Immanuel Kant (100 Jahre Kritik der reinen Vernunft)

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Autor: Moritz Brasch
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Titel: Immanuel Kant. Zum hundertjährigen Jubiläum seiner „Kritik der reinen Vernunft“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 308-314
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[308]
Immanuel Kant.
Zum hundertjährigen Jubiläum seiner „Kritik der reinen Vernunft“.[1]
Von Moritz Brasch.

Unter den Helden, Staatsmännern und Gelehrten, mit denen Rauch auf seinem berühmten Friedrich’s-Denkmal zu Berlin die zu Reiterstatue des großen preußischen Königs umgeben hat, sehen wir zwei Männer in bürgerlicher Tracht mit einander im Gespräch begriffen: der eine etwas jüngere, eine kräftige Gestalt, den schönen Kopf stolz erhoben, scheint an den Andern eine scharfe Frage gerichtet zu haben; dieser, eine zartere, fast schwächliche Erscheinung, das sinnende Haupt mit der mächtigen Stirn ein wenig seitwärts gewendet, ist wie in einen tiefen Gedanken verloren. Der Fragende ist der große Gotthold Ephraim Lessing, der Gefragte aber kein

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Immanuel Kant.
Nach dem Oelgemälde von Becker auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Geringerer als Immanuel Kant. Man hat das Unhistorische dieser Gruppirung sofort herausempfunden. Der Bahnbrecher der deutschen Literatur hat niemals weder in persönlichem noch brieflichem Verkehr mit dem Reformator der neueren Philosophie gestanden. Ja, in den Werken Lessing’s ist nirgends Kant’s Name auch nur genannt, während Letzterer allerdings jenen einmal als Kritiker erwähnt und ihn auch einmal gegen Mendelssohn’s geringschätziges Urtheil über die „Erziehung des Menschengeschlechts“ in Schutz nimmt. Lessing’s vollständiges Schweigen über Kant ist erklärlich, wenn man bedenkt, daß die Berühmtheit unseres Philosophen [310] seit dem Erscheinen der „Kritik der reinen Vernunft“ im Jahre 1781 datirt, das zugleich das Todesjahr Lessing’s ist. Und doch hat ein Künstler wie Rauch sicher nicht ohne Grund gerade diese beiden Männer neben einander gestellt.

Wohl wollte er durch diese Zusammenstellung des niedergegangenen und des aufsteigenden Gestirns dem Gedanken Ausdruck verleihen, daß bei aller Verschiedenheit der seelischen Individualität und des Lebensganges dieser beiden Männer in der Energie ihrer intellectuellen Persönlichkeit, in der unerbittlichen Schärfe ihres kritisch angelegten Geistes, wie in der sittlicher Hoheit ihrer Wahrheitsliebe doch eine tiefinnerliche Verwandtschaft bestanden hat. Kann man aber nicht auch in Bezug auf die historische Bedeuztung derselben die Parallele noch weiter führen? Hat nicht jeder von ihnen in seinem Gebiete nicht nur eine morsche Welt in Trümmer zerschlagen, sondern auch triebkräftige Keime zu neuen geistigen Bildungen für die folgenden Generationen gepflanzt?

Wie Lessing als jugendlich trotzige Heldengestalt in den Aufklärungs- und Humanitätskämpfen des achtzehnten Jahrhunderts dasteht, so bezeichnet Kant’s philosophische Wirksamkeit das reiche und abschließende Resultat dieser großen Culturbewegung, aber auch zugleich den Central- und Ausgangspunkt aller bis auf die Gegenwart fortwirkenden geistigen Richtungen des neunzehnten Jahrhunderts. Der Aufschwung der mathematisch-mechanischen Naturbetrachtung, die empirischen Untersuchungen auf dem Gebiete der Psychologie, Moralphilosophie und Aesthetik, die an die englischen Freidenker anknüpfenden Kämpfe des Vernunftglaubens gegen die theologische Orthodoxie, sowie der von Rousseau angefachte leidenschaftliche Drang, das Individuum von den Fesseln einer falschen Cultur zu befreien: alle diese und noch andere mächtige Strömungen der Zeit fanden ihre Abklärung und ihren versöhnenden Abschluß in einer Weltanschauung, die das Zauberwort, nach welchem das ganze Jahrhundert vergeblich gerungen, aussprach: die absolute Autonomie des menschlichen Geistes gegenüber der Welt der Erscheinungen, d. h. die gesetzgebende Kraft der Vernunft in Wissenschaft und Leben. Und wie dieser Grundgedanke der Kant’schen Philosophie alle von ihm behandelten Fragen in dem weiten Gebiete menschlichen Wissens mit mächtiger Kraft durchdringt, so bildet er auch den gemeinsamen fruchtbaren Mutterboden, von dem aus in der Folgezeit immer neue Ideenkreise und Weltanschaungen emporsprießen mußten; so wird er der Ausgangspunkt für alle bedeutenderen philosophischen Systeme und somit der lebendig befruchtende Quell für die gesammte höhere Gedankenwelt unseres Jahrhunderts.

