht die geringste Garantie. O, es mag für diese wackeren Leute oft unendlich schwer sein, in dem listigen, verschlagenen, anmaßenden, zu Insulten geneigten oder gar auf Mord sinnenden Irren immer nur den Kranken zu sehen, dem die Erkenntniß fehlt. Die herzlichsten Liebesdienste werden wild zurückgestoßen, und der Wohlthäter kommt in den Geruch eines Kerkermeisters; er soll die Quelle aller Leiden sein. Er sitzt gleichfalls hinter Schloß und Riegel; er lebt und schläft unter einer Zahl völlig unberechenbarer Menschen; er steht ruhig inmitten einer irrsinnigen Holzmachercolonie, die mit den gefährlichsten Werkzeugen hantirt – er soll die aufregendsten Handgriffe, wie das Schützen der Tobsüchtigen ohne Wortwechsel, rasch und lautlos vollziehen; man fordert von ihm Scharfblick, Beobachtungsgabe, heitere Gemüthsart, Beharrlichkeit und unendliche Langmuth, ja, man fordert einen Mustermenschen – und das Schöne ist, man findet auf dem Sonnenstein unter den Wärtern wirklich solche Mustermenschen.
Den Dank der Menschheit diesen Männern und Frauen!
Möge sich der Menschenfreund, gegenüber dein eben geschilderten Elend, mit dem Trost begnügen, daß die traurigsten Stätten, die trübseligsten Asyle doch hell und versöhnend von der jungen Sonne moderner Humanität durchleuchtet und durchwärmt werden!
Ludwig Samson Freiherr von und zu der Tann-Rathsamhausen weilt seit einigen Wochen nicht mehr unter den Lebenden. Er gehört zu den Männern, welche deutsches Volk und deutsche Ehre hoch „über Alles“ schätzten. Als Sohn eines baierischen Oberstlieutenants und Sprosse eines alten fränkischen Geschlechts, dessen Stammschloß sich in der Stadt Tann an der Ulster noch heute im Besitze der Familie befindet, am 18. Juni 1815 geboren, erhielt er seine wissenschaftliche Ausbildung in der königlichen Pagerie zu München und trat am 1. August 1833 als Junker in das erste Artillerieregiment ein. Wenige Monate später zum Unterlieutenant und 1840 zum Oberlieutenant befördert und in den Generalstab berufen, wurde er zugleich Adjutant des damaligen Kronprinzen Maximilian, mit dem er 1844 Griechenland besuchte und der auch als König ihn stets zu schätzen wußte. So war er im März 1848 bereits zum Major und Flügeladjutanten des Königs aufgestiegen, als die Kunde von der Erhebung Schleswig-Holsteins gegen Dänemark blitzschnell durch ganz Deutschland drang und alle patriotischen Herzen entflammte. Auch von der Tann folgte dem allgemeinen Rufe zu den Waffen. Er stellte sich an die Spitze einer Freischaar und verstand das anfangs verrufene Freischaarenwesen so energisch zu ordnen, daß die Waffenthaten desselben sich allgemeine Achtung, ja Bewunderung erzwangen. Als der dort commandirende alte General von Wrangel Nordschleswig den Dänen preisgegeben hatte, war es von der Tann, der am 7. Juni 1848 mit 400 Freiwilligen die ihm gegenüberstehenden 5000 Dänen bei Hoptrup angriff und siegte. Diese That, seine heldenmüthige Vertheidigung von Apenrade und die Versenkung des Dampfschiffes „Hertha“ im kleinen Belt bei Aroesund erhoben ihn zum gefeiertsten Volkshelden jener Tage. Nach Abschluß des Malmöer Waffenstillstandes kehrte er, von den Segenswünschen Schleswig-Holsteins begleitet, in die Heimath zurück. Während der beiden nächsten schleswig-holsteinischen Kriege (1849 und 1850) nahm er als Oberstlieutenant und Stabschef der unter dem Prinzen Eduard von Sachsen-Altenburg stehenden Division 1849 an der Erstürmung der Düppeler Schanzen Theil, und stand 1850 an der Seite des Generals von Willisen als Chef des Generalstabs. Schleswig-Holsteins Stern sollte damals untergehen; die Diplomatie feierte ihre traurigen Triumphe, und von der Tann trat als Oberst wieder in den Dienst seines Königs, der ihn 1855 zum Generalmajor und im Dezember 1859, nachdem er ihm kurz vorher das Commando der ersten Infanteriebrigade übergeben, zu seinem Generaladjutanten ernannte. Im Februar 1861 schlug er als Generallieutenant und Generalcommandant seinen Sitz in Augsburg auf, nahm aber nur wenige Monate später dieselbe Stellung in München ein.
