Die Gartenlaube (1882)/Heft 17

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[273]

No. 17.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Recht und Liebe.

Novelle von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


„Sergius von Sander?“ fragte Leonhard.

„Ja,“ erwiderte Regine, „der intelligente, Alles wissende, Alles entscheidende Sergius. Dieser Sergius ist eigentlich ein innerlich unglücklicher und bedauernswerther Mensch; er schleppt eine Aufgabe durch’s Leben, welche ihm jeden Augenblick zu schwer zu werden droht: die Aufgabe, die Welt und sich selber in der Annahme und dem Glauben zu erhalten, er sei etwas Außerordentliches. Wer oder was diesen Wahn erzeugt haben mag, wer kann das wissen? Vielleicht die gnädige Frau Mama – der ‚Mütterwahnsinn‘ leistet ja Unglaubliches; und genug, der Wahn ist einmal da und will nun erhalten, will genährt, gepflegt sein – und das kostet den armen Sergius mitleidswürdige Anstrengungen. Er ist genöthigt, bei jeder aufgeworfenen Frage mit einer genialen Wendung das letzte Wort zu sprechen; nöthigenfalls auch durch eine staunenswerthe Herzählung von statistischen Zahlen, durch ein Auskramen von philosophischer Weisheit aus Büchern, welche Niemand liest, zu belehren, zu entscheiden, zu imponiren. Und ist das nicht eine schreckliche Aufgabe? Auch wenn man, wie Sergius, sich die Sache dadurch erleichtert, daß man die statistischen Zahlen aus seiner Phantasie nimmt, die genialen Wendungen aus Leitartikeln in den Journalen?“

„Aber wie viele Menschen,“ sagte lächelnd Leonhard, „wissen nicht so zu imponiren!“

„Anderen – ihrer Umgebung, ja! Aber Sergius ist in einer übleren Lage. Er zweifelt innerlich selber an seiner Außerordentlichkeit. Er ist ihrer nicht so ganz sicher. Es muß in seinem Leben Momente gegeben haben, die ihm das Dogma von seiner Genialität unter einer bedenklichen Beleuchtung gezeigt haben – und so ist der arme Mensch zu fortwährenden krampfhaften Anstrengungen gezwungen worden, um sich vor dem Unglauben an sich selber zu retten, sich selber sein Genie zu beweisen.“

„Und Damian?“ fragte Leonhard.

„Damian,“ gab sie lachend zur Antwort, „Damian ist einfach ein hohler Kopf; das ist auch gut; denn mit starken Lebenstrieben erfüllt, würde dieses Menschenkind vielleicht gefährlich sein, weil weder die gütige Mutter Natur noch die gütige Mutter von Ramsfeld einen erheblichen Keim sittlicher Grundsätze in ihn gelegt haben. Ist aber Damian hohl, so ist seine hübsche Schwester Dora dafür nur zu voll; ihr Herz ist voll von irgend einem Liebeskummer, vom Bilde irgend eines liebenswürdigen Jünglings, der es ihr angethan haben muß –“

„Sie glauben, das kleine Fräulein litte an einer ernsten Neigung?“ fragte Leonhard gespannt.

„So viel man’s kann in ihren Jahren,“ antwortete Regine; „jetzt lassen wir aber diese Gesellschaft ungerupft! Sie könnten mich sonst verführen, Ihnen auch noch die Mütter zu schildern und den Glauben in Ihnen zu erwecken, ich sei die böseste Zunge von der Welt. Und das bin ich doch nicht – nicht wahr, Leonhard, Sie wissen, daß ich das nicht bin, wissen, weshalb ich hier scharf sehe, scharf urtheile?“

Leonhard antwortete nur, indem er Reginens Arm an sich drückte.

„Sie schlauer Leonhard!“ fuhr sie lächelnd fort, „Sie sind so unendlich klug gewesen, indem Sie mich bewegten, hierher zu gehen, mich auf Haus Dortenbach einzuwohnen und in den alten Herrn zu verlieben – und doch – haben Sie nie davon eine Ahnung gehabt? – war es schrecklich unbesonnen und verkehrt von Ihnen, mich inmitten dieses Kreises von adligen Leuten zu versetzen. Sagen Sie sich denn nicht, daß ich an jedem Abend Gott danken muß, nicht dazu zu gehören? Daß ich lieber bis in die Sahara liefe, als mich von der Generalin als theure Cousine umarmen, von Damian und Sergius, den lieben Vettern, bevormunden zu lassen –“

„Sie zu bevormunden würde man wohl keinen Versuch machen, Regine; Ihr Wesen hat wenig, was dazu einladet, und daß Ihr Adelshaß hier eine ganz ungesunde Nahrung finden werde, habe ich freilich besorgt; aber was war da zu thun – es galt, dem alten Herrn zu Hülfe zu kommen. Das war das Wesentliche –“

„Nun ja, Sie sehen mich ja auch hier,“ versetzte sie, sich zärtlich auf seinen Arm legend; „ich bin ein gutes Kind gewesen und gekommen –“

„Das sind Sie, und – aber wohin gehen wir?“

„Folgen Sie mir hierher! Ich sagte, daß ich Ihnen etwas zeigen wollte,“ erwiderte sie, indem sie, jetzt in der Nähe des Hauses angekommen, rechts ab und in den Wald, der hier mit den Anlagen hinter dem Hause zusammenlief, einbog.

Sie gingen unter alten Buchenstämmen hin, über Moos und vorjähriges Laub, und folgten dann einem Fahrwege, der jenseits der breiten, jetzt im Sommer mit einem schlammigen Wasser gefüllten Gräben in jene Anlagen hinter dem Edelhofe führte.

Als sie das Ende des ersten Grabens erreicht hatten, da, wo [274] er nach links hin im rechten Winkel einsprang und sich der Rückseite des Hauses parallel weiter zog, blieb Regine stehen; das hellere grüne Wasser deutete hier auf eine größere Tiefe; es wurde beschattet von einer nahe stehenden alten Hänge-Esche, welche ihre Zweige über die grasbewachsene Böschung niederhängen ließ.

„Sehen Sie, Leonhard,“ sagte sie, auf das stille Gewässer deutend, „da, da war es. Diese alte Esche hat es mit angesehen. Sie hat gesehen, wie ein armes gequältes, zermartertes Menschenkind Ruhe in der dunklen, eisigen Tiefe suchte; wie sie in den Tod ging, getrieben von denen, welche ihr im Leben am nächsten standen, von Vater, Bruder, Schwestern. Und dieses arme gequälte Menschenkind war meine Mutter. Ich, ich soll das vergessen? Soll es vergeben? Ich müßte härter als dieser bemooste alte Baumstamm, fühlloser als der Schlamm dort unten sein, wenn ich’s thäte. Nein – nie!“

Regine hatte das mit zitternder Lippe gesprochen, bleich vor tiefer Erschütterung, bis bei dem zornigen „Nie“ ihr leuchtendes Auge sich mit einem Glanze auf Leonhard heftete, der diesen verstummen ließ. Er ergriff nur ihre sich wie zu einem Schwur hebende Hand und küßte diese wie in stummer Unterwerfung.

„Wer nur hat Ihnen die unglückselige Stelle gezeigt?“ fragte er, sie wegführend, nach einer Pause, und dann, als sie keine Auskunft gab:

„Sie sollten aber auch nicht vergessen, Regine, daß Ihr Oheim keine Schuld trägt, daß er an all der leidenschaftlichen Verfolgung, der einst Ihre Mutter ausgesetzt war, nicht Theil nahm.“

„Keine Schuld? Er hat die größte Schuld. Die Anderen waren von ihren Vorurtheilen, ihrem Adelsdünkel, ihrem leidenschaftlichen Hochmuth verblendet. Er nährte diese Vorurtheile nicht; in ihm war nichts von dieser verblendenden, hirntollen Leidenschaft der Anderen – er sah ein, er mußte einsehen, wie abscheulich sie handelten – und doch schützte er die Schwester nicht, doch stellte er sich nicht rettend vor sie – aus erbärmlicher Schwäche, aus verachtenswürdiger Feigheit nicht. Macht ihn das nicht noch schuldiger, als die Seinigen waren?“

„Freilich,“ antwortete Leonhard, „es war eine Handlungsweise, die für Menschen von unserer Natur gar nicht zu begreifen ist. Sie haben darin völlig Recht, wie Sie immer mit Ihrem starken Fühlen, Ihrem raschen Urtheil Recht haben. Aber, sehen Sie, nicht allein das Gesetz, auch unser Gefühl kennt eine Verjährung; der Richter straft den nicht mehr, der vor zwanzig Jahren ein Verbrechen beging, und …“

„Ich kenne eine solche moralische Verjährung nicht,“ sagte Regine; „mag man ein Verbrechen, welches die Leidenschaft herbeiführte, nach Jahren vergessen; das, welches durch eines Menschen Charakter verschuldet wurde, kann nicht verjähren, so lange dieser Charakter derselbe geblieben ist.“

„Daran erkenne ich nun wieder so recht Ihre Natur, Regine,“ erwiderte er lächelnd – „Ihren Abscheu vor jedem Entgegenkommen auf halbem Wege …“

„Meine rechtwinkelige Natur, wie Sie sich auszudrücken pflegen – nicht wahr?“ sagte sie mit einem leichten Aufwerfen der Lippen.

„Ihre rechtwinkelige Natur – just das,“ antwortete er. „Sie kennen nur eine gerade Linie oder einen rechten Winkel. Daß die Linien und Wege im Leben sich auch schlängeln und winden können und doch auch zum Ziele führen; daß der Wind nicht stets aus Ost oder West oder Nord weht, sondern zuweilen auch aus Nord-Nord-West zum Westen, das verstehen Sie nicht, und auch nicht, daß die Rechnungen im Leben selten glatt abgeschlossen werden, sondern gewöhnlich – Goethe sagt das schon – noch ein Bruch übrig bleibt.“

„Mag sein, daß ich so angelegt bin,“ entgegnete sie lächelnd. „Und Sie müssen gestehen, daß es so gut ist – wohin käme die Welt, wenn die Menschen der geraden Linie und des rechten Winkels ganz ausstürben?“

„Gewiß – Sie haben einmal wieder Recht, Regine,“ antwortete er mit einem leisen Seufzer, und ihre Hand erfassend, legte er ihren Arm in den seinen. „Kommen Sie aber,“ setzte er hinzu – „wir wollen uns jetzt zum alten Herrn begeben.“

Sie wandten sich, um in’s Innere des Gebäudes zu gelangen, der nächsten Laufbrücke zu, welche aus demselben in die Gartenanlagen führte. Als sie dann oben in dem Vorsaale des Barons angekommen waren, ging Regine, Leonhard anzumelden, und kam bald zurück, um diesen mit seinem Patienten allein zu lassen. Der Baron war sehr erfreut, seinen Arzt zu sehen, und versicherte ihm dies mit einer besonderen Lebhaftigkeit.

„Wie viel habe ich Ihnen nicht zu sagen!“ fuhr er dann fort.

„Daß es Ihnen wohler geht, viel wohler, das sagt mir schon Ihr Aussehen,“ meinte Leonhard.

„Zunächst das – meine Seitenschmerzen haben sich gemindert; ich schlafe besser – beim Gehen in der frischen Luft, das ich jetzt täglich wage, weil Fräulein Bertram es nicht anders leidet, hat sich der Schwindel nur zwei- oder dreimal noch eingestellt – das werden Sie zunächst hören wollen …“

„Das allerdings – und sehen, was der Puls sagt,“ fiel Leonhard darnach tastend ein.

„Gut – fragen Sie ihn!“ erwiderte der Baron, und nachdem er sich eine Weile schweigend verhalten, bis er Leonhard’s Verdict: „Auch der Puls ist energischer und ruhiger geworden“ erhalten, fuhr er lebhaft fort:

„Nun aber sagen Sie mir, was ist das Geheimniß Ihrer Krankenpflegerin, dieses Fräulein Regine Bertram?“

„Geheimniß?“

„Geheimniß – ja. Weshalb ist eine solche Dame, von einer durch und durch vornehmen Natur, von einer ganz seltenen Bildung und von einem solchen – um es so auszudrücken – getragenen, auf Moll gestimmten Charakter, weshalb ist sie eine Krankenpflegerin? Wie ist es möglich, daß sie, um die das Wesen der besten Gesellschaft liegt, nicht längst von hundert Seiten begehrt worden ist? Sind unsere jungen Männer wirklich so stumpfsinnig geworden – nein, das kann nicht sein – und dazu kommt, daß sie, wie sie mir naiv in’s Gesicht sagt, eine geschworene Feindin des Adels und alles Dessen ist, was damit zusammenhängt. Das ist bei einem so jungen Geschöpf nicht natürlich – es hat seine ganz besonderen, ganz bestimmten Gründe, und so habe ich denn geschlossen: sie liebt einen Grafen, einen Baron; sie ist jedoch von der Familie desselben zurückgestoßen, beleidigt, auf’s Bitterste gekränkt worden, und in der Verzweiflung darüber hat sie das triste Metier einer Krankenpflegerin – das letzte, wozu sie mit ihrer Schönheit, mit ihrem ganzen Wesen geboren ist – ergriffen und haßt den Adel zu ihrer inneren Erleichterung.“

Leonhard schüttelte lächelnd den Kopf.

„Es ist doch schwerlich so, wie Sie sich das ausgedacht haben, Baron!“

„Nicht so? – ich sage Ihnen, Klingholt, es ist so. Denn sehen Sie – ich will Ihnen noch mehr sagen – woher käme es sonst, daß sie ein altes Pastellbild meiner seligen Schwester, das, vergessen und bestäubt, im Speisesaal unten hinter einem Eckschrank hing, mit Andreas’ Hülfe ausgefunden hat? Andreas kennt nämlich zu jedem der Bilder die erläuternde Legende. Wie kommt es ferner, daß sie mir das Bild hier in’s Zimmer gehängt hat und dabei vorgiebt, es sei ein großes Kunstwerk? Wie kommt es endlich, daß sie so oft wie mit stiller Andacht ihr Auge darauf richtet? Woher kommt das? Antwort: sie hat von Andreas die lamentable Geschichte meiner Schwester gehört – Sie kennen diese Geschichte nicht, Klingholt, und wir wollen sie ruhen lassen – aber genug: ich durchschaue es: Fräulein Bertram hat offenbar meiner Schwester als ihrer Schicksalsschwester alle ihre Sympathie zugewendet.“

„Möglich,“ antwortete Leonhard ausweichend, „obwohl es ja sein mag, daß der sympathische Kopf Ihrer Schwester …“

„Nein, nein,“ fuhr der alte Herr erregt fort, „es ist so, wie ich Ihnen sage. Und wenn es so ist, so hören Sie, Klingholt, so habe ich einen Auftrag für Sie …“

„An Fräulein Regine?“

„Einen sehr ernsten Auftrag, den Sie mit Ihrer Diplomatie bei ihr anbringen mögen; es hat mir schon zehnmal auf der Zunge gelegen, ihr selbst die Eröffnung zu machen, aber wenn ich ihr in’s Auge sehe, überfällt mich eine lächerliche Schüchternheit; ich weiß nicht, sie hat etwas in ihrem Wesen und Aussehen, was mich eigenthümlich bewegt; was denn auch wohl macht, daß ich sie nicht leiden sehen kann – ein solches Juwel von einem Mädchen – ich kann sie wirklich nicht leiden sehen – und deshalb, sehen Sie, deshalb will ich ihr helfen und ihrem Herzeleid ein Ende machen – es ist auch etwas in mir, was mich dazu wie zu einer Sühne einer alten vergebenen Schuld drängt; sie hat mir das Bild meiner Schwester nicht umsonst da in mein Zimmer gehängt, wenn sie auch sicherlich nicht ahnte, was sie damit für sich selbst that; es [275] ist wirklich eine wunderbare Geschichte, eine seltsame Schicksalsfügung, daß just sie es that und meine Gedanken zwang, bei dem Bilde zu haften; wenn man alt ist, Klingholt, nehmen die Dinge …“

Leonhard, der gespannt bei alledem aufgehorcht hatte, brachte den alten Herrn zum Schluß des langen Satzes, indem er unterbrechend fragte:

„Und mein Auftrag?“

„Ihr Auftrag, Klingholt, soll sein, ihr zu sagen: daß ich ihr den Weg zu ihrem Glücke bahnen will. Sagt’ ich Ihnen nicht schon, daß es immer mein Gedanke, mein Wunsch gewesen, Jemand adoptiren zu können? Ja, richtig, ich sagte es Ihnen schon einmal, und nun hören Sie, Doctor: ich will sie adoptiren. Dann erhält sie einen Namen und ein Wappenschild, das sich neben das jedes Grafen oder Barons im Reiche stellen kann. Fehlt es ihr alsdann noch an Geld, um ihren Baron zu heirathen, so soll sie es auch haben. Ich werde meiner Adoptivtochter eine Rente zahlen lassen – so viel sie bedarf. Sagen Sie ihr das – aber verlassen soll sie mich nicht … sie ist mir in den wenigen Tagen nothwendig geworden … in meiner Nähe muß sie bleiben; ihr Baron wird sich’s schon gefallen lassen, in Dortenbach zu hausen, wenn er weiß, am Ende wird Dortenbach sein.“

Leonhard sah ihn mit Augen, welche sich um ein Merkliches vergrößert hatten, überrascht an. Die Ueberraschung schien ihm die Worte geraubt zu haben.

