Die Gartenlaube (1882)/Heft 16
[257]
No. 16. | 1882. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Recht und Liebe.
Leonhard hatte versprochen, am Abend zur Theestunde wieder im Schlosse zu sein; er fand, als er zurückgekommen, den alten Herrn hier von den theuren Verwandten umgeben, von denen die beiden älteren Damen und Sergius mit ihm Whist spielten, um ihn zu unterhalten. Damian und Dora saßen in der Fensternische, Damian mit einer Miene, wie sie ein großmüthiger alter Hund macht, wenn er sich von einem jungen geduldig die Ohren zerren läßt; er hörte herablassend auf Dora’s Geplauder und Gekicher. Ein paar Kohlen glühten im Kamin; Leonhard ließ sie nachgiebig glühen, weil in diesen Räumen nun einmal eine kühlere Temperatur zu herrschen schien als anderswo.
Er betrachtete den alten Herrn, während dieser spielte. Es war offenbar eine Arbeit für ihn; er hatte sich zusammen zu nehmen; denn Sergius, der sein Partner war, ließ ihm keinen Verstoß gegen die Regeln ohne eine gründliche weise Belehrung hingehen, und wenn ein Spiel zu Ende war und er sich müde in seinen Sessel zurücklehnte, hatte er den jedesmal zwischen der Generalin und Frau von Ramsfeld sich erhebenden, oft sehr hitzig werdenden Disputationen zuzuhören, die ihn offenbar quälten und ihm, wie Streiten und Hadern jeder vornehmen Natur, unleidlich zu sein schienen.
Leonhard hatte unterdeß Zeit, still seine Glossen über die wunderliche Menschengruppe vor ihm zu machen. Er bedauerte im innersten Herzen diesen liebenswürdigen alten Herrn, dem das Schicksal einst Alles gewährt hatte, was glücklich machen kann, Schönheit, Reichthum, Freiheit, einen stolzen Namen – und der doch eine beklagenswerthe Existenz führte, weil ihm der Wille, glücklich und gesund zu werden, Herr in seinem Hause zu sein, fehlte. Irgend eine kleine Fiber, ein winziger Nerv fehlte ihm im Gehirn und das hatte entschieden über sein ganzes Dasein.
Und dann betrachtete er wieder diese hochgebietende Frau Generalin, in der alles egoistischer Wille schien, die wie im Bewußtsein lebte, mit ihrem Willen die Welt erobern zu können, nachdem sie vorab den Commandostab im Hause ihrem Manne und dann der Gegenwart den ganzen Inhalt ihrer „Bildung“ abgerungen hatte – der wahre Typus jener „gebildeten Frauen“ von heute, für die das Geistesleben der ganzen Menschheit von den Gesängen Homer’s bis auf die jüngste Erfindung Edison’s herab sich in handliche kleine Münze umsetzt; die mit eifrigen Händen all diese kleine Münze einsammeln und aufspeichern und damit nun arbeiten – nie aber es bis zu einem Goldstück eines eigenen Weisheitsgedankens bringen.
Da war doch Frau von Ramsfeld noch sympathischer – man wäre geneigt gewesen, sie die außer Rand und Band gerathene Gutmüthigkeit zu nennen, wenn man nicht hätte zweifeln müssen, ob sie jemals so eigentlich in Rand und Band gewesen; jedenfalls konnte man nur mit einer gewissen Sorge auf die hübsche Dora blicken, die zwischen dieser Mutter und dem liebenswürdigen Damian aufwuchs.
Als ein Robber zu Ende war und Sergius nun dem alten Herrn einen gebührenden Verweis ertheilte, daß er eine Invitation seines Partners unverzeihlich mißachtet, nahm Leonhard mit freundlicher Gewaltthätigkeit ihm die Karten aus der Hand: es geschah ihm offenbar eine größere Wohlthat, wenn man ihn in ein anregendes Geplauder verflocht und ihm die Gelegenheit gab, sich auszusprechen. Alte Leute lieben eine ernste und friedliche Unterhaltung.