Das Jahr 1866 brachte offenbar dem Herzen des kerndeutschen Mannes eine schwere Prüfung: der deutsche Bruderkrieg brach aus; der einundsiebenzigjährige Prinz Karl von Baiern übernahm den Oberbefehl über das siebente deutsche Bundescorps, und von der Tann wurde dessen Generalstabschef. Nachdem er am 14. Juni in Olmütz die Convention mit Oesterreich abgeschlossen hatte, übernahm er die Leitung der Operationen, die bekanntlich zu keinem baierischen Siege führten. Die Ultramontanen, denen von der Tann als deutscher Patriot und als Protestant von jeher doppelt verhaßt war, benutzten, namentlich in ihren Scandalblättern, gierig die Gelegenheit, die alleinige Schuld dieses Mißgeschickes auf ihn zu wälzen.
Das Urtheil seines Königs über ihn und seinen Werth wurde durch diese Vorgänge nicht berührt; im Gegentheil: er wurde 1867 zum Oberstinhaber des elften Infanterieregiments und zwei Jahre später zum General der Infanterie erhoben und beim Ausbruche des französischen Krieges mit der Führung des ersten baierischen Armeecorps betraut.
Die Thaten von der Tann’s in diesem Kriege stehen dem Gedächtnisse unserer Leser zu nahe, als daß wir sie einzeln aufzählen müßten. Sein Corps focht mit bei Wörth, bei Beaumont und bei Sedan; er eroberte Orleans und vollbrachte vor der Uebermacht der französischen Loire-Armee seinen musterhaften Rückzug von Coulmiers nach Toury, kehrte mit dem Großherzog von Mecklenburg nach Orleans zurück und war zuletzt, zugleich mit dem Führer des zweiten baierischen Armeecorps, von Hartmann, vor Paris thätig, bis der Friede ihn mit der Siegerheimkehr lohnte. Auch nach dem Frieden war er an der Spitze des ersten baierischen Armeecorps geblieben, bis der Tod ihn im Bade Meran am 26. April plötzlich „zur großen Armee“ abberief.
Die Trauer um den deutschen Volks- und Vaterlandshelden war eine so allgemeine und innige, daß es uns nicht wundern darf, wenn auch die schwarze Rotte sich noch einmal aufraffte, um dem verhaßten Manne den Sarg mit ihrem „baierischen Vaterlands“-Gift zu bespritzen. (Vergl. „Gartenlaube“ 1862, Nr. 12 und 1870, Nr. 47)
Schwere Elternsorgen! Unter dieser Bezeichnung registriren wir heute drei Vermißte im Knaben- und Jünglingsalter, zu deren Wiederauffindung wir die schon so oft bewährte Hülfe unserer Leser dringend anrufen.
1) Der fünfzehnjährige Sohn des Cantors Hübner in Rengersdorf bei Marklissa (Reg.-Bez. Liegnitz), Gustav Hübner, war bei einem Buchbinder in Lauban in der Lehre, und verließ das Haus seines Meisters heimlich am 30. Januar dieses Jahres. Vierzehn Tage später kam ein Brief von ihm, aus Petersdorf bei Halle an der Saale, bei seinem Vater an, in welchem er um Verzeihung bat und Heimkehr (und zwar über Magdeburg-Berlin) versprach, wenn ihm einiges Geld nach Bernburg, postlagernd, geschickt würde. Dies geschah sofort, aber statt des Sohnes kam das Geld, das bei der Bernburger Postbehörde nicht abgeholt worden war, zurück. Der junge Mensch ist seitdem spurlos verschollen. Er trug dunkle Kleidung; Ueberzieher, Rock und Hosen waren schwarz-blau; die Weste war grau; er ist von Statur groß und stark, stottert und hat erfrorene Hände.
2) Hermann Steinbach, der 12½ Jahre alte Sohn des Hutfabrikanten Robert Steinbach in Magdeburg, ein Gewerbeschüler, ist am 15. December 1880 aus der Schule nicht in das Elternhaus zurückgekehrt und seitdem trotz aller obrigkeitlichen Nachforschungen spurlos verschwunden. Er trug einen schwarzcarrirten Tuchanzug, Stiefeln mit Lackkappen und rothgeränderte Strümpfe und hat dunkelblondes Haar, starke Augenbrauen, weiße Gesichtsfarbe und etwas aufgeworfene Lippen.