„Nun,“ sagte der alte Herr, „weshalb schauen Sie mich so stumm an? Weshalb sagen Sie nichts zu meinem Vorhaben? Sind Sie nicht damit einverstanden? Wollen Sie etwa den Advocaten meiner lieben Anverwandten machen? Die lieben Anverwandten haben mich genug geärgert. Die lieben Anverwandten mögen sehen, wo sie bleiben! Die lieben Anverwandten sollen Legate haben … gute, ausreichende Legate …“

„Ich bin nicht hier, den Advocaten Ihrer Verwandtschaft zu spielen; höchstens den Ihrigen, Baron …“

„Und was sagen Sie denn als mein Advocat zur Sache? Sprechen Sie doch!“

„Ich ehre Ihren Entschluß. Er ist rasch gefaßt, sehr rasch, und ich begreife, daß Fräulein Regine Ihnen unentbehrlich geworden …“

„Wahrhaftig – das ist sie.“

„Nur das Eine muß ich Ihnen einwerfen: Sie wissen nicht, ob … der fragliche ‚Baron‘, den Ihnen Fräulein Regine vielleicht als Adoptiv-Schwiegersohn zuführen würde, ebenso Ihre Sympathien gewönne.“

„Darin haben Sie Recht, Klingholt – sehr Recht; ich habe selbst daran gedacht, aber wissen Sie, wer ein Mädchen wie Regine liebt, der muß ein braver und tüchtiger Mensch sein … denken Sie nicht auch?“

„Wer weiß?“ entgegnete lächelnd Leonhard. „Je besser ein Mensch, desto schwächer seine Menschenkenntniß, und Amor’s Binde, wissen Sie …“

Der alte Herr zuckte die Achseln.

„Wir müssen’s darauf wagen,“ erwiderte er. „Gehen Sie hinüber zu ihr! Machen Sie ihr die nöthigen Eröffnungen! Finden Sie irgend Schwierigkeiten, so ebenen Sie dieselben … wollen Sie, Klingholt? Sie wissen, was mich angeht, ich weiß Schwierigkeiten gegenüber nicht viel anzufangen. Es ist das nun einmal meine schwache Seite. Planiren Sie alles, was im Wege sein sollte! Und dann kommen Sie zurück und sagen Sie mir, daß wir es so einrichten – uns zusammen so einrichten auf Haus Dortenbach!“

Der alte Herr war offenbar von seinem Plan ganz erfüllt. Ein leidenschaftlicher Eifer für denselben war über ihn gekommen; ein Wunsch hatte ihn mit einer Heftigkeit erfaßt, deren er sich wohl selbst nicht mehr für fähig gehalten. Es war so lange, lange Zeit verflossen, seit er überhaupt keinen Plan mehr gemacht, keinen Wunsch mehr gefaßt hatte: wie hätte dieser plötzlich in ihm erweckte nicht desto stärker sein, nicht mit einer Art fieberhaften Verlangens nach der Erfüllung verbunden sein sollen?

„Sie wollen, daß ich augenblicklich zu Fräulein Regine gehen und mit ihr reden soll?“ fragte Leonhard.

„Sehen Sie einen Grund zum Aufschub?“

„Nein,“ versetzte Leonhard nach einer Pause Nachdenkens; „ich will Fräulein Bertram Ihr Anerbieten kund thun.“

Und damit ging Leonhard, um sich zu Regine hinüberzubegeben.




8.

An der dem Wohnzimmer des Barons gegenüberliegenden Seite des melancholischen großen Festsaals – denn ein Festsaal war dieser in der Mitte des Gebäudes angelegte Raum doch, obwohl er so verblichen und verschossen aussah – an der gegenüberliegenden Seite führte die entsprechende Thür in ein Zimmer, welches sich Regine, um dem Baron nahe zu sein, zu ihrem Aufenthalte ausgewählt hatte. Es mochte früher, in den lustigeren Zeiten, welche Dortenbach ohne Zweifel erlebt hatte, als Spielzimmer gedient haben, während in dem nahestehenden Saale vielleicht eine heitere Jugend im Tanz umherwirbelte; das Möbel, welches Regine sich als ihren Arbeitstisch an das Fenster stellen lassen, war wenigstens ein alter Spieltisch, und den Kaminsims zierte eine Reihe kunstreich aus Elfenbein geschnitzter Schachfiguren, während auf zierlichen Consolen an den Wänden japanische und indische Kästchen angebracht waren.

Regine hatte nicht viel gethan, den Raum zu einem traulichen Damenboudoir umzugestalten; nur einige Frauenarbeiten, die auf dem Tische am Fenster lagen, deuteten auf die Besitznahme des Zimmers durch eine Dame. Sie saß eben, eine Stickerei in den Händen, aber sehr oft von dieser auf- und gedankenvoll durch das Fenster auf die Tannengruppe draußen blickend, an diesem Tische, als Leonhard leise anklopfte.

„Regine,“ sagte er eintretend, offenbar höchst bewegt, mit freudig gerötheten Zügen, „welche Wendung der Dinge! Sie ahnen nicht, mit welcher Botschaft ich zu Ihnen komme – Sie Böse haben mir nicht den Gefallen thun wollen, sich in den guten alten Herrn zu verlieben, und nun, zur Beschämung für Sie, hat er sich dafür sterblich in Sie verliebt. Er will Sie nicht wieder missen, Sie nicht wieder scheiden sehn – und deshalb – doch nein, ganz im Ernste, nicht blos deshalb, sondern zunächst um Ihretwillen, um Ihres Lebensglückes willen, will er Sie an Kindesstatt annehmen, adoptiren, ausstatten …“

Regine, welche ihm entgegengetreten war und seine Hand erfaßt hatte, ließ diese fahren und wich einen Schritt zurück; sie war auffallend bleich geworden.

Leonhard, aus dessen Zügen die helle Freude leuchtete, schien zu erregt, um dies zu bemerken – er fuhr lebhaft fort:

„Das wendet und endet ja nun Alles – das schlichtet unsern Hader auf’s Gründlichste und Unerwartetste – das ist ein Gedanke, so unendlich gescheut, so glücklich … aber was ist Ihnen, Regine? – Sehen Sie das nicht ein – nicht ein, daß nun Alles gut – daß Sie durchaus nicht wider Ihrer armen Mutter Andenken sündigen, nicht Ihrer Eltern Gesinnung Lügen strafen, wenn Sie hier die Herrin werden? Wenn Sie von einem guten, weichherzigen Manne sich adoptiren lassen und als Adoptivtochter annehmen, was er aus freien Stücken Ihnen vermacht, er, der fremde Mann, Ihnen, die Sie ihm nichts sind als Regine Bertram ….“

Regine zuckte unmerklich die Schultern und, zurücktretend, ließ sie sich wieder in ihrem Sessel am Fenster nieder, um stumm hinaus auf die dunklen Tannen zu blicken.

„Aber ich bitte Sie, Regine – Sie müssen doch einsehen … um Gotteswillen, sprechen Sie doch …“

„Sind Sie ein Kind geworden, Leonhard – oder ein Sophist?“ fragte sie mit schmerzlich zuckender Lippe und unsäglicher Bitterkeit.

„Sophist? Sie nennen mich Sophist, weil ich das ausspreche, was in solcher Lage jeder unbefangene, mit richtigem Gefühl begabte Mensch empfinden würde?“

„Was geht mich der Menschen Empfinden an,“ versetzte sie heftig erregt; „ich folge meinem Empfinden, ich thue, was mir mein Herz sagt, und was es mir sagt, das wissen Sie ja …“

„Ich weiß es, aber ich wußte nicht, daß Ihr Herz unerbittlich wie das der Parze sei,“ antwortete Leonhard tonlos und wie schwer getroffen, indem er sich auf den Stuhl neben der Thür niederließ und mit untergeschlagenen Armen den Boden anstarrte.

„Man hat,“ fuhr Regine fort, „meinen Vater mit Verachtung und Haß aus diesem Hause gestoßen; man hat ihn verleumdet und beschimpft und meine Mutter, die von dem geliebten Manne nicht lassen wollte, dahin getrieben, freiwillig den Tod zu suchen; als Gottes Hand ihr aber eine Rettung sandte, hat man das wohl nur beklagt, und als man sie endlich hat ziehen lassen müssen, da wurde sie mit schimpflichem Lärm und Hohn gezwungen, [276] feierlich eine Urkunde zu beschwören, in der sie versprach, daß sie den Namen Dortenbach niemals mehr führen, daß sie niemals ein Anrecht auf die Familie erheben, nie Ansprüche auf irgend ein Erbrecht geltend machen werde. Das hat meine Mutter gern und bereitwillig beschworen, und, wie sie, werde ich das gegebene Wort halten. Ich werde die treue Tochter meiner Eltern sein: was ihnen geschehen ist in diesem Hause, das ist mir geschehen, Leonhard. Mein Vater litt nicht, daß der Name Dortenbach in unserem Hause auch nur genannt wurde. Nur einmal in seinem Leben hat er davon zu mir geredet: er strich mir das Haar aus der Stirn und mit feuchtem Auge und mildem Lächeln mir in’s Gesicht sehend, sagte er: ‚Eines tröstet mich, mein gutes Kind, darüber, daß Du ein Mädchen und kein Knabe bist: ein Sohn würde sich die Adelssippe und sein Recht auf dieser Menschen Erbe nicht aus dem Kopf schlagen können und den Herrn auf Dortenbach spielen wollen. Bei Dir bin ich sicher – Du braver, kleiner Starrkopf Du! Wer wider Deine Eltern war, wider den bist auch Du!‘ In dieser Sicherheit ist mein Vater aus dem Leben gegangen. Und wie hat er rastlos gewirkt, sich keine Ruhe gegönnt und gearbeitet, der gute Vater, um mir ein Vermögen hinterlassen zu können, das, so klein es ist, doch für mich hinreicht … Ich sollte Dortenbach nicht nöthig haben …“

„Wenn nur Dortenbach nicht Sie so nöthig hätte!“ fiel gedrückt und gedämpften Tones Leonhard ein.

„Das haben Sie mir oft gesagt,“ entgegnete Regine wieder mit dem bitteren Aufwerfen der Lippen, „und da es keinen Eindruck auf mich gemacht hat, haben Sie jetzt …“

„Habe ich jetzt? Sie vollenden nicht. Was habe ich?“

„Haben Sie jetzt sehr klug die eigensinnige Regine auf einem anderen Wege dazu bringen wollen, ihren Widerstand aufzugeben und sich Dortenbach gefallen zu lassen. Glauben Sie, ich durchschaute Ihren Plan nicht? O Leonhard, Sie haben mir sehr, sehr wehe gethan, indem Sie mir zeigten, daß Sie vollständig unfähig sind, auf mein Fühlen und Denken einzugehen, unfähig, mein tiefstes Empfinden zu verstehen.“

„Mein Gott, ich habe Ihnen ja Recht gegeben; nur –“

„Nur soll ich durch eine Komödie, welche Ihr mit mir spielen zu können glaubt, gegängelt werden, durch eine Komödie, Leonhard, welche Sie selbst in Scene zu setzen sich nicht gescheut haben …“

„Ich?“ fragte er schmerzlich erstaunt.

„Ja Sie, Leonhard …“

(Fortsetzung folgt.)




Um die Erde.
Von Rudolf Cronau.
Neunter Brief: Ein rother Napoleon.


Es war Anfang der sechsziger Jahre, als in den Gesichtskreis der Bleichgesichter an der Indianergrenze zuerst der Mann trat, der durch seine Thaten zwei Jahrzehnte hindurch den Nordwesten der Vereinigten Staaten in Aufregung hielt. Ein ganzer Sagenkreis spann sich um seinen Namen, und mit Schrecken wurde er genannt, als vor ihm im Jahre 1876 ein tapferer General mit seinem Regimente in den Staub sank.

Es war der Name eines Indianerfürsten, den die gefürchtetsten der Sioux zu ihrem Führer erkoren, der alle kriegerischen Elemente der mächtigen Dacotahs um sich versammelt hatte, des gefährlichsten Feindes der Weißen: Tatanka-iyotanka, bekannter unter seinem englischen Namen „Sitting Bull“ („Der sitzende Büffel“).

Mit vollendetem Geschick wußte dieser rothe Krieger, der eine weitaus bedeutendere Persönlichkeit ist als Cooper’s Chingachgook, seine Unternehmungen zu leiten; seine Kriegszüge waren so meisterhafte Leistungen und bekundeten so großes Talent, daß viele seiner weißen Gegner annahmen, er habe irgendwo eine militärische Erziehung genossen. Des sitzenden Büffels Persönlichkeit war mit Fabeln dieser Art umgeben; bald sollte ihm die Anleitung dieses, bald jenes berühmten Häuptlinges zu Theil geworden sein; bald sollte er seine Kenntnisse durch sein Zusammenleben mit dem Missionär de Smeet empfangen haben, welcher ihn Französisch gelehrt und mit dem Leben Napoleon’s des Ersten bekannt gemacht hätte, sodaß er sich denselben zu seinem Vorbilde genommen habe. Einige Zeitungen brachten sogar die unsinnige Mittheilung, Sitting Bull habe eine sorgfältige militärische Erziehung in West Point am Hudson, der amerikanischen Officierschule, genossen.

Diesen Gefürchteten aufzusuchen, war mein Ziel und, nachdem ich Wochen lang vergeblich den Spuren desselben gefolgt, traf ich ihn endlich als Kriegsgefangenen in Fort Randall, im südlichen Dacotah. Ich will meine Leser nicht mit der Schilderung der langen und langweiligen Reise bis zu dieser Militärstation behelligen; ich führe sie gleich an Ort und Stelle.