Kant hat ein ruhiges, stilles und friedliches Denkerleben vollbracht. Als wollte ein gütiges Geschick die Tiefe dieses Geistes vor allen äußeren Stürmen schützen blieb er nach beiden Seiten hin bewahrt: sowohl vor großem Glück wie vor großem Unglück. Im schlichten Handwerkerhause wurde er am 22. April 1724 zu Königsberg in Ostpreußen geboren. Sein Vater (dessen Familie aus Schottland stammte und sich ursprünglich Cant schrieb) betrieb das Sattlerhandwerk. Unser junger Immanuel, der unter den sechs Geschwistern schon früh die besten Anlagen zeigte, erhielt seine Vorbildung auf dem „Collegium Fridericianum“ seiner Vaterstadt, welches er so schnell absolvirte, daß er schon 1740, also im sechszehnten Lebensjahre, die Universität beziehen konnte, um Theologie zu studiren, mit der er jedoch schon frühzeitig das Studium der Mathematik, der Naturwissenschaften und der Philosophie verband. Nach Beendigung seiner Studien lebte er als Hauslehrer auf verschiedenen adeligen Gütern in der Nähe von Königsberg.

In dieser Zeit begann Kant seine schriftstellerische Thätigkeit mit einer Reihe bald umfangreicherer, bald kleinerer Schriften philosophischen und naturwissenschaftlichen Inhalts. Wir erwähnen hier nur seine „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ (1755), die er Friedrich dem Großen widmete und die ein astrophysikalisches System entwickelt, das in Bezug auf die Ansicht vom Bestande des Fixsternenhimmels mit dem Resultate der Herschel’schen Untersuchungen, dagegen in Betreff der Lehre vom Ursprunge der materiellen Welt mit der Laplace’schen Theorie wesentlich übereinstimmt, und, bis jetzt für die wahrscheinlichste aller Weltentstehungstheorien geltend, den Namen der Kant-Laplace’schen Theorie trägt. In dem genannten Jahre promovirte Kant und habilitirte sich zugleich an der Königsberger Universität. Er las nicht nur über Physik, Mathematik und physikalische Geographie, sondern auch über Logik, Metaphysik, Ethik und philosophische Encyklopädie, seit 1760 auch aber natürliche Theologie und Anthropologie.

Erst 1770 im Alter von sechsundvierzig Jahren wurde ihm die ordentliche Professur für Philosophie übertragen, und er bekleidete diese akademische Stellung bis 1797, wo Altersschwäche ihn zum Aufgeben der Vorlesungen bewog. In diesen Zeitabschnitt fallen alle seine epochemachenden Werke, insbesondere seine drei „Kritiken“, durch welche er eine völlige Umgestaltung der Philosophie vollbracht hat. Eine Fülle kleinerer Abhandlungen, die sich wie die Ranken um die großen Hauptstämme seiner philosophischen Arbeit schlingen, wurden ebenso wie sein umfangreicher Briefwechsel später in mehreren Bänden gesammelt und herausgegeben.

Die Form seiner größeren und grundlegenden Werke ist streng systematisch; dagegen zeichnen sich seine polemischen Aufsätze durch jene überlegene und doch graziöse Ironie aus, die bei aller Schärfe (wie z. B. in der geistreichen Satire auf Swedenborg „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“) nie den Mann von Welt vermissen lassen. Als akademischer Lehrer, zu dessen Vorlesungen sich auch Bürger, höhere Beamte und Officiere einfanden, übte er einen weitreichenden Einfluß aus. Sein Vortrag war, wie sein Schüler und Biograph Borowski berichtet, nie gelehrt überladen sondern stets schumcklos, aber klar und anregend und durch eigentümlich scharfe und logische Gedankengliederung, wie durch Beispiele aus der Tagesgeschichte, Länder- und Völkerkunde so belebt, daß der Hörer ihm ohne Zwang auf die höchsten Höhen metaphysischer Abstraction zu folgen vermochte.

