Die Gartenlaube (1881)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[353]

No. 22.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Bruderpflicht.

Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Unabweislich drängte sich Aurel der Gedanke auf, wie sein Vater doch vor Jahren sich so leicht von Weib und Kind getrennt habe. War das die Wirkung der stürmischen Bewegung jener Zeit gewesen, der Aufregung des politischen Fieberzustandes, in welchem er sich befunden? Oder hatte nach und nach das Leben, der Wechsel der Schicksale und alles, was den alternden Menschen weicher und weiser macht, auch seines Vaters Gemüthsleben vertieft und ihn fähig gemacht, jetzt mit so inniger Rührung an seine Grasmücke zu denken, mit einer Rührung, die Aurel um so mehr ergriff, je mehr er sich sagte, daß ein Charakter, wie der seines Vaters, so etwas vor dem Auge der Welt zu verbergen pflegt?

Und dann kam Aurel plötzlich ein häßlicher Gedanke, den er gleich darauf sich selbst vorwarf; ein Wort eines Schriftstellers – er wußte nicht mehr welches – fuhr ihm durch den Sinn: Die größten Opfer werden zumeist solchen Frauen gebracht, welche es am wenigsten verdienen.

Opfer waren freilich Lily große gebracht worden. Ihr Vater hatte dem, worin sie ihr Glück gesehen, seine ganze, zufriedene und geordnete Existenz dort drüben zum Opfer gebracht. Und er, Aurel, hatte er nicht auch im letzten Grunde ihr seine Ministerstellung, ihr die Hand Regina’s, ihr sein eigenes Lebensglück zum Opfer gebracht? Aber dem Gedanken, den jener Schriftsteller ausgesprochen, deshalb nachhängen zu wollen – es wäre furchtbar ungerecht gewesen; es wäre übrigens auch unmöglich gewesen, weil in diesem Augenblick der Wagen vor der Hausthür des neuen Hotels, welches Lanken bezogen hatte, hielt.

Vater und Sohn verließen rasch den Wagen, traten durch die offene Hausthür ein und eilten die Treppe zu Lily’s Zimmer hinauf. Als der alte Lanken dasselbe mit einem frohbewegten Ausruf: „Da bin ich wieder, kleine Lily,“ betrat, fand er es zu seiner Ueberraschung leer. Sie mußte im Nebenzimmer sein, dem von ihm selbst bewohnten – aber auch dies war leer. Wo war die kleine Lily? War sie in der Sorge um den Vater ausgeflattert, ihn zu suchen? Das arme Kind irrte vielleicht rathlos umher.

Aurel zog die Klingel. Ein Kellner erschien und brachte auch eine Auskunft, eine doppelte: eine mündliche und eine schriftliche, letztere in Gestalt eines Billets, das er dem alten Lanken überreichte. Die mündliche lautete, die junge Dame sei am gestrigen Abende abgereist; sie habe sich zu dem letzten Abendzuge, elf Uhr fünfzig Minuten, auf den Bahnhof fahren lassen.

„Welche Idee!“ rief Aurel. „Welche unglückliche Idee! Sie hat sich entschlossen – Ludwig nachzufolgen; sie hat ohne Zweifel Nachrichten von ihm erhalten.“

Der alte Lanken hatte das Billet aufgerissen und überflogen. Schreckensbleich mit aufgerissenen Augen reichte er es Aurel.

„Da – lies!“ stammelte er mit zitternder Lippe, „und sieh, ob Du’s begreifst!“

Das Billet war in englischer Sprache abgefaßt; zu deutsch lautete es ungefähr:

„Schilt nicht auf Dein armes Vögelein, dear old Governor, das davon flattert. Franz hat Recht – es war so unwürdig für mich, in dieser Lage auszuhalten. Franz ist der Einzige, der das mit mir empfindet, der ein Herz dafür hat, wie peinvoll es für mich ist. Franz kam heim und sagte, Du würdest wegen eines ‚Raws‘ in einem Volksmeeting von der Polizei zurückgehalten und werdest nicht heimkommen, und wir sollten die Stunden benutzen. Deshalb muß ich sehr schnell meine Sachen packen und kann Dir nur dies schreiben, damit Du Dich nicht ängstigst: Ich gehe mit Franz; er bringt mich zu seinen Verwandten. Wird auch alles Nöthige besorgen, daß ich von Ludwig ganz frei werde und wir uns heirathen können. Wird Dir auch ganz ausführlich schreiben – Alles, oder ich werde es thun. Deine arme Grasmücke. In Eile.“

Aurel stand wie vom Schlage getroffen, als er diese naive Epistel gelesen hatte; er starrte seinen Vater an und sein Vater starrte ihn an. Aurel fand zuerst die Sprache wieder:

„Sie ist – wahrhaftig – wenn dies nicht die Worte einer Verrückten sind, so ist sie –“

„Durchgegangen. Sie ist mit ihm durchgegangen.“

„Mit ihm – mit Franz – wer ist Franz?“

„Franz – der geschniegelte Windhund, der Stutzer von einem Buchhalter, der sich an uns drängte, uns mit seinen Aufmerksamkeiten verfolgte, mir gute Cigarren auftrieb, Lily ‚Love-stories‘ vorlas. Hätt’ ich eine Ahnung gehabt … Höll’ und Teufel!“

„Und wie heißt dieser Mensch?“

„Devil and hell!“ wiederholte der alte Thierarzt und erhob beide Fäuste, als ob er Teufel und Hölle zum Kampfe herausfordere. Aurel stand wie versteinert. Dann lachte er bitter auf.

„Du lachst noch?“ fuhr der alte Lanken mit seinem dunkelroth gewordenen Gesicht zu ihm herum.

„Wahrhaftig – es muß doch einer sein, der am Ende der Tragikomödie lacht, in der wir Beide eine so grausam komische Rolle gespielt haben.“

„Am Ende – am Ende … ich denke, wir stehen noch lange nicht am Ende,“ rief der alte Lanken. „Diesen Menschen, diesen Herrn Falster wird man trotz seiner Windhundbeine einzuholen [354] wissen, und wenn ich ihn dann nicht mit diesen meinen Händen erwürge …“

„Ach, Vater, Du wirst nichts erwürgen – das würde Deiner Grasmücke viel zu großen Kummer bereiten und verdürbe den Charakter des Stückes! Und deshalb laß mich lachen – lachen über uns arme Thoren, die wir unsere Rollen darin so schrecklich ernst und schwer und tragisch nehmen“

Der alte Lanken antwortete nicht. Er mußte Luft schöpfen. Die Erschütterung war ihm zu stark. Er mußte sich auf das Sopha niederlassen. Er mußte wieder und wieder tief Athem holen, und bleich und bleicher werdend starrte er vor sich hin, während ihm der helle Schweiß auf die Stirn trat.

Aurel stand noch eine Weile regungslos da – dann, des Vaters verändertes Aussehen bemerkend, trat er zu ihm und legte sanft seine Hand auf seinen Scheitel.

„Es ist nun einmal nicht anders, Vater,“ sagte er. „Wir haben da Beide eine Erfahrung machen müssen, die uns, so alt wir sind, unmöglich schien. Deine Tochter Lily ist nicht das, wofür Du sie hieltest, sondern ein wenig leichtsinnig, ein wenig flatterhaft, ein wenig von der Menschensorte mit der neuen Moral von heute, einer Moral, die am Ende der Teufel auch hat, wenn er an Sonntagnachmittagen gemüthlich beim Kaffee mit seiner Großmutter plaudert. Du mußt es zu verwinden wissen – einen alten Republikaner, wie Dich, dessen erste Mannessorge der Staat, die Allgemeinheit ist, darf das, was ihn in seinem eigenen Hause trifft, nicht zerschmettern; Brutus, weißt Du, ließ seine Söhne …“

„Hol’ der Teufel Brutus und seine Söhne!“ stöhnte der alte Herr: „hol’ ihn der Teufel, zusammt dem Republikanerthum und der Moral dieser gottverlassenen Zeit! Wollte, ich hätte Lily …“

Er vollendete nicht – er schöpfte nur wieder tief Athem.

„Du wolltest, Du hättest Lily ein wenig anders, ein wenig ernster, ein wenig strenger und ein wenig nachsichtiger gegen ihre Launen erzogen. Mach’ Dir darüber keine Skrupel, alter Governor, Du warst nicht der Mann dazu. Du hättest es auch nicht durchsetzen können; denn ich fürchte, es hätte sich mit Euren Sitten, Euren Grundsätzen drüben nicht vertragen. Wär’ nicht angegangen, fürcht’ ich.“

Da sein Vater schwieg, fuhr Aurel fort:

„Also laß uns aufrecht bleiben bei diesem Schlage, der Dir eine Tochter geraubt hat – eine Tochter, an der freilich Dein Herz hing – aber Dir doch einen Sohn läßt, Vater – einen Sohn, an dem Du freilich nicht viel Freude erlebt hast, der sich sogar zu einem Fürstendiener, einem Minister, einem Tyrannenwerkzeuge entwürdigte, der aber doch weiß, was Sohnespflicht ist …“

Der alte Lanken faßte wie mit müder, schwerer Hand nach der Hand seines Sohnes, die jetzt auf seine Schulter herabgeglitten war; er hielt sie fest, aber er antwortete nicht.

So blieben Beide lange wortlos. In des alten Thierarztes Augen traten ein paar dicke Tropfen, die an seinen Wimpern hängen blieben. Aurel sah gerührt auf ihn nieder. Sein Auge blieb trocken, aber wer hätte sagen können, daß er in dieser Stunde, in der das Bewußtsein seines Verlustes sich mit doppelter Schwere ihm auf’s Herz legte, weniger litt als sein getäuschter Vater?




13.

Sie redeten lange kein Wort, die beiden Männer. Redseligere Leute als sie hätten vielleicht das dringende Bedürfniß empfunden, jetzt sich gründlichen Erörterungen und Untersuchungen hinzugeben, wie diese Flucht Lily’s, dieses Durchgehen mit einem fremden jungen Menschen möglich gewesen, auf welchem Wege es dazu gekommen und wie es ausgeführt worden; aber weder der Vater noch der Sohn empfanden ein Bedürfniß dazu. Sie konnten es sich ja vorstellen; sie konnten die allmähliche Entwickelung des Verhältnisses zwischen Lily und ihrem Verführer sich ausmalen und sich vorstellen. Der junge Mann, aus einem wohlhabenden Hause stammend, schien in seiner Thätigkeit am hiesigen Platze ganz außergewöhnlich viel Mußestunden übrig gehabt zu haben. Und Lily, die er in der Pension Schallmeyer’s kennen gelernt, hatte eben auch der Muße so viel, so sehr viel gehabt, zu viel für solch ein unbehütetes junges Ding. Und das hatte sie denn öfter und länger zusammengeführt, als Lily’s „dear governor“ wahrgenommen oder beachtet, oder es hatte nicht gegen seine amerikanischen Sittenbegriffe verstoßen. Lily hatte Franz ihr Vertrauen geschenkt, und Franz hatte mit seiner Ansicht nicht zurückgehalten, daß es ihrer sehr wenig würdig, einen Gatten, der bei ihrer Ankunft feige davongelaufen, sich durch Processe und Advocaten wieder einzufangen; vielleicht war es Franz’ aufrichtige Ansicht gewesen. Vielleicht hatte er ihr ein Bild ihrer Zukunft in dem düsteren Grafenschlosse entworfen, hatte ihr geschildert, wie sie dort zwischen einem Gatten, der nicht wagte, sie zu vertheidigen, und einem Schwiegervater, welcher gezwungen werden mußte, sie in sein Haus aufzunehmen, einen wenig beneidenswerthen Platz einnehmen werde – vielleicht war Lily vor solcher Zukunft erschrocken. Und da nichts dawider sprach, daß Franz sich wirklich in die reizende junge Dame verliebt hatte, so mochte ihr die Zukunft, welche sie an seiner Seite im Hause oder im Kreise der Seinigen finden würde, in bestem Glauben freundlich und verführerisch genug erschienen sein. Das Alles konnte man sich denken. Und da Lily schon einmal in ihrem Leben, bei dem raschen Erglühen ihrer Neigung zu Ludwig und dem schnellen Entschlusse, für immer die Seine zu werden, Proben abgelegt, daß ein großer und seltener Fonds von muthiger Thatkraft für übereilte, entscheidende Entschlüsse neben nur geringer Anlage für besonnenere Erwägungen in ihrer jungen Seele lag – so hatte sie nun den richtigen Augenblick benutzt, wo ihr „dear governor“ sich in einer eigenthümlich difficilen Situation befand, die ihr Handeln ihrer eigenen Verantwortlichkeit überließ, um mit dem jugendlichen Franz durchzugehen, der, wie sie schrieb, der Einzige war, welcher mit ihr empfand.

„Dieses Eine,“ rief endlich der alte Thierarzt auf und schlug dabei verzweifelnd mit der geballten Rechten auf sein Knie, „dieses Eine werde ich ihr nie verzeihen können: sie, für die ich Alles that, was ich ihr an den Augen absehen konnte, hat mich mit keiner Silbe ahnen lassen, was in ihrem Herzen vorging und was sich hinter meinem Rücken anspann und abspielte. Hätte sie mir doch nur offen gesagt –“

„Was, Vater?“ unterbrach ihn Aurel. „Daß sie von Ludwig nichts mehr wissen wolle?“

„Nun ja, und daß ein Anderer ihre Neigung gewonnen.“

Aurel schüttelte den Kopf.

„Seien wir darin gerecht, Vater!“ sagte er. „Es ist nicht anzunehmen, daß, wenn sie so offen gegen Dich gewesen wäre, Du etwas Anderes geantwortet hättest als ein zorniges: ‚ich bin über’s Meer gekommen, um meiner Tochter Recht zu fordern, und ich will dieses Recht. Es handelt sich um Deine und meine Ehre, und wir wollen unsere Ehre wahren, auch wenn wir darüber zu Grunde gehen sollten.‘ Und sodann – davon bin ich überzeugt – würdest Du Herrn Franz Falster zur Thür hinausgeworfen haben.“

Der alte Lanken seufzte tief auf. „Es mag so sein,“ sagte er mit einem leisen Wiegen seines Kopfes und einer Stimme voll tiefer Betrübniß, „es mag so sein, daß diesem Franz Falster ein solches Schicksal geblüht hätte. Oder hättest Du mir, wenn ich Dich erst um Rath gebeten, etwas Anderes zu thun empfohlen?“

„Schwerlich, Vater. Und dazu wird kommen, daß Lily unter dem Drucke seines Willens stand, indem sie gegen Dich über Alles schwieg. Er hat Deine Lage durchschaut und vorausgesehen, wie Du handeln würdest, wenn Lily Dir ihr Geheimniß verriethe.“

Der alte Herr nickte wieder, und dann nach einer Pause sagte er halb flüsternd:

„Es ist sehr grausam, das Alles so durchdenken zu müssen. Wenn sie, wie Du eben sagtest, es durchschauten daß unsere Ehre davon abhing, Lily’s Recht durchzusetzen, so hätten sie uns dies nicht anthun müssen. Aurel. Wer wird jetzt nicht einen Stein auf uns werfen und behaupten, ich habe eine Schwindelei wider Ludwig Gollheim versucht, ein Märchen vorgebracht, mit Documenten geprahlt, die gar nicht vorhanden gewesen, und jetzt, wo Lily sich einen anderen reichen Gelbschnabel eingefangen, die ganze Intrigue fallen lassen?“

„Man wird sehr viel behaupten, Vater; Dinge wird man wissen und verbreiten, an welche unsere Seele nicht gedacht hat. Dessen dürfen wir überzeugt sein.“

Der alte Lanken stützte seinen Ellenbogen auf’s Knie und blickte, wie unter dem Druck seiner Gefühle zusammengekauert, trübsinnig vor sich hin.

„Aurel!“ sagte er dann, sich ein wenig emporrichtend und beide Hände auf seine Kniee stemmend, um so noch immer den Boden [355] anzustarren, „Aurel, es ist eine wunderliche Welt. Da bin ich nun um mein gutes altes Leben auf der Farm gekommen. Und die Farm selber, an der mein Herz hing, ist hingegeben. Und Du, Du bist auch um Deine Stellung gekommen. Du warst hier im Lande groß und mächtig und konntest noch viel Gutes thun. Und jetzt bist Du nichts mehr. Wir Beide sind um unsere Ehre gebracht worden, wenigstens um unsern guten alten Namen in derselben alten Stadt, in der wir Beide aufgewachsen sind und als Kinder gespielt haben und … und … an der uns doch liegt, Aurel!“ endete der alte Herr rasch mit einem wahrnehmbar weicheren Klang seiner Stimme, die ihn wohl vorziehen ließ, weiter nicht viel darüber zu sagen, um nicht zu verrathen, wie es mit seiner männlichen Fassung aussah. Aurel nickte leise mit dem Kopfe.