3) Eine Wittwe wohnte in München mit ihrem Sohne zusammen, einem braven jungen Mann, der als Buchbinder dort arbeitete und jeden verdienten Pfennig der Mutter zuwandte. Da kam, während mehrtägiger Abwesenheit der Wittwe, eine Postanweisung von ihrer Tochter an sie an, und da auch der Sohn nicht daheim, sondern in seiner Werkstatt war, so hatte der Postbote die Sendung einer Nachbarsfrau übergeben, die auch ihren Namen in das Quittungsbuch setzte. Die Postanweisung kam jedoch nicht in die Hände der Wittwe, dagegen behauptete die Nachbarin, sie dem Sohn übergeben zu haben. Vor das Postamt gefordert, leugnete der junge Mensch beharrlich jede Kenntniß von dieser Geldanweisung, und auch als der betreffende Beamte mit Drohungen ihn zum Geständniß aufforderte, blieb er fest bei der Behauptung seiner Unschuld, aber er verließ sofort München; das geschah am 4. Juli 1881), und seitdem ist es weder der Mutter noch der Schwester gelungen, eine Spur von ihm aufzufinden. Die Mutter ist so trostlos über den Verlust ihres wahrhaft braven Sohnes, daß ihr der Gram in kurzer Zeit das noch nicht zu alte Haupt gebleicht hat. Die Unschuld des Sohnes ist längst erwiesen: jene Postanweisung ist von unredlichen Händen benutzt worden, wie bereits eingestanden ist. Aber den jungen Menschen hat die Scham über solch einen Verdacht fortgetrieben. Er heißt Cajetan Wolfgang Koppel, ist am 20. September 1863 zu Linz in Oberösterreich geboren und heimathberechtigt zu Schwaz in Tirol; die Erscheinung des siebenzehneinhalbjährigen Jünglings ist eine angenehme, indem er sich durch schlanke Gestalt, ganz goldblonde, dichte Locken, große blaue Augen und ein volles, rundes Gesicht auszeichnet; auch ein besonderes Kennzeichen fehlt ihm nicht: eine Narbe, Schnittwunde, mitten durch die Stirn. Möge der armen Mutter bald eine Kunde von ihm oder über ihn zukommen!
Am Brunnen. (Mit Abbildung S. 325.) Bedarf dieses reizende Genrebild C. Böker’s einer wortreichen Erklärung? Es spricht ja deutlich genug für sich selbst, wie jedes dem Leben abgelauschte Kunstwerk. Sind sie nicht unsere guten Bekannten – diese sonnige Gebirgslandschaft, das junge Dirndl am Brunnen und der alte gebeugte Landbriefträger? Ja, dieser Briefträger! Vielen mag er schon als ein unheimlicher Sendbote des unerbittlichen Schicksals erschienen sein; denn seine einfache lederne Tasche enthält nur zu oft den ganzen Jammer des irdischen Daseins. Nun, die Nachricht, welche er heute dein Mädel auf unserem Bilde gebracht, war gottlob nicht verhängnißvoll. Frohe Botschaft der Liebe war sie vielmehr. Das können wir mit gutem Gewissen behaupten; denn zu unverkennbar hat der Künstler ihr junges, rundes Gesichtchen zum Spiegel so froher Botschaft gemacht. „Möge der Sommer ihres Glückes blühen!“
H. B. Sheboygan in Wisconsin. Das von Ihnen beobachtete Phänomen war eine mit Regenbogen verbundene Nebensonnen-Erscheinung, wie sie durch Brechung der Sonnenstrahlen in sehr kleinen Eiskrystallen, die in der Luft schweben, entsteht. Diese Erscheinungen lassen sich in einer völlig befriedigenden Weise erklären, erfordern aber für das Verständniß eingehendere mathematische Kenntnisse. Andeutungen darüber finden Sie in jedem besseren physikalischen Lehrbuche.
M. B. in Braunschweig. Wiederholen Sie gütigst Ihr Anliegen unter Angabe Ihrer vollen Adresse! Wir beantworten, wie bereits oft erklärt, alle an uns gestellten Anfragen lieber auf brieflichem Wege.
W. Th. A. in Berlin. Recht hübsch zwar, namentlich „December“, aber bei dem lyrischen Sprühregen, der sich täglich über die „Gartenlaube“ ergießt, ist die einzig mögliche Antwort: „Wolfsschlucht“. Besten Dank!
Ernestine C. in New-Orleans. Leider ungeeignet! Verfügen Sie gütigst über das Manuscript!
M. F. in Dortmund. Den Roman „Ein Held der Feder“ von E. Werner finden Sie im Jahrgang 1871.
L. R. in L. Leider ungeeignet.
C. F. A. in Rostock. Die uns zum eventuellen Abdruck gesandten Manuscriptblätter dürfen nur auf einer Seite beschrieben sein.
Ottomar Sch. in Weißenfels. Die gewünschte Adresse lautet einfach: Guido Hammer in Dresden.
H. 1000 in Görlitz. Nein!
R. K. in W. Sie haben vollkommen Recht. Von einer unwürdigen Beisetzung Schiller’s , wie unser Lessing-Artikel (Nr. 7, S. 116) sich irrthümlich ausdrückt, kann keine Rede sein. Die „Gartenlaube“ selbst hat diese jahrelang verbreitete falsche Meinung bereits früher in ihrem Artikel „Der katholische Schiller“ von Robert Keil (vergl. Jahrg. 1875, S. 134 ff.) auf das Gründlichste widerlegt.
Ein Abonnent in Florenz. Die Artikel „Die Truppen des italienischen Feldzugs“ und „Eine Hirschjagd auf Java“ finden Sie beide im Jahrgang 1859.
O. in Wladiwostok. Ja! Nach den deutschen Reichsgesetzen, die Civilehe betreffend, ist es erlaubt.
E. S. in A. Ein kleines Talent, für die Veröffentlichung nicht bedeutend genug – zu wenig eigenartig.
M. im Bodenstein. Nein! Die „Gartenlaube“ ist kein Nachweisungsbureau.