Wie in der wissenschaftlichen Form und der Diction seiner Schriften, war Kant auch im Leben durchaus nicht Pedant. Er liebte heitere Geselligkeit, geistig belebten Verkehr mit Frauen, eine wohlbesetzte Tafel und den Umgang weniger der gelehrten Welt als vielmehr des mittleren Bürgerstandes. Zu seinen intimsten Königsberger Freunden zählten z. B. ein Bankdirector, ein Oberförster und ein Kaufmann. Und in diesen Kreisen war die Gesellschaft des alten Junggesellen wegen seiner Jovialität ebenso geschätzt wie gesucht. Uebrigens hat er sich nie weiter als wenige Meilen von seinem Geburtsorte entfernt. Er starb in Königsberg, fast achtzig Jahre alt, am 12. Februar 1804. Daß seine Werke in alle neuere Cultursprachen, sogar in’s Lateinische übertragen wurden, ist selbstverständlich. „Wenn die Könige bau’n haben die Kärrner zu thun.“ -

Die erste und stärkste Säule, auf der das ganze Gebäude seiner Weltanschauung beruht, ist die „Kritik der reinen Vernunft“, deren hundertjähriges Jubiläum uns heute veranlaßt, das deutsche Volk an die unsterblichen Verdienste seines größten Denkers zu erinnern. Freilich stellen sich die Kant’schen Grundprincipien, wie sie in der „Kritik der reinen Vernunft“ und dann in den übrigen Hauptwerken entwickelt sind, zunächst als kritisch-negirende heraus, und in so fern hatte Kant Recht, seine Philosophie mit dem Namen „Kriticismus“ zu benennen. Es war der Kampf gegen die Jahrtausende alte Metaphysik mit ihrem weiten Netz von unerwiesenen Begriffen, gegen die er sein schneidiges kritisches Schwert schwang, indem er die Forderung aufstellte, daß, bevor über Welt, Gott und das Wesen der Dinge philosophirt werde, man erst die Natur des menschlichen Denkorgans näher untersuche und zusehe, wie weit in dem letzteren die Möglichkeit einer derartigen Erkenntniß liege.

Die Resultate dieser scharfsinnigen Untersuchungen legte er nun in der „Kritik der reinen Vernunft“ nieder. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, an der Hand dieses und der übrigen großen Werke Kant’s dessen philosophisches System zu entwickeln und wir bemerken nur, daß jener grandiose Gedankenaufbau, wie er in der „Kritik der reiner Vernunft“ entwickelt wird, in zwei Hauptflügeln sich präsentirt: in der „Transcendentalen Aesthetik“ und in der „Transcendentalen Logik“. Jene sucht die „Aprioriät“ unserer Raum- und Zeitanschauungen aus logisch-mathematischen Gründen zu erweisen; diese geht in ihrem ersten Theile, in der transcendentalen Analytik, darauf aus, die gesammten „Stammbegriffe“ des Denkens als nicht der Außenwelt, sondern unserem Geiste innewohnend und daher die Erkennbarkeit des wahren Seins der Dinge (Ding an sich) als unmöglich darzustellen, während im zweiten Theile, in der transcendentalen Dialektik, die sich hieraus ergebenden Widersprüche (Paralogismen und Antinomien der reinen Vernunft) und daher die Unhaltbarkeit des gesammten Inhalts der bisherigen [311] Metaphysik und ihrer Theile, der rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie, abgeleitet wird. Dieses ganze Zerstörungswerk schließt mit einer vernichtenden Kritik der bisherigen Beweise für das Dasein Gottes, deren innere Hohlheit mit unerbittlicher Schärfe bloßgelegt wird. Wir begnügen uns mit dieser bloßen Inhaltsandeutung und werfen einen Blick auf den befruchtenden Einfluß seiner Geistesthat, auf die verschiedenen Gebiete des menschlichen Geistes und Herzens, auf die Philosophie, die Religion und die Moral nicht minder, als auf die positiven Wissenschaften, die Literatur und die Kunst.