„Es ist so, in Wahrheit,“ sagte er, „und das Alles – weshalb?“

„Ja, weshalb?“ antwortete nach einer längeren Pause der alte Herr. „Denke, hast das Richtige getroffen, Aurel, wenn Du von einer Moral redest, wie sie auch der Teufel entwickelt, wenn er mit seiner Großmutter ein gemüthliches Plauderstündchen hat. Haben heutiges Tages so etwas wie eine solche Moral, eine Moral, wonach die Weiber ihren Männern entlaufen, welche ihre Seelenbedürfnisse nicht verstehen, und die Männer den Frauen, welche ihr geistiges Leben in seiner Entwickelung hemmen – sie nehmen dann andere, weniger hemmsame Weiber. So entlaufen natürlich auch die Töchter den Eltern, welche ihre glückshungrige Seelentiefe nicht begreifen. Und so weiter und so weiter. Kommt das Alles ja tausendmal vor, heutigen Tages. Und den, der darunter leidet – wer bemitleidet, wer denkt an den?“

„So ist es. An ihn denkt man nicht, aber wie darunter gelitten werden kann, das empfinden wir Beide in dieser Stunde.“

„Ja, empfinden es – empfinden es sehr schmerzlich, Aurel. Greift mir an’s Herz das, Aurel, und weiß nicht, ob ich’s überstehe. Fürchte, es wird meinem morschen abgerackerten Leben zu viel sein. Weiß nicht, was aus mir werden soll, ohne die Grasmücke.“

In des alten Herrn Wimpern leuchteten von Neuem die Thränen auf – Thränen, welche vielleicht nicht mehr darin geglänzt hatten, seit er ein gereifter Mann geworden.

Aurel sah schweigend auf ihn nieder. Vielleicht wäre es das Natürlichste gewesen, ja seine Pflicht, den alten Mann zu trösten. Aber auch über ihn kam etwas, was er nicht gefühlt, seit er ein Mann geworden, etwas von einer Stimmung, von einem Zustande, als ob ihm die Welt zu einem Traumgebilde ohne Werth und Inhalt geworden, zu einer schattenhaft an ihm vorüberziehenden Bilderreihe. Es war wie die unbewußte Erkenntniß, die ihn als Empfindung überkam, daß, wenn der sittliche Kern aus dem, was vor unseren Augen an Geschehenem vorüberzieht, dahinschwindet, die Welt den Werth eines Traumgebildes enthält. Von dieser Empfindung fühlte er sich nun gebannt; er war wie gelähmt, nicht besiegt oder gebrochen durch eine Kampfesarbeit, nicht zerschmettert in einem männlichen Ringen, sondern betrogen, um den Lebensmuth und den Willen zum Leben bestohlen.

So stand er und blickte mit gedankenvollen Augen und unbewegten Mienen auf seinen Vater nieder; er hätte vielleicht noch lange so gestanden, wenn nicht der Diener gekommen wäre, um zu fragen, ob sein Wagen noch länger unten warten solle.

„Ich komme,“ sagte er. „Und Du, Vater, begleitest mich. Ich muß zurück; es kann da Unaufschiebliches geben, aber Dich darf ich nicht verlassen jetzt. Du bleibst in meiner Nähe.“

Dem alten Manne war es gleich, wo er sich befand. Es mochte ihm selbst wohl thun, jetzt dem Sohne nicht von der Seite zu weichen. Er war daher einverstanden und folgte ihm. Als sie Aurel’s Wohnung erreicht hatten, sorgte dieser mit stummbeflissener Zärtlichkeit für des Vaters Bequemlichkeiten, und indem er dann sich den Einläufen auf seinem Schreibtisch zuwandte und flüchtig diese zu durchmustern begann, sorgte er, daß dazwischen nie ganz ihr Gespräch versiechte, damit der alte Mann nicht seinem schmerzlichen Gedankengange ganz rückhaltlos verfalle.

So verrannen ein paar Stunden, als der Diener eine Karte hereinbrachte mit der Meldung, der betreffende Herr wünsche dringend die Ehre einer Unterredung mit der Excellenz haben zu können.

Aurel las den Namen eines ehemaligen Collegen aus der Zeit, in der er selbst ein einfacher Advocat gewesen, des Justizraths Doctor Gruber. Er ließ ihn bitten, einzutreten.

Doctor Gruber war ein ältlicher Herr mit einem langen gelben Gesicht und über den Acten hohlgewordenen Wangen, aber mit scharf gebliebenen, stechenden grauen Augen, die den richtigen Blick für das Leben, das nicht in die Acten kommt, nicht verloren zu haben schienen. Auch war er der Anwalt, den sich, wenn es verwickelte Rechtsfragen und Fälle zweifelhafter Art galt, jede Partei im Lande zu sichern suchte.

Aurel erwiderte seine Verbeugung, indem er ihm die Rechte bot und dann auf einen Stuhl deutete.

„Wir haben uns lange nicht gesehen, Doctor,“ sagte er dabei. „Hoffentlich kommen Sie nicht als Herold irgend einer juristischen Fehde-Erklärung?“

„Im Gegentheil, Excellenz, ganz als ein Friedensuchender. Ich komme als Mandatar eines ebenso verliebten wie leichtherzigen jungen Mannes, dem an dem Frieden mit Ihnen so viel gelegen ist, wie dies bei solcher liebenswürdigen Charaktereigenschaften nur immer der Fall sein kann.“

„Sie kommen – doch nicht im Auftrage des Herrn –“

„Franz Falster – Sohnes von Anton Falster, Weinhändler und Besitzer in Giersbach, Kreis Langenrath am Rhein.“

„Nun“ rief hier der alte Thierarzt aufspringend und herantretend dazwischen, „so werden wir, denk’ ich, etwas Neues hören. Sie kommen – Sie haben den Muth, Herr –“

„Still, Vater!“ sagte Aurel, beschwichtigend seine Hand auf den Arm des alten Herrn legend; „dies ist mein Vater, Doctor Gruber. Was Sie mir zu sagen haben, wird auch für ihn sein.“

„In der That – völlig so,“ versetzte Doetor Gruber, sich leicht vor dem alten Herrn verbeugend, „freut mich, beide Herren zusammen zu treffen; wir werden, hoffe ich, desto schneller zu gedeihlichem Ende kommen.“

Aurel deutete noch einmal auf einen Stuhl, auf den Doctor Gruber sich, nachdem auch Aurel seinen Arbeitssessel wieder eingenommen bequem niederließ, ohne den zornigen Blicken, mit denen der alte Herr, stehen bleibend, seine Bewegungen verfolgte, die geringste Rücksicht zu schenken.

„Sehen Sie, Excellenz,“ hob Doctor Gruber zu Aurel gewandt an, „dieser junge Mann, von dem die Rede ist, kam zu mir und klagte mir seine Lage, oder eigentlich besser gesagt, die Lage einer gewissen jungen Dame, mit deren Verhältnissen ich nicht nöthig habe, die beiden Herren näher bekannt zu machen. Diese Verhältnisse hatten an und für sich nichts, was außergewöhnlicher Art und exceptioneller Natur war; der einzige Zug darin, der ihnen ein tragisches Moment beimischte, war, daß die junge Dame eine so weite Reise gemacht, um eine Erfahrung zu gewinnen, die andere leichtgläubige Frauengemüther ohne den Aufwand so großer Reisespesen machen dürfen. Sonst waren die Verhältnisse, welche mir geschildert wurden, nicht außergewöhnlich, aber sie hatten sich in letzter Zeit ganz bedenklich complicirt durch den Umstand, daß zwischen der betreffenden jungen Dame und meinem jungen Manne ein Verhältniß von so leidenschaftlicher Natur entstanden war, wie wir kaltblütigeren Leute es uns je nach unserer respectiven Glaubensfähigkeit für solche Dinge um irgend vorzustellen vermögen. Ich kann jedoch über das, was in dieser Beziehung meiner allgemein menschlichen Theilnahme anvertraut wurde, hinweggehen und mich an das geschäftliche Resultat und die praktischen Folgerungen halten, die mich nun eben zu Ihnen führen; denn das war nun einmal das Bittere in der Lage unserer jungen Dame, daß die tiefen und poetischen Regungen ihres unschuldigen Herzens von so wunderlichen juristischen Bedenken und civilistischen Zweifeln begleitet sein mußten, und sie sich keinem Gefühle hingeben, keinen Gedanken fassen konnte, ohne daß die bürgerliche Moral und das Gewissen, oder wie wir das nennen wollen, kamen, um ein Fragezeichen dahinter zu machen. In dieser Verlegenheit wandte sich dann Herr Falster an mich um Rath und um Beihülfe zur juristischen Regulirung der Lage seiner Geliebten, und es wäre wider meine Geschäftspraxis gewesen, die Vertretung so interessanter Parteien abzulehnen. Ich hoffe, Excellenz, daß Sie mir deshalb nicht übel wollen. Ich würde untröstlich sein, wenn Sie mich nur irgendwie im Lichte eines Widersachers erblickten, wenn Sie glaubten, ich hätte irgend einen andern Wunsch und Gedanken bei der Sache, als das Glück der jungen Leute in einer Weise zu vermitteln, welche möglichst auch Ihren Anschauungen entspricht: ich komme, Excellenz, nur in der Absicht, mich über diese Anschauungen zu unterrichten, mich in meinem Procedere, so weit es irgend angeht, ihnen zu unterwerfen.“

Vater und Sohn waren dieser langen wortreichen Auseinandersetzung [356] mit großer Spannung und schweigend gefolgt, Aurel hatte zu gleicher Zeit mit seinem scharfen Auge in den Zügen des Advocaten zu lesen gesucht, aber nicht recht verstanden, weshalb dem Manne bei dem, was er sprach, eine so spöttisch aussehende Heiterkeit aus den Augen blitzte. War das Schadenfreude, der landläufige, allgemein menschliche Mangel an Wohlwollen bei des Nebenmenschen Verdruß? Nein, das war es nicht; es war etwas Anderes, das Aurel nicht errieth – es war das Bewußtsein, daß er dem Minister eigentlich einen ungeheuer großen Dienst leistete, wenn er ihn der Nothwendigkeit überhob, mit dem Grafen Gollheim, mit dem Vater Regina Gollheim’s, einen häßlichen Proceß zu führen, noch dazu um einer ihm ganz fremden, aus Amerika herübergeschneiten Schwester willen. Er war eben klug, der Doctor Gruber; er wußte, was vorging; sich mit dem dirigirenden Minister auf einen Fuß intimen Vertrauens stellen zu können, war etwas, das ihm just convenirte, und es war nur schade, daß er keine Ahnung von dem gestern bereits eingereichten Entlassungsgesuch Aurel’s hatte; er hätte sich dann vielleicht nicht so dienstbeflissen gezeigt.

„Ein ganz verfluchter Zungendrescher!“ murmelte, ihn mit zornigen Blicken anstarrend, der alte Thierarzt, als Doctor Gruber eine Pause im Sprechen machte, während Aurel erwiderte:

„Ich bin Ihnen dankbar für diese Zuvorkommenheit und freundliche Rücksicht, welche Sie uns ausdrücken, Doctor. Ich möchte aber, bevor ich Ihnen antworte, doch noch bitten, uns weitere Aufschlüsse über das zu geben, was Sie den jungen Leuten gerathen haben, und was nun weiter geschehen soll?“

„Was ich den beiden jungen Leuten oder besser dem Herrn Falster, der allein mit mir verkehrte und die ganze Sache betrieben hat, gerathen, ist einfach gewesen: wenn er die bewußte junge Dame heirathen wolle, habe er vorher ihre frühere mit einem Andern nach amerikanischen Gesetzen eingegangene und dem Anschein nach völlig gültige Ehe annulliren zu lassen und sich gründlich gegen alle etwaige Folgerungen aus derselben sicher zu stellen. Die Annullirung dieser Ehe werde sich vielleicht wegen Formfehlers, verbunden mit dem Widerspruch des Vaters des jungen Ehemannes, des Grafen Gollheim, erreichen lassen. Jedenfalls sei die Scheidung ex capite malitiosae desertionis, wegen Ludwig Gollheim’s Verschwinden unschwer zu erreichen. Nur könne der Antrag auf Annullirung oder Scheidung der Ehe nicht von mir als Mandatar der jungen Dame bei Gericht eingebracht werden, während Sie, Excellenz, einen andern Mandatar, mit den Vollmachten derselben jungen Dame ausgerüstet, bei demselben Gericht den Antrag stellen ließen, den Grafen Gollheim zur Anerkennung der Ehe seines Sohnes zu verurtheilen.“

„Wäre natürlich ein seltsamer Widerspruch gewesen,“ fiel Aurel ein. „Sie riethen also …“

„Ich riet, sofortige Fürsorge zu treffen, daß dies nicht geschehe – nur dies nicht! Und das Mittel, Ihnen, Excellenz oder Ihrem Herrn Vater jedes Vorgehen unmöglich zu machen, lag ja auch nahe zur Hand. Es brauchtem Ihnen ja nur die beweisenden Documente zu fehlen.“

„Ah … und diese Documente?“

„Gehörten weder Ihnen noch Ihrem Vater. Sie waren ausgestellt für die bewußte junge Dame. Sie bekundeten die Trauung dieser jungen Dame mit Ludwig Gollheim. Sie waren ausschließliches Eigenthum Ihrer Schwester, und diese –“

„Sie – sie nahm die Documente an sich?!“ rief Aurel aufspringend in unbeschreiblicher Erregung.

„Himmel und Hölle,“ murmelte dazu der alte Thierarzt, „Lily nahm sie – stahl sie – Lily!!“

„Stahl sie,“ fiel lächelnd Doctor Gruber ein, „ist nicht das richtige Wort, mein bester Herr. Niemand kann eine ihm gehörige Sache stehlen. Die junge Dame nahm, was ihr Eigenthum war, an sich, und zu mehrerer Sicherheit übergab sie es Falster, der mir diese Papiere vorlegte, die …“

„Ihnen!“ rief Aurel. „Sie also haben die unglücklichen Blätter?“

„Sie sind nebst der nöthigen Vollmacht in meinen Händen zurückgeblieben, allerdings,“ antwortete unberührt von der furchtbaren Wirkung, welche seine Enthüllung auf die beiden Männer hervorgebracht, der Doctor Gruber. „Es ist natürlich, daß ich sie dem Gericht einreiche, wenn ich primo loco die Annullirung der Ehe, die Invalidirung dieser Blätter beantrage – eventuell.“

Der alte Lanken war in eine furchtbar erregte Gemüthsverfassung gerathen; er hätte diesen „Zungendrescher“, der ihm mit der empörendsten Gemüthsruhe überwältigende Dinge wie ein alltäglichstes Geschäft vorbrachte, zu Boden schlagen, niederboxen, ihm einen derben Theil von dem, was er Herrn Falster gönnte, auf den Rücken bläuen mögen. Aber er schwieg, trotz aller innern Wuth, die sich nur durch ein krampfhaftes Ballen seiner Hände, ein wiederholtes Ausstoßen eines derben Fluches äußerte; er war doch besonnen genug, um sich zu sagen, daß er nach Allem, was geschehen, mit Protestiren und Widerspruch nichts erreichen werde. Hatte er doch selber oft genug Gollheim’s Protest als thöricht verhöhnt und verspottet! Heute war die Reihe an ihm, sich die Grenzen der väterlichen Gewalt zu Gemüthe zu führen.

Und schwerer noch traf Doctor Gruber’s Enthüllung Aurel, so schwer, daß er der weiteren Ausführungen dieses Mannes nur mit mühsamer Anstrengung zu folgen vermochte. Er gab dann bereitwillig die Versicherung, daß, was ihn, Aurel betreffe, er dem Doctor Gruber gern jede Vollmacht gebe, zu thun, was er im Interesse seiner Clienten für zweckmäßig erachte. Auch der alte Thierarzt nickte dazu mehrmals ingrimmig mit dem Kopfe.

„Auch meinethalb,“ rief er aus, „auch meinethalb thun Sie, was Ihnen gut scheint! Bin von Lily nicht gefragt worden, bevor sie ihre Wahl zwischen dem alten und dem neuen Liebhaber getroffen hat, und nun will ich auch weiter von andern Leuten nichts davon hören. Sollen mich in Ruh lassen damit, die Leute! Thun Sie Alles, was Sie für nöthig halten, Herr! Aber richten Sie die Sachen so ein, daß Sie meiner nicht dabei bedürfen! Es wäre möglich, daß, wenn Sie sich auf mich stützen wollten, in irgend einem Punkt, Herr, Sie mich nicht in der Stimmung fänden, um all dieser Menschen willen – mit eingeschlossen Sie und Herrn Falster und die Grasmücke selber, auch nur ein Wort zu verlieren. Wahrhaftig, auch nur ein Wort!“

Doctor Gruber zuckte leise die Achseln lächelte überlegen und deutete doch mit dem herablassenden Blick, den er auf den alten Herrn warf, sein Verständnis für die Gefühle eines beleidigten Vaters an. Zu Aurel herüberblickend sagte er dann:

„Und Sie, Excellenz, Sie hätten mir weiter auch keine Wünsche zu äußern, keine Befehle für mich?“

„Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Doctor, als daß ich Ihnen in Ihrer Sache den besten Erfolg wünsche. Werden Sie sich auch mit dem Grafen Gollheim in Verbindung setzen?“

„Das war allerdings meine Absicht.“

„So thun Sie es bald! Ihre Nachrichten werden ihm ebenso erfreulich sein, wie sie für uns erschreckend sind.“

Aurel verbeugte sich, und Doctor Gruber, der sich in der Hoffnung auf eine längere und gründliche juristische Erörterung der Angelegenheit durch die Verschlossenheit der beiden Herren getäuscht sah, nahm denn auch seinen Abschied und ging.