Fort Randall hat mancherlei Interessantes zu bieten. Seine Lage am rechten Ufer des Missouri gewährt eine ganze Reihe anziehender Bilder; die Uferbänke des Flusses fallen steil ab und winden sich in schönen Linien; hier und da ist ein wenig Wald, während gen Westen höhere baumlose Hügel emporragen.

Die Besatzung des Forts besteht aus vier Compagnien Negerinfanterie, deren stramme Haltung und regelmäßiger Wachtdienst einen weitaus besseren Eindruck auf mich machte, als der ihrer weißen Collegen in Fort Yates. Obwohl eine schon ziemlich alte Militärstation, hat Fort Randall doch niemals sonderliche kriegerische Ereignisse in seiner Chronik zu verzeichnen gehabt und steht augenblicklich die Besatzung allein mit der weiblichen Bewohnerschaft der siebenzig Meilen südlich gelegenen Stadt Yankton auf dem Kriegsfuß, bis wohin namentlich die weißen Officiere mit Vorliebe ihre Recognoscirungen ausdehnen und von wo sie häufig auch mit süßer Beute zurückkehren. Allerdings soll die Vertheidigung der Yanktoneserinnen gar nicht stark sein, im Gegentheil sagt man ihnen sogar nach, daß sie auch auf ihre Faust Raubzüge unternehmen, bei welchen ihre Wagehalsigkeit sie schon bis unter die Kanonen des Forts getrieben habe.

In weiteren Kreisen wurde Fort Randall erst bekannt, als es zum vorläufigen Internirungsplatze Sitting Bull’s ausersehen wurde. Es war den 24. October 1881, als ich hier anlangte; ich trat gleich, nachdem ich mein Gepäck abgelegt, einen Rundgang durch das Fort an, um mich mit der Lage und den Baulichkeiten desselben einigermaßen bekannt zu machen. Als ich hierbei auch den in keiner Militärstation fehlenden geräumigen Kaufladen betrat, in welchem vom Pfluge bis zum Nagel, vom Seidenkleide bis zum Kattunfähnchen, vom ungeschlachtesten Stulpstiefel bis zum zierlichsten Tanzschuh herunter Alles feil ist, fiel mir sofort unter den zahlreich um die Verkaufstische herumstehenden Indianern eine Gestalt mittlerer Größe auf, ein Mann mit einem massiven Kopfe, breiten Backenknochen, stumpfer Nase und schmalem Munde. Seine Augen wurden durch merkwürdige blaue Brillengläser verdeckt. Gekleidet war die stämmige Gestalt in ein buntes Hemde und blaue Beinkleider, während über die breiten Schultern eine blaue Decke geschlagen war.

Seine glänzenden schwarzen Haare hingen, in pelzumwundene Zöpfe geflochten, über die mächtige Brust herab, während in der langen Scalplocke eine Adlerfeder steckte. Vor mir stand der große Häuptling Sitting Bull, der Schrecken aller Weißen. Noch überflog ich dieses Bild ausgesprochenster Mannheit mit bewundernden Blicken, als der große Krieger schnell auf mich zuschritt, mit dem üblichen indianischen Gruße „hau cola“ mir die Hand bot und durch einen in der Nähe befindlichen Dolmetscher die Frage an mich stellte, ob ich der „Eiampaha“, der „Herold“[1] sei, dessen demnächstige Ankunft vom Hauptquartier der Armee aus im Fort angezeigt worden. Als ich seine Frage bejahte, drückte er mir nochmals die Hand und sagte, daß er mich erwartet habe und sich über mein Kommen freue.

Da die Zeit ziemlich vorgeschritten und ich zum Mittagessen erwartet wurde, so konnte ich mit dem rothen Krieger nur wenige Worte wechseln, versprach aber, ihn bald zu besuchen. Und als ich diesen Besuch am andern Tage ausführte, hieß er mich nochmals willkommen und verstand sich auch nach einigem ängstlichen

[277] Zögern dazu, mir zu einem Portrait zu sitzen, welches – nebenbei gesagt, das einzige Portrait dieses Mannes – meine heutigen Schilderungen begleitet.

Sitting Bull.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

Die Conversation, welche sich, während ich zeichnete, entwickelte, war wirklich interessant. Sitting Bull erzählte aus den Jahren seiner Jugend und seiner Kriegsfahrten; er schilderte mir die Tage seiner Noth und Bedrängniß und malte mir die Qualen seiner jetzigen Lage aus.

„Mein Vater,“ hub er an, „war ein sehr reicher Mann und hatte eine große Menge Ponys in vier Farben. Ponys waren sein Stolz. Viele waren gefleckt, weiß und grau. Ich brauchte nicht zu fragen, wie heute, wenn ich reiten wollte. Mit zehn [278] Jahren war ich ein großer Jäger, und als mein Vater starb, tödtete ich Büffel und ernährte mein Volk. Mit vierzehn Jahren erschlug ich den ersten Feind; ich wurde Häuptling, und mein Volk nannte mich ‚Tatanka-iyotanka‘, den ‚Sitzenden Büffel‘. Ich schlug die Mandanen, die Arikarees und Shoshonen; die Krähen vertrieb ich aus ihrem Gebiet; der Name des ‚Sitzenden Büffels‘ war gefürchtet überall. Jetzt ist die Zahl meiner Tapferen dahingeschmolzen, wie der Schnee vor der Sonne; Pferde und Waffen sind uns genommen; unsere Arme hängen herab, wie die der Todten; es bleibt uns nur übrig, zu sterben auf dem Boden, wo unsere Väter jagten und begraben liegen.“

Als ich Sitting Bull mit den Historien bekannt machte, die bezüglich seiner „militärischen Erziehung“ verbreitet gewesen, entgegnete er ernst:

„Ich fürchtete mich niemals vor meinen Feinden und that mein Bestes, aber meine Erfolge habe ich dem ‚Großen Geiste‘ zu verdanken.“

„‚Eisenauge‘,“[2] fuhr er fort, „wenn Du zum ‚Großen Vater‘ (d. h. zum Präsidenten der Vereinigten Staaten) gehest, so sage ihm, daß ich zu leben wünsche wie ein Weißer, sage ihm, daß ich im nächsten Frühlinge Heerden und eine Farm zu haben wünsche, die mich ernähren können; denn ich mag nicht von den Rationen leben, die uns täglich zugetheilt werden; ich wünsche mir selbst zu helfen. Ich möchte am Cannon Ball River leben; dort ist gutes Land, Wasser und Holz, dort ist der Platz, wo ich geboren wurde. Ich wünsche, daß Lehrer dort in der Nähe seien, die meine und meiner Krieger Kinder lehren; ich wünsche, daß dort Schmiede und Handelsleute wohnen, mit denen wir in Verbindung treten können. Sage dem ‚Großen Vater‘, daß ich nicht rede, um zu reden; mein Herz ist gerade und will, was ich sage.“

Uebrigens ist Sitting Bull auch schon selbst als sein eigener Biograph thätig gewesen. Im Museum zu Washington befindet sich nämlich seine in Bildern ausgedrückte Lebensbeschreibung, im echten Stile der indianischen Malerei von ihm selbst gefertigt. Sie enthält eine große Zahl von Darstellungen aus der Geschichte seines eigenen Lebens bis zum Jahre 1870. Jede Skizze ist roh mit Blei oder Tinte entworfen, die Bilder der Männer und Pferde manchmal roth und blau angemalt mit Buntstiften.

Das erste Blatt stellt ihn als jungen Mann dar, der, noch ohne Ruf und ohne Federschmuck, einen Krähenindianer niederreitet, welcher mit dem Bogen auf ihn zielt. Sitting Bull’s Symbol oder Namenszeichen, ein kauernder Büffel, ist an einer aus seinem Munde gehenden Linie über ihm gezeichnet, während auf dem Schilde das Bild eines Adlers sich befindet. Das vorletzte Bild zeigt ihn, wie er als Häuptling der starken Herzen mit seiner Bande in ein Lager der Crows einbricht und dreißig derselben tödtet.

Der letzte Krieg, welcher Sitting Bull und seinen Getreuen den Untergang brachte, entspann sich in eben dem Jahre, in welchem die ersten Gerüchte über den angeblichen Goldreichthum der „schwarzen Berge“ sich verbreiteten, deren ungestörter Besitz mit allem Lande am oberen Missouri bis zu den Quellflüssen des Yellowstone den Dacotahs durch einen von den Generalen Harney und Terry abgeschlossenen Vertrag gewährleistet worden war. Die Geschichte dieser Kämpfe ist schon früher (vergl. Jahrg. 1876, Nr. 33) in der „Gartenlaube“ ausführlich besprochen worden.

Der Krieg war ein Kampf bis auf’s Messer und fand seinen Höhepunkt in der am 26. Mai 1876 stattgefundenen Schlacht am Little Horn River, in welcher General Custer mit seiner ganzen etwa 300 Mann zählenden Abtheilung von den Dacotahs umzingelt und niedergemetzelt wurde. Nicht ein Weißer entrann; nur ein indianischer Läufer war der Ueberbringer der Kunde, die am grünen Tische zu Washington und in den ganzen Vereinigten Staaten namenloses Entsetzen erregte. Man befürchtete das Schlimmste und sandte darum in aller Eile drei Armeecorps nach dem Yellowstone, um den kühnen Indianerfürsten zu strafen. Doch dieser wich mit vollendetem Geschicke der Uebermacht aus, brachte den Truppenmassen große Verluste bei und überschritt nach langen Kämpfen im September 1877 die canadische Grenze, wo er an den Wood Mountains ein Lager bezog.

Vier Jahre verbrachte er unter dem milden Scepter der Königin Victoria, als es aber keine Büffel mehr zu jagen gab, die Hungersnoth mit all ihren Schrecken ihm und den Seinen in das Antlitz starrte, fast alle seine Krieger von ihm wichen, da ward allmählich sein stolzer Sinn gebrochen, und er versammelte am 19. Juli des Jahres 1881 die Letzten seiner Getreuen um sich, um in Fort Bufford sich seinen verhaßten Feinden zu ergeben. Angesichts des dort Commandirenden verharrte der stolze, durch die Noth bezwungene Mann einige Minuten in tiefem Schweigen; dann befahl er seinem kleinen Sohne, dem amerikanischen Officier seine Flinte zu übergeben, und als dies geschehen, sagte er:

„Ich überreiche Ihnen dieses Gewehr durch meinen Sohn. Er ist ein Freund der Amerikaner geworden. Ich wünsche, daß er die Gebräuche der Weißen kennen lerne und daß er erzogen werde gleich den Söhnen dieser. Ich wünsche, daß man des Umstandes eingedenk bleibe, daß ich der Letzte meines Stammes war, der sein Gewehr übergab. Ich gab es Ihnen, und jetzt möchte ich wissen, wie wir uns nähren sollen. Was Sie zu geben und zu sagen haben, möchte ich jetzt empfangen und hören; denn ich will nicht länger im Dunkeln gehalten werden. Von den Boten, welche ich von Zeit zu Zeit hierher gesandt, ist keiner mit Nachrichten zurückgekehrt. ‚Krähenkönig‘ und ‚Gall‘ wollten nicht, daß ich komme, und niemals habe ich gute Nachrichten von denselben erhalten. Dies ist mein Land, und ich will nicht genöthigt werden, dasselbe aufzugeben. Als ich das Land der ‚Großen Mutter‘ (Königin Victoria) verlassen mußte, war mein Herz sehr traurig. Sie war mir eine Freundin, jedoch ich will, daß meine Kinder in meinem Heimathslande aufwachsen, und ich wünsche, daß alle Krieger unseres Stammes aus einer uns gehörigen Reservation am kleinen Missouri zusammen wohnen möchten.“

Am 29. Juli wurde der „Sitzende Büffel“ mit seinem Gefolge auf dem Dampfer „Sherman“ nach Fort Yates gesendet. Dort verblieb er nur kurze Zeit; die Bleichgesichter fürchteten den entwaffneten Löwen und seine gewaltige Redekunst, und so ward er am 10. September 1881 mit seinen ihm in den Tagen des Unglücks treu gebliebenen fünfundvierzig Kriegern und den Frauen und Kindern derselben nach Fort Randall eingeschifft. Die zusammen hundertachtundsechszig Köpfe zählende Gesellschaft langte nach siebentägiger Fahrt an dem Bestimmungsorte an, zum heillosen Schrecken der ganzen Garnison und Bevölkerung, die Hals über Kopf, als sie durch Depeschen über den zu erwartenden Besuch unterrichtet wurden, die umfassendsten Vorkehrungen trafen, um die furchtbaren Gäste zu empfangen. Man hatte ein Fleckchen Land mit zehn Fuß hohen, mannsdicken Palissaden eingezäunt, welche von einem kleinen mit Schießscharten versehenen Blockhause überragt wurde, sodaß man von demselben aus ein mörderisches Gemetzel unter den innerhalb des Palissadenviereckes Befindlichen hätte anrichten können.

Als nun die Gäste kamen, war die ganze Garnison mit scharfgeladenen Gewehren und Geschützen consignirt worden, und auf’s Höflichste wurden die Indianer aufgefordert, gefälligst in den besagten Kraal hineinzuspazieren. Doch diese weigerten sich auf’s Entschiedenste und sagten, lieber würden sie sterben, als sich einer Heerde Kälber gleich einsperren lassen, und so wies man ihnen endlich einen Platz westlich vom Fort an, der von starken Posten bewacht wurde und jederzeit mit Kanonenfeuer bestrichen werden konnte. Erst als man sah, daß sich mit den „rothen Teufeln“ ganz gut verkehren ließ, schwand die Furcht; man räumte ihnen nach und nach kleine Vergünstigungen ein und verlegte das Lager, als die Winterstürme kamen, in die durch Baumwuchs geschützte Niederung am Flusse.

Dort lebt nun der rothe Napoleon; seine Macht ist gebrochen, aber dennoch blicken auf ihn die Augen aller Häuptlinge, ihn um seinen Ruhm beneidend, ihn, der mit den fünfundvierzig ihm treugebliebenen Kriegern traurig am Ufer des Missouri sitzt und geduldig wartet, welches Schicksal über ihn verhängt werden wird.

Unter den Getreuen Sitting Bull’s, unter denen namentlich Heutopa („Vierhörner“) und Wakia-luta (der „Rothe Donner“), als die einflußreichsten Häuptlinge hervorzuheben sind, befand sich [279] auch ein Brüderpaar, in dessen Zelte ich manche Stunde verweilte. Der ältere der Beiden, Tatanka washila („Ein Büffel“), war ein schöner Mann von ebenmäßigem Bau, der einen wahren Apollo-Kopf auf seinen Schultern trug, und in diesem wieder ein Paar Augen, um deren willen er der stille Liebling der Randaller Damenwelt war. Der rothe Krieger, mein specieller Freund, war das personificirte Ideal einer Cooper’schen Indianerfigur, ein Unkas, aber mannhafter, reifer, fertiger und edler in seinen Bewegungen. Obgleich er kaum siebenundzwanzig Jahre zählte, hatte er doch schon acht Frauen gehabt und wieder verkauft und stand während meiner Anwesenheit im Begriff, sich eine neunte zu nehmen, über welches Vorhaben aber seine jetzige Ehehälfte so in Aufregung gerieth, daß sie ein Messer ergriff, die Zeltwand kreuz und quer zerschlitzte und dann mit ihrem Kinde auf und davon ging. Erst am Tage nachher fanden die hinter ihr hergesandten Indianerpolizisten die Unglückliche ganz tiefsinnig am Ufer des Flusses sitzen, und es gelang erst nach häufigem Zureden, sie zur Rückkehr in das Zelt ihres Gemahls zu bewegen, der seine weiteren Heirathsgelüste einstweilen unterdrückte.