In den mit glänzendem Scharfsinn geführten Darlegungen der „Kritik der reinen Vernunft“ glaubt Kant dargethan zu haben, daß alle bisherige dogmatisirende Metaphysik, obgleich in den Anlagen des Menschen begründet und durch das Vermögen der Vernunft gewissermaßen verleitet, nur Negatives geleistet und keine wahrhaft philosophische Erkenntniß zu Stande gebracht habe. Aber so wie er einerseits offen eingesteht, erst durch den kühnen Skepticismus David Hume’s angeregt und durch die Angriffe des letztern auf die objcetive Allgemeingültigkeit des Causalgesetzes in der Welt aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt worden zu sein, so hat er auch andererseits das volle Bewußtsein der Bedeutung dieser seiner kritisch-zerstörenden, aber auch wieder aufbauenden That, wenn er seine philosophische Reform mit der astronomischen Umwälzung des Copernicus vergleicht; er thut dies, indem er ungefähr sagt: unter der Herrschaft des Ptolemäischen Weltsystems, welches die Erde in den Mittelpunkt der Welt stellte und diese um jene sich bewegen ließ, habe man die Himmelserscheinungen nur sehr schwer erklären können und erst durch die Anschauung des Copernicus sei man zur Erkenntniß wirklicher Weltgesetze gelangt; so werde auch für die philosophische Erkenntniß eine neue Aera anbrechen, nachdem nunmehr die alte stolze Metaphysik, welche das erkennende Subject von der äußern Erscheinungswelt abhängig machte, gestürzt sei und der transcendentale Idealismus, der das Schwergewicht in uns selbst verlegt und die äußere Wirklichkeit zu bloßen „Erscheinungen“ verflüchtigt, zur Herrschaft gelangt sei. Diese Verflüchtigung der Welt, diese Zerstörung alles Seins hat Kant rücksichtsloser, schärfer, radicaler und vor Allem überzeugender durchgeführt, als vor ihm einst der scharfsinnige englische Denker John Locke und der philosophische irische Bischof George Berkeley. Bei Kant haben wir das unheimlich grausige Gefühl, als gehe die Welt um uns her in nichts auf.

„Weh! Weh!
Du hast sie zerstört,
Die schöne Welt,
Mit mächtiger Faust -
Sie stürzt, sie zerfällt;
Ein Halbgott hat sie zerschlagen.
Wir tragen
Die Trümmer in’s Nichts hinüber
Und klagen
Ueber die verlorene Schöne.
Mächtiger
Der Erdensöhne,
Prächtiger
Baue sie wieder,
In deinem Busen bau’ sie auf!“

Ist es Kant gelungen, an Stelle der zerstörten eine neue Welt aufzubauen? Hat er das tiefinnerliche und unauslöschliche Bedürfniß des menschlichen Gemüths, durch Vermählung mit dem Unendlichen seine Sehnsucht zu stillen, wirklich befriedigt? Kant macht dem Mysticismus in der Philosophie nicht die geringste Concession, und deshalb waren auch die Angriffe jener Gefühlsphilosophen, wie Hamann, Jacobi und Herder, gegen die Ergebnisse der „Kritik“ nur vergebliche Lufthiebe. Konnte er, was noch von den rauchenden Trümmern, aus der ehemaligen Speculation und dem früheren Deismus vorhanden war, als Materialien zum Neubau benutzen? Was unversehrt geblieben war, wie die formale, seit Aristoteles wenig fortgeschrittene Logik und die im achtzehnten Jahrhundert stark bereicherte empirische Psychologie, wurde sorgsam mit hinüber genommen. Aber die eigentlichen Hauptstücke aus jenem gewaltigen Dome der dogmatischen Philosophie, in welchem, durch die farbigen Fenster gebrochen das theologische Dämmerlicht ein Jahrtausend hindurch geherrscht hatte, lagen zerstört umher. Ein lichterer Bau erhob sich, zwar etwas kahl, nüchtern und prunklos, aber doch ein ernster und erhabener Tempel, der sein Licht nicht mehr von „Oben“ erhält, sondern in sich und durch sich selbstleuchtend ist. „In deinem Busen bau’ sie auf!“ In uns selbst, und zwar nicht in den erkennenden, sondern den wollenden und handelnden Menschen verlegte nunmehr Kant das Centrum der neuen Weltanschauung; so setzte er an Stelle der alten Metaphysik eine Ethik, eine Sittenlehre im weitesten und vornehmsten Sinne des Wortes, mit deren Begründung und Ausführung die „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788) und die „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ (1798) sich beschäftigen.