(Schluß folgt.)




Das einzige Raubthier Australiens.

Nicht durch die Pracht seiner Vegetation, welche im Vergleich mit der Flora anderer tropischer Länder ziemlich arm erscheint, hat Australien die Bewunderung der europäischen Entdecker erregt, sondern es fesselt bis jetzt die Aufmerksamkeit der Naturforscher besonders durch seine eigenthümlichen Thierarten. Die Känguruhs und vor Allem das Landschnabelthier verleihen der Fauna dieses kleinsten Welttheiles ein besonderes Gepräge; dabei ist noch Australien das seltene Glück beschieden worden, daß Raubthiere, die sonst in allen nördlichen und südlichen Erdstrichen hausen, in ihm gar nicht vorhanden sind. Nur der Wildhund Neuhollands, auch Dingo oder Warragal genannt (Canis Dingo, C. Australasiae), streift heute räuberisch in den dortigen parkähnlichen, wie zur Schafzucht geschaffenen Wäldern umher und bewohnt die mit Buschwerk dicht besetzten Schluchten. Aber dieser Stammverwandte des Wolfes und Fuchses ist kein Ureinwohner des friedlichen Landes; seine Vorfahren sind aller Wahrscheinlichkeit nach einst mit gesitteten Menschen als treue

[357]

Dingos und Emu.
Originalzeichnung von J. Bungartz.

[358] Schäferhunde nach Australien gekommen und haben erst allmählich ihre gutmüthige Natur abgestreift und in den weiten Steppen das Räuberhandwerk gelernt. Wann die Einwanderung dieser Art erfolgt war und wie die Verwilderung vor sich gegangen ist, darüber liegt ein tiefes Dunkel, welches die Naturgeschichte wohl niemals lichten wird, aber das äußere Gepräge und der Körperbau des Thieres lassen den Naturforscher keinen Augenblick im Zweifel über die Abstammung des Dingo.

Seine Gestalt ist in unserem heutigen Bilde treu wiedergegeben und wir brauchen nur noch hinzuzufügen, daß er ungefähr die Größe eines mittleren Schäferhundes erreicht. Seine Färbung ist vorwiegend blaßgelblich mit rothem Anfluge, spielt auch in's Graue und Schwärzliche hinüber, während Kinn, Kehle, Unterseite und Schwanz heller zu sein pflegen Von dieser Regel giebt es jedoch Ausnahmen, und man hat schon öfters schwarze Dingos oder auch Dingos mit weißen Pfoten gesehen.

Die Art ist gegenwärtig über das ganze australische Festland verbreitet und ebenso in den Wäldern und Hainen wie in den baumkahlen Steppen zu finden. In der Nähe der menschlichen Wohnungen, wo ihm der Aufenthalt nicht sicher genug erscheint, bleibt der Dingo den ganzen Tag hindurch in seinem Schlupfwinkel verborgen, und unternimmt erst in der Nacht seine Raubzüge. Wie unser Fuchs, jagt er äußerst selten in größeren Gesellschaften die meisten Reisenden haben ihn nur in kleinen Rudeln von drei bis sieben Stück gesehen, die wahrscheinlich einer einzigen Familie angehörten. Ob es wahr ist, daß die Familien ihr eigenes Jagdrevier haben, auf dem sie fremde Eindringlinge ihrer Art nicht dulden, können wir nicht mit Sicherheit behaupten, wiewohl dieser Zug in den Lebensgewohnheiten höher entwickelter Thiere ziemlich häufig vorkommt.

Wohin das Pulver und Blei des Ansiedlers nicht reicht, dort ist der Dingo der alleinige Beherrscher von Wald und Steppe. Auf unserm Bilde sehen wir ein jagendes Rudel Dingos. Ihr Opfer gehört gleichfalls einer specifisch australischen Art an es ist ein Emu, auch der neuholländische Kasuar genannt.

Aus dem ganzen Continent Australiens verbreitet, ist dieser zu der Familie der Kasuare gehörige Vogel dem Strauße nicht unähnlich, hat aber einen gedrungeneren Körperbau, kürzere Beine und kürzeren Hals, als sein mit kostbarem Gefieder geschmückter Stammverwandter. Sein Kopf ist ohne Helm, sein Hals nackt; seinen Flügeln fehlen die Schwingen. In der Regel erreicht der Emu die beträchtliche Hohe von zwei Metern und wird wegen seines schmackhaften Fleisches von den Ansiedlern mit Vorliebe gejagt. Da das scheue Geschöpf sich selten vor das Büchsenrohr stellt, so pflegt man es mit Windhunden zu jagen, welche im Dauerlauf den Vogel regelmäßig besiegen. Das ist eine eigenthümliche Jagd, die von den englischen Einwanderern mit solchem Eifer betrieben wird, daß gegenwärtig der Emu, stark decimirt, sich in die unbewohnten Gegenden Australiens zurückgezogen hat. In den Augenblicken der höchsten Gefahr vertheidigt er sich mit seinen mächtigen Füßen, mit denen er gewaltig ausschlägt und manchen seiner Verfolger auf der Stelle tödtet.

Ueber sein Leben in der Freiheit ist nur wenig Sicheres bekannt in den zoologischen Gärten Europas verträgt er bei einigem Schutz gegen rauhe Winde das nordische Klima gut und vermehrt sich mit Leichtigkeit.

Mit dieser Beute, mit den Känguruhs und dem in Wald und Steppe liegenden Aas, mochte sich früher der räuberische Dingo begnügt haben. Gegenwärtig sucht er sich jedoch seine Nahrung mit weniger Mühe zu verschaffen. Es ist bekannt, daß in diesem Jahrhundert die australischen Colonisten mit richtiger Würdigung der Natur ihrer neuen Heimath die Schafzucht in großem Maßstabe zu betreiben anfingen. In den parkähnlichen Wäldern, an den Säumen der grasreichen Steppen halten sie im Freien ihre zahlreichen Heerden, mit deren Wolle sie die Märkte Europas überschütten – zum schweren Aerger für unsere Landwirthe. Bald ist der Schafbestand Australiens, dank den günstigen klimatischen Verhältnissen und Ernährungsbedingungen, auf Millionen angewachsen und der schlaue Dingo wußte aus diesen Fortschritte der Cultur Nutzen zu ziehen. Er schlug nunmehr seinen Wohnsitz in einer gewissen Entfernung von den Schafzüchtereien auf, begann dieselben unbarmherzig zu plündern und wurde zu der schrecklichsten Geißel des Colonisten, die nur in den pestartigen Krankheiten der Heerden einen würdigen Rivalen hat. Brehm erzählt, um ein Beispiel anzuführen, daß in einer einzigen Schäferei binnen drei Monaten nicht weniger als zwölfhundert Stück Schafe und Lämmer von den Dingos geraubt wurden. Nach dem Einfall des Raubthieres bemächtigt sich der Schafe oft eine furchtbare Panik, um sich zu retten, jagen sie dann blindlings in die Steppe hinaus und fallen dort leider nur allzu oft der Ermattung und dem Durste zum Opfer.

So ist es leicht erklärlich, daß der Dingo sich mit den Haushunden gar nicht verträgt, sondern mit denselben ewig auf dem Kriegsfuße lebt. Hirten- und Jagdhunde sind ja die einzigen Thiere, die er zu befürchten hat. Deswegen ist auch die Feindschaft der früheren Stammbrüder eine so erbitterte, daß mehrere Hunde, wenn sie einen Dingo fassen können, ihn sofort in Stücke zerreißen, und ebenso überfällt ein Rudel Dingos einen allein durch Wald und Flur streifenden Hund wüthend. Nur während der Paarungszeit erlischt manchmal der grimmige Haß.

Die Ueberlegenheit des Menschen kennt der Wildhund wohl und sucht bei seinem Anblick stets das Weite, wobei er auf der Flucht die List und Verschlagenheit des Fuchses zeigt.

Der Mensch hat ihm auch gegenwärtig, wie einst dem Wolf in Europa, den Vernichtungskrieg erklärt, und dieser Krieg wird mit allen möglichen Waffen geführt. Da der Dingo vor dem Jäger gewöhnlich flieht, ehe derselbe zum Schuß kommen kann, stellt man ihm Fallen und vergiftet ihn mit Strychnin. So sind seine Stunden gezählt.

Selbstverständlich theilte auch der Dingo mit vielen anderen Thieren das Loos, in Käfigen über den Ocean zu fahren und in unseren Thiergärten die Schaulust der Menge und den Forschertrieb der Gelehrten zu befriedigen in dem engen Gefängniß behagte es aber keineswegs dem Steppensohn, er blieb mürrisch und bissig, und man erzählt von manchem heimtückischen Angriff des Gefangenen auf vorübergehende Menschen und Thiere.

Es wäre jedoch unrichtig, zu behaupten, daß dieses Thier gänzlich unzähmbar ist, denn in der Gesellschaft der australischen Eingeborenen leben ab und zu halbgezähmte Dingos, von denen man freilich sagen kann: wie der Herr, so der Diener. Von den edlen Eigenschaften unseres Haushundes zeigt dieser Dingo nämlich keine Spur, er gesellt sich kluger Weise zu den Wilden, weil er in diesem Verhältniß für seine Nahrung weniger zu sorgen hat, und läuft fort in die Wälder, wenn es ihm einfällt.

Im Breslauer Thiergarten will man dagegen die Erfahrung gemacht haben, daß der Dingo sich im zweiten oder dritten Geschlechte ganz gut zähmen läßt, und damit wäre auch die Möglichkeit geboten, ihn zur Verbesserung unserer Hunderassen zu verwenden. Aber selbst dieser Nutzen, den er uns bietet, ist sehr fraglich, denn der einzige Vorzug, welchen er vererben kann, ist seine allerdings außerordentlich feine Spürnase, während seine anderen körperlichen Eigenschaften schwerlich zur Veredelung des Haushundes etwas beitragen würden.






Soldatenrecht im Frieden.

Zur Reform des Militärstrafprocesse.
Von Fr. Helbig.

Während wir die nachfolgenden Zeilen niederschreiben, tagt in Berlin eine kaiserliche Immediatcommission, welche sich die Aufgabe gestellt hat, den Entwurf einer neuen Militärstrafproceßordnung für das ganze deutsche Reich zu schaffen. Voraussichtlich wird, nachdem der Entwurf dem Bundesrathe vorgelegen hat, der Reichstag sich schon in nächster Session mit der entsprechenden Gesetzesvorlage zu beschäftigen haben. Dadurch gewinnt die Sache ein hohes Zeitinteresse, und es erscheint angezeigt, derselben auch an dieser Stelle einige Aufmerksamkeit zu schenken.

Der deutsche Militärstrafproceß bewegte sich – Baiern ausgenommen – bisher noch in mittelalterlichen, überlebten Formen; er hat sich bis zur Stunde noch keines der leitenden Grundprincipien [359] angeeignet, auf welchen die ganze neuere Strafrechtspflege beruht.

Bei der Gründung des norddeutschen Bundes, in einer Zeit, wo Alles in eine vorwärtsstrebende Bewegung kam, wurde mit der Uebertragung des preußischen Verfahrens auf das ganze Staatengebiet des norddeutschen Bundes sogar ein starker Schritt nach rückwärts gethan, als das auf freisinnigerer Unterlage sich bewegende Militärstrafverfahren anderer Staaten, wie Hannovers und in gewissem Sinne auch Sachsens, beseitigt wurde. Und dann geschah das weitere Seltsame, daß Preußen, der militärische Musterstaat, der gerade in militärischen Dingen, wo es galt, Neues und Besseres zu schaffen, immer mit kühner Initiative voranging, in diesem Falle sich von Baiern überholen ließ, von Baiern, das seine mit dem Jahre 1870 eingeführte Militärstrafproceßordnung den Anforderungen der Neuzeit anpaßte.

Gegenüber dem Grundsätze unseres Gerichtsverfassungsgesetzes, alle Ausnahmegerichte für unstatthaft zu halten, könnte zunächst die Frage angezeigt erscheinen, ob nicht überhaupt die Militärgerichte aufzuheben und die Strafgerichtsbarkeit über Militärpersonen den gewöhnlichen bürgerlichen Gerichten zu übertragen sei. Damit würde sich allerdings die Reformfrage auf’s einfachste lösen. Obwohl nun unsere Militärverfassung selbst von einem gewissen demokratischen Zuge beherrscht wird, insofern Alles ohne Ausnahme, ohne Rücksicht auf Stand, Beruf oder Vermögen die Heeresfolge leisten muß, so sind für diese Lösung doch immer nur sehr wenige Stimmen eingetreten. Die wenigsten Anhänger hatte der Reformvorschlag gefunden, nach welchem die Uebertragung aller Vergehen auf die bürgerlichen Gerichte erfolgen sollte, wogegen diejenige Ansicht vielfach Raum gewonnen hat, welche zwischen den eigentlichen Militärvergehen, die auf dem militärischen Dienste und Organismus beruhen, und den von Militärpersonen begangenen gemeinen Vergehen gegen das bürgerliche Strafgesetzbuch unterscheidet und diese letzteren den bürgerlichen Strafgerichten zuweist. In England und Frankreich ist diese Unterscheidung bereits praktisch durchgeführt worden. Auch in Preußen ist man einer Lösung der Reformfrage in diesem Sinne bereits in früheren Zeiten nahe getreten, jedoch ohne durchschlagenden Erfolg. Es ist auch nicht zu verkennen, daß sich einer Aufhebung dieses Ausnahmezustandes, wenigstens zur Zeit, vielfache Bedenken entgegenstellen. Namentlich gehört zur Beurtheilung reiner Militärvergehen eine genaue Kenntniß des militärischen Organismus, die auf theoretischem Wege nur schwer zu erlangen ist.

Dem Civilrichter als militärischem Laien würden sich hier leicht besondere Schwierigkeiten in den Weg stellen und er aus Unkenntniß der Verhältnisse zu Entscheidungen kommen, welche eine Lockerung der militärischen Disciplin im Gefolge haben könnten, deren straffe Handhabung ein militärisches Grundgesetz bildet. Es käme also hier ein sachliches, nicht ein bloßes Standesinteresse in Frage. Aber auch bei den gemeinen Vergehen bleibt das militärische Interesse nicht ohne Berührung. So lange wir demnach kein eigentliches Volksheer haben – und bei der politischen Stellung der Staaten zu einander wird ein solches wohl noch eine geraume Zeit ein frommer Wunsch bleiben – so lange wird auch dem Soldatenstande in seinen verschiedenen Beziehungen eine gewisse Ausnahmestellung gewahrt bleiben müssen.

Es wird daher nur darauf ankommen, das Militärstrafverfahren mit denjenigen Anforderungen mehr in Einklang zu bringen, welche die veränderten Anschauungen der Zeit überhaupt an die Strafrechtspflege stellen, welche ferner geeignet sind, eine objektivere und unbefangenere Rechtsprechung zu verbürgen, und schließlich eine größere Einheitlichkeit auf dem fraglichen Gebiete in Aussicht stellen.

Wenden wir uns nunmehr einer flüchtigen Betrachtung der gegenwärtigen militärgerichtlichen Verhältnisse in Preußen zu! Im Militärstrafprocesse herrscht hier noch das sonst längst abgethane inquisitorische Untersuchungsverfahren. Ein von dem Gerichtsherrn bestelltes Untersuchungsgericht, bestehend aus einem Auditeur und einem oder zwei untersuchungführenden Officieren, im Fällen der niederen Gerichtsbarkeit dem Auditeur oder den Letzteren allein, führt die Voruntersuchung. An diese reiht sich bei Sachen, die vor die höhere Gerichtsbarkeit gehören, ein Schlußverhör, in welchem dem Angeschuldigten die Ergebnisse der actenmäßigen Verhandlungen vorgetragen werden, und dabei ist dem Letzteren erlaubt, seine Vertheidigung, aber nur schriftlich oder zu Protokoll, zu erklären. Die Zuziehung eines rechtskundigen Vertheidigers zu diesem Zwecke ist nur bei gemeinen Vergehen, welche eine längere als dreijährige Freiheitsstrafe nach sich ziehen, gestattet. Hält der Auditeur die Sache für geschlossen und spruchreif, so erstattet er darüber dem Gerichtsherrn Vortrag, und dieser beruft nunmehr das Spruchgericht, das je nach dem Range des Angeschuldigten sich verschiedenartig zusammensetzt.