Ein nicht minder curioser Kauz war sein achtzehn Jahre alter Bruder, der „Große Mann“. Alles Geld, das diesem in die Hände fiel, ward sofort in Haaröl angelegt, von welchem Stoffe er, der Zahl der leeren Flaschen nach, Unmassen verbrauchen mußte. Beständig hatte er in seinem Cigarrenkästchen zu kramen, in welchem bunt durch einander Farbenbeutelchen, Perlen, Spiegel, Bildchen und Haarölfläschchen lagen. Der „Große Mann“ gehörte entschieden zu den Erfindern; durch Zusammenschütten von drei oder vier verschiedenen Sorten des Oeles suchte er stets neue Parfüms zu erfinden; er goß rothes, gelbes und grünes zusammen, wobei es ihm manchmal freilich passirte, daß sich die diversen Oele und Farben gar nicht mischen wollten. Die vollen Flaschen wurden der Vorsicht halber an die langen Haarzöpfe oder an die Bänder seiner turbanähnlichen Kopfbekleidung gebunden, und so baumelte jederzeit ein halbes Dutzend Fläschchen von allerhand Farben auf seinem bunten Rücken umher.

Interessant war der Tag, an welchem Herr Schenk, der Clerk des Quartiermeisters, zum Besten der Indianer eine Ausstellung meiner Zeichnungen, wohl die erste Kunstausstellung im fernen Westen, arrangirte. Natürlich war dieselbe bescheiden und umfaßte nur dreißig meiner ausgeführteren Skizzen und Farbenstudien, die auf einer großen, als Hintergrund dienenden dunklen Wolldecke aufgereiht waren. Die gesammte Bevölkerung des Forts war durch Circulare eingeladen worden. Nach Mittag – es war Sonntag – erschien denn auch das schaulustige Volk, zuerst die Officiere mit ihren Damen, ein Bischof, der den Vormittag hier gepredigt, dann die Sergeanten und Soldaten, zuletzt die Indianer. Das dankbarste Publicum waren unstreitig die letzten Besucher. Die ganze Sitting Bull’sche Bande, vom ältesten Weibe bis zum jüngsten Kinde, stand vor den Skizzen versammelt, selbst ein äußerst malerisches, vielfarbiges Bild darstellend. Aus all den dunklen und bemalten Gesichtern blitzten die tiefschwarzen Augen, die mit gespanntester Aufmerksamkeit auf die Bilder gerichtet waren. Dazwischen fröhliches naives Lachen und Durcheinanderschwatzen, wenn sie den Einen oder Anderen ihrer Angehörigen auf dem Papiere erkannten.

Wir hatten durch die Ausstellung ein ganz leidliches Sümmchen eingenommen und händigten dieses Sitting Bull mit der Bitte ein, nach seinem Gutdünken zum Besten seines Volkes damit zu verfahren. Er legte die Geldstücke auf seine flache Hand und ließ nun alle Indianerinnen, eine nach der anderen, herantreten, damit jede zwei Stücke nehmen könne; als das geschehen, schien es dem Häuptling, daß Weiber und Kinder nun genug gesehen, und er jagte sie ohne viele Umstände zum Tempel hinaus. Er selbst ließ sich dann im Kreise seiner Krieger nieder, die Augen unverwandt auf die Portraits geheftet, in deren Mitte sein eigenes Bildniß im vollen Schmucke seiner Häuptlingswürde prangte. Mit besonderer Inbrunst ruhten die Blicke der wilden Krieger auf den Gesichtszügen ihrer im fernen Norden weilenden Cameraden. Wie stille Gebete glitten die Namen dieser Fernen über die Lippen der ernsten Beschauer, die nicht eher wichen, als bis die Dunkelheit hereinbrach. – –

Als endlich nach längerem Aufenthalt in Fort Randall die Zeit meiner Abreise herangekommen war und sich das Gerücht verbreitete, daß ich mich anschickte, meinen rothen Freunden den letzten Besuch abzustatten, fanden sich schnell die hervorragendsten Häuptlinge und Krieger im Wigwam ihres Führers zusammen. Nachdem die Pfeife die Runde gemacht, redete Sitting Bull mich feierlich also an:

„Eisenauge, die Zeit war kurz, welche Du unter meinem Volke lebtest. Aber sie war doch lang genug, um uns erkennen zu lassen, daß Du als Freund kamest und gute Wünsche für uns hegtest. Du willst gehen, und wir sind traurig, daß wir Dich niemals wieder sehen werden. Die Dacotahs schütteln Dir die Hand. Sie werden noch lange am Feuer von Dir erzählen.“

„Hau, hau!“ riefen die Anwesenden.

Ich antwortete: „Mehrmals wird der Winter kommen, ehe ich in das Land meiner Väter zurückkehre. Viele fremde Völker werde ich sehen, die viele verschiedene Sprachen reden; ich wünsche nur, daß diese Völker Euch gleich sein möchten. Ich habe nur Gutes über Euch zu berichten und freue mich, in Eurer Erinnerung fortzuleben.“

Der Häuptling bat mich darauf, ihm meinen Namen aufzuschreiben und zwar mit großen Buchstaben, sodaß er dieselben nachmalen könne; er bat mich nochmals, dem „Großen Vater“ zu sagen, daß er leben wolle wie ein Weißer, daß er seine Kinder zur Schule zu senden wünsche, damit sie lesen und schreiben lernten. Nachdem wir dann noch Einiges mit einander geplaudert, brach ich auf, schüttelte Allen die Hände und wandte mich zum Gehen. Da erhob sich noch einmal der große Häuptling und sprach:

„Eisenauge, kehre zurück – und Du wirst uns immer als Freunde finden. Möchten die Wasser Dich glücklich tragen und Wakan tanka, der Große Geist, Dich schützen vor allen Gefahren.“

Damit schüttelte er mir herzlichst die Hand und kauerte dann in Schweigen am rauchenden Feuer nieder.

Tatanka washila, mein rother Freund, hingegen folgte mir nach und rief:

„Bleibe nicht lange, mein Freund, bleibe nicht lange!“

So war mein Abschied von den Söhnen der Wildniß, denen man so oft jedes tiefere Gefühl, jede bessere Regung abspricht.

Mir war das Herz schwerer, als hätte ich Brüder verlassen.

Und als am anderen Morgen die ansteigende Sonne die Wölkchen röthlich färbte, in ihrem Strahl die stillen, einsamen Berge klar und deutlich lagen, als wollten sie all ihre Geheimnisse offenbaren, da rauschte es, indem die Signale des Dampfers zur Abfahrt tönten, noch einmal in den Büschen am Ufer – und heraus trat ein Indianer in vollem Schmucke, das Gesicht röthlich strahlend, gleich der Morgensonne, über dem dunklen Haar die langen Adlerfedern. O, die Gestalt war mir wohl bekannt – es war Tatanka washila, mein Freund, der gekommen, mir noch einen Abschiedsgruß zu bieten. Durch Geberden deutete der am Ufer Stehende an, daß er mir noch einmal die Hand schüttle; lange blickte er mir, dem Scheidenden, noch nach, so lange, bis eine Strombiegung den Dampfer wie den weißen Fremdling seinen Augen entrückte.




Englische Kaffeeschenken.

Eine Waffe im Kampfe für die Mäßigkeitsbestrebungen.

So alt die Mäßigkeitsbewegung in England ist, hat sie ihre wichtigste Entdeckung doch erst vor wenigen Jahren gemacht und demnach auch jetzt erst ihr wirksamstes Kampfmittel im Kriege gegen die Unmäßigkeit in Anwendung gebracht. Die neue Entdeckung ist aber die, daß von Haus aus nicht Bier oder Branntwein den Arbeiter in die Schenke lockt, sondern umgekehrt, daß die Schenke ihn an den Genuß von Spirituosen gewöhnt; das hiergegen alsbald angewendete Mittel sind nun Schenken, in welchen weder Branntwein noch Bier, sondern nur Kaffee, Cacao oder Thee und im Sommer kohlensaure Getränke zu haben sind. Der Schnapsschenke tritt die Kaffeeschenke gegenüber und ringt mit ihr um die Herrschaft über die, welche der Schenke nicht entbehren können.

Ich höre fragen: „Warum bleibt der Arbeiter aber nicht zu Hause bei Frau und Kindern?“

[280] „Selbst wenn seine Wohnung behaglich ist,“ antwortet hierauf eine englische Agitationsschrift, „– und nur zu häufig ist ja das Gegentheil der Fall – kann der Arbeiter doch nicht seine ganze Mußezeit in ihr verbringen. Sie besteht vielleicht aus einem einzigen kleinen Zimmer, in welchem er kaum die Beine recht auszustrecken vermag und in dem alle häuslichen Geschäfte vor sich gehen. Lesen ermüdet ihn rasch, auch wenn er es gelernt hat, und andere Beschäftigungen bieten sich ihm daheim nicht dar. Nach einem kleinen Gespräche mit der Frau und einem Spielchen mit den Kindern sucht er daher die Gesellschaft seiner Cameraden auf. Mit ihnen läßt sich über Dinge sprechen, welche ihn angehen und interessiren. Wo aber sind diese zu finden? Im Wirthshause.“

Ohne Zweifel übt auch das Getränk, welches dort genossen wird, eine gewisse Anziehungskraft aus. Es wird sogar leider immer anziehender, immer unwiderstehlicher, je häufiger man es genießt, aber der Hauptmagnet ist es im Anfang durchaus nicht. Diesen bildet für den Arbeiter eben das Zusammentreffen mit Seinesgleichen.

Man muß also Wirthshäuser aufthun, wo der gewöhnliche Mann seine Freunde treffen, mit ihnen schwatzen und rauchen kann, wo sich die Spiele vorfinden, mit denen er vertraut ist, und wo statt der so leicht zum Uebermaß verführenden und dann so verderblichen Spirituosen jene ebenfalls anregenden, heiter stimmenden Gaben der tropischen Sonne ausgeschenkt werden, die weder berauschen noch den Menschen verhängnißvoll herunterbringen. So stellt man seinem freien Entschlusse die Wahl zwischen Nüchternheit und Behagen zur einen Hand, Ausschweifung und Elend zur andern.

Wieviel in diesem Gedanken steckt, hat Großbritannien in den letzten sechs Jahren erfahren. Bis 1876 gab es nur vereinzelte, wenig bekannte Anfänge zu seiner Verwirklichung. Zwischen dem 1. Mai 1876 und dem 17. Juni 1879 aber wurden 156 Actiengesellschaften zur Errichtung von Kaffeeschenken in England und Wales in’s Handelsregister eingetragen, dazu eine auf der Insel Man und eine auf der Insel Jersey. Schottland und Irland wurden dann ebenfalls in die Bewegung hineingezogen, die nun bereits das Meer überschritten und Ausläufer nach Canada und Australien, den Niederlanden, der Schweiz und Schweden und auch nach zwei deutschen Städten entsendet hat.

In den heimischen wie auswärtigen Fortgang dieser Mäßigkeitsbewegung griff es kräftig befördernd ein, daß am 21. Juni 1877 unter dem Vorsitz des Herzogs von Westminster eine eigene Gesellschaft zum Betriebe der Gründung von Kaffeeschenken in’s Leben gerufen wurde, die seit dem November desselben Jahres auch ein besonderes Monatsblatt herausgiebt. Man schätzt jetzt die Zahl der Kaffeeschenken im Lande auf 3000, in London auf 300, in Liverpool auf 50. Für die kurze bisher verstrichene Zeit ist dies bei einer ganz auf freiwillige Annahme hinauslaufenden Bewegung geradezu beispiellos.

Es wäre aber auch sicher nicht entfernt an solchen Erfolg zu denken gewesen, hätte man die neuen Schenken dem ihrer bedürfenden Volke gewissermaßen schenken wollen. Das Geld, obgleich es in dem reichen, wohlthätigen England für philanthropische Zwecke leichter und massenhafter zusammenzubringen ist als anderswo, würde schon wegen der Vielgestaltigkeit der sich ihm aufdrängenden oder einschmeichelnden Verwendungen selbst in viel längerer Zeit zur Begründung dieser Zahl von Kaffeeschenken nicht hingereicht haben. Aber die Urheber der Reform wendeten sich vielmehr an all das Capital, welches für gute, sichere Zinsanlage zu haben ist. Sie machten ihre Kaffeehäuser einträglich und verschafften ihnen dadurch eine Vervielfältigungsfähigkeit, die, praktisch betrachtet, in’s Unendliche geht.

Nach einer Uebersicht der im vorigen Jahre bekannt gemachten Geschäftsergebnisse von siebenunddreißig Kaffeehaus-Actiengesellschaften gaben nur sieben keine Dividende, während der Durchschnitt der von den übrigen dreißig Gesellschaften gezahlten Dividenden 8 ⅓ Procent betrug. Was kann der Capitalist heutzutage, wo die Geschäftsgewinnste im Allgemeinen stetig abnehmen, mehr wünschen?

Nicht alle Gesellschaften zwar floriren. Von den in London arbeitenden scheint im vorigen Jahre nur eine einzige an ihre Actionäre Gewinn vertheilt zu haben. Ueberhaupt breitet sich in dieser Riesenstadt die Kaffeehaus-Unternehmung zwar immer mehr aus, aber ohne so gesund zu gedeihen wie in den nächstgroßen Städten Englands, Liverpool, Birmingham, Leeds, Bradford etc. Einige schlecht begründete oder schlecht geleitete Gesellschaften sind bald wieder eingegangen. Zahlreiche Kaffeeschenken befinden sich auch in Privateigenthum, und das sind nicht die mindest blühenden, zumal wenn der Inhaber sammt seiner Familie selbst die Gäste bedient.

Besonders wichtig ist die neue Einrichtung für die zahlreichen Dockarbeiter Liverpools geworden. Längs der sieben englischen Meilen, in denen sich die Docks am Merseyflusse erstrecken, sind 15,000 Arbeiter täglich beschäftigt, deren leibliche Erquickung früher mehr als 100 Schnapskneipen sich angelegen sein ließen. Bei der großen Entfernung von Hause pflegt der Dockarbeiter seine Hauptmahlzeit morgens gleich fertig mitzubringen. Er kann dazu nun, wenn er will, Kaffee oder Cacao statt Schnaps oder Bier trinken, und wie der Correspondent eines zu Toronto in Canada erscheinenden Blattes versichert, der am letzten 4. August die Liverpooler Docks besuchte, kommen jetzt Zehn auf Einen, die Jenes vorziehen. In allen Kaffeeschenken der Gesellschaft sind an einem bestimmten Tage nicht weniger als 35,000 Gäste gezählt worden, und ihre Einnahmen beliefen sich im Jahre 1880 auf 1,240,000 Mark.

Die Dockarbeiter Liverpools haben offenbar rasch herausgefunden, was eine andere Gattung schwer und anhaltend beschäftigter Leute schon vor ihnen wußte: daß die kraftvermehrende augenblickliche Wirkung des Branntweins kurz dauert und sich durch verdoppelt nachfolgende Müdigkeit rächt, während Kaffee anspornt, ohne so nachtheilige Folgen der erhöhten Anstrengung zu hinterlassen. Von jeher haben deshalb jene Hochseefischer, die mit dem schweren Grundnetz, Kurre oder Trave genannt, über den Boden des Meeres hinwegschleifen, ihre keine willkürliche Unterbrechung duldende Arbeit nicht mit Schnaps, sondern mit Kaffee gefördert. Die deutschen Unternehmungen dieser Art, welche nach der Gründung des norddeutschen Bundes in den Hansestädten entstanden, leider ohne sich zu halten, gaben ihren Leuten nur Kaffee an Bord, und die Mannschaft war damit sehr zufrieden.