War, wie die „ Kritik der reinen Vernunft“ dargethan, das Ewige und Unendliche außer uns, die Welt der „Dinge an sich“ für unser Erkennen unerreichbar, nun so realisiren wir es in uns selbst und werden so nicht nur das Gefäß des Göttlichen, sondern das Göttliche selbst, die Schöpfer des ewigen Gehalts in menschlicher Form. Dieses geschieht durch die „Vernunft“, die weder eine „Kraft“ noch ein „specifisches Vermögen“ in uns ist, sondern das innerste Wesen des Geistes, das ihn befähigt, sich selbst seine „Autonomie“ zu verleihen, das heißt sein eigener Gesetzgeber zu sein. Diese autonome Selbstherrlichkeit findet nun in der Sphäre des Sittlichen ihren eigentlichen Wirkungskreis. Jener berühmte kategorische Imperativ. „Handle so, daß die Maxime Deines Willens jeder Zeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann!“ ist nur der concentriteste Ausdruck, gewissermaßen der Grundverfassungsartikel für die sittliche Souveränität des Menschen, und dieses Grundgesetz kündigt sich nicht als ein Erfahrungssatz, sondern als ein ursprüngliches Factum unseres Bewußtseins an. Dieser Autonomie des Willens steht die Heteronomie der Willkür gegenüber, wie die Principien der meisten früheren Moralphilosophen von Sokrates bis Leibniz beweisen, die Kant einer scharfen Kritik unterzieht. Insbesondere bekämpft er den sogenannten Endämonismus des achtzehnten Jahrhunderts, das heißt diejenige ethische Anschauung, die die Glückseligkeit des Menschen, sei es als das letzte Ziel alles sittlichen Wollens und Handelns, oder als in diesem Ziele selbst enthalten ansieht. So wird nun einem Handeln nach äußerer Gesetzmäßigkeit (Legalität) das Handeln um des sittlichen Gesetzes willen (Moralität) entgegengestellt. Aus der sittlichen Selbstbestimmung fließt die sittliche Würde des Menschen, zugleich aber auch das Wesen der Pflicht. Denn indem wir als Vernunftwesen oder „Dinge an sich“ uns selbst als beschränkten Sinnenwesen oder „Erscheinungen“ ein Gesetz geben, stellen wir uns Aufgaben, die uns nicht in fremde Gebiete drängen, sondern uns nur unserer eignen ewigen Natur wiedergeben.

Indem so das Wesen des Ewigen und Göttlichen, dessen theoretisches Erkennen sich in der „Kritik der reinen Vernunft“ als eine vieltausendjährige Irrfahrt des denkenden Geistes erwiesen, nunmehr in das sittliche Wollen des Menschen verlegt wird, erhält das Ethische die Oberherrschaft über das Religiöse, dessen Gewalt über das menschliche Gemüth hierdurch gestürzt wird.

„Aber flüchtet aus der Sinne Schranken
In die Freiheit der Gedanken,
Und die Furchterscheinung ist entfloh’n,
Und der ew’ge Abgrund wird sich füllen;
Nehmt die Gottheit auf in Euren Willen,
Und sie steigt von ihrem Weltenthron;
Des Gesetzes strenge Fessel bindet
Nur den Sclavensinn, der es verschmäht;
Mit des Menschen Widerstand verschwindet
Auch des Gottes Majestät.“

So schlägt sich Kant von hier aus eine Brücke, um zu einer neuen „kritisch gereinigten“ Religionsphilosophie zu gelangen. Die Untersuchungen der „Kritik der praktischen Vernunft“ haben das Vorhandensein gewisser Postulate in uns ergeben, welche nicht Dogmen sind, die unser philosophisches Wissen erweitern, sondern notwendige Voraussetzungen die den Ideen unserer Vernunft vermittelst ihrer Beziehung auf unser Leben objective Realität verleihen. Solche Postulate sind: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes. Es gelingt ihm so dieses alte Inventar des ehemaligen Deismus an’s andere Ufer hinüberzuretten; hier läßt er es in seinem Begriffslaboratorium einen complicirten dialektischen Läuterrungsproceß durchmachen und gewinnt auf diesem Wege die wesentlichsten Grundlagen eines „theistischen Vernunftglaubens“.