In geheimer Sitzung trägt der Auditeur den Inhalt der Acten vor und befragt den Angeschuldigten, ob er noch etwas zu erklären habe, welche Erklärung dann wieder schriftlich verlautbart wird. Nach Abführung des Angeschuldigten hält wiederum der Auditeur dem versammelten Gerichte Vortrag über die Lage der Sache und das anzuwendende Gesetz und giebt dabei zugleich kund, wie nach seiner Meinung zu erkennen sei. Nunmehr wird, und zwar nicht nach Einzelstimmen, sondern nach den vertretenen Rangclassen, über die Schuldfrage und das Strafmaß abgestimmt. Wiederum ist es dann der Auditeur, welcher auf Grund dieser Abstimmung das Erkenntniß unter Beifügung von Entscheidungsgründen ausfertigt. Damit ist die Sache indeß noch nicht zu Ende, vielmehr bedarf das Erkenntniß, um rechtsgültig zu werden, noch der Bestätigung des zuständigen Befehlshabers, und zwar je nach der Verschiedenheit des Falles der Bestätigung des Kriegsministers, des Truppencommandanten oder auch des obersten Kriegsherrn.

Der bestätigende Befehlshaber kann das Erkenntniß zwar nicht aufheben, aber die erkannte Strafe bis auf das gesetzlich geringste Maß herabsetzen. Nach erfolgter Bestätigung wird das bis dahin noch immer geheim gehaltene Erkenntniß dem Angeschuldigten verkündet, und damit ist es gleichzeitig rechtskräftig, also vollstreckbar; es kann nunmehr durch Berufung an eine höhere Instanz nicht angefochten, wohl aber wegen etwaiger Formfehler bei Besetzung des Gerichts durch Nichtigkeitsbeschwerde vernichtet werden.

Aus diesem gedrängten Abrisse des Verfahrens geht zunächst hervor, wie bei dem ganzen Acte dem Auditeur oder untersuchungführenden Officier die Hauptrolle zufällt, wie sich in seiner Person die Thätigkeiten eines Inquirenten, Referenten, Anklägers und Vertheidigers, ja gewissermaßen bei der Wichtigkeit des von ihm vorher abgegebenen Votums auch des Richters vereinigen. „Ihm gegenüber spielt, “ um die eigenen Worte eines königlich preußischen Auditeurs (Justizrath Bothe in seiner Schrift: „Der preußische Militärstrafproceß und seine Reform“) zu gebrauchen, „der Angeklagte, auf dessen Schuld oder Unschuld es doch ankommt, nur eine traurige Nebenrolle.“

Und wie dürftig ist die demselben zugestandene Vertheidigung! Der überzeugenden Gewalt des mündlichen Vortrags entbehrend, ist sie nichts mehr als eine bedeutungslose Form. Mit dem Beharren bei dem alten Inquisitionsverfahren verbindet sich aber auch das Festhalten an den starren Regeln der alten kriminalistischen Beweistheorie, welche dem Urtheilsvermögen die Freiheit der Entschließung raubt Und in ganz Deutschland im Criminal- und Civilproceß der freien Beweiswürdigung hat Platz machen müssen. Eine nothwendige Voraussetzung für das neue auf die freie, innere Ueberzeugung gegründete Beweisverfahren bildet die Unmittelbarkeit der Beweisführung vor Aug’ und Ohr des Richters an Stelle des bloßen Vortrags des Beweisergebnisses aus den Acten, mit andern Worten die Einführung des Princips der Mündlichkeit.

Dieses kann aber nicht wohl bestehn ohne die Controlle der Oeffentlichkeit, ohne die Verbindung des mit ihm in engem Zusammenhänge stehenden Princips der Oeffentlichkeit. Hat man das letztere doch deshalb auch jetzt auf den Civilproceß, also auf Sachen übertragen, die nur das reine Privatinteresse berühren. Alle geheime Rechtspflege unterfällt heutzutage einem gewissen subjektiven Mißtrauen, mag dasselbe auch objectiv noch so wenig gerechtfertigt erscheinen. Die Rechtspflege bedarf entschieden der Oeffentlichkeit zur Kräftigung ihres Ansehens. Hat sie doch auch schon bei unsern Altvordern nicht hinter verschlossenen Thüren gesessen. Freilich muß dabei der alte Inquisitionsproceß gänzlich bei Seite geworfen werden und an dessen Stelle das Anklageverfahren mit Staatsanwaltschaft und freier Vertheidigung treten.

Die Uebertragung dieser Grundsätze auf das Militärstrafverfahren ist trotz der Sonderstellung desselben zunächst gar nicht einmal so neu und unerhört, wie es Manchem erscheinen mag. Die Geschichte unseres Militärwesens steht diesen Reformen gar nicht fremd gegenüber. So war der Anklageproceß an Stelle des Inquisitionsprocesses schon im schwedischen Heere unter Gustav Adolf eingeführt, [360] und der große Kurfürst wurde dadurch veranlaßt, auch das brandenburgische Verfahren dem entsprechend zu reformiren. Der Generalauditeur Friccius, ein vorher an einem rheinischen Cassationshofe beschäftigt gewesener Jurist, legte dem König Friedrich Wilhelm dem Dritten, schon Anfang der dreißiger Jahre den Entwurf einer neuen Militärgerichtsordnung vor, welche auf allen oben angeführten Grundsätzen ruhte. Die am Staatsruder befindliche feudale Partei widersetzte sich jedoch diesen ihren Anschauungen wenig entsprechenden Neuerungen mit solcher Entschiedenheit, daß der König dem Entwurfe seine Bestätigung versagte. Der spätere Generalauditeur Fleck aber war ein entschiedener Gegner aller Reformen und hielt unverrückt am Bestehenden fest. Er sah in dessen Veränderung eine theilweise Entäußerung der dem obersten Kriegsherrn und den Befehlshabern zugehörigen Strafgewalt und fürchtete davon eine Lockerung der militärischen Disciplin. So blieb es denn beim Alten.

Im Königreich Baiern theilte man indessen diese Befürchtungen nicht; denn dort wurde in der seit dem 1. Januar 1870 eingeführten Militärstrafgerichtsordnung vom 29. April 1869 als oberster Grundsatz aufgestellt, daß sich „das Verfahren nach den für das bürgerliche Strafverfahren geltenden Bestimmungen zu richten habe, insoweit nicht in dem Gesetze eine besondere Ausnahme gemacht würde“. Demnach wird dort zunächst die Voruntersuchung, falls eine solche nöthig ist, durch einen Auditeur geführt; dann gelangt die Sache durch den bei jedem Militärbezirksgerichte angestellten, juristisch gebildeten Staatsanwalt an das Militärbezirksgericht behufs Beschlußfassung über Einstellung oder Fortgang des Verfahrens. Mit dem rechtskräftigen Verweisungsbeschlusse tritt darin schon die Vertheidigung des Angeklagten in Action. Die Bestellung des Vertheidigers geschieht von Amtswegen oder durch freie Wahl des Angeklagten und ist nicht auf Militärpersonen beschränkt. Der Wahrspruch erfolgt durch Geschworene, welche aus den Kreisen militärischer Standesgenossen erwählt werden, und der formelle Verlauf der Hauptverhandlung entspricht ganz dem unserer bürgerlichen Schwurgerichte. Die Verhandlung ist eine mündliche und öffentliche, wenn auch unter Beschränkung der Theilnahme auf erwachsene männliche Personen, Freunde und Angehörige des Angeklagten, und der Gerichtshof besteht aus dem der Zahl der Auditeure entnommenen präsidirenden Gerichtsdirector sowie aus einem Officier und Auditeur als Beisitzer.

Eine zehnjährige Praxis hat diesem Verfahren bereits die Signatur der Lebensfähigkeit verliehen, ein Umstand, durch welchen die geltend gemachten Bedenken am besten widerlegt werden. Wo in einzelnen Fällen der Ausschluß der Oeffentlichkeit geboten erscheint, wie z. B. in solchen, wo Verbreitung technischer Erfindungen oder Bekanntgebung von Schlacht- und Festungsplänen zu befürchten steht, da kann dieselbe, wie in ähnlichen Fällen bei den bürgerlichen Gerichten, erfolgen, ohne daß damit eine Verwerfung des Princips selbst begründet erscheint. Daß schon im Allgemeinen die militärische Subordination darunter leide, ist nicht einzusehen, es müßte denn sein, daß man in dem Bekanntwerden einzelner Ausschreitungen auf diesem Gebiete, wie sie mehrfach, erst jüngst wieder bei einer Militärschwurgerichtssitzung in Würzburg, hervorgetreten sind, eine Schädigung der militärischen Autorität befürchtet. Wir meinen aber, daß gerade in der Veröffentlichung dieser Uebelstände ein sehr wesentliches Correctiv gegen deren weiteres Umsichgreifen gegeben ist. An der Beseitigung solcher Vorkommnisse muß doch aber schließlich allen Theilen gleichmäßig gelegen sein.

Auch die Abhängigmachung der Rechtskraft der richterlichen Urtheile von der Bestätigung des Gerichtsherrn ist in Baiern beseitigt. Sie enthält auch eine unverkennbare Schädigung der richterlichen Selbstständigkeit, wie auch in der Beseitigung der Berufung eine Verletzung des Princips der höheren Gerechtigkeit liegen würde, falls nicht das Verfahren sich nach den neueren Grundsätzen regelte. Die Uebertragung rein juristischer Functionen auf eine blos militärisch vorgebildete Person, wie den untersuchungführenden Officier, ist nicht minder geeignet, das gleiche Princip zu schädigen.

Die totale Verschiedenheit des Verfahrens, welche hervortritt, je nachdem der Verbrecher den Rock des Civilisten oder die Montur des Soldaten trägt, ja, je nachdem dieser einem baierischen oder preußischen Militärcontingente angehört, ist aber auch schon an sich geeignet, eine Verschiedenheit der Rechtsprechung zu begünstigen, gewissermaßen zweierlei Recht zu schaffen. Die Erfahrung ist nicht arm an Beispielen hierfür.

Wir wissen nicht, ob und in wie weit der Entwurf des Generalauditeurs Oelschlägel, der den Verhandlungen der Reformcommission, zu Grunde liegt, den ausgestellten, bereits von Baiern in die Praxis eingeführten Grundsätzen entspricht; daß er sich aber von demselben nicht sehr entfernen darf, erscheint als eine gebieterische Forderung der höherem Gerechtigkeit, der Humanitätsbestrebungen wie überhaupt des ganzen Ideengangs unserer Zeit, und nicht zuletzt auch als ein Gebot der den Einheitsgedanken treu hütenden Liebe zu unserem deutschen Vaterlande.




Land und Leute in Holland.

Eine Plauderei von Paul d’Abrest.

Der Holländer, der es sonst nicht versteht, die Vorzüge seiner Heimath in ein helles Licht zu stellen, geräth dem Fremden gegenüber in Eifer, wenn er von den erworbenen und Jahrhunderte hindurch aufrecht erhaltenen. Freiheiten seines Landes spricht.

Der Geist des holländischen Volkes ist republikanisch geblieben; man denkt sich dort zu Lande keine andere regierende Instanz als die Generalstaaten, das Parlament nebst den in dem strengsten Sinne des Wortes verantwortlichen Ministern – und man thut es mit Recht; denn der König ist thatsächlich nicht der Beherrscher, dafür aber die lebendige Flagge der Nation; wie diese, wird er hoch in Ehren gehalten, und man versäumt keine Gelegenheit ihm besondere Achtung zu erweisen. Er lebt nicht in einer olympischen Wolke, sondern ist für seine Unterthanen höchst zugänglich; es ist nicht selten, daß er bei patriotischen oder bürgerlichen Festlichkeiten erscheint und beim Nachtisch oratorische Lorbeeren erntet. Dieses Verhältniß des Königs zu seinem Volke erklärt sich aus den besondern Zuständen Hollands. Die Dynastie hat ihre besondere Aufgabe, und der Name der herrschenden Familie ist die stets vor Augen tretende Erinnerung an die glorreiche Vorzeit, an all die gewaltigen geschichtlichen Begebenheiten, mit welchen der Name Oranien innig verbunden ist. Die Oranien auf dem Thron sind das erprobteste Mittel, den periodischen Unruhen auszuweichen, welche früher die Wahl des Staatshauptes verursachte, und von diesem Standpunkte aus allein werden die Vortheile der Monarchie betrachtet. Ein holländischer Monarch, der die Grenzen der ihm zugestandenen Befugnisse überschreiten wollte, würde den gewaltigsten Conflict herauf beschwören.

Der gegenwärtige König bereitet, in dieser Hinsicht seinen Unterthanen keine Aufregungen; denn er hielt sich während seiner langen Regierungsperiode (Thronbesteigung 1849) genau innerhalb der enggezogenen verfassungsmäßigen Schranken. Er überläßt die Regierungsgeschäfte seinen Ministern und kümmert sich viel eingehender um andere Beschäftigungen. So liegt z. B. die Pflege und Förderung der Tonkunst dem Monarchen besonders am Herzen, und es ist bekannt, daß er aus eigenen Mitteln in der Nähe seines Schlosses Loo eine Art von Conservatorium errichtete; außerdem liebt er es, zu reisen; bringt er doch Monate lang jeden Sommer im reizenden Waadtlande zu. Das Publicum kümmert sich in der Regel sehr wenig um die Privatangelegenheiten des Königs – vielleicht deshalb, weil man das Gefühl hat, daß die Steuern streng nach Vorschrift bewilligt werden und daß darüber genaue Controlle geführt wird. Thatsache ist es, daß man in Holland wenig über diese Steuern klagen hörst, und doch sind sie horrend; man würde sie als ungeheuer drückend betrachten müssen, wenn der Wohlstand des Landes sie nicht sehr leicht ertragen, ließe. Der Holländer zahlt große Steuern für die Wohnung, die er inne hat, mag das Haus ihm gehören oder nicht, für seine Möbel, die deshalb abgeschätzt werden, für seinen Wagen. und für seine Pferde, für seine Diener (ungefähr zwanzig Mark pro Kopf); er zahlt an Communalsteuer so viel, daß das [361] Nationalgetränk, der Genievre, jährlich fünfundzwanzig Millionen Gulden für den Fiscus abwirft, und außerdem erfreut er sich auch der anderswo coursirenden Stempel-, Grund- und etc. Steuer. Die fremden Weine zahlen fast dreißig, vierzig, fünfzig Procent vom Werth, und nun beabsichtigte man während meiner Anwesenheit in Holland noch die Erbschaftssteuer mit dem lästigen Inquisitionssystem einzuführen.

Als Postscriptum sei noch angeführt, daß auf allen Chausseen stattliche Mauthhäuser dem Fahrenden in dem Wege stehen und dieser ganz gehörige Gebühren zu erlegen hat. Und alle diese Lasten geben keine Veranlassung zu den anderswo üblichen Klagen. Allerdings hat der holländische Staatsbürger die Beruhigung, daß


Die St. Antonienswaag in Amsterdam.


die aus seinem Säckel so reichlich fließenden Abgaben zweckmäßige und Nutzen bringende Verwendung finden. Um diese Beruhigung zu haben, braucht er nur an die allerdings sehr kostspieligen Wasserbauten Hollands zu denken. Wie wäre das dem Sturm und dem Wasser so sehr ausgesetzte Land vor Ueberschwemmungen gesichert, wenn nicht eine eigene Abtheilung für Wasserangelegenheiten durch die Augen und Hände wachsamer und wohlgeschulter Ingenieure für die beständige Instandhaltung der Dämme Sorge trüge? Der Holländer zahlt gern seine Steuern. Dafür weiß er aber auch, daß Holland viel weniger von Ueberschwemmungen heimgesucht wird, als manche andere Länder. Neben den Wasserangelegenheiten ist es das Schulwesen, welches in Holland großes Geld kostet – dafür sind aber auch die Lehrer äußerst anständig besoldet. Statt über die unerschwinglichen Steuern zu lamentiren, besieht sich der Holländer von Zeit zu Zeit seine Dämme und die hübschen geputzten von Sauberkeit glänzenden Schulhäuser, wie solche auch das bescheidenste Dorf besitzt. Ja, die holländische Sauberkeit ist keine Mythe, und die bekannten Schilderungen von der dort üblichen Reinlichkeit erzählen eher zu wenig als zu viel von diesem Scheuerungsfanatismus, welcher Hausfrauen und Mägde beseelt.