Daß von den Getränken der neuen Schenkengattung insbesondere der Kaffee mit dem Branntwein und dem Bier an Wohlfeilheit rivalisiren kann, ist außer allem Zweifel. Die Londoner Schenken geben die kleine Tasse Kaffee oder Cacao von ½ Pint (= ¼ Liter) Inhalt für 1 Penny oder gar für ½ Penny, das heißt für 8 bis 9 oder 4 bis 5 Pfennig unseres Geldes, die große Tasse dann, je nachdem, für 1 ½ oder 1 Penny. Thee ist theurer: die kleine Tasse kostet allemal schon 1 Penny, die große 2 Pence. Dies erklärt, weswegen das in England sonst soviel weiter verbreitete, beliebtere Getränk der Chinesen dem der Araber und Türken in der Volksversorgung den Vorrang hat abtreten müssen. Eine gedruckte Anleitung zur Errichtung von Kaffeeschenken, welche von dem englischen Kaffeehausverein verbreitet wird, empfiehlt den allerbesten Kaffee zu nehmen, nämlich feinen ostindischen, der theurer ist als Plantagenkaffee von Ceylon; von Thee räth die Anleitung eine Mischung aus China- und Assamsorten an, wie solche in diesem Handel ohnehin längst üblich ist.

Was Deutschland betrifft, so existiren in Berlin seit den letzten drei bis vier Jahren drei Kaffeehäuser, in Bremen seit Mitte Januar dieses Jahres eins. Es sind Schöpfungen der Nächstenliebe, nicht allein in dem Sinne, wie es die ganze englische Agitation für Kaffeeschenken ist, sondern auch der Einrichtung und Wirthschaft nach. Das eigentlich schöpferische Princip, aus welchem allein die Concurrenz in Massen mit den Branntweinschenken und Bierhallen hervorgehen kann, haben wir uns folglich noch nicht entschieden angeeignet. Man darf indessen auch nicht übersehen, daß in England diese kräftig gedeihende junge Pflanzung auf dem durchgearbeiteten fruchtbaren Boden einer fünfzigjährigen großartigen Mäßigkeitsbewegung steht, während unsere deutschen Enthaltsamkeitsvereine seit einem Menschenalter bis auf einige zerstreute Reste wieder verschwunden sind.

Soll das britische Beispiel also nachgeahmt werden, so wird vielleicht zu allererst ein Ersatz für diese Vorbedingung des drüben erreichten Erfolgs zu schaffen sein: es muß ein starker moralischer Eindruck auf das Publicum hervorgebracht werden, welcher darthut, daß dergleichen Kaffeeschenken nützlich, gut und nothwendig sind, daß ferner damit Niemandem ein Unrecht geschieht und dem Arbeiterstande, ohne ihm Zwang aufzuerlegen, eine große unschätzbare Wohlthat erwiesen wird, woraus dann die Stimmung entstehen würde, welche die Voraussetzung bilden muß zu den ersten Versuchen auf umfassender Grundlage und mit durchschlagenden Mitteln und Kräften. Das Bedürfniß an sich wird auch in Deutschland nicht leicht ein unbefangener Kenner der Volkszustände in Abrede stellen können.

A. Lammers.
[281]
Die Internationale Kunstausstellung in Wien.

Die vielverlästerte „Zeit des wirthschaftlichen Aufschwunges“, welche im Jahre 1873 gleich nach Eröffnung der Wiener Weltausstellung ein so jähes und schreckhaftes Ende fand, war auch für die Kunst Oesterreichs eine Zeit der Blüthe gewesen. Die Kunst gehört einmal zu den holden Ueberflüssigkeiten des Lebens; der Luxus ist eine Vorbedingung ihrer Existenz, und Reichthum und Glanz bilden ihr eigentliches Lebenselement, während sie in der Atmosphäre der Armuth, in dumpfer Dürftigkeit nur kümmerlich vegetirt und endlich ganz abstirbt. Das Talent selbst ist freilich unabhängig von der reinen Zufallsfrage, ob sein Träger mit äußern Glücksgütern reich gesegnet ist oder nicht – allein diesem Talent fehlt die Gelegenheit sich zu entwickeln, sich schaffensfreudig voll und ganz auszugestalten, wenn ihm nicht von außen her Mittel und Anregung, und zwar, um deutlich zu sprechen, klingende Mittel und baare Anregung zufließen.

Aus der hier gebotenen Andeutung erhellt, wie es um das Kunstleben in Oesterreich nach dem ominösen „Krach“ bestellt sein mochte. Die ganze Gesellschaft sah sich in ihrem Besitzstand bedroht, große und bis dahin bezüglich ihrer Sicherheit und Solidität über jeglichen Zweifel erhabene Vermögen waren plötzlich verhängnißvollen Erschütterungen ausgesetzt worden – Allen lag Alles näher, als sich das Leben durch die Erzeugnisse der Kunst zu verschönen. Wer konnte an Luxus denken, und war er auch noch so edel und erhebend, wo es sich um die Existenz selbst, um Ehre und Vermögen, um Sein oder Nichtsein in finanzieller und gesellschaftlicher Beziehung handelte? Auf wenige fette waren die sieben mageren Jahre für Kunst und Künstler in Oesterreich gefolgt. Die Bestellungen blieben plötzlich aus, und die Production erlahmte. Der Kunstmarkt, auf welchem sich erst kurz vorher ein so erfreulich lebhafter Verkehr etablirt hatte, war plötzlich völlig verödet, und nicht einmal die Kunstwerke, welche als Reste eines rasch verschwundenen Reichthums auf den Markt geworfen wurden, um ihren verunglückten Besitzern nur einen kleinen Theil dessen, was sie gekostet, wieder hereinzubringen, fanden Abnehmer, sodaß auch der durch dieses Ausgebot um jeden Preis verursachte Scheinverkehr auf dem Kunstmarkte den Künstlern eher noch schädlich als ersprießlich war.

Nicht willkürlich und nicht ohne Grund haben wir die hier geschilderten Verhältnisse berührt; wir haben damit in wenigen Worten den Grund und Boden charakterisiren wollen, aus welchem heraus mit einer gewissen Nothwendigkeit die Idee zu der großen internationalen Kunstausstellung in Wien erwuchs. Mit zwingender Kraft hatte sich die Erkenntniß geltend gemacht, daß etwas geschehen müsse zu Gunsten der schwer betroffenen österreichischen Kunst.

Die wirthschaftlichen Verhältnisse hatten sich in den letzten Jahren allerdings wieder einigermaßen gebessert, aber noch lange nicht in dem Grade, daß sie schon genügende Mittel zur Förderung der Kunst hätten schaffen und darbieten können. Es sollte also der Versuch gemacht werden, die internationale Aufmerksamkeit auf den österreichischen Kunstmarkt zu lenken, die ja früher, wenigstens theilweise, einmal schon gewonnen war und die sich dann wieder verloren hatte. Das Beispiel der wichtigeren deutschen Kunstcentren, die ja alle weit mehr für den internationalen als blos für den heimischen Bedarf arbeiten, wirkte belehrend und anfeuernd, und so entstand das Werk der ersten internationalen Kunstausstellung in Wien.

Schon heute, wenige Tage nach ihrer Eröffnung, läßt es sich aussprechen, daß der durch sie verfolgte Zweck thatsächlich erreicht werden dürfte; denn in der That bildet Wien während der Dauer der Ausstellung den Brennpunkt für das europäische Kunstinteresse, und es kommt nun Alles nur darauf an, daß dieses Interesse sich nach Wien gewöhne, und daß die österreichische Kunst dafür sorge, daß es sich nicht wieder von dort fortgewöhne.

Es mußten schwere Opfer gebracht werden, um die Ausstellung zu ermöglichen. Das Künstlerhaus (vergl. die obenstehende Abbildung) erwies sich für das Unternehmen als zu klein; die Genossenschaft der Künstler mußte sich also entschließen, das Haus, ein kleines bauliches Juwel, durch Zubauten, die ihm wahrlich nicht besonders zu Gesicht stehen, zu vergrößern. Dazu war Geld, viel Geld nöthig – opferwillige und hochsinnige Kunstfreunde brachten es auf. Es mußten Servitute, die für die Ewigkeit berechnet schienen, gelöst, einer der schönsten Plätze Wiens in seiner reizvollen architektonischen Gesammtwirkung wesentlich beeinträchtigt werden – Alles wurde der Genossenschaft bewilligt, weil man allenthalben von der Wichtigkeit des Unternehmens durchdrungen war.

Die materielle Unterstützung freilich, die der Staat der Ausstellung widmete, war nicht eben sehr ausgiebig, zumal wenn man berücksichtigt, daß er dadurch, daß die kaiserlich königliche Akademie der bildenden Künste neben der Genossenschaft als Mitunternehmerin der Ausstellung auftrat, selbst ein lebhaftes Interesse an derselben haben mußte. Es wurden im Ganzen 30,000 Gulden votirt, die zum Ankaufe von Kunstwerken und zur Herstellung der erforderlichen Medaillen verwendet werden sollen. Die Summe nimmt sich neben den Beträgen, welche das deutsche Reich und Frankreich zur würdigen Beschickung der Ausstellung ihren Commissionen zur Verfügung gestellt haben, nicht eben sehr ansehnlich aus. –

Soviel über die Vorgeschichte der Ausstellung! Sie ist, wenn man absieht von der imposanten Sammlung, welche in der „Kunsthalle“ der Wiener Weltausstellung zur Anschauung gebracht wurde, die erste ihrer Art in Wien. Nun ist das Werk fertig, und wir können daran gehen, eine kurze Schilderung seines Gesammtcharakters zu liefern. Eine eingehende kritische Würdigung der einzelnen Ausstellungsobjecte muß den Fachjournalen und dem Feuilleton der Tagesblätter überlassen bleiben; die „Gartenlaube“ hat sich, ihrem universellen Programme gemäß, nur mit dem wichtigen Culturereignisse, das die Ausstellung repräsentirt, als solchem zu befassen. Da die „Gartenlaube“ zudem sich bei Zeiten für ihren illustrativen Theil das Reproductionsrecht einer Reihe werthvoller Gemälde aus der Ausstellung gesichert hat, wird ihr noch Gelegenheit geboten sein, soweit es Raum und Programm des Blattes zulässig erscheinen [282] lassen, sich mit hervorstechenden Einzelheiten der Ausstellung zu beschäftigen.[3]

Die internationale Ausstellung in Wien darf kühnlich als die Quintessenz der europäischen Kunstthätigkeit des letzten Jahrzehntes betrachtet werden. In Berlin wie in Paris, in Stockholm wie in Madrid, in Budapest wie in Brüssel war man mit gleichem Eifer bestrebt, das Beste nach Wien zu senden, was während der letzten Jahre in den Werkstätten der Künstler überhaupt geschaffen worden ist, und wo die Ausbeute aus den Ateliers nicht hinreichte – und sie schien nirgends hinzureichen, oder man wollte sie wenigstens nirgends für hinreichend gelten lassen – da nahm man seine Zuflucht zu den öffentlichen Sammlungen, die zur Contribution herangezogen wurden.

So sind es nicht ausnahmslos neue Bilder, welche die Ausstellung darbietet, vielmehr blickt uns von ihren Wänden manches uns bereits bekannte Kunstwerk an. Nur in der österreichischen Abtheilung sehen wir durchweg neue Bilder; fehlt es Oesterreich doch an öffentlichen Sammlungen moderner Kunstwerke, deren Schätze hier hätten aushelfen können. Gewinnt nun auch diese Abtheilung durch ihre durchgängige Neuheit einen besonders frischen Charakter, so ist doch nicht zu verkennen, daß sie neben den bereits zu allgemeiner Anerkennung gelangten und vielfach mit den höchsten Preisen ausgezeichneten Kunstwerken der übrigen Abtheilungen einen recht schweren Stand hat. Sie ringt erst um die Anerkennung, während die anderen diese schon längst davongetragen und sie nun gleichsam in der Tasche haben.

Das künstlerische Ergebniß des letzten Jahrzehnts, wie es sich im Künstlerhause dem prüfenden Beschauer darstellt, ist im Ganzen und Großen ein erfreuliches: Allenthalben macht sich ein rüstiges Streben kund, und eine frische Farbenfreudigkeit verkündet von allen Wänden herab das Evangelium der modernen Kunst, dieser eigenthümlichen Culturblüthe unseres neunzehnten Säculums, die keine eigentliche Heimath und eben darum vielleicht auch keinen rechten Stil hat. „Die Kunst hat kein Vaterland,“ sagt ein altes Wort, und wenn dessen Geltung im Allgemeinen auch anfechtbar sein mag, so hat es doch, auf die moderne Kunst angewendet, sicherlich Recht. Es besteht in künstlerischen Dingen eine so innige Wechselbeziehung zwischen den verschiedenen Nationen; es werden gegenseitig so vielfache Anregungen gegeben und empfangen, daß schließlich die Ergebnisse der modernen Kunstthätigkeit eine unverkennbare Familienähnlichkeit aufzuweisen haben. In der That trägt keine der verschiedenen Abtheilungen ein bestimmtes nationales Gepräge; es müßte denn sein, daß man schon in rein zufälligen Aeußerlichkeiten, wie in der Wahl des Motivs oder der Costüme, besonders bemerkenswerte künstlerische Merkmale finden wollte. In einer Hinsicht sind indessen die Abtheilungen, auch von nationalem Standpunkte aus betrachtet, instructiv. Sie zeigen, welche Stellung die Kunst bei den einzelnen Nationen einnimmt, und wir sind es der Wahrheit schuldig, zu bekennen, daß hier Frankreich einen besonders hervorragenden Rang einnimmt. Man sieht auf den ersten Blick, daß da nicht nur die Gesellschaft, sondern auch der Staat selbst sich der Kunst angenommen hat.

Dem Beschauer wird es sofort zum Bewußtsein gebracht, daß eine Reihe großangelegter Werke der französischen Abtheilung wohl kaum hätte entstehen können, wenn der Staat nicht seine mächtige Hand zur Hülfe geboten hätte, und so kommt es, daß das, was gemeiniglich die „große Kunst“ genannt wird, eigentlich nur in der französischen Abtheilung vertreten ist. Es ist eine andere Frage, ob und wie weit durch die hier ausgestellten Kunstwerke dem wahren Stile der großen Kunst entsprochen worden ist; Thatsache ist es jedoch, daß die fruchtbaren Anregungen von staatlicher Seite nicht zu verkennen sind.

Einen weniger vornehmen, wir möchten sagen, einen demokratischen und anheimelnden Charakter trägt die deutsche Abtheilung, die nach einstimmigem Urtheil am prächtigsten und geschmackvollsten arrangirt ist. Darin sind die Deutschen dieses Mal selbst den Franzosen, die doch sonst Meister des Arrangements sind, entschieden überlegen. Ein gigantischer Baldachin schwebt in dem Saale und breitet seinen Schatten über die Beschauer, während er auf die Kunstwerke selbst das volle Licht sich ergießen läßt. Gewaltige Blattpflanzen bilden pompöse und wohlthuende Folien für erlesene Werke der Bildhauerkunst; wo es sich schicksam thun ließ, wallen reiche Draperien herab, und kostbare Teppiche theilen ihren bescheidenen Farbenzauber der allgemeinen Farbenharmonie des Raumes mit. Von staatlicher Intervention erzählen hier nur einige wenige Bilder, dagegen zeigen sich die mächtigen Impulse mit voller Deutlichkeit, die ein großartiger Kunstmarkt zu bieten vermag. Die deutsche Kunst hat sich einen guten Theil der civilisirten Welt erobert, und sie hat vollauf zu thun, den Ansprüchen und Bedürfnissen dieser zu genügen. – In Oesterreich ist die große Historie fast gar nicht vertreten, eine staatliche Nachhülfe kaum zu bemerken, und was den Markt betrifft, so soll eben, wie bereits gesagt, die jetzige Ausstellung mit dazu helfen, ihn wieder zu erobern.