„Das Spiel greift Sie an,“ sagte Leonhard, „lassen Sie uns ein wenig plaudern! Ich habe mich heute mit meinen Eltern in Ihre Wälder vertieft und bei der Gelegenheit die alte Capellenruine einmal wieder gesehen – Sie wissen, hinten nach den Flußwiesen zu. Woher stammt denn eigentlich dieses kleine Bauwerk da in der Weltverlorenheit?“
Des Barons Züge belebten sich bei dieser Frage.
„Die Capelle? Die Petri-Capelle – nicht wahr, sie steht wie ein Räthsel da im Walde? Ganz unmotivirt – es führt kein Weg daran vorüber – kein praktischer Grund spricht dafür, dahin ein solches Bauwerk zu stellen. Auch keine Tradition ist da, daß es etwa eine Sühncapelle sei – zum Beispiel für einen erschossenen Treiber oder einen Meuchelmord, der an dieser Stelle vorgefallen wäre, während doch mancherlei anregender Züge dieser Art die alte Hauschronik von Dortenbach zieren. Aber die Tradition sagt, daß der Wald in alten Zeiten ein Heiligthum der Heiden gewesen, und so bin ich nach manchen Forschungen zu dem Resultate gekommen, daß gerade dort, wo jetzt in der verlorensten Waldecke die Capelle steht, einst die heilige Eiche des Gotteshains und zwar eine Donar-Eiche gestanden hat. Sie wissen, Doctor, daß Donar zum Petrus geworden ist, Donar’s Blitz der Hahn Petri, der rothe Hahn …“
Der alte Herr erklärte mit großem Interesse an der Sache in dieser Art eine zeitlang weiter.
„Sie sollten das alte romantische Bauwerk restauriren lassen,“ sagte Leonhard dann.
[258] „Wie unnütz!“ fiel die Generalin ein – „ich bitte Sie, Doctor!“
„Das zerstörte ja alles Malerische und Romantische des Baues,“ meinte Sergius.
„Ich bin Arzt,“ erwiderte lächelnd Leonhard. „Ich sehe in dem halb Zerstörten nur das Kranke – der Heilung Bedürftige.“
„So müßten Sie halt auch das Heidelberger Schloß wieder aufbauen,“ warf Frau von Ramsfeld spöttisch ein.
„Weshalb nicht? Ruinen, welche die Zeit geschaffen, die Wandlungen der Jahrhunderte zerstörten, muß man ungeflickt lassen, wie alles, was einer abgethanen und nicht wieder zu erweckenden Idee angehört. Aber das Heidelberger Schloß – Sie haben in Heidelberg studirt, Baron?“
„In der That – es waren meine schönsten Lebensjahre!“
„Nun denn – ist in Ihnen nie der Wunsch entstanden, das, was nicht die Zeit zerstört hat, was durchaus nicht einer abgethanen Epoche der Cultur angehört, hier erhalten, ergänzt – in all seinem Glanz wiederhergestellt zu sehen?“
Der Baron zögerte mit seiner Antwort, und Leonhard fuhr fort: „Wir sollten dieses hohe Werk unserer heiligen Renaissance neu erbauen zur Schulung und Ausbildung unserer Kunst, zum Beweise, daß wir die alten Scharten, welche fremde Mordbrenner ungestraft in das deutsche Schwert hauen durften, auszuwetzen wissen, und zum Wahrzeichen auch, daß wir Kinder einer neuen Zeit der Renaissance sind und in der Strömung derselben Gedanken stehen, deren Quellen auf dieser Humanisten- und Reformatorenburg sprudelten.“
„Und dann?“ warf Sergius ein.
„Dann mag die neue Prachtburg als Sommerschloß dem deutschen Kaiser geschenkt werden, eine Gabe der Nation, welcher er den Kaiser wiedergab.“
„Das,“ sagte hier lächelnd Frau von Ramsfeld, „könnt’ mir schon gefallen. Wär’ halt gar nicht so übel, wenn der Kaiser aus dem Berlin weg käme und sich mehr an den Süden hielte, wo’s doch auch noch Leute giebt.“
„Bitte, liebe Cousine,“ entgegnete mit einem mitleidigen Blicke auf die wohlgenährte kleine Frau die Generalin; „ich möchte wissen, wie Sie sich das denken. Sie glauben doch nicht, daß man die Reichsregierung verlegen könne, etwa nach Rottenburg, das ja noch sehr alterthümlich ausschauen soll.“
Der alte Herr hatte längst die Ungeduld zu verstehen gegeben, mit welcher er dieser Unterhaltung folgte. Jetzt sagte er:
„Lassen wir denn unser Spiel und bitten wir Dora, daß sie uns etwas auf dem Clavier … aber wo ist sie?“
Man sah nach der ein wenig dämmerigen Fensternische, in welcher Dora vorher neben Damian gesessen, aber man erblickte nur noch Damian darin, der, schlaff auf einem Tabouret gekauert, eben furchtbar stark gähnte und dann mit seinem ödesten Gesichte die nach ihm umschauende Gesellschaft anstierte.