Will man sich davon überzeugen, so ist namentlich ein Spaziergang am Samstag Abend rathsam; mag das Wetter noch so klar und hell sein, man wird vorsichtig handeln, doppelsohlige Stiefeln zu tragen und sich mit einem Regenschirm auszurüsten; denn vor jedem Hause bilden die nach einander auf das Trottoir geleerten Kübel große Pfützen, und das Wasser rieselt von den Fensterscheiben der ganzen Häuserfacade auf den nichts Arges ahnenden Cylinder des Vorübergehenden. In der strengsten Kälte sieht man die Mägde in leichten Katunkleidern, die Aermel hoch hinaufgeschürzt, auf den Dielen knieen und reiben, als wollten sie das Gestein wegschaben; Andere machen sich von außen und von innen an den Fenstern zu schaffen, indem sie, um an die höher gelegenen Scheiben hinanzureichen, mit nassen Fetzen, die am Ende einer großen länglichen Stange befestigt sind, tapfer hin und her manipuliren. Dem Gemäuer wird auch nichts geschenkt es wird durch beharrliches Begießen aus ungeheuren Kübeln förmlich in Wasser eingeweicht. Desto schlimmer für den Passanten der von ungefähr mit einem solchen nassen Strahl bedacht wird! Kleider und Personen dürfen beschmutzt werden wenn nur Dielen und Fenster blank sind.

Das Innere der Häuser entspricht dem Aeußeren. Der Boden des Gemachs ist ein wahrer Spiegel; und die weißen Gardinen [362] blenden das Auge. Auf den Möbeln ist fast kein Atom Staub zu entdecken. In jedem halbwegs behäbigen Hause findet man Blumen, und dieser Cultus wächst mit den Vermögensverhältnissen der Hausbewohner; bei den Reichen sind die Salons förmliche Treibhäuser, mit den theuersten und seltensten tropischen Pflanzen verschwenderisch ausgestattet. Und – wohl gemerkt! – man findet diesen Luxus nicht nur in großen Städten, auch auf dem Lande, in den Dörfern, welche sich sehr vorteilhaft durch den behäbigen Anblick und die schon erwähnte Sauberkeit auszeichnen. Im Haag jedoch erreicht die sich in aussteigender Scala wiederholende Verbindung seltener Pflanzen mit kostbaren Teppichen und Bildern ihren Höhepunkt.

Der Haag ist die Stadt des aristokratischen, ruhigen Lebensgenusses. Die breiten Straßen, die Avenuen, wo lange Strecken weit kein einziger Laden zu finden ist und die aus Villen und Palazzinos bestehen, die herrlichen, zu langen Spaziergängen und glänzenden Casinos einladenden Anlagen, welche die Stadt mit einem grünen Gürtel umgeben, der gemessene, selbstbewußte Ton, der hier vorherrscht – alles läßt mit Recht darauf schließen daß der Haag nur für höhere Staatsbeamte oder für steinreiche Rentiers geschaffen ist, die sich drüben in Indien Millionen erworben deren Zinsen sie hier ohne Saus und Braus, ohne Aufsehen verzehren. Die Hoffestlichkeiten und die Bankets, welche die Handelspatricier bei jedem Anlaß veranstalten, nehmen die feine Gesellschaft der holländischen Hauptstadt sehr in Anspruch. Es vergeht kein Winter, wo nicht ein ganzes Dutzend sogenannter „indischer Feste“ die Elite dieser Gesellschaft von Begüterten bald bei diesem bald bei jenem Geldfürsten vereinigen. Es wird da eine wahrhaft orientalische Pracht an Beleuchtung, Costümen und Diamanten entfaltet – dagegen sind Küche und Keller eminent europäisch-civilisirt.

Daß in den Niederlanden die Tafelfreuden überhaupt von jeher hoch in Ehren standen, erzählen bereits zahlreiche Reisende aus dem fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert, wie der Florentiner Guicciardini. Dieser gastronomische Zug wird auch von den großen Malern der niederländischen Schule bestätigt. Man zeige mir auch nur ein einziges holländisches Bild, ein Portrait, ein Familienbild, eine Gruppe, eine Scene aus dem häuslichen Leben, auf dem nicht wenigstens der gefüllte Becher, wenn nicht der stattlich belegte Tisch neben den dargestellten Personen erscheint! Die van der Helst, die Snyders, die Teniers sind verschwunden aber der nationale Zug ist geblieben – wenigstens im Haag, wo es nicht an Muße zu langen Bankets fehlt. Die Hochzeiten namentlich bieten eine höchst ausgiebige Gelegenheit zum Schmausen. Die Periode zwischen der förmlichen Verlobung (einem gesetzlichen Acte) und der Eheschließung, eine Spanne von vierzehn Tagen oder drei Wochen, verleben Braut und Bräutigam wie im Schlaraffenlande. Sämmtliche Verwandte und Freunde überbieten sich in Aufwartungen; es ist eine fortwährende Wanderung vom Diner des Tages zum Souper in der Nacht etc. Bei diesen bräutlichen Festen herrscht eine eigenthümliche, sehr hübsche Gewohnheit. Die Thür, durch welche das geladene Paar das gastliche Haus betritt, ist mit Epheu umrahmt; die für dasselbe bestimmten Teller und Gläser sind mit Blumen verziert, ja sogar um die Bestandtheile des Bestecks, Gabel, Messer und Löffel winden sich niedliche Kränze. Man will dem Brautpaar immer auf’s Neue in der lieblichen Sprache der Blumen den Wunsch aussprechen daß es auf mit Rosen und Veilchen bestreueten Pfaden den gemeinsamen Weg des Lebens wandern möge.

Ob neben den vielen Hochzeitsschmäusen auch die Begräbnißtafeleien im eleganten Haag üblich sind wie auf dem Lande, weiß ich nicht zu berichten, aber jedenfalls hat der Tod hier auch seine Eigenheiten. Ist jemand gestorben, so begnügt sich die Familie nicht, durch die Post den Trauerfall den Bekannten mitzuteilen; schwarzgekleidete Ansager, in einen weiten Trauermantel gehüllt, den umflorten Dreispitz auf dem Kopfe, den Stock in der Hand, wandern von Straße zu Straße, von Haus zu Haus und erstatten allen Bekannten des Verblichenen von dem Vorkommniß Meldung. Beim Begräbniß schreiten hinter der Bahre in dem nämlichen Trauercostüm die Angestellten der Bestattungsgesellschaft, während die Leidtragenden erst später in Wagen, die mit schwarzen Draperien behangen sind, folgen. Die Ceremonie ist kurz und ohne jedes Gepränge, und selbst bei allerhöchsten Persönlichkeiten wird keine Ausnahme gemacht. Die Beisetzung des Prinzen Heinrich, Statthalters von Luxemburg, zu welcher eigens etliche fürstliche Persönlichkeiten aus Deutschland gekommen waren, dauerte keine Viertelstunde.

Doch ein heiteres Bild! Die allgemeine, sozusagen öffentliche Zerstreuung im Haag während des Winters ist das Schlittschuhlaufen, dem Groß und Klein mit wahrer Leidenschaft huldigt. Der Byver, ein mitten in der Stadt gelegener Teich, auf dem sonst majestätische Schwäne und buntbefiederte Enten plätschern, wird, sobald es zu frieren anfängt und der Wasserspiegel mit einer Eiskruste bedeckt ist, am Nachmittag das Stelldichein der gesammten vornehmen Welt. Herren und Damen vom Hofe, Kinder unter den Augen ihrer Hofmeister und Gouvernanten, simple Schulknaben und Soldaten in ihren langen dunkelblauen Kapuzen laufen um die Wette. Die Damen zeigen wohl am meisten Lust für diese gesunde und erfrischende Uebung. Hinter dieser Unermüdlichkeit vermuthe ich ein Stück weiblicher Politik; denn wie züchtig, wie zurückhaltend die blonde Hausfrau des Niederländers auch dreinschaut, sie ist doch Dame genug, um zu wissen, wo sie am vortheilhaftesten zur Geltung kommt. Man verliebt sich in die Französin, wenn man sie im Salon mit dem Fächer in der Hand spielen sieht, in die Engländerin, wenn sie als Amazone durch die herrschaftlichen Park-Alleen auf dem Vollbluthengste jagt, in die Deutsche, wenn sie dingt und eigenhändig gebackene Kuchen herumreicht – die fahlblonde Holländerin mag, wenn sie auf dem Eise Zickzacks beschreibt, glühende Verehrer finden. Sie führt die schwierigstem Bewegungen mit bezaubernder Grazie aus – es ist das Dahinsäuseln eines Sylphidenfußes auf krystallenem Boden Dies gilt nicht nur von der aristokratischen Dame im Haag, sondern ebenso gut von der ländlichen Schlittschuhvirtuosin. Die Jungen und Mägde eines Dorfes statten sich am Sonntage gegenseitige Besuche ab, und der Weg wird auf den gefrorenen schmalen Canälen, den wahren Heerstraßen dieses merkwürdigen Landes, zurückgelegt. Die Schlittschuhläufer beider Geschlechter reichen sich, vier bis sechs, je nach der Breite des Canals, die Hände und bewegen sich so, oft unter graziösen Neigungen und Schwenkungen ihrem Ziele zu. Ist die Bande am Orte der Bestimmung angelangt, so werden die sehr breiten Schlittschuhe abgeschnallt und die Männer tragen dieselben an ihren Riemen um den Hals – die eigenen und jene ihrer Begleiterinnen, ohne daß die Bürde sie im Geringsten zu geniren schiene. Die Pflege dieser Unterhaltung ist offenbar Gegenstand der Fürsorge, als handelte es sich um eine gemeinnützige Sache; es werden Wettrennen auf dem Eise veranstaltet – bedeutende Prämien für die Gewinner ausgesetzt, und in letzter Zeit hat sogar das Kriegsministerium Waffenübungen auf dem Eise für einige Truppenkörper angeordnet.

Vom Haag, der politischen, nach Amsterdam, der tatsächlichen Hauptstadt der Niederlande, fährt der Schnellzug in etwa vier Stunden. Dem Auge des Reisenden bietet diese Strecke nur wenig Interessantes und für das Land Charakteristisches; jede der beiden Städte hat ihren speciellen Stempel, ihre abgesonderte Bevölkerung.

In Amsterdam auf dem Bahnhofe angekommen, wird man von einem fast beständig wehenden eisigen Nordwinde empfangen der über die Dünen herüber bläst. Hinter dem Eisenbahndamme und den gelben Sandbergen ragen zehn, zwanzig, fünfzig, ja hundert Mastbäume aus dem Eise empor. Schräg unter den Fenstern ankert ein Dutzend kleinere Dampfboote, ebenfalls im Eise gleichsam conservirt Hat man diesen Anblick gehörig gewürdigt, so geht es hinunter nach dem Herzen der Stadt, dem Börsenplatze und der Kalverstraat. Diese Hauptader Amsterdams ist bei Weitem nicht so breit, wie die Promenadenstraßen der europäischen Hauptstädte, aber sie ist von ungeheurer Ausdehnung. Das Leben, welches hier herrscht, ist ein sehr reges, das heißt: die ganze Straße ist von Spaziergängern erfüllt, aber doch ein ziemlich phlegmatisches; denn Alles spaziert und besieht sich die Läden unter Beobachtung des tiefsten Schweigens. Es wird vorwärts geschritten und dann wieder zurückgekehrt mit methodischen, wohlabgemessenen Schritten. Es ist das Sonntagnachmittags-Vergnügen, und man geht diesem nach mit dem Ernste, der einer Pflichterfüllung geziemt.

Es ist, wenn man einen Sonntag-Nachmittag in der Kalverstraat lustwandelt, nicht nötig, bis nach Leuwarden hinauf zu rutschen, um den berühmten Silber- und Goldhelm der friesischen Landfräuleins zu bewundern. Diese eigenthümliche und schwere Kopfbedeckung blinzelt überall unter dem Spitzenbesatz der Hauben [363] hervor, und wie mir versichert wurde, sind diese Helme nicht etwa Talmi-Waare, sondern echtes Silber, echtes Gold. Es ist das erste Geschenk des Bräutigams an die Braut, und diese trägt es beständig; die Haare werden grau, sie werden weiß; die lustige Maid von ehemals wird ein gebücktes Mütterlein, aber der goldene Helm, wie schwer er auch sein mag, dient noch immer dem Haupte als Zierde. Durch die Spaziergänger von Stadt und Land bahnt man sich mit Mühe den Weg bis zum Rembrandt-Plein, einem breiten Platz, wo mitten auf einem Square das Standbild des berühmten Malers zu sehen ist. Bei dem besten Willen entdeckt man an dieser Statue weder etwas Imposantes noch Gewinnendes sie ist groß und massiv - der wahre Rembrandt leuchtet uns im Trippenhuis entgegen, dort, wo gegenüber dem Van Helft’schen „Festmahl der Schützengilde“ der Lichteffect der „Nachtrunde“ spielt. Das Trippenhuis, der Sitz des Reichsmuseums, ist mit kostbarsten Gemälden förmlich vollgepfropft; es giebt deren von der im Erdgeschosse befindlichen Vestibül bis hoch hinauf unter dem Dachgiebel, und der Werth dieser Kleinode ist nicht zu schätzen.

Und doch ist dieses Trippenhuis ein höchst einfaches, unansehnliches Gebäude. Der Fremde, der weiß, welche Schätze seiner dort warten, zögert sogar, ehe er sich über die Schwelle wagt – er glaubt sich getäuscht zu haben. Der Bilderschatz dieses Treppenhauses wird sich übrigens bald in einem würdigeren Rahmen präsentiren. Zur Zeit meines Aufenthalts in dem schönen Amsterdam waren die Pläne zu einem beinahe monumentalen Museum bereits ausgearbeitet, und der Prachtbau stand wenigstens auf dem Papiere fertig da.

Amsterdam besitzt übrigens der Prachtbauten genug. Interessant sind die geschichtlichen Häuser, zu denen auch die St. Antonienswaag (vergl. Abbildung S. 361) gehört. Dieses mittelalterliche, mit fünf Thürmen verzierte Gebäude war einst Stadtthor und ist später Stadtwaage geworden. Außerdem hat die Stadt einen kolossalen Krystallpalast, in welchem vor Jahren eine Ausstellung stattfand und dessen Halle heute Concert- und Theatersaal ist. Zehntausend Personen können dort bequem Platz nehmen und den Kunstleistungen eines sehr starken Orchesters zuhören, oder sich an den Productionen irgend eines Blondin’s ergötzen. Alles hört und sieht hier schweigend zu. Immer die Ruhe, das beinahe obligatorische Silentium, das sich der Holländer so gern auferlegt.

Die Pflege der dramatischen Kunst ist in Holland eine sehr ausgiebige. In Amsterdam wird an demselben Abend holländisch, deutsch, französisch und sogar italienisch gespielt; mitunter geben zwei direct gegen einander concurrirende Directoren das nämliche Stück in derselben Stadt und finden Jeder sein Publicum. Die Uebertragungen aus dem Französischen sind äußerst beliebt; ich erwähne hier besonders der Conversationsstücke, die in dem Pariser Genretheater Glück machen. Aber der holländische Schauspieler ist in der Regel ein wenig derb - zu derb, um all die Finessen der Dumas', Sardou's und Augier's wiederzugeben. Weit erfolgreicher, weil ihren natürlichen Anlagen angemessen, erweist sich den niederländischen Darstellern das heroische und das Schauerdrama.

Der Holländer liest nicht nur sehr viel, sondern er hebt sich auch gern die Bücher auf; denn die Lesecabinetwirthschaft, zum großen Schaden der Autoren und Buchhändler, ist hier noch nicht eingerissen. Die französischen und englischen Bücher werden meist im Original gelesen, die deutschen dagegen in der Uebersetzung, weil der Preis der Originalausgabe zu hoch ist. Außerdem ist die Kenntniß der deutschen Sprache viel weniger verbreitet, als jene der französischen und englischen, und wenn der Holländer deutsch gelernt hat, so radebrecht er es in der schauderhaftesten Weise, so daß man nicht daraus klug wird. Das Französische wird nur in der vornehmsten Gesellschaft correct und ohne Accent gesprochen; Viele, welche im Stande sind, die schwierigsten französischen Bücher zu lesen und fehlerfrei französische Briefe zu schreiben, würden mit der Aussprache unter Franzosen nicht weit kommen. In den Kreisen, mit welchen der Reisende in Holland notwendigerweise in Berührung kommt, in den Hôtels, Magazins, Gasthäusern etc., renommiren die Leute oft mit Sprachkenntnissen, die sie nicht haben.

Der Packträger, der mich im Haag nach dem Hôtel begleitete, fragte mich zuerst auf französisch. „Parlez-vous français?“ Als ich anfing in dieser Sprache zu reden, lenkte er ein und sagte in gebrochenem Deutsch. „Ich rede auch deutsch.“ Gut, ich wiederhole die gestellte Frage in meiner Muttersprache. „Do you speak english?“ klang es jetzt, und schließlich verständigte ich mich mit ihm, so gut es ging, auf holländisch. Die drei Sätze waren sein ganzes Capital in den drei Sprachen, die er zu kennen vorgab. Dieser Zug, den ich öfters wiederfand, ist ein um so eigentümlicherer, als sonst dem holländischen Nationalcharakter nichts so ferne liegt als Renommisterei.