Die speciellere Entwickelung des letzteren auch in Bezug auf sein Verhälniß zum christlichen Kirchenglauben geschieht nun in jenem berühmten Werke „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, welches Kant mit dem pietistischen Kirchenregiment [312] unter dem preußischen Ministerium Wöllner in Conflict gebracht hatte. Die erste Abhandlung „Vom radicalen Bösen“ erhielt die Genehmigung der preußischen Censur, aber schon die zweite „Vom Kampf des guten Princips mit dem bösen“ wurde beanstandet. Doch wußte sich Kant zu helfen. Er ließ das ganze Buch von der Königsberger theologischen Facultät censiren, und so konnte es gedruckt werden. Seine zelotischen Gegner, aber beeilten sich eine königliche Cabinetsordre (1. October 1794) zu erwirken, nach welcher ihm „Entstellung und Herabwürdigung der Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christenthums“ vorgeworfen wurde. Kant meinte: „Widerruf und Verleugnung seiner Ueberzeugung wäre niederträchtig, aber Schweigen in dem vorliegenden Falle Unterthanenpflicht; Alles, was man sage, müsse wahr sein, aber man brauche nicht alles Wahre öffentlich zu sagen.“ Er erklärte, daß er sich fortan „aller öffentlichen Vorträge über Religion auf dem Katheder und in Schriften enthalten werde“ – das alte Lied von der Vergewaltigung der philosophischen Forschung durch den offiziellen Glauben, so alt wie die Weltgeschichte selbst.

Es ist ein merkwürdiges Buch, diese „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Hell, scharf und klar wie die frühe Wintersonne, aber auch wie diese kalt und nüchtern. Hier ist alles philosophisch-theologische Halbdunkel, das in der Hegel’schen und Schleiermacher’schen Religionsphilosophie noch eine große Rolle spielt, hier sind alle jene webenden Mysterien, die wir nun einmal von einem „Glauben“ schwer trennen können, bis auf wenige Spuren verbannt. Hier muß sich Alles auf seinen „sittlichen“ Gehalt hin legitimiren, um religiösen Werth zu beanspruchen. „Religion ist Erkenntniß aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote.“ Das klingt wie eines jener scharf formalirten Decrete des Tugendfanatikers Maximilian Robespierre’s, der um dieselbe Zeit der Mystik des irdischen Königthums mit dem bunten Gefolge seiner adligen und kirchlichen Würdenträger in Frankreich ein Ende machte. Im Grunde war es der alte Rationalismus, der, durch das Glühfeuer Kantischer Ethik geläutert, hier eine Wiederauferstehung feierte, wie z. B. seine Auffassung der Natur Christi als der Personalification der Idee des „vollkommenen Menschen“ beweist. Das Kantische Werk wird seinen dauernden Werth behalten, da hier die wichtigsten religiösen Probleme auf einer Linie sich bewegen, die in der religiösen Entwickelung der Menschheit zukünftig die richtunggebende sein wird.

Eine ethische Weltanschauung, deren Princip ein Freiheitsbegriff von so unausdenkbarer Hoheit ist, muß diesen ihren großen Charakter auch in ihren Lehren vom Rechts- und Staatsleben bewähren. So entwickelte Kant in der „Metaphysik der Sitten“ eine Rechtsphilosophie, die sich auf den Begriff der Menschenwürde und des unveräußerlichen Menschenrechts stützt und deren Aufgabe darin besteht, die sittliche Freiheit zur Grundlage alles staatlichen und gesellschaftlichen Lebens zu machen. Nach Kant besteht das Princip des Rechts darin, die Freiheit eines Jeden auf die Bedingungen einzuschränken, unter denen sie mit der Freiheit eines jeden Anderen nach einem allgemeinen Gesetze zusammenbestehen kann. Als das höchste Ziel aller staatlichen Entwickelung der Menschheit gilt ihm, wie er in der Abhandlung: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784) entwickelt, ein internationales Rechtsverhältniß der Staaten, durch welches ausschließlich die gemeinsamen positiven und Culturzwecke des Menschengeschlechts befördert würden. Dieses höchste Ideal gesellschaftlicher Entwickelung, dem ein bekannter deutscher Stratege der Gegenwart nicht einmal den Werth eines „schönen Traumes“ zugestehen möchte, hat Kant in seiner Schrift: „Zum ewigen Frieden“ mit einer bei unseren Philosophen so seltenen Wärme dargelegt, die ihn hierin, wie in manchen staatsphilosophischen Fragen, als einen enthusiastischen Anhänger Jean Jacques Rousseau’s erscheinen läßt. Mit großem Interesse verfolgte Kant die praktische Rechts- und Staatsentwickelung seiner Zeit, und den revolutionären Stürmen jenseits des Rheins schenkte er die gespannteste Aufmerksamkeit. Ob er wohl hier die blutige, praktische Bethätigung seines kategorischen Imperativs ahnte?