In einer Zeit, da der Militarismus so ungeheure Opfer verschlingt, muß man sich wohl oder übel damit abfinden, wenn der Staat zur Pflege der großen Kunst nur geringe Mittel übrig hat. In Deutschland und in Oesterreich hat sich die Kunst auch demgemäß eingerichtet und sich an breite Schichten, an die Nation selbst, oder wenigstens an denjenigen Theil derselben gewendet, der empfänglich ist für die Unterstützung idealer Aufgaben und der auch die Mittel dazu hat, sich seinen Kunstsinn etwas kosten zu lassen. Es ist keine höfische Kunst, die sich breit ausladen könnte auf gewaltigen Flächen; es ist eine gute, frische, gesunde und bürgerliche Kunst, für ein gutes Bürgerheim berechnet, dem sie zum Schmucke dienen soll. Wo sie nicht den starken Rückhalt des Bürgerstandes fühlt, da muß sie in’s Stocken gerathen; darum stagnirt hier wie dort die große Historienmalerei und darum kann auch die religiöse Malerei zu keiner rechten Blüthe mehr gelangen. Um so frischer regt es sich auf dem Gebiete des Genrebildes, der Landschaften, des Portraits und des Stilllebens. Die Ausstellung zeigt, daß Deutschland auf allen diesen Gebieten Männer aufzuweisen hat, welche außerordentlich erfolgreich den Besten der alten Meister nachstreben: Lenbach, Menzel, die Brüder Achenbach, Knaus, Vautier, Defregger, Leibl, F. A. Kaulbach – sie alle sind durch glanzvolle Leistungen vertreten; welch eine Summe von Talent und hoher Kunstfertigkeit drückt sich durch diese Namen aus, und wie glorreich mußte eine Ausstellung werden, auf welcher sie und eine lange Reihe anderer begabter und berühmter Kunstgenossen den Ruhm der deutschen Kunst verkünden!

Und Oesterreich! Seine Kunst hat nicht wie die deutsche das große Hinterland, nicht das Publicum und nicht den Markt, und wie wacker und wie rühmlich hat es sich doch behauptet! Canon, Makart, Angeli geben schon durch ihre Namen der Ausstellung einen gewissen Glanz, aber nicht nur mit Namen wird geprunkt, auch wo der Glanz des Namens fehlt, sind in vielen, sehr vielen Fällen durch und durch tüchtige Leistungen geboten worden. Franz Rümpler hat sich den besten deutschen Genremalern, J. E. Schindler den besten Landschaftern zugesellt. Die Brüder Charlemont und die Brüder Ruß, A. Schönn, E. Felix, Fux, L’Allemand, Probst, Tilgner und viele Andere haben ihre beste Kraft eingesetzt, um die österreichische Kunst vor der Welt zu Ehre und Ansehen zu bringen. Und wie hier, so herrscht in allen Abtheilungen das Bestreben vor, die schönste Blüthe der nationalen Kunstthätigkeit vor den Augen der Welt zu entfalten – es ist eine Freude, durch die Hallen der internationalen Kunstausstellung zu schreiten.

Balduin Groller.
[283]
Die Feriencolonien.
Von Dr. Woldemar Götze.

Es war im Hochsommer des Jahres 1880. In Leipzig hatte man zum ersten Male den Versuch gemacht, arme kränkliche Schulkinder als Feriencolonisten in die heilkräftigen Wälder des Erzgebirges zu entsenden. College B. und ich, mit Familie und ein paar guten Freunden selbst eine kleine Feriencolonie bildend, besorgten die Geschäfte des Leipziger Comités an Ort und Stelle und hatten dafür unser Hauptquartier im Rathskeller des prächtig gelegenen Städtchens Schwarzenberg aufgeschlagen. Wiederum sollte eine Inspectionstour durch alle Colonien ausgeführt werden, und so traten wir denn in der ersten Morgenfrühe, allzu zeitig für städtische Schlafgewohnheiten, unsere kleine Reise auf einem leichten Wagen fröhlich an. Der Thau glänzte auf den Gräsern; vor uns hingebreitet lagen Berge und Thäler, und mit Behagen sogen wir die kühle, erquickende Waldluft in unsere solchem Genusse fast entfremdeten großstädtischen Lungen ein. Der ersten Knabencolonie begegneten wir auf einem Waldspaziergange. Da kamen sie heran, die kleinen Bursche, die Botanisirtrommeln voll Blumen, Kraut und Unkraut, die Taschen voll Steine; der Eine hatte für die Mutter daheim Pilze gesammelt, der Andere für den eigenen Bedarf Beeren in ein Körbchen zusammengepflückt. Mit leuchtenden Augen erzählten sie uns von ihren Erlebnissen und Entdeckungen im Walde und ahnten nicht, welche Freude wir selbst an ihrer Frische und Munterkeit hatten.

So ging es den Tag über weiter von Colonie zu Colonie. Hier waren wir Zeugen des fröhlichen Spieles und Gesanges der Mädchen, dort überraschten wir eine andere Ferienfamilie bei der Siesta nach dem Mittagsbrode, die durch die gemeinsame Lectüre einer schönen Geschichte gefeiert wurde. Eine muntere Schaar, die wir beim Turnreigen in der Scheune getroffen hatten, begleitete uns zur Nachbarcolonie und erzählte uns voll strahlenden Glückes von ihrem Einzuge in das Dörfchen, den sie auf einem mit frischem Grün geschmückten, von Kühen gezogenen Leiterwagen gehalten hatte. Dann wieder plauderten mittheilsame kleine Mädchen uns von der großen Wäsche, welche sie unter der Leitung der wackeren Hausfrau angestellt hatten, und thaten sich auf die Errungenschaft, ihre Kleider und Strümpfe selbst waschen zu können, sichtlich etwas zu Gute. Die Knaben konnten ihre Selbstständigkeit nur beim Reinigen ihrer Kleider und Schuhe, sowie beim Bettmachen bethätigen, doch hatte auch hier die Erziehung zur Selbsthülfe bei manchem ungeschickten Stadtkinde sichtlich gute Früchte getragen.

Ueber dem Wandern und Einkehren kam denn auch der Abend heran. Unser kleiner Wagen hatte schon lange umkehren müssen; wir gingen in Begleitung einer Mädchencolonie dem letzten Ziele der Wanderung, einer auf luftiger Höhe gelegenen Bauernschenke, zu. Unvergeßlich wird mir jener Abendgang durch den schönen Buchenwald sein. Das muntere Mädchengeplauder war verstummt; die Kinder gingen Hand in Hand vor uns her; man spürte es wohl: die Weihe und der Friede da draußen in der Natur hatte mit gleicher Stimmung die jungen Herzen berührt. Da hob eine helle Mädchenstimme den alten, lieben Canon zu singen an: „O, wie wohl ist’s mir am Abend, mir am Abend“ – und so klang gar bald der liebliche Kindergesang in harmonisch sich verschlingenden Tönen durch den stillen Wald.

Später kehrten wir dann in der Bergschenke mit dem prächtigen Blicke auf das uns zu Füßen liegende Schneeberg ein. Ich hätte es den edlen Menschen, die durch ihre Gaben unsere Feriencolonien zu Stande kommen ließen, gegönnt, Zeugen des Appetites zu sein, mit dem hier die Kleinen die frugale Abendsuppe verschwinden ließen. Noch lieber aber hätte ich der Mann sein mögen, den nach dem Abendbrode die kleine Schaar bei seinem Erscheinen mit ausgestreckten Händchen und bittenden Blicken umringte: der Briefträger! So einfach die Worte waren, die in diesen Briefen standen, sie machten die Kinder überglücklich; denn sie waren ein Gruß aus der Heimath, von den Lieben; woben sie doch ein Band zwischen dem Elternhaus und dem fernen Kinde. Vielleicht auch waren Manche, Eltern wie Kinder, durch die Trennung erst darauf geführt worden, wie eng sie zusammengehörten.

„O lieb, so lang du lieben kannst,
O lieb, so lang du lieben magst –“

das war die Empfindung, die den Kindern aus den Augen leuchtete, die ungeschrieben zwischen den Zeilen der Briefe zu lesen stand. Als dann alle Grüße ausgerichtet und alle Neuigkeiten erzählt worden waren, ging es schlafen. Um den runden Tisch in der Oberstube sammelten sich die Kinder und falteten die Hände zum Gebet; dann hieß es Gute Nacht, und nach kürzester Zeit schlummerte die eben noch so lebendige Schaar friedlich und fest neben einander auf den einfachen Lagerstätten.

Wir verabschiedeten uns von dem wackeren Colonieführer und begaben uns nach Schneeberg, wo auch wir unsere Ruhe fanden. – – –

So viel in aller Kürze über die Eindrücke, welche wir auf unserer Inspectionstour empfingen! Waren schon diese Eindrücke durchaus angethan, uns in der guten Meinung zu befestigen, welche wir von der Sache der Feriencolonien längst gewonnen hatten, so sahen wir, als dann später nach dreiwöchentlichem Aufenthalt im Gebirge die Kinder in die Stadt zurückkehrten, unsere Hoffnungen zu unserer Freude noch weit übertroffen; denn da konnten nicht nur die Aerzte in Zahlen die geradezu überraschenden Zunahmen der Körpergewichte und der Brustumfänge nachweisen, da zeigte es auch der unmittelbare Augenschein, wie die Kinder unter den günstigen Bedingungen aufgeblüht waren, etwa so wie welke Pflanzen aufleben, wenn die Sonne ihnen lächelt und sie vom Regen und Thau getränkt werden. Und damit noch nicht genug: die Feriencolonie war ein Segensquell auch für das innere Leben der Kinder gewesen; denn sie hatten das Landleben kennen und lieben gelernt; sie waren mit einer Menge einfacher Anschauungen bereichert worden. Besonders werthvoll aber für die Erweiterung des geistigen Horizontes der Kleinen waren die Besuche der vielen industriellen Unternehmungen des Erzgebirges geworden. Die Kinder haben Bergwerke, Eisenhämmer, Blechwaarenfabriken, Holzschleifereien, Blaufarbenwerke etc. besucht und die namhaften Hausindustrien des Erzgebirges, wie das Spitzenklöppeln, die Gorlnäherei, das Tambouriren aus eigener, oft wiederholter Anschauung kennen gelernt. Mehr noch als dieser Gewinn gelten aber die tiefen und mannigfachen Anregungen, welche sie für ihr Gemüthsleben empfingen. Der Umgang mit der Natur vom thaufrischen Morgen bis zum Abend zeigte ihnen reine Freuden, die auch dem Aermsten zugänglich sind.

So kam es, daß in den Gemüthern, die sonst von Sorge und Kummer niedergedrückt waren, helle Lust am Leben aufblühte, daß manches durch Armuth und Krankheit geängstete Kinderherz höher schlug in dem frohen Gefühl, welches die wachsende Gesundheit und Kraft gewährt.

Bei den augenscheinlichen erfreulichen Erfolgen, welche die Feriencolonien überall erzielt haben und zu denen die obigen Mittheilungen nur ein kleines Beispiel liefern wollten, bedarf es wohl kaum noch einer systematischen Beweisführung für deren Vortrefflichkeit. Statt einer solchen Beweisführung wollen wir nur einfach auf die rasche Entwickelung der Feriencolonien aus einem unscheinbaren Keime und auf ihre ungewöhnlich schnelle Verbreitung hinweisen.

Der Anfang der Feriencolonien ist folgender: Pfarrer Walter Bion in Zürich, aus dem Appenzeller Lande nach Zürich versetzt, faßte, angesichts der bleichen, blutarmen Stadtkinder, welche ihm dort begegneten, den Entschluß, eine Anzahl derselben für die Ferienzeit in seine frühere Gemeinde auf das Land zu bringen. Ueber den günstigen Verlauf des Unternehmens berichtete er sodann einer Zeitschrift für schweizerische Aerzte. Dieser Aufsatz kam in die Hände des Sanitätsraths Dr. Barrentrapp in Frankfurt am Main, der dann für die weitere Verbreitung der Idee in der medicinischen Presse sorgte und zugleich die Frankfurter Feriencolonie in’s Leben rief. Dem Beispiele Frankfurts aber eiferten in rascher Folge viele deutsche Städte im Süden wie im Norden nach.

Im Jahre 1876 führte Bion die erste Züricher Colonie auf die Appenzeller Berge, und schon fünf Jahre später, am 15. November 1881, tagte in Berlin ein Congreß, auf welchem Vertreter von Feriencoloniecomités aus ganz Deutschland, aus Oesterreich und der Schweiz ihre Erfahrungen über das Coloniewesen austauschten.

Seitdem hat die Idee weit über die Grenzen Deutschlands und der Schweiz, wo sie ziemliche Ausbreitung gefunden hat, hinaus Wurzel gefaßt. Hier nur einige Beispiele! Im verwahrlosten

[284]

Glückauf zu fröhlichen Ferien. Abfahrt von Leipzig. W.S. B. Gute Nacht! Willkommen im Gebirge. O wie wohl ist’s mir am Abend. Schneeberg. Schloß Stein. Im Walde. große Wäsche. Spiele im Freien. Der Briefträger.

In der Feriencolonie.
Originalzeichnung von G. Sundblad.

[285] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [286] Osten Londons hat es der Pfarrer von St. Judas, Herr Barrett, schon vor einigen Jahren mit Glück versucht, Kinder von dort auf das Land zu schicken. Anfangs zahlte er 5 Mark für jedes Kind in der Woche, später aber erklärte sich eine Anzahl Bauern bereit, die Kinder unentgeltlich aufzunehmen. So konnte er im Jahre 1881 bereits 500 Kinder versorgen und dazu geistliche Nachbarn, die in gleicher Weise wirkten, mit Geld, das ihm zugeflossen war, unterstützen. Die Sache ist dort noch im Werden und hat allem Anscheine nach eine bedeutende Zukunft.

Ebenso ist in Paris das Interesse für die Angelegenheit lebendig geworden. Brieflichen Mittheilungen zufolge, die ich Herrn Pfarrer Bion verdanke, haben dort, angeregt durch den Züricher Vorgang, mehrere Pfarrer im vorigen Jahre eine Anzahl erholungsbedürftiger Kinder auf dem Lande versorgt.

In etwas anderer Weise wird für einen gesunden Ferienaufenthalt der Kinder in Kopenhagen gesorgt. Dort giebt es keine geschlossenen Colonien unter der Leitung eines Lehrers, sondern die Kinder werden einzeln in solchen Familien auf dem Lande untergebracht, welche sich zu ihrer unentgeltlichen Aufnahme freiwillig erbieten. Ueber diese Einrichtung schreibt Professor Holbech, Schuldirector in Kopenhagen:

„Die Einrichtung der Ferienversorgung der Kinder in den Volksschulen geht ungefähr 30 Jahre in der Zeit zurück. Ein Inspector einer Militärschule (die wesentlich aus Unterofficierskindern bestand), der ein wahrer Kinderfreund war, hat das Verdienst, die ganze Sache in Anregung gebracht zu haben. Er vereinigte sich mit den damaligen Vorstehern der öffentlichen Communalschulen; ein Aufruf erging an alle Landbewohner, Kindern aus diesen Schulen in den Sommerferien einen Aufenthalt in ihren Familien zu gönnen, und zugleich suchte man diesen Kindern freie Reise hin und zurück zu verschaffen. Beides gelang über alle Erwartungen. Man konnte gleich anfangs 1000 Kinder in den Sommerferien auf dem Lande bei Gutsbesitzern, Predigern, Pächtern und Bauern versorgen.“

In der langen Reihe von Jahren ist dieses Princip beibehalten worden, und in den Sommerferien des verflossenen Jahres hat man in dieser Weise fast 7000 Kindern die Wohlthat eines heilkräftigen Ferienaufenthaltes auf dem Lande erwiesen.