Erwähnenswerth ist auch das Judenviertel Amsterdams. Ich hatte über dasselbe höchst pathetische Schilderungen gelesen – allein ich fand dort außer der alten berühmten portugiesischen Synagoge kaum etwas Interessantes; sie ist aus grauem Ziegelwerk erbaut – ein plumper Bau, anzusehen wie eine Caserne. Obwohl die Juden in Holland sich stets der Toleranz erfreuten, scheint doch das vor zweieinhalb Jahrhunderten aufgebaute Gotteshaus darauf berechnet worden zu sein, eine Belagerung auszuhalten. Die Außenthore sind vom derbsten Holze und mit Eisen beschlagen, und das Mauerwerk wies früher sicher Schießscharten auf. Praktischerweise befinden sich die Wohnungen des Castellans und einiger Beamten in der Synagoge selbst. Im Tempel macht sich ein ungefähr wie die französischen Abbés im achtzehnten Jahrhundert gekleidetes Männchen mit dem Inhalt der Bundeslade zu schaffen; es untersucht methodisch, ob alles in Ordnung ist. Die strenge Architektur und die reiche Ausschmückung der Estrade in der Mitte machen einen imponirenden Eindruck, und es war mir, als ob der Geist des jüngst heimgegangenen Dichters des „Uriel Acosta“ den Raum belebte, als ob bei den Klängen des Sulzer’schen Psalms, der sich so mächtig dem Schwunge des Poeten anschmiegt, Uriel Acosta vor den Richtern der Synagoge knieete; die Stimme der Verdammenden glaubte ich zu hören, und noch als ich die Ringmauern der Synagoge hinter mir hatte, war ich ganz erfüllt von dem Gedanken an den verfolgten Religionsphilosophen, dem die Gutzkow’sche Dichtung ein unsterbliches Denkmal gesetzt hat – eine Dichtung, deren bedeutsamste Scenen eben in der Synagoge zu Amsterdam sich abspielen.

Wenige Stunden später rollten wir wieder über den Moerdyk. Einer meiner Reisegefährten, ein Holländer, der, wie er behauptete, viel in der Welt herumgekommen war, verließ den Waggon an der Grenze, nachdem er aus einem Gespräch über die Zustände des Landes das Facit gezogen hatte. „Wir sind das zufriedenste Volk, welches es heute in Europa giebt.“ Ich fand während meines kurzen Aufenthaltes in den Niederlanden nichts, das diese Ansicht Lügen gestraft hätte.




Moloch Schein im Gewerbsleben.

Der Schein begegnet uns häufig als gleißnerischer, arglistiger Schelm, noch häufiger als anspruchsvoller, nicht gerade unehrlicher Nichtsnutz, und endlich treffen wir ihn auch als Freund und Wohlthäter auf den Höhen geistiger Herrlichkeit. Es giebt überhaupt keinen dehnbareren Begriff in unserer Gesammtcultur, als derjenige ist, den wir in dem Wort „Schein“ zusammenfassen.

Im Völker- und Familienleben spielt er große, und leider oft blutige Romane, im Kunstleben schwingt er sich zu den Begriffen „Schön“ und „Erhaben“ auf, im Gewerbsleben dagegen sinkt er nur zu häufig zum Betrüger herab.

Doch überlassen wir ihn in diesen Erscheinungsformen dem Historiker und dem Poeten, dem Kunstrichter und dem Criminalrichter, und versuchen wir einige Streifzüge gegen ihn auf das von ihm beherrschte weite Gebiet, das zwischen Kunst- und Strafgesetz mitteninne liegt! Hier ist er kein Schelm mehr, aber auch kein Tugendheld; hier erfreut und kränkt er Niemanden, nützt nichts und schädigt auch nicht direct, und doch sündigt er schwer am Volkswohlstand schon dadurch, daß aller von ihm beanspruchte Aufwand an Zeit, Stoff und Kraft ein verlorenes, todtes Capital ist. Sein beliebtestes Operationsfeld ist das Gewerbsgebiet, und hier gründen sich seine bedenklichen Erfolge auf weiter Nichts, als auf die eminente Waarenunkenntniß des großen Haufens, der eben am Schein, statt am Sein, am gefälligen Aussehen, statt an Werth und Gehalt hängen bleibt.

[364] Die naivste Waarenunkenntniß der Menge, die nicht einmal in den allernächsten und täglichen Bedürfnißwaaren Bescheid weiß, hat diesen Moloch Schein groß gezogen und nährt ihn weiter. Nicht immer zwar trägt dabei das Publicum die Schuld, aber doch wohl in den meisten Fällen, wie ich beweisen werde. Schon der Umstand, daß die sogenannte Verkäuflichkeit oder Marktfähigkeit bei Herstellung einer ganzen Menge von Artikeln mehr als deren Gehalt und Werth berücksichtigt werden muß, spricht dafür, daß die Käufermasse getäuscht sein will.

Nur einige Beispiele! Jedermann weiß, daß die Rinder sich zur Winterszeit mit Rüben, Heu und Haferstroh begnügen müssen, und jede Hausfrau sollte davon unterrichtet sein, daß die maiblumengelbe Farbe der Butter nur vom Grünfutter herrührt und daß die blasse, strohgelbe Färbung zur Winterszeit eine ganz natürliche ist. Nichtsdestoweniger greifen aber die meisten Hausfrauen zu aller Zeit nach der dunkleren Waare und lassen die Bauernweiber mit der unscheinbaren, aber ehrlichen Butter vereinsamt sitzen.

„Ja, wir müssen nun einmal färben; die Leute glauben Einem nicht. sie kosten die Butter nicht einmal,“ hörte ich selbst eine mir genau bekannte Verkäuferin sagen, da sie mit schier vollem Butterkorb vom Markt heimkehrte. Sie war eine grundehrliche Haut; sie hatte lange gezögert, aber von dieser Zeit an wurde auch in ihrem Gütchen zur Winterszeit eine kleine Butterfärberei etablirt. Einen Gewinn hatte sie natürlich nicht davon, im Gegentheil: sie mußte Arbeit und Farbstoff (der ein harmloser ist) obenein zugeben, aber Moloch Schein hatte sie gezwungen, auf diese Weise das Product marktfähig und verkäuflich zu machen.

Im Fleischeinkaufe kann sich die gewiegteste Hausfrau täuschen, aber sie wird sich nicht wie Tausende ihrer sorglosen Colleginnen durch eine Manipulation hinters Licht führen lassen, die eine Unart sonder Gleichen ist. In sehr vielen Schlächtereien bläst man nämlich dem eben getödteten Kleinvieh mit fast übermenschlicher Anstrengung Luft unter das Felle dadurch gewinnen die häutigen Lagen über dem Fleisch das Ansehen von Fettpolstern, sodaß sich das ganze Schlachtstück gefälliger in’s Auge drängt. Abgesehen von der Verunreinigung durch Kohlensäure aus der menschlichen Lunge, welche Manipulation schon in vielen Städten polizeilich verboten ist, spielt auch der Aufputz geringer Schlachtstücke in das Gebiet der gesetzlich verbotenen Täuschung hinüber, aber der Schlächter muß doch gezwungen worden sein, auch die marktfähigste Waare noch marktfähiger zu machen; denn es ist Thatsache, daß auch an den besten Schlachtstücken die unsaubere Mühe vergeudet wird.

Wer hätte nicht schon Fettaugen auf dem Kaffee wahrgenommen, die ihm, da das Getränk noch nicht mit Sahne vermacht war, als räthselhafte Irrfahrer erscheinen mußten? Sie rühren davon her, daß man beim Kaffeebrennen den Bohnen, und namentlich den geringeren Sorten, eine fettige Substanz beigab, die ihnen ein glänzendes, marktfähiges Aussehen verlieh. Das natürliche Fett des Kaffees, das bis dreizehn Procent des Gewichts beträgt, ist gebunden und schwimmt nicht frei obenauf. Das geringe Aroma der ordinären Bohnen wird durch solche künstliche Zuthaten ganz gewiß nur noch geringer – aber Moloch Schein will’s; sonst hat Niemand etwas davon, auch der Kaffeebrenner nicht; dafür sorgt schon die ungeheure Concurrenz in diesem Artikel.

„Das Bier hat keinen Spiegel,“ hört man oft, besonders in Norddeutschland, den Kellnern zurufen, und mißmuthig hält der Gast das Glas gegen die Gasflamme. Der Brauer, der vielleicht nicht weit davon sitzt, hat nun nichts Eiligeres zu thun, als darüber nachzudenken, wie er die natürliche Klarheit seines redlichen Gebräues bis zu dem unnatürlichen Glanze steigere, den man eben mit dem Kunstausdrucke „Spiegel“ belegt.

Der Gährungsproceß hat nämlich seine natürlichen Grenzen, über die er ohne künstliche Nachhülfe nicht hinausgeht. Da aber der Glanz die Einbildung belebt und in der Einbildung sogar den Geschmack heben kann, so ist man auf eine ganze Reihe von Klärungsmitteln verfallen, die nicht immer unschuldiger Art sind. Der Kenner freilich wird sich lieber mit einer Klärung begnügen, die etwa dem lauteren, prunklosen Schein des Bergkrystalls zu vergleichen ist, während er den Glanz, der nahe an das Flimmern des bleiversetzten Krystallglases heranreicht, mit Recht stets verdächtig finden wird.

Bis jetzt habe ich blos von Bedürfnißwaaren gesprochen, die uns täglich und stündlich durch die Hand gehen, und doch, welche Unkenntniß documentirt sich schon hier, welche Sorglosigkeit muß die Masse beherrschen, daß sie blind ist für ihre nächsten Interessen und dem Scheine nachdrängt, wie eine Schafheerde nach der hellen Flamme! Bei weniger populären Waaren steigert sich die Sucht nach Marktfähigkeit aus der einen, und die Waarenunkenntniß auf der andern Seite oft bis in’s Lächerliche.

Man denke nur an die Anilinfärberei! Wie viel Hunderttausende von Frauen mögen schon verdrießlich in die lichtgeschützten Falten ihrer Roben hinein geblickt haben, die ihnen vor Kurzem erst auf dem Ladentische des Kaufmanns so verführerische, flimmernde Empfehlungscomplimente zuwarfen und nun von der vergänglichen Herrlichkeit erzählen! In der Anilinfärberei ist es in neuerer Zeit gelungen, einigen Nüancen etwas Dauer zu verleihen; es war aber auch die höchste Zeit; denn dieser ganze Industriezweig schien nur der Marktfähigkeit auf den Leib erfunden worden zu sein. Indeß steht noch heute die Dauer der meisten Anilinfarben in gar keinem Verhältnisse zur Dauer der Stoffe, die man damit färbte.

Die jetzt mehr und mehr polizeilich verdrängten Arsenfarben spielen sich ähnlich auf. Charakteristisch ist die Antwort eines Spielwaarendrechslers, der mit der schönen, hellgrünen Farbe Waldbäumchen färbte und den ich nicht nur wegen des Giftgehaltes, sondern auch wegen der absoluten Unnatürlichkeit der Nüance zur Rede gestellt hatte. Er meinte. „Die Leut' greifen aber doch nach derre Farb',“ und färbte ruhig weiter.

Beim Kinderspielzeug (vergl. „Gartenlaube“ 1879, Nr. 1!) hat der Schein, der noch gar nicht schön zu sein braucht, gewiß seine Berechtigung; leider sinkt er nur zu häufig zum puren Plunder herab.

In der Textilindustrie spielt neben den Farben die Appretur oft eine sehr fragwürdige Rolle. Die Grenze vom Erlaubten zum Unerlaubten vom marktfähigen Schein zum wirklich Erforderlichen ist hier schwer aufzufinden. Das berüchtigte Linnen, das sich nach der ersten Wäsche zur einen Hälfte in Appretursubstanz (Kleister etc.) und zur andern in grobe Gaze auflöst und das die Criminalgerichte schon mehrfach beschäftigte, ist hier natürlich nicht mit heranzuziehen. Jedenfalls kann ein Waarenstudium in dieser Branche für jeden Haushalt von ganz besonderem Vortheil werden, wie auch dem reellen Verkäufer die Waarenkenntniß seiner Kundschaft nur erwünscht sein kann.

Die mineralischen Zusätze zum Papier, wie Gyps, Barytweiß und Thon, können erlaubte, nutzlose, aber auch betrügerische sein. Ein Zusatz bis zu dreißig Procent, wie ihn z. B. das Zuckerpapier sich gefallen lassen muß, ist eine gröbliche Täuschung, die von den Zuckerfabrikanten der Gewichtsvermehrung wegen heraufbeschworen worden ist. In die Rubrik des nutzlosen Scheins fällt auch die erdige Belastung der solideren Papiere, soweit das Gewicht ohne Einfluß auf den Preis bleibt, und absolut ehrlich ist nur die Beimengung, die den dünneren Papiersorten die Durchsichtigkeit benehmen soll. Wenn wir nur die Frachtsätze dieser vielen Hunderttausende von Centnern der puren Ballaststoffe in Rechnung setzen, so kommen schon Millionen heraus, die das Volk bewußt und unbewußt dem Schein in den Rachen wirft.

In der Verpackung Hunderter von Artikeln giebt er sich in der aufdringlichsten Weise; in manchen Branchen namentlich der Kleinindustrie ist er so traditionell geworden, daß man gar nicht mehr weiß, wann man ihm im Schweiße seines Angesichts opfert und Kraft und Stoff an ihn vergeudet. Hierher gehört die lockere, schwammige Packung verschiedener Garn- und Zwirnsorten die oft mit vieler Kunst geübt wird, um den Schein einer größeren Waarenmenge zu veranlassen; auch wickelt man wohl einige Dutzend Yards auf ein unverhältnißmäßig großes Holzröllchen, sodaß der Werth der Emballage in gar keinem Verhältniß mehr zum Werth der Waare steht.

Der Tintenmacher gießt für einen Pfennig „Salontinte“ in ein Krystallfläschchen für zehn Pfennig, und der Verschleißer bietet sie für fünfundzwanzig Pfennig dem Publicum feil; der Seiler wickelt mit einer wahren Virtuosität seine Schnürfadenpakete auf einen möglichst luftigen Knäul, und er hat sich selbst dazu sinnreiche Maschinen construiren lassen. Die Folge davon ist, daß die Pakete bald nach dem Anbruch in ihr Nichts zusammenfallen und nun einen ärgerlichem Fitz bilden – sonst hat Niemand etwas davon, auch der Seiler nicht; denn er verkauft ja die luftigen Gebilde nach dem Gewicht.

In den Spielwaarenschachteln findet man häufig zwei Drittel des Raumes mit eingeknittertem Papier angefüllt, nur um den [365] Käufern Dinge vorzuspiegeln, die doch kein ehrlicher Fabrikant in Wirklichkeit erfüllen könnte; denn auch hier hat die Concurrenz die Preise geregelt. Auch die Flunkerei mit der brillanten Etiquettirung der Waaren, die wir von den Franzosen gelernt haben, fällt unter das Scepter des Scheins; sie hat keinen ästhetischen Werth, kostet ein schweres Geld, und Niemand kann sagen, daß er durch die bloße Marktfähigkeit einen reellen Nutzen habe. Besonders sind es die Posamentir-, Kurz- und Strumpfwaaren, die man nach dieser Richtung hin ganz unverhältnißmäßig ausstattet. Im Ganzen wird man wohlthun, einer prunkenden Etiquette stets mit einigem Mißtrauen zu begegnen – der wahre Werth giebt sich


Ueberraschung
Nach dem Oelgemälde von M. Weese.

immer am liebsten einfach, und jeder Fachmann wird bestätigen, daß die schweren guten englischen Waaren nur im schlichten Kleid auf dem Markt erscheinen.

Gehet hin und thut desgleichen!

In einer großen Anzahl von Fällen hat der Gewerbtreibende die löbliche Absicht, dem berechneten Schein, der Schönheit zu dienen das hat denn auch zu einer ganzen Reihe von glücklichen Nachahmungen geführt, die meist den unbemittelten Classen zu gute kommen. So kann jetzt die Frau des Arbeiters so gut wie die Frau Commerzienräthin ihren Tisch mit dem überaus freundlichen Meißener Zwiebelmuster (freilich nur in Steingut) decken; er wird genau denselben einladenden behaglichen Anblick gewähren; denn es besteht zwischen Stoff und Ausstattung durchaus kein Mißverhältniß. Unglücklicher ist die Ausschmückung von Häusern mit Cement-, Thon- und Gypsornamenten. Das Ornament muß nach einem Grundgesetz der Aesthetik organisch aus der Hauptmasse des Baues herauswachsen, jede Anklebung aber schlägt diesem Grundgesetz in's Antlitz. So lange ein Farbenüberzug den Schein, das heißt die Verbindung zwischen Masse und Ornament herstellt, gewähren diese imitirten Paläste gewiß einiges ästhetische Vergnügen, wehe aber, wenn die Witterung an den verschiedenen Stoffen sich verschieden geäußert hat und dadurch die scheinbare Verbindung aufgehoben ist! Die schönste Form giebt sich nun als eine ästhetische Verrenkung; Moloch Schein schneidet zuweilen ganz abscheuliche Fratzen und „das Grauen wohnt“ nicht in, sondern über „den Fensterhöhlen“, sobald eben die Lüge ihr Firnißgewand abgeworfen. Man wird diese Art der Ornamentirung nicht eher gut heißen können, bis nicht die Täuschung des ornamentalen Herausblühens aus der Masse für größere Zeiträume gesichert ist.