Man hat der sittlichen Weltanschauung Kant’s – und gewiß nicht mit Unrecht – eine gewisse herbe Rigorosität vorgeworfen, und selbst ein so überzeugter Anhänger desselben wie Schiller hat Kant’s strenge Abweisung aller wärmeren Gefühlsmomente aus dem Gebiete des Sittlichen durch jene bekannten Distichen persiflirt:

„Gerne dien’ ich den Freunden, doch thu’ ich es leider mit Neigung,
Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.
Da ist kein anderer Rath’: Du mußt suchen, sie zu verachten,
Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht Dir gebeut.“

Allein diese eiserne Unerbittlichkeit seines ethischen Princips war ja nur durch den Gegensatz der sittlichen Ideen zur Welt der Erscheinungen hervorgerufen. Kant war bestrebt, in seiner philosophischen Weltanschanung harmonische Einheit herzutellen, und er glaubte das Mittel dazu in einer Art der Naturbetrachtung zu finden, welche Natur und Idee, Causalität und Freiheit, Denken und Wollen unter einen höhern gemeinsamen Gesichtspunkt, die Zweckbetrachtung der Welt (Teleologie), bringt. Diese sollte die Versöhnung der Gegensätze in seiner Philosophie herbeiführen. Doch möchte er, indem er das teleologische Princip adoptirt, jeden Versuch abweisen, die Entstehung der natürlichen Dinge, der einzelnen Individuen wie der Gattungen, etwa aus der alleinigen Wirksamkeit eines zweckthätigen Gedankens, einer bewußten, nach einem bestimmten Plane handelnden Intelligenz zu erklären. Andererseits ist er aber auch weit entfernt, die rein ursächliche Erklärung und Betrachtung des Lebens der Natur für die einzige und höchste anzusehen. Die vollkommenste Ausgleichung dieses klaffenden Weltgegensatzes liegt für Kant im Gebiete des Aesthetischen. Die Lehre von der Schönheit war damals in Deutschland noch sehr jung. Um die Mitte des Jahrhunderts von dem Leibnizianer Alexander Baumgarten als besondere philosophische Disziplin begründet, war sie in der ersten Zeit wenig mehr als eine „Lehre von den schönen Künsten“, deren „Regeln“ von Gottsched, Sulzer und Anderen festgestellt wurden.

Erst als die Prüfung der ästhetischen Begriffe durch Anregung englischer Denker auch in Deutschland, insbesondere von Mendelssohn, Garve und Lessing, in Angriff genommen wurde, konnte man von einem wirklichen Fortschritt der jungen Wissenschaft sprechen. Kant hingegen erhob sie zur metaphysischen Höhe, indem er ihr die Rolle einer Versöhnerin seiner Erkenntnißtheorie und seiner Ethik übertrug. Dieses geschah in der „Kritik der Urtheilskraft“, einem Werke, dessen tiefsinniger Inhalt bisher viel zu wenig gewürdigt worden ist, wohl meist, weil die systematische Form eine eigentliche Popularisirung derselben verhinderte. Selbst Schiller’s ästhetische Aufsätze, die ganz in der Kant’schen Anschauung wurzeln, haben jenem Werke, das durch die Einwirkung eben auf Schiller, Wilhelm von Humboldt und Andere von bedeutendem Einfluß auf die nationalliterarische Entwickelung Deutschlands geworden ist, nicht eine größere Leserzahl zugeführt. Aber indem das Schöne als das Symbol des sittlich Guten hier aufgefaßt wurde, war damit die Brücke geschlagen zu jener altgriechischen Anschauung von der Einheit des Guten und Schönen: ein Princip, das für den Geist unserer classischen Literaturepoche bestimmend geworden ist.