Wieder in anderer Weise gestaltet sich die Fürsorge für kränkliche Kinder drüben über dem Ocean, in New-York. Mir ist eine deutsche Zeitung von dort zugegangen, laut welcher die New-Yorker Kinderschutzgesellschaft die Kinder in den heißen Sommertagen vor der gefährlichen Ruhr[WS 1] dadurch zu schützen sucht, daß sie dieselben des Morgens auf einem mit Lebensmitteln reichlich versehenen Dampfer versammelt und sie auf diesem mit ihren Pflegern hinaus auf die offene See fährt. Hier athmen die Kleinen den Tag über die freie, kühle Seeluft, um Abends zu ihren Eltern zurückgebracht zu werden. So fährt während der heißen Jahreszeit täglich ein Dampfer mit 1000 bis 1500 kränklichen New-Yorker Kindern in See.

Nicht nur der Erholung schwächlicher, schlecht genährter, sondern auch der Heilung wirklich kranker, namentlich scrophulöser Kinder dienen die Seehospize, über welche die „Gartenlaube“ erst vor Kurzem (Nr. 8 dieses Jahrgangs) ausführlich berichtete, und in gleicher Weise wirken die in Soolbädern eingerichteten Kinderheilstätten.

Die beiden zuletzt genannten Unternehmungen erstreben die Heilung von Kindern, welche an ausgesprochenen Krankheiten leiden, während die Feriencolonien solche Kinder, die unter ungünstigen Lebensbedingungen, z. B. durch Mangel an Licht und Luft in engen Wohnungen oder durch schlechte Ernährung in ihrer Entwickelung zurückgehalten worden sind, erfrischen und kräftigen und für das Leben brauchbar machen sollen. Beide aber, Kinderheilstätten wie Feriencolonien, verdanken ihren Ursprung der Ueberzeugung, daß die dem kindlichen Organismus rechtzeitig geleistete Hülfe zehnfache Früchte trägt; denn das richtige Mittel, zu rechter Zeit angewendet, erhält nicht nur manches Leben, sondern macht auch spätere dauernde Hülfe entbehrlich.

Ueberschauen wir am Schlusse unserer Betrachtung den Stand des Feriencoloniewesens, so können wir uns der Erkenntniß nicht verschließen, daß die dem Unternehmen zu Grunde liegende Idee sich als lebens- und entwickelungsfähig erwiesen hat. Es ist keine philanthropische Spielerei, die man mit den Feriencolonien treibt, sondern eine ernste Arbeit an der Milderung und Heilung socialer Schäden. Es ist ein Stück Kampf gegen das Anwachsen des Proletariats, und wer Erfahrungen in der Armenpflege hat, der wird wissen, daß es unendlich schwer ist, einen zum Prolelariat Herabgesunkenen daraus zu erheben; darum ist es auch nicht die vornehmste Aufgabe der Armenpflege, bereits Gesunkene wieder zu erheben, sondern vielmehr, noch im Sinken Begriffene rechtzeitig zu halten und zu stützen, damit sie nicht vollends zu Grunde gehen. Nun, die Kinder physisch widerstandsfähig machen, sie körperlich kräftigen und sittlich heben, das heißt wahrlich gegen das Proletariat ankämpfen.

Man wird einem Manne wie Falk, dem ehemaligen preußischen Unterrichtsminister, wohl zutrauen dürfen, daß er ein klares Auge für dergleichen Verhältnisse hat und seine Kräfte nicht ohne weiteres in den Dienst eines seichten Wohlthätigkeits-Dilettantismus stellen wird. In seiner Eröffnungsrede der Berliner Conferenz der Vertreter von Feriencolonien-Comités sagte er aber: „Alljährlich fallen in Berlin Hunderte von Kindern dem Siechthum anheim und entwickeln sich unter der Ungunst der Verhältnisse zu elenden, krüppelhaften, zu jeder ernsten Arbeit untauglichen Individuen, die mit der Zeit nicht nur der Commune zur Last fallen und deren Armen-, Kranken- und Siechenhäuser bevölkern, sondern auch erfahrungsgemäß für Ausbreitung aller größeren Epidemien am wesentlichsten beitragen, weil sie widerstandslos gegen alle krankmachenden Einflüsse sind. Werden solche Kinder zur rechten Zeit – wenn auch nur für wenige Wochen – in zweckentsprechende gesundheitliche Verhältnisse gebracht, so ist ihre dauernde Kräftigung möglich; es kann hierdurch vielem Elend gesteuert, unsere Kranken- und Wohlthätigkeitsanstalten können hierdurch erheblich entlastet werden. In der That bedarf die hohe sociale und sanitäre Bedeutung der Feriencolonien kaum einer Begründung.“

Was wollen dagegen Einwürfe sagen, wie der immer und immer wiederholte: man wolle mit den Feriencolonien nichts, als einer kleinen Anzahl von Kindern aus den unteren Ständen die Annehmlichkeit einer Sommerfrische verschaffen und verwöhne sie dadurch. Es kommt ja hier hauptsächlich darauf an, armen und kränklichen Kindern nach Möglichkeit zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit zu verhelfen. Denen, die trotz alledem behaupten, die Kinder würden in den Feriencolonien verwöhnt, muß gesagt werden, daß sie sich durch den Augenschein vom Gegentheil überzeugen mögen, und wenn sie dies nicht wollen, so müssen sie eben Vertrauen fassen zu den Männern, die sich der Sache annehmen und mit ihren Namen für die gewissenhafte Verwendung der ihnen anvertrauten Spenden einstehen.

Andere Gegner aber verschanzen sich hinter der so oft aufgestellten Behauptung, daß bei aller Aufopferung für das Wohl der armen Kinder doch nichts herauskomme. „Auch wenn Ihr sie nicht verwöhnt,“ sagt man, „so nützt Ihr ihnen doch gar nichts. Ihr bringt sie später in die alten Verhältnisse zurück, und dann geht das alte Elend von Neuem an. Dauernd könnt Ihr sie ja doch nicht in bessere Verhältnisse bringen; darum ist es richtiger, sie gar nicht erst in eine glücklichere Lage zu versetzen.“ Das ist eine wunderbare Anschauung. Was würde gesagt werden, wenn man einem die ganze Woche hindurch an die Schreibstube gefesselten Bureaumenschen am schönen Sommersonntag rathen wollte: „Ergehe Dich nicht draußen im Sonnenschein, erquicke Dich nicht am Vogelsang, an den blühenden Blumen und Bäumen, erlabe Dich nicht an dem murmelnden Bach im Schatten des grünen Waldes! Es nützt Dir ja doch nichts; denn am Montag mußt Du wieder am Schreibpulte hocken.“

Das ist die Logik Derer, die nichts beitragen zu dem wahrhaft segensvollen Unternehmen, als das ewig wiederholte scheele Wort: es nützt ja doch nichts. Ich setze nun allen abfälligen Urtheilen die Behauptung entgegen: der Aufenthalt in der Feriencolonie ist eine Wohlthat von eminentem Werthe schon dadurch, daß sie nimmermehr von einem Unbedürftigen durch heuchlerische Vorwände erschlichen werden kann; der Spruch des scharf beobachtenden Arztes wendet sie nur dem wahrhaft Bedürftigen zu. Aber auch darum ist sie vielen anderen Wohlthaten vorzuziehen, weil sie verhältnißmäßig nur geringe Mittel zu einer überraschend günstigen und mit fast absoluter Sicherheit eintretenden Wirkung erfordert.

Und dann, wenn selbst die Früchte der Feriencolonien bisher nur geringe wären, sollte das Wenige nicht immer noch besser sein als gar nichts? Das Wenige wird ja mit der Zeit mehr werden; [287] die Ansätze dazu sind ja sichtlich vorhanden. Die ganze Bestrebung ist aber noch so neu, daß man sich vielmehr wundern sollte über die Erfolge, die bereits errungen worden sind, als es ihr zum Vorwurf anrechnen, daß sie das letzte Ziel nicht mit einem Sprunge erreicht hat.

Der Gedanke an die zukünftige Entwickelung des Feriencoloniewesens erübrigt mir zum Schluß die Beantwortung der Frage: ob seine bisher zu Tage getretenen Formen für die Dauer als fixirt zu betrachten seien oder ob eine erweiternde Ergänzung derselben angestrebt werden solle. Meine Ansicht hierüber geht nun dahin, daß allerdings die in den meisten Städten vorhandene Organisation der Feriencolonien einer weiteren Entwickelung fähig und bedürftig ist. Noch ist es nicht an der Zeit, auf den errungenen Erfolgen auszuruhen und das bisher Geschaffene zu einem abgeschlossenen System erstarren zu lassen. Darum soll man zwar die bisher gepflegten Arten der Ferienversorgung erstens wirklich kranker Kinder in Soolbädern oder, je nach Anordnung der Aerzte, an der See, zweitens schwächlicher, schlecht genährter Kinder in geschlossenen Colonien, und drittens einzelner erholungsbedürftiger in guten Familien, ruhig weiter fortsetzen; vielleicht jedoch so, daß man die Einzelunterbringung in Familien mehr als jetzt betreibt, und zwar in der Weise, wie sie sich bisher in Kopenhagen, in Hamburg und Bremen bewährt hat. Als leitender Gesichtspunkt dafür, welche Kinder den Colonien und welche der Familienpflege zuzuweisen sind, ergiebt sich wohl von selbst die Rücksicht auf ihre Erziehungsbedürftigkeit. Solche, welche des Einflusses eines erfahrenen Erziehers bedürfen, wird man naturgemäß der Colonie zuweisen, schwächliche, aber sorgfältiger erzogene Kinder verarmter Eltern wird man getrost der Familienpflege überantworten können.

Daß ich aber die Unterbringung in Familien mehr betont sehen möchte, ist in dem Wunsche begründet, den Segen des Landaufenthaltes so vielen Kindern wie nur immer möglich zu Theil werden zu lassen. Jedenfalls ist der Umstand von hoher, wenn nicht ausschlaggebender Bedeutung, daß man für ein Coloniekind drei Kinder in Familienpflege unterbringen kann.

Die Kosten nun, die durch die Familienpflege erspart werden, möchte ich vorschlagen zur Bildung von Stadtcolonien, wie sie in Barmen bestehen, zu verwenden. Es ist dies eine Einrichtung, die mir äußerst nachahmenswerth erscheint. Das Comité zu Barmen sendet nur wirklich kranke Kinder hinaus, während die schwächlichen, schlecht genährten in der Stadt bleiben; diese Letzteren werden aber täglich an bestimmten Orten, etwa in der Turnhalle, versammelt und erhalten hier ein halbes Liter gute Milch und ein Stück Brod zum Frühstück. Sodann wird gespielt. Nachmittags kommen sie wieder und empfangen abermals ein halbes Liter Milch, um dann zu einem tüchtigen Spaziergange in den Wald geführt zu werden. Abends nach der Rückkehr erhalten sie zum dritten Mal ihr Theil kräftige Milch und ein Stück Brod dazu, nun aber kehren sie in ihre Behausung zurück.

Der Familienzusammenhang wird also durch die Stadtcolonie nicht unterbrochen, und was die Kosten einer derartigen Verpflegung betrifft, so belaufen sie sich für den Tag und das Kind auf vierzig Pfennig.

In solchen Stadtcolonien könnte man diejenigen Kinder vereinigen, welche von der Reise ausgeschlossen werden müssen, weil sie dafür noch zu klein sind, oder weil sie an einem unheilbaren Leiden kranken, das durch den Landaufenthalt nicht gehoben werden kann, oder weil endlich ihr Leiden leichterer Art ist und schon durch eine minder tiefeingreifende Einwirkung beseitigt zu werden vermag.

Eine andere Ergänzung der bisherigen Organisation würde ich in der Einrichtung von Feriencolonien für Kinder bemittelter Eltern sehen. In ihnen wären Schüler höherer Anstalten gegen Erstattung der Auslagen in einfacher Weise auf dem Lande unterzubringen, um unter der Leitung tüchtiger Erzieher ihre Ferien frisch und fröhlich zu verleben. Dieses Unternehmen würde dem Comité keinen Pfennig kosten und doch viel Segen stiften. In meiner früheren Praxis als Schriftführer des Leipziger Comités ist mir – wie oft! – das Verlangen nach einer solchen Veranstaltung entgegengebracht worden, und es giebt in der That sehr, sehr viele Eltern, die, durch Amt oder Geschäft an die Stadt gefesselt, nicht im Stande sind, die Ferienversorgung ihrer Kinder in einer für diese wahrhaft ersprießlichen Weise zu übernehmen, die aber gern bereit sein würden, die verhaltnißmäßig niedrigen Kosten dafür zu tragen. Solche Eltern sollten in der Sorge für ihre Kinder kräftig unterstützt werden. Es ist meine Ueberzeugung, daß die Schüler höherer Anstalten die Erholung oft noch nöthiger brauchen, als die der Volksschulen; denn diese dürfen sich in den Freistunden das ganze Jahr hindurch auf der Straße tummeln, während jene jahraus, jahrein hinter den Büchern hocken müssen.

Nimmt man die Stadtcolonien und die Colonien für Kinder bemittelter Eltern zu den bisherigen Einrichtungen hinzu, so wird mit einem Schlage – ohne Erhöhung der Ausgaben – eine große Anzahl Kinder einer nicht hoch genug zu schätzenden Wohlthat theilhaftig, welcher sie bisher entbehrten. Damit kommt man dann dem Ziele, womöglich alle Bedürftigen zu erquicken und zu kräftigen, wieder um ein Beträchtliches näher.

Wenn erst zwanzig Jahre hindurch in Deutschlands großen Städten die Feriencolonien bestanden haben werden, dann wird sicherlich in den unteren Schichten der Bevölkerung mehr Gesundheit und Kraft, mehr natürliche Frische und Lebensfreude vorhanden sein als heute. Bewirken die Feriencolonien aber das, so bilden sie wahrlich einen Baustein zur Größe unseres Vaterlandes.




Mein wildes Lieb.
Von Hermann Eduard Jahn.[4]

Der stille Abend ist gekommen:
Die Blumen schliefen müde ein;
Schon ruht im Dämmerlicht verschwommen
Gebirg’ und Haide, Moor und Hain.
Ringsum ein tiefes sel’ges Schweigen;
Es bebt selbst nicht das dürre Ried –
Nur über mir aus grünen Zweigen
Singt noch die Nachtigall das Lied:
Ich lieb’ Dich, wilde Kleine
Im blonden Lockenhaar,
Ich lieb’ und werd’ Dich lieben,
Ja lieben immerdar.

Da wachen auf die wilden Rosen,
Und hauchen wärmer ihren Duft,
Und wie geheimes Liebeskosen
Geht da ein Weh’n durch alle Luft;
Es wachen auf die jungen Blätter
Und heben leis zu rauschen an,
Und wie ein jubelndes Geschmetter
Schwingt sich das Lied zu Dir hinan:
Ich lieb’ Dich, wilde Kleine etc.