Die Holzmalerei streift auch herüber in das Gebiet der nutzlosen Imitation. Es wird Wenige geben, die so naiv sind, eine sogenannte „eichnisirte“ Thür für eine Thür aus Eichenholz anzusehen; ebenso ergeht es den nußbaum-, kirschbaum- und mahagoni- gemalten Möbelstücken mit denen sich der Kleinbürger und der Arbeiter die Wohnung ausstattet. Die berechtigte Täuschung, die jeder gelungenen Imitation zu Grunde liegt, ist also keineswegs erreicht, zumal schon der Tischler es dadurch unmöglich macht, daß er den meisten dieser Möbel leichte, windige Formen giebt, die sich mit so schweren Holzarten gar nicht vertagen. Um wie viel solider, [366] kerniger und behaglicher sieht eine Zimmerausstattung von gutgewachsenem Tannenholz oder Kiefernholz aus, dessen prächtige Maser durch eine einfache Abreibung mit ein wenig Firniß und Farbenerde hervorgehoben worden ist!

Ich könnte noch eine ganze Reihe von Beispielen aus dem weiten Gebiete anführen, das der Moloch Schein beherrscht. Das Oelen des Weizens, das Hopfenschwefeln, eine ganze Menge von Manipulationen, die man mit dem Wein vornimmt, selbst das gewaltsame Auftreiben von Zierpflanzen durch scharfe momentan wirkende Düngmittel in den Gärtnereien – das Alles dient mehr oder weniger nur der Marktfähigkeit, dem Moloch Schein, dem viele Tausende von Händen tributpflichtig sind, die Nützlicheres thun könnten.

Das Heilmittel für diese wirthschaftliche Krankheit ist sehr leicht gefunden; es heißt „Verbreitung von Waarenkenntniß“. In fünfundneunzig unter hundert Fällen würde man sich dadurch schützen können, aber die Menge giebt sich einer oft rührenden Sorglosigkeit hin; sie kümmert sich um „allen Quark“, nur um das Nächstliegende nicht, das so bedeutungsvoll für den Wohlstand ist. Ein Sprüchwort sagt zwar „durch Schaden wird man klug“, aber darauf läßt sich nicht bauen; denn dem Schaden nach müßte die Menge eminent klug und Moloch Schein sehr kleinlaut geworden sein. Wir sehen, es ist nicht so. Das Sprüchwort lügt zu Dreiviertel; eine Selbstlösung der Frage ist ausgeschlossen.

Die moderne Volksschule, die alles Mögliche in ihr Programm aufgenommen, könnte mindestens den alltäglichen Bedürfnißwaaren eine gleiche Aufmerksamkeit angedeihen lassen, wie sie dieselbe der Zoologie und der Botanik zuwendet. Es ist in der That wichtiger für das Leben, einen Baumwollenfaden von einem Flachsfaden unterscheiden zu können, als die Staubfäden zweier obscurer Pflanzen; auch die Lebensweise des Bibers ist zwar hochinteressant, aber doch nicht so wichtig für uns, wie sein Fell, von dem unsere Kinder in der Regel nicht mehr wissen, als daß es behaart ist. –

So lange wir in kindlicher Weise am Schein hangen und der Production und dem Zwischenhandel die Waarenkunde allein überlassen, wird der Consument absichtlich und unabsichtlich über das Ohr gehauen werden. Darum, ihr Männer, die ihr zu Volkswirthen berufen seid, sorgt, daß Waarenkenntniß unter das Volk komme! Auch ihr, wackere Geschäftsleute, die ihr vom Schein nichts wissen wollt, betheiligt euch nicht nur privatim in der Werkstatt und am Ladentisch, sondern auch öffentlich an dieser Aufklärungsarbeit! Die Lehrmittel hierzu bieten die fragwürdigen Waaren selbst, und diese sind in ungeheueren Mengen vorhanden.

Th. Gampe. 




Vergleichende Culturskizzen.
Von Gustav Diercks.
1. Herr und Diener.

Wollen wir den Werth eines Menschen ermessen, so bietet sich uns als eines der vorzüglichsten Prüfungsmittel sein Verhältniß zu den Mitmenschen, den gesellschaftlich über ihm stehenden, wie den ihm untergebenen.

Wie wir die Menschen in zwei Classen eintheilen können, in natürliche und in verfeinerte – um nicht zu sagen: entartete – so werden wir auch entsprechende Unterschiede in ihrem Benehmen gegen Vorgesetzte und gegen Untergebene wahrnehmen. Die Natürlichkeit ist nun wiederum von zweierlei Art. Sie ist entweder eine ursprüngliche, d. h. noch nicht von der Cultur oder Unnatur berührte, oder sie ist eine erworbene, d. h. sie hat den Zustand der Unnatur glücklich überwunden und sich geläutert und veredelt. Natürliches Benehmen finden wir daher nur bei den Ungebildeten einerseits und bei den Höchstgebildeten andererseits – die dazwischen liegende Classe der Halbgebildeten wird in ihrem Benehmen schwanken; die modernen Gesellschaftsformen werden gerade Leuten dieser Classe als bequemer Deckmantel, als bestechender, das Urtheil Anderer irreleitender, glänzender Schmuck dienen. Hochmüthig gegen die niedriger Stehenden, devot gegen die gesellschaftlich höher Gestellten – das ist das Merkmal der Halbbildung.

Der wahrhaft Hochstehende und Gebildete, der sich seines thatsächlichen Werthes bewußt ist, weiß, daß er sich nichts „vergiebt“, wenn er dem Untergeordneten gegenüber seine Natürlichkeit bewahrt; er verschmäht es nicht, mit seinem Diener gelegentlich zu scherzen, weist aber jede Anmaßung desselben schon durch sein Benehmen so entschieden zurück, daß ein entsprechender Versuch des Dieners im Keime erstickt wird. Ist der Diener klug und gebildet genug, dem Herrn gegenüber in seinen Schranken zu bleiben, so gestaltet sich das Verhältniß zu einer gewissen Vertraulichkeit, die oft auch dem Herrn ein Bedürfniß ist. Ein so durch Bildung und inneren Werth ausgezeichneter „Herr seines Dieners“ wird nun auch seinem Vorgesetzten, seinem Herrn, dem gesellschaftlich scheinbar höher Stehenden, gegenüber in ein ganz entsprechendes Verhältniß treten. Auch da läßt er die Natürlichkeit, zu der er sich nach Ueberwindung des Gesellschaftsformalismus emporgeschwungen hat, zu Tage treten, giebt das Bewußtsein seines menschlichen Werthes, seiner Existenzberechtigung zu erkennen und weist unter Wahrung der Formen mit natürlicher Würde und Sicherheit alle unwürdigen Zumuthungen ebenso gut zurück wie die Anmaßungen seines Dieners.

Der Ungebildete, der vom Gesellschaftsformalismus nicht Berührte, zeigt in seinem Benehmen viel Aehnlichkeit mit dem wahrhaft Gebildeten. Der echte Bauer ist gegen seinen Knecht streng, aber gerecht, gegen seinen Gutsherrn gehorsam, aber selbstbewußt.

Schlimm steht es dagegen in dieser Beziehung mit dem Halbgebildeten: er ist ein schlechter Herr und ein schlechter Diener. Als „Herr“ pocht er auf eine Bildung, die er nicht hat; als „Diener“ erhebt er Ansprüche, die ihm nicht zukommen.

Diese allgemeine Dreitheilung – ursprüngliche Natürlichkeit, erworbene Natürlichkeit, Halbbildung – findet sich in Bezug auf unser Thema bei allen Völkern bewahrheitet; in ihrer Gesammtheit mit einander verglichen, zeigen diese aber auch wieder ganz wesentliche Unterschiede bezüglich der Verhältnisse zwischen Herr und Diener, Hoch- und Niedrigstehenden, und es ist interessant, nach dieser Seite hin Beobachtungen anzustellen, wobei wir in dieser kurzen Skizze freilich der Versuchung widerstehen müssen, das Thema vom literarischen Gesichtspunkte aus zu behandeln. Die Molière’schen, die Shakespeare’schen Domestiken, die Diener in den Dichtungen der griechischen Tragiker, der italienischen Novellisten, der spanischen Romanciers bieten ein reiches Material für völkerpsychologische Studien – bleiben wir aber bei den Reise-Eindrücken!

Wir begeben uns zuerst nach Spanien. Jeder Deutsche wird überrascht sein, den spanischen Granden im Verkehr mit seinen Untergebenen zu beobachten; denn alle Voraussetzungen des deutschen Ständegesetzes werden dort vernichtet. Trotz seiner sprüchwörtlichen Grandezza hält es der spanische Grande doch nicht für unter seiner Würde, mit dem Volke direct zu verkehren, die Hand zu drücken, die der niedere Mann ihm reicht. Sein Stolz verbietet ihm nicht, sich im Café an einen Tisch zu setzen, an dem ein Bauer sitzt, oder diesen an seinem Tische Platz nehmen zu lassen. Sein aristokratisches Standesgefühl wird nicht dadurch verletzt, daß sein Mitreisender, ein armseliger Landmann, ihm eine Cigarrette, ein Stückchen Apfelsine oder Brod anbietet, und eben so wenig wird er versäumen, das Gleiche dem ärmsten Mitreisenden gegenüber zu thun, sofern er noch ein echter Spanier ist und nicht die liebenswürdigen nationalen Gewohnheiten in der Culturschule von Paris eingebüßt hat. Der Volksgeist und die Volkssitte waren in Spanien noch bis vor Kurzem unantastbar und heilig, selbst in Berührung mit den Privilegien des Adels unverletzlich – jetzt freilich schwinden sie so rapid wie die Nationaltracht, um der Pariser Culturschablone Platz zu machen. Die Leutseligkeit des Granden setzt ihn in der Achtung seiner Untergebenen und des Volkes nicht nur nicht herab, sondern erhöht sie eher noch. Seinen ganzen Stolz giebt er nur dem Vorgesetzten, dem Minister, dem König zu erkennen, wenn Einer von ihnen seine althergebrachten Privilegien anzutasten wagt oder die Rücksichten und Formen, die man ihm schuldig ist, außer Augen läßt.

Den Luxus großer Dienerschaft kann sich der Spanier heute nicht mehr erlauben, es berührt aber außerordentlich wohlthuend, wenn man ihn im Verkehr mit den Dienstboten beobachtet. Das Verhältniß, das zwischen ihnen besteht, ist meist ein mustergültiges, [367] freundliches; rührend ist besonders die Anhänglichkeit der Kinder an die weiblicher Dienstboten und der letztern an jene Eine Spanierin – und wer wüßte nicht, daß sie eine zärtliche Mutter ist? – wird ohne Sorge ihr Kind der ama de leche, der früheren Amme, anvertrauen, und wäre es auch für eine Reise nach den Philippinen oder nach Cuba zum fernen Gatten; sie weiß, daß die Dienerin das Kind wie ihr eigenes hütet und es schützt, so weit es überhaupt gegen Unheil geschützt werden kann.

Noch eigenartiger wird das Verhältniß zwischen Herrschaft und Dienstboten in Portugal. Selbst in ganz kleinen Häusern und Wirtschaften müssen mehrere Bedienstete sein, wie im alten Griechenland, und diese Diener, besonders die Dienerinnen, spielen eine große, ja man kann sagen gewichtige Rolle. Oft genug muß sich die Herrschaft nach den Launen der Köchin richten. Der Grund dafür liegt hauptsächlich in dem starkentwickelten Selbstbewußtsein in der Unabhängigkeitsliebe und dem Stolz der Portugiesen; sie pochen mit demokratischer und republikanischer Rücksichtslosigkeit auf ihre Menschenrechte, wollen dem entsprechend behandelt sein und sind nur schwer zu bewegen in ein dienstliches Verhältniß zu treten. Alle groben häuslicher Arbeiter müssen daher auch von Galegos, von galicischen Tagelöhnern verrichtet werden.

Hat man nun aber z. B eine portugiesische Köchin gemiethet, so gehört diese auch gewissermaßen zur Familie; ihr strenge Vorschriften machen, ihre Freiheit irgendwie beschränken, ihr Arbeiten zumuthen, wie sie jede deutsche Köchin übernehmen muß, wie sie dort aber in den Arbeitsrayon des Galego gehören, würde sie sofort veranlassen, aus dem Hause zu gehen. Die Köchin nimmt denn auch an den Sorgen des Hauses Theil und spricht gelegentlich gerade so in der Unterhaltung mit, wie die Hausfrau, da die Küchenthür gewöhnlich offen ist. Es kommt vor, daß, weil es der Köchin beliebt um neun Uhr zu Bett zu gehen die Herrschaft keine Abendmahlzeit – man nimmt den Thee gewöhnlich um zehn Uhr – mehr halten kann. Der Herr muß also gegen den Diener zuvorkommend sein und ihn immer in guter Laune zu erhalten suchen.

Der patriarchalische Zug, der durch das Dienstverhältniß das häusliche Leben des Portugiesen kommt, hat etwas Aehnlichkeit mit den patriarchalischen Zuständen des Orients, mit denen, die man bei den mohammedanischen Völkern findet. Auch bei diesen trat uns ein demokratisches Moment entgegen. Gehen wir z. B. in ein arabisches Café von Tunis! Auf den einfachen Holzbänken und Schemeln sitzen da neben einander der reiche, von Kopf zu Fuß in die kostbarsten Seidengewänder gekleidete Vornehme und der arme Beduine, dessen zerlumpter Burnus kaum als „Bedeckung“ bezeichnet werden kann. Diese demokratische Gleichheit herrscht dort überall, und wer sich vorstellt, der Araber der Wüste entbehrte des Selbstbewußtseins und ließe sich eine unwürdige Behandlung gefallen, der befandet sich in einem großen Irrthume.

Das patriarchalische Wesen, das bei den Semiten im Alterthum und zu allen Zeiten geherrscht hat, ist durch den Islam auch auf alle mohammedanischer Völker übertragen; es bedingt seinerseits ebenfalls die Beziehungen zwischen Reichen und Armen, Vornehmen und Niedrigstehenden und prägt sich im socialen Verkehr und Leben in angedeuteter Weise aus; ein schroffer Ständegeist existiert nicht. Das Verhältniß von Herr zu Diener, buchstäblich genommen ist freilich nicht viel verschieden von dem des Gebieters zum Sclaven, entbehrt aber trotzdem keineswegs der Vertraulichkeit und weicht tatsächlich wenig von den äußerlich scheinbar viel freieren europäischen Verhältnissen ab. Es ist hierbei ja selbstverständlich nicht die Beziehung zwischen einem Fürsten und seiner Bedientenschaar in’s Auge gefaßt; denn es gilt in dieser Specialfrage wie in allen Culturfragen der Satz, daß der Mittelstand der Träger des Nationalcharakters ist.

In Italien ist der intelligente Diener nach wie vor der Vertraute seines Herrn und zu allen Diensten bereit. Das Verhältniß der dortigen Stände zu einander ist im Uebrigen zu bekannt, als daß es noch besonders besprochen werden müßte; es ist je nach den Provinzen verschieden. Der Römer besitzt noch immer etwas von dem republikanischen Stolz seiner Vorfahren und will demgemäß behandelt sein; der Neapolitaner dagegen ist servil und tückisch.

Eine der Grundzüge im Charakter des Italieners ist die hohe, natürliche geistige Begabung, die sich in schneller Auffassungskraft und in politischer Klugheit und Gewandtheit ausspricht. Diese Gaben im Verein mit fein ausgebautem Gesellschaftsformalismus, bedingen die gefälliger Beziehungen der Stände zu einander: jeder deckt sich so gut er kann durch die ihm zu Gebote stehenden Mittel; das Vertrauen zum Nebenmenschen ist dort in Folge der Nothendigkeit der eigenen Reserve ein geringes.