Es liegt eine eigenthümliche Ironie darin, daß Kant, der das „Genie“, das heißt die unberechenbare, keinem theoretischen Gesetze unterthane Kraft, aus dem Bereiche des Denkens verweisen wollte, in diesem Werke durch den Begriff des „Genies“, das heißt eines Geistes, der „wie die Natur handelt“, also naiv und unbewußt das Höchste schafft, die Gipfelung und Krönung seines ganzen philosophischen Gebäudes vollzieht. Diese von Kant angeregte und von Anderen vollzogene Verschmelzung des philosophischen und ästhetischen Lebens hat später, am Ausgange des achtzehnten und zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, die deutsche Geistesentwickelung zu einer so idealen Höhe erhoben, daß jene Epoche zu den glänzendsten in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit gehört.

Aber auch auf die eigentliche Philosophie und die positiven Wissenschaften unseres Jahrhunderts war Kant’s Einfluß außerordentlich groß. Nicht nur knüpften sich an seinen „Kriticismus“ einige Schulen an, welche (wie Reinhold, Fries, Bouterwek, Krug und Andere) eine Fortbildung der von ihm gepflanzten Keime anstrebten, sondern auch alle größern selbstständigern Systeme fußen auf Kant’scher Grundlage. Mögen sie nun, wie Fichte, über den transcendentalen Idealismus noch hinausgehen und das „Ich“ zum schöpferischen Princip der Welt machen oder, wie Schelling und Hegel, auf den Pantheismus Giordano Bruno’s und Spinoza’s sich stützen, mögen sie, wie Herbart, Lotze und Andere, Leibniz’sche Elemente wieder aufnehmen oder, wie Schleiermacher, eine Combination Plato’s, Spinoza’s und des Christentums versuchen oder endlich, wie der geistreiche Erneuerer des modernen Pessimismus, Schopenhauer, Anknüpfungspunkte an indischen Buddhismus finden: alle diese Denker nehmen von Kant ihren eigentlichen Ausgang.

In neuester Zeit hat sich in Deutschland, zum Theil im [313] bewußten Gegensatz zu diesen genannten speculativen Richtungen und angeregt durch den Aufschwung der Naturwissenschaften, eine neue Kant’sche Schule gebildet, deren Ziel darin besteht, auf der Basis von Kant’s kritischer Erkenntnißlehre die Ergebnisse der exacten Forschung zu einer sichern Weltanschauung zusammenzufassen, und diese noch nicht ganz abgeschlossene Richtung ist jetzt an den deutschen Universitäten die philosophische Tonangeberin.

Ja, sogar der immer mehr Terrain gewinnende Darwinismus ist jetzt bemüht, den historischen Ursprung seiner Theorie mit einem so vollwichtigen Namen wie Kant in Beziehung zu bringen. Wesentlich dieser Wiederbelebung der Kant’schen Philosophie ist es auch zu danken, daß die Eroberungszüge des modernen philosophischen Materialismus jetzt schon auf einen sehr kleinen Bezirk beschränkt sind.

Was Kant durch eine Reihe von Veröffentlichungen zur Erweiterung der einzelnen philosophischen Wissenschaften beigetragen, was er z. B. zur Bereicherung der Logik, der Psychologie, der Naturphilosophie und der philosophischen Rechtslehre beigetragen, [314] kann hier nicht im Einzelnen dargelegt werden. Wo er nicht neue Wege einschlug, hat er doch durch Schärfe der Beobachtung und Tiefe der Reflexion die betreffenden Wissenschaften mit bedeutsamen Thatsachen vermehrt und durch fruchtbare Gedanken bereichert.

So sehen wir nach Verlauf eines vollen Jahrhunderts die intensive Leuchtkraft dieses Geistes bis in die Gegenwart hinein fortwirken und noch in ferner Zukunft wird Immanuel Kant der wahrheitsuchenden Menschheit ein Führer und eine Leuchte sein:

„Es kann die Spur von seinen Erdentagen
Nicht in Aeonen untergehn.“


  1. Die Widmung der ersten Ausgabe des berühmten Buches an den Staatsminister Freiherrn von Zedlitz trägt das Datum des 29. März 1781.
    D. Red.