Du ruhst jetzt wohl auf weichen Kissen,
Im losen, duftigen Gewand,
Von wildem Sehnen hingerissen
Preßt Du auf’s Herz die kleine Hand,
Und höher glühen Deine Wangen,
Und heißer glüht des Busens Hauch,
Und wie im Bangen, im Verlangen
Umschleiert sich Dein liebes Aug’:
Ich lieb’ Dich, wilde Kleine
Im blonden Lockenhaar,
Ich lieb’ und werd’ Dich lieben,
Ja lieben immerdar.

Da sinkt ein Traum auf Dich hernieder:
Wir ruh’n im moos’gen Waldesgrund;
Ich drück’ Dein scheues Händchen wieder
Und küsse fiebernd Deinen Mund.
Du hältst mich eng, gar eng umfangen –
Kein Laut, kein Rauschen fern und nah;
Nur uns’re Liebesschwüre klangen,
Und jubelnd, jubelnd sang ich da:
Ich lieb’ Dich, wilde Kleine etc.

[288]

Die Bäume standen treue Wache
Und hielten jeden Lauscher fern;
Die Blumen all am Murmelbache
Die waren unser Teppich gern;
Da glühte roth die weiße Rose
Und schloß verwirrt das Auge zu –
Nur noch die Nachtigall, die lose,
Sang ohne Rast, sang ohne Ruh’:
Ich lieb’ Dich, wilde Kleine etc.

Ich glaub’, man singt in Dorf und Städtchen
Zum Leierkasten bald mein Lied;
Die Burschen singen’s und die Mädchen;
Der Gassenbube pfeift es mit.
Dann wird sie tief erröthend neigen
Ihr liebes, bleiches Angesicht – – –
Du Nachtigall in grünen Zweigen
Verrath’, verrath’ mein Lieben nicht –:
Ich lieb’ Dich, wilde Kleine etc.




Blätter und Blüthen.


Eine Biographie Sebastian Bach’s. Nachdem Felix Mendelssohn-Bartholdy 1829 eine der größten Schöpfungen Sebastian Bach’s „Die Matthäus-Passion“ aus mehr denn dreiviertelhundertjähriger Vergessenheit hervorgezogen hatte, richtete sich das allgemeine Interesse immer mehr auf den merkwürdigen Leipziger Cantor und seine wunderbaren Werke. Als nun gar bei der Säcularfeier von Bach’s Todestage, im Jahre 1850, „die deutsche Bach-Gesellschaft“ behufs Herausgabe der sämmtlichen Werke dieses Tonhelden in’s Leben trat und ihre segensreiche Wirksamkeit begann – die der Vollendung sich nahende Gesamtausgabe wird für den ebenso fruchtbaren wie tiefen Componisten das förderlichste und herrlichste Denkmal sein – da wuchs auch die Begierde, mit den Lebensumständen Bach’s sich näher vertraut zu machen, und die dürftigen Biographien Forkel’s und Hilgenfeld’s, so verdienstlich sie waren, konnten nicht mehr genügen. Der ehemalige Geheime Rath und jetzige preußische Finanzminister C. H. Bitter kam 1864 mit seiner ausführlichen Lebensbeschreibung des Großmeisters in der That „einem tiefgefühlten Bedürfnisse“ entgegen. Es ist ein erfreuliches Zeichen, daß eine neue Auflage des trefflichen Werkes sich nöthig gemacht hat und im vorigen Jahre bei Wilhelm Baensch in Berlin in vier Bänden erschienen ist. Nicht nur von Bach’s Leben erzählt Bitter in fesselnder und auf den sorgfältigsten Forschungen beruhender Weise, auch auf die Kompositionen geht er mit großer Sachkenntniß und sichtlicher Liebe ein, viele derselben speciell beschreibend und analysirend. Doch möge der musikalische Laie nicht befürchten, dadurch in gar zu fern liegende fachmännische Details verwickelt zu werden!

Bitter kennzeichnet seine Absicht im Vorwort richtig mit folgenden Sätzen: „Es war mein Bestreben, Bach’s Erscheinung der großen Zahl derer näher zu rücken, die sich zwar nicht durchweg den gelehrten Musikern und Fachkünstlern hinzurechnen können, denen aber doch die tiefe und erhabene Kunst des großen Meisters nicht ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch geblieben ist. Ich habe zugleich darnach gestrebt, das Interesse für jene zahlreichen Werke überall da anzuregen, wo das Schöne nicht um des sinnlichen Reizes, sondern um des edleren Gehaltes willen gesucht wird. Ich habe endlich dem großen Meister – dem deutschen Künstler und Ehrenmanne – ein Denkmal des Dankes und bleibender Anerkennung zu stiften gesucht.“

Der vierte Band enthält eine sehr dankenswerthe Hauptzusammenstellung aller Werke Bach’s, sowie eine Sammlung höchst interessanter Actenstücke, Documente etc., die sich auf Bach, seine Verwandten, Schüler, Freunde und Feinde beziehen; denn an Gegnern und Feinden hat es Sebastian Bach ebenso wenig gefehlt, wie anderen Genies vor und nach ihm. Bitter erwähnt, daß selbst von Winterfeld, der berühmte Verfasser des vorzüglichen Werkes „Der evangelische Kirchengesang“, behauptet, die Bezeichnung als „Kirchenmusik“ sei der Matthäus-Passion von Bach abzusprechen, ihr Stil sei zu opernhaft, der Ausdruck der Leidenschaften und Gefühle zu menschlich. Er gedenkt ferner jener Stimme aus Bach’s eigener Zeit, laut welcher diese Passion in der Kirche einen widrigen Eindruck hervorgebracht habe. Diese Angriffe widerlegt Bitter nicht etwa, er sagt vielmehr: „Dies mag nach dem Vorangedeuteten als eine müßige Frage unerörtert bleiben“, dagegen spricht er ganz unerwarteter Weise von der „Musik der Zukunft“ und deren Jüngern. Da wäre es wohl angebracht gewesen, im Gegensatz zu jenen Gegnern Bach’s der von gewissen Seiten vielgeschmähten Koryphäen der Zukunftsmusik, Richard Wagner’s und Franz Liszt’s, als solcher zu gedenken, welche Bach mit Wort und That stets die größte Anerkennung haben zu Theil werden lassen; Bitter hätte erwähnen können, daß im Lob und Preise Bach’s alle ernsten musikalischen Richtungen der neuen Zeit sich einigen; statt dessen bereitet er sich bedauerlicher Weise eine Gelegenheit, um einen unhaltbaren Ausfall auf die eben erwähnte neue Schule anzubringen. Nicht die Gegnerschaft soll Bitter zum Vorwurf gemacht werden; er mochte immerhin seinen Bedenken Luft machen, aber er hätte das füglich an mehr geeignetem Orte thun können. Man verzeiht ja wohl einem Biographen einseitige Vorliebe für seinen Helden, aber dergleichen Ausfälle auf vermeintliche Rivalen berühren leicht widerwärtig. Man vergleiche des Russen Oulibischeff’s Herabsetzung Beethoven’s zu Gunsten Mozart’s!

Nur der aufrichtige Wunsch, den Autor aller Schwächen ledig zu sehen und ihm rückhaltlos den gebührenden Dank darbringen zu können, veranlaßte zu dieser Ausstellung.

Wie viel des Guten der vorzüglichen Biographie nachzurühmen ist, davon möge man sich durch eigenes Studium überzeugen! Wie anziehend wird Band I, Seite 49ff. das Geburtshaus Bach’s in Eisenach geschildert! Wie sinnig und anregend sind in diese Schilderung die Erinnerungen an den großen Reformator verflochten, welcher dereinst in jener alten Burg gehaust hat, „die ernst und bedeutungsvoll auf Sebastian’s Wiege herabschaut“, an einer Stätte, „deren mystische Sagen die überquellende Phantasie weit über Zeit und Raum hinausführen“!

Unter den interessanten Anmerkungen finden sich manche, welche selbst unmusikalischen Lesern lebhafte Theilnahme einflößen werden. Nicht ohne Vergnügen werden sie (I, 185) das Menu jener Tafel studiren, welche bei der 1721 erfolgten Investitur des Herrn Superintendenten Deyling in Leipzig nach einer langen gottesdienstlichen Handlung stattfand. Was da Alles aufgetischt wurde, mit Einschluß eines „Köstgen vor die Frau Superintendentin“, ist ganz erstaunlich. Aber das sind nur Allotria.

Möge Jeder, Musiker oder Laie, sich bestreben, am 21. März 1885, an Sebastian Bach’s zweihundertjährigem Geburtsfeste, dem erhabenen Meister in seinem Innern ein auf wirkliche Verehrung gegründetes Denkmal erbaut zu haben, möge er durch die so liebevoll geschriebene Biographie aus Bitter’s Feder und durch thunlichste Kenntnißnahme von Bach’s unvergänglichen Werken sich befähigen, jenes bedeutungsvolle Datum auch für sich zu einem wahrhaften Festtage zu gestalten!




Gustav Theodor Drobisch, der bekannte Dichter und Humorist, Journalist und Kunstkritiker, der am Morgen des 15. April in Dresden gestorben ist, gehört zu den Schriftstellern, die schon als Sturmvögel der achtundvierziger Revolution mit dem Gründer dieses Blattes, dem unvergeßlichen Ernst Keil, in Beziehung standen. Drobisch betheiligte sich nicht blos an dem am meisten verfolgten Blatte jener Zeit, dem Keil’schen „Leuchtthurm“, sondern später auch am „Dorfbarbier“ Ferdinand Stolle’s und an der „Gartenlaube“ – und so sei in letzterer nun auch seinem Andenken ein Blatt gewidmet.

Dresden ist die Vaterstadt unseres Todten – er wurde dort am 26. December 1811 geboren. Aber schon vom sechsten Lebensjahre an war Leipzig, wo sein Vater Orchestermitglied geworden, sein Wohnsitz und blieb es bis 1860. Sein Jugendschicksal war das eines sogenannten „armen Teufels“. Trotz trefflicher Gymnasialbildung mußte er vom Studium der Rechtswissenschaft abstehen, weil er dazu die Mittel nicht erschwingen konnte, und so ward er auf den Weg der „problematischen Existenzen“, das heißt zur Schriftstellerei gedrängt. Wie viele hunderte vor ihm, so trat auch er zuerst mit einem Bändchen „Dichtungen“ (Leipzig, 1836) vor das Publicum; das Honorar dafür reichte gerade hin, daß er sich einen anständigen Rock kaufen konnte. Um auch Brod zu verdienen, ging er aus Verzweiflung zum Theater, aber obwohl er sogleich zum „Major Storkow“ (in Holtei’s „Leonore“) avancirte, kehrte er doch zum Schreibtisch zurück. Wohl eine Frucht seiner Bühnenerfahrungen waren seine Fragmente über „Ludwig Devrient’s erste Schritte auf seiner künstlerischen Laufbahn“. Zu einem gesuchten Schriftsteller erhob ihn jedoch erst seine „Denkrede an Schiller“, welche am Schiller-Feste zu Leipzig 1841 Aufsehen erregte. Von da an war er ein beliebter Mitarbeiter an vielen Zeitschriften und bald selbst Redacteur, so seit 1845 an Sternau’s „Deutscher Damenzeitung“, dann an Oettinger’s „Charivari“ und an Herloßsohn’s „Komet“; die „Zeitung für die elegante Welt“ redigirte er von 1848 bis 1860, wo er endlich nach Dresden zurückkehrte, um auch dort den Redactionsstift weiter zu führen. Er war erst Mitredacteur der „Dresdener Nachrichten“, die ihm wesentlich ihren Aufschwung in den sechsziger Jahren verdanken, und seit 1872 der „Dresdener Presse“. Eine Aufzählung der Werke unseres Todten würde hier zu weit führen. Er hat in allen Formen poetischen Schaffens, auch den dramatischen, gearbeitet, das Beste aber im humoristischen Liede geleistet. Seine Lieder und Couplets, meist von Lortzing und Stegmayer in Musik gesetzt, haben Unzähligen fröhliche Stunden bereitet. Auch sein „Ameisenkalender“, den er achtundzwanzig Jahre lang bearbeitet hat, brachte ihn den an seinem Humor sich erheiternden Volkskreisen freundlich nahe, und so hat Theodor Drobisch so viel Liebe geerntet, daß er im Herzen des Volkes noch lange eine sichere Stätte behalten wird.




Kleiner Briefkasten.


G. Z. in L. Ihrem Zwecke dürfte am besten dienen: Daniel Sanders’ vortreffliches „Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten in der deutschen Sprache“, welches soeben in dreizehnter, vermehrter Auflage (Berlin, Langenscheidt) erschienen ist. Das Buch ertheilt in allen den Fällen, wo der Sprachgebrauch noch ein schwankender ist, und überall da, wo sich uns beim Gebrauch unserer Muttersprache grammatische Schwierigkeiten entgegenstellen, sichere Auskunft und empfiehlt sich ebensowohl durch den großen Werth seines sachlichen Inhalts wie durch die übersichtliche und bequeme Form seiner lexikalischen Anordnung.

Gutzkow’s junger Freund in Friedland. Ihr Schreiben vom 24. November vorigen Jahres ist nicht in unsere Hände gelangt.

C. A. in Coburg. Wir bedauern, Ihnen die gewünschte Auskunft nicht ertheilen zu können.

J. J. in Meißen. Ihre heimische Albrechtsburg finden Sie in Wort und Bild geschildert in unserer Nr. 52 von 1861 und in Nr. 1 von 1882.



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. „Herold“ nennen die Indianer denjenigen, der eine Zeitung schreibt und Nachrichten durch den Druck verbreitet.
  2. „Ista-maza“, „Eisenauge“, war der Name, unter dem ich den Söhnen der Wildniß bekannt war. Andere, meine Eigenschaft als Correspondent wohl erfassend, nannten mich „Ei-am-paha“, „Herold“, „Verkündiger“, der über das große Wasser „Minni-owancaya“ („Wasser überall“) gekommen sei und dem Volke der „Iya-sica“, der „harten Sprecher“, angehöre, mit welchem Namen sie die Deutschen belegen, weil die Sprache derselben so schwer (hart) zu erlernen und zu sprechen sei. Die Franzosen, vor fünfzig Jahren die einzigen Weißen, die mit den Dacotahs zusammen kamen, heißen sie „das gewöhnliche Volk“.
  3. Eingehendere Mittheilungen über Aufgabe und Inhalt der „Internationalen Kunstausstellung“ finden unsere Leser in der in Wien herauskommenden „Allgemeinen Kunst-Chronik“, welche für die Ausstellung officiell ist und in den Räumen derselben verkauft wird. Wir ergreifen die sich uns hier bietende Gelegenheit, um auf diese von Dr. Wilhelm Lauser mit vieler Umsicht geleitete Zeitschrift angelegentlichst hinzuweisen; es ist das Verdienst des genannten Herausgebers, diese „Chronik“ aus dem beschränkten Gebiete eines Fachblattes auf den höheren Standpunkt eines über allgemeine Angelegenheiten des Kunstlebens orientirenden Organs erhoben zu haben, eines Organs, das weniger das Detail der Kunstproduction, als die allgemeinen und großen Angelegenheiten derselben, also vorwiegend principielle Kunstfragen in den Bereich seiner Betrachtung zieht. Nicht nur ausübende Künstler, sondern auch Kunstfreunde werden in dieser „Chronik“ eine frischsprudelnde Quelle der Belehrung und Anregung finden. D. Red.
  4. Aus des phantasie- und talentvollen Verfassers soeben erschienenen „Verwehten Blättern“ (Leipzig, Karl Rühle), welche wir hiermit der allgemeinen Beachtung wärmstens empfehlen.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Ruhr, die: Infektionskrankheit des Darms, siehe Wiktionary