Wenden wir uns nun dem Norden zu! Schroff stehen sich in England die Stände gegenüber. Der Diener ist, trotz alles Humanismus, nur eine lebendige Maschine, die für ihre Leistungen bezahlt wird. Hochmuth nach unten aber allerdings auch Hochmuth und das äußerste Selbstbewußtsein nach oben zeichnen den vornehmen Engländer aus. Zwischen dem altadeligen Lord und seinem alten Diener, der sein Leben im Schlosse seines Herrn verbracht hat, besteht wohl etwas wie Vertraulichkeit, aber doch ist es immer nur die gewaltige, herablassende Vertraulichkeit des Gottes, der sich der niederen Creatur zur Anbetung offenbart. Dasselbe Verhältniß besteht mehr ober weniger zwischen allen Abstufungen der englischen Gesellschaft. Waltet im Süden überall das Patriarchalische vor, so finden wir in England alle Merkmale des feudalen Aristokratismus, und zwar nicht allein in den obersten sondern auch in allen Schichten der Gesellschaft.

Ueber den Deutschen im gesellschaftlichen Verkehr gedenkt die „Gartenlaube“ ihren Lesern gelegentlich ein eigenes Capitel zu bieten und brauchen wir deshalb heute über dieses Thema wohl nicht viel zu sagen. Wir Alle kennen ja unsere gesellschaftlicher Gewohnheiten und Zustände mit ihren Licht- und Schattenseiten. Die guten Seiten des deutschen Gesellschaftslebens hervorzuheben, würde uns übrigens auch als eine Art von Selbstlob schlecht zu Gesichte stehen, und so soll hier nur – weil man auf seine Fehler nicht oft genug hingewiesen werden kann – auf eine bedenkliche Schwäche des deutschen Gesellschaftslebens aufmerksam gemacht werden. Aengstlichkeit und Kleinlichkeit klebt uns im Verkehr mit unseren Nebenmenschen allzusehr an.

Der Deutsche im Allgemeinen – und die Regel hat ja zahlreiche Ausnahmen – zieht erst genaue Erkundigungen über die Individuen ein, die in seinen Gesichtskreis treten, um sich zu vergewissern, daß er sich im Verkehr mit Diesem und Jenem nicht gesellschaftlich bloßstellt. Im Umgang mit seinem Diener. mit Niedrigerstehenden sucht er den „Anstand“ zu wahren um möglichst nach keiner Seite hin anzustoßen, wie er sich auch nicht mit dem Arbeiter an einen Tisch setzt, eine Engherzigkeit, um die uns andere Nationen wahrlich nicht zu beneiden brauchen, und von der wir nur hoffen können, daß sie durch die immer häufiger werdende Berührung mit den anderen Völkerfamilien Europas mehr und mehr schwinden und freieren Auffassungen des gesellschaftlichen Lebens Platz machen werde.

Es liegt im Allgemeinen im Wesen des Deutschen, sich reservirt zu halten, sich nicht nach außen zu erkennen zu geben aber hinter dem conventionellen Scheu der Gemessenheit verbirgt sich bei uns gottlob! oft genug viel Wärme des Empfindens und wirkliche Gefühlstiefe, die sich im Innern des Hauses auch im Verkehr mit den Bediensteten äußern. Und dies ist ganz besonders auf dem Lande der Fall, da die Abgeschlossenheit von der großen Welt die Nahelebenden zu größerem Anschluß an einander zwingt.

Polen ist auch bezeichnend für unser Thema. Rührend ist dort der Anblick eines alten Hausdieners einer Adelsfamilie im Verkehr mit dieser. Als Freund der Kinder, als Märchenerzähler, als Vertrauter der Jugend, als Rathgeber des Alters, ist der greise, ehrwürdige, gleichsam – und oft tatsächlich – ein Stück des Inventariums bildende Jan oder Stephan oder wie er sonst heißen mag, der Liebling der Familie. So war es wenigstens früher – so war es auch mit seinem russischen Collegen Iwan.

In Frankreich endlich, dem Lande der feinen Lebensart, der Bonhomie – und vollends unter dem Einfluß der Herrschaft der Republik – finden wir alle Verkehrsformen vertreten. Es läßt sich kaum eine typische Form für die Beziehung zwischen Herr und Diener, Vornehm und Niedrig finden als nur die im Eingange behandelten ganz allgemeinen. Jede Gesellschaftsclasse hat dort ihre eigenen, wenig ausgeprägten, das heißt von denen der anderen wenig abweichenden Typen. Jeder Mensch lernt dort Mensch zu sein – inwieweit er diese Kunst lernt, das ist eine andere Frage, und darnach richtet sich auch sein Benehmen. Jeder will aber auch als Mensch behandelt sein, und das regulirt wieder in anderer Hinsicht die Beziehungen Aller zu Allen.


Im Allgemeinen aber darf man wohl in Bezug auf alle Nationalitäten sagen: laß mich sehen, wie du mit deinen Dienern und den gesellschaftlich unter dir Stehenden wie du mit deinen [368] Vorgesetzten und den gesellschaftlich über dir Stehenden verkehrst, und ich will dir sagen, wer du bist.

Der Kenner socialer Verhältnisse, der Culturforscher weiß, daß die Standesunterschiede in zahllosen Fällen nur zufällig, herkömmlich und imaginär sind, daß eine Classificirung der Gesellschaft, wenn sie streng und gerecht sein will, nach dem inneren, thatsächlichen, absoluten Werth der Individuen erfolgen müßte und nichts mit dem äußeren Schein zu thun haben dürfte; er weiß, daß Viele, die vor der Welt als groß und bedeutend bezeichnet und angestaunt werden, thatsächlich sehr klein und unbedeutend sind, und umgekehrt. Den wahren Werth des Menschen zu erkunden, ist oft ein unscheinbares Mittel sehr dienlich, und ein solches Mittel ist die Beobachtung seines Verkehrs mit den Nebenmenschen; an dieser Beobachtung wird man auch einen Maßstab dafür gewinnen, wie das Gebot des wahren Humanismus. „liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ befolgt wird.




Blätter und Blüthen.


Das größte Teleskop der Welt. Vor einigen Jahren kam von der Sternwarte zu Washington die Nachricht zu uns nach Europa herüber, daß durch die Aufstellung eines riesenhaften Fernrohrs mit sechsundzwanzig zölligen Glaslinsen dem Dienste der astronomischen Wissenschaft ein noch nicht dagewesenes Hülfsmittel geboten worden sei. Und in der That fand diese Meldung ihre praktische Bestätigung. Fachmänner berichteten damals übereinstimmend, daß sich das neue Rieseninstrument in ganz ausgezeichneter Weise bewähre, es hatte somit die bisher bezweifelte Möglichkeit, optische Gläser von so gewaltigen Dimensionen in geforderter Reinheit herzustellen, volle Bestätigung gefunden.

Noch im Laufe dieses Jahres werden wir auf unserm alten Continente, und zwar schon im künftigen Herbste, Gelegenheit haben, die Wunder des Sternenhimmels vermittelst eines noch größeren Riesenapparates, als das Washingtoner ist, zu bewundern. Es steht nämlich ein Teleskop, das nach mehrjährigen angestrengten Versuchen jetzt endlich in Dublin glücklich vollendet wurde, im Begriff, seinem Bestimmungsorte, der Hauptstadt Oesterreichs, zugeführt zu werden.

Die zu Wien auf der sogenannten alten Türkenschanze neu erbaute Sternwarte, welche wir unseren Lesern (vergl. Jahrgang 1879, Nr. 9!) in Wort und Bild vorführten, wird die glückliche Besitzerin eines optischen Instrumentes sein, welches alles auf diesem Felde bisher Gebotene um ein Bedeutendes überragt. Bereits vor Jahren wurde von der Österreichischen Regierung mit einem Kostenaufwand von mehr als einer viertel Million Gulden in dem rühmlich bekannten optisch-mechanischen Atelier des Mr. Grubb in Dublin ein Tubus von so riesigen Dimensionen und einer solchen enormen Leitungskraft bestellt, daß diesem gegenüber alle derzeitig in Uebung befindlichen Instrumente gleichen oder ähnlichen Genres in den Hintergrund treten. Aber welche unendlichen Hemmnisse waren im Laufe der Zeit mit der Ausführung der Aufgabe und den gestellten Anforderungen der Leistungsfähigkeit verknüpft!

Dieses neue Riesenteleskop, dessen Herstellung in Folge der Lösung praktischer Schwierigkeiten sich überhaupt in Zweifel stellte, kostete gleich anfangs seinem Erbauer in Folge notwendiger Versuche mehrere Tausend Pfund Sterling, und noch war damit nichts erreicht. Nunmehr ist, wie erwähnt, der Apparat glücklich beendet und entspricht, dem Vernehmen nach, durch außerordentliche Tragweite nicht allein den darauf gesetzten Hoffnungen, sondern soll die hohen Erwartungen, welche strenge Fachmänner an seine Leistung stellten, sogar weit überbieten. Gehen wir auf das hochinteressante, nunmehr fertige Meisterwerk etwas näher ein! Die siebenundzwanzigzölligen aus idealreinem Kristallglas hergestellten Linsen sind in Paris gefertigt und wollten anfänglich dem damit betrauten Künstler nicht gelingen, da vorher noch niemals versucht worden war, Gläser für astronomische Zwecke in solchen Dimensionen zu arbeiten. Alle nur denkbar hartnäckigsten Hindernisse traten einer gleichmäßigen Schmelzung in den Weg, sie vergrößerten sich bei Glasscheiben, welche einen Durchmesser von 701/2 Centimeter vorschriftsmäßig erhalten mußten ungemein. Freilich sind diese Glaslinsen nur um 22/3 Centimeter größer als jene von den Amerikanern hergestellten, aber die Schwierigkeiten der Ausführung wuchsen für solche Größe bei jedem mehr geforderten Centimeter in nicht geahnter Proportion. In Paris war man bereits gesonnen, alle desfallsigen Versuche aufzugeben, als eine letzte Probe glücklich und vollständig gelang, und der schon halb abgelehnte Auftrag wurde zur vollen Zufriedenheit des Erbauers und Bestellers ausgeführt. Nunmehr sind die Gläser in den Messingcylinder eingestellt, welcher 33 Fuß 6 Zoll englisches Maß lang ist. Im Specialauftrag der Österreichischen Regierung wurde dieses im Monat März beendete Rieseninstrument von einer Commission geprüft, welche aus Fachcapacitäten bestand, und erkannte man die Leistungsfähigkeit desselben als unübertrefflich an.

Ein mit dem Teleskop verbundener sinnreicher und automatisch wirkender Mechanismus wird für den Betrachtenden das zu beobachtende Gestirn im gleichmäßigen Sehfelde erhalten, wie überhaupt mit der technischen Ausführung die neuesten Verbesserungen der Optik verknüpft sind. Wenn dieses Riesenfernrohr sich erst in Wien befinden und zur Dienstleistung fertig armirt sein wird, dann besitzt unsere nördliche Erdhemisphäre zwei Kolossalinstrumente, wie solche der Astronomie bis vor kurzer Zeit nicht zur Verfügung standen, sie sind als Pionniere dazu bestimmt, manches noch nicht geklärte Räthsel am Sternenhimmel zu lösen und dem Wissensdrange nach der Kenntniß ferner Welten zu dienen.




Knotenpunkte. „Station Elm! Zwölf Minuten Aufenthalt; umsteigen nach Gemünden!“

„Wo sind wir eigentlich? Wie heißt der Ort?“

Bebra vierundachtzig Kilometer, Gemünden sechsundvierzig Kilometer, Frankfurt einundachtzig Kilometer. das ist Alles, was zur Orientirung am Stationsgebäude zu lesen ist.

Wer nicht häufig unser liebes deutsches Vaterland von einem Ende bis zum andern durchfährt, dem kann man keinen Vorwurf daraus machen, wenn er nicht weiß, wo er Orte wie Bebra und Gemünden oder wie die kleinen Nester sonst heißen, welche der Zufall, oder richtiger gesagt der Stift des tracirenden Ingenieurs aus ihrer Abgeschiedenheit so plötzlich in das Verkehrsleben hineingeworfen, in seinen geographischen Vorstellungen unterzubringen hat.

Hier in dem herrlich gelegenen Elm hätten wir nun einige Minuten Zeit, neben der Tasse Kaffee auch etwas Gegend zu genießen, aber was hilft uns das? Wir kommen gar nicht recht zum Genuß, das Gefühl der Unkenntniß dessen, was wir sehen, verleidet uns denselben. Was ist das für ein wunderbares Thal mit dem Silberstreif in der Ferne? – Es ist die Kinzig, in deren Begleitung wir aus der Rhön dem Main zueilen. – So, so! Also dort befinden wir uns. Ich kann ein Gefühl der Beschämung über meinen Mangel an geographischen Kenntnissen nicht los werden. Und ebenso wie mir ist es unzahlige Mal anderen Reisenden ergangen, als sie im rasenden Fluge längs den Ufern eines kleinen Flusses ihre Reise fortsetzten, ohne zu wissen, ob sie ein namenloses Wiesenbächlein oder vielleicht einen alten Bekannten, den Main oder irgend einen größeren Strom in seinem oberen Laufe vor sich hatten.

Zur Abhülfe solcher Unkenntniß möchte ich durch diese Zeilen eine Anregung geben, und zwar zunächst Diejenigen, deren Berufs es ist, Kenntnisse in der Geographie zu verbreiten, ersuchen, dem heutigen Eisenbahnnetz in seinen Hauptrouten besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Dann möchte ich unsern geographischen Vereinen die Bitte an’s Herz legen, nicht nur für Erforschung Afrikas zu sorgen, sondern auch für Verbreitung der Kenntniß unserer deutschen Heimath etwas zu thun. Zu diesem Zwecke halte ich die Beschaffung und Verbreitung einer billigen und im besten Sinne des Wortes populär gehaltenen Reiselectüre für äußerst wünschenswerth.

Schließlich wende ich mich noch an die geehrten Eisenbahnverwaltungen, die so in dieser Beziehung unaufgefordert schon Manches gethan haben, durch Anbringung von Routenkarten in den Wagen, Ausschmückung der Wartesäle größerer Stationen durch große Wandkarten, Angabe der Höhenlage über dem Meeresspiegel etc., nach dieser Richtung hin noch mehr zu thun. Besonders sind es die Knotenpunkte, auf denen das Publicum Muße hat, derartige Studien zu treiben, und dennoch entbehren sehr häufig gerade diese Stationen solcher belehrenden und anregenden Karten und Pläne vollständig. Und dann wünschte ich dies nicht nur für die Reisenden erster und zweiter Classe, sondern auch für die, denen der Geldbeutel nur ein bescheidenes „Fortkommen“ gestattet. Das Publicum ist für das Dargebotene dankbar; ich habe schon oft Gelegenheit gehabt, von ganz einfachen Leuten anerkennende Aeußerungen über die Darbietung solcher Hülfsmittel zur Volksbildung zu vernehmen.

W. G.




Kleiner Briefkasten.


Ein Deutscher in Gothenburg. Ueber die irische Frage finden Sie einen Artikel in Nr. 7, über den Präsidenten Garfield in Nr. 6, über den Panama-Canal in Nr. 9 und über Tunis in Nr. 18 unseres Blattes. Sie sehen also, daß wir keinen dieser augenblicklich im Vordergrunde des Zeitinteresses stehenden Gegenstände außer Acht gelassen haben.

B. L. in Salzwedel. Kraken nennt man sagenhafte Seethiere, welche die Größe einer ansehnlichen Insel erreichten und Schiffen zum Ankerplatz dienten. Die Mythe hat ohne Zweifel einen, wenn auch äußerst schwachen naturhistorischen Hintergrund und hängt wohl mit dem Erscheinen der Tintenfische zusammen, die man an den Küsten von Schweden, Irland, Island, Japan, am meisten jedoch in Neufundland beobachtet hat. Da die Tintenfische manchmal bekanntlich eine Körpergröße von fünf Meter und eine Armlänge von dreizehn Meter haben und etwa tausend Kilogramm wiegen, so ist es leicht erklärlich, daß die Phantasie ihre Größe so weit übertreiben konnte und mit dieser Uebertreibung bei den Küstenbewohnern Glauben fand.

Sch. J. Z. in Brünn. Wenden Sie sich an das „Militärische Auskunftsbureau“ des Premierlieutenants G. Pavel in Leipzig!

P. in Kassel. Die Adresse lautet: Deutscher Schulverein in Wien I. Maximilian-Straße 10.

R. S. in Berlin. Das Portrait Kant’s, welches wir in Nr. 19 brachten, ist als Photographie im Verlage der Buchhandlung Gräfe und Unzer, Königsberg in Preußen, erschienen und durch dieselbe gegen Einsendung des Betrages von M. 1,50 für die Cabinetausgabe, von M. 6 für die 4° Ausgabe franco zu beziehen.

L. S. in Berlin. Der junge Mann mag Proben seines Talents geben! Eher läßt sich in der Angelegenheit nichts thun.

E. P. in S. Leider keine Verwendung!

H. Sch. in Charlottenburg. Ungeeignet! Verfügen Sie gütigst über das Manuscript!

M. M. Geben Sie Ihre volle Adresse an mit Wiederholung Ihres Wunsches!


Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.