„Der alte Professor Florhuber,“ sagte er jetzt mit seiner hohlen Grabesstimme, „ließ uns immer den Witz hören: als der liebe Gott die Welt abmaß, war Berlin der Punkt, wo er den Cirkel einsetzte …“
„Wer fragt Dich nach Deinem alten Professor,“ rief ihm scheltend Frau von Ramsfeld zu. „Wo Dora ist, wirst Du gefragt.“
„Dora ist gegangen – es wurde ihr zu lang, bis der Doctor das Heidelberger Schloß fertig hatte …“
Der alte Herr erklärte nach einer Weile, daß er ermüdet sei, und gab der Gesellschaft dadurch das Zeichen, sich zurückzuziehen. Nur Leonhard blieb noch eine Weile bei ihm, verordnete noch Einiges und überließ ihn dann der Fürsorge des treuen Andreas.
In sein Zimmer zurückgekehrt, schritt er gedankenvoll eine Weile auf und ab; dann öffnete er das Fenster und blickte auf die vom hellen Sternenhimmel dämmerig erleuchteten Wipfel und Gebüsche der Gartenanlagen unter ihm hinaus. Es war eine friedlich stille Nacht, und obwohl die Luft von einer wohlthätigen Frische war, zog doch kein Hauch eines Windes durch die Aeste. „Ueber allen Wipfeln ist Ruh,“ sagte sich Leonhard – „welch unvergleichliche Existenz könnten die Menschen haben, die nichts wollten, als solch eine festgesicherte Friedenszuflucht wie dieses Dortenbach, und sich damit beschieden, von ihm aus nur den engsten Kreis derer, die auf sie angewiesen sind, beglücken zu wollen, statt mit ihrer leidenschaftlichen Eitelkeit nur athmen zu können in der Welt, die … aber was ist das – schlägt denn die Nachtigall noch?“
Er lauschte, indem er den Kopf nach der Richtung wandte, von woher eben der süße Gesang Philomelens zu ihm herüber drang. Dieser schien von der Seite einer dichten Gebüschpartie zu kommen, auf welche ein Streifen Licht hinüberzitterte, der aus einem erleuchteten Fenster an der gegenüberliegenden Ecke des Gebäudes schimmern mußte. Die Jahreszeit war vorgerückt; die Nachtigallen waren bereits verstummt; nur noch eine späte Nachzüglerin konnte ihren Gesang so klangreich und so anhaltend hören lassen, wie er eine Weile lang schmelzend durch die stille Nachtluft schwamm. Leonhard horchte entzückt auf die Sängerin, deren ernst schwermüthige Laute so harmonisch in seine Gedanken hineinklangen – als ihm plötzlich die störende Erinnerung kam, daß ja Edwin, sein Bruder, eine wahre Schelmenkunst darin besaß, alle Vogelstimmen und ganz besonders täuschend die der Nachtigall nachzuahmen. Wurde er von dem dummen Burschen wirklich getäuscht?
Er lauschte länger – schärfer, und war bald im Klaren. So ununterbrochen sang keine Nachtigall; so methodisch tönte keine der willkürlichen, ungeregelten Stimmen der Natur. Und nun schwieg sie plötzlich; das Concert war zu Ende. Dann wurden die Lichter gelöscht; denn im gleichen Augenblicke war auch der matte Lichtschimmer von den Zweigen und Blättern der Gebüschpartie verschwunden.
Leonhard konnte nicht annehmen, daß sein Bruder ihm habe ein Abendständchen bringen wollen. So viel brüderliche Zärtlichkeit war von dem Herrn Forsteleven, dem „wilden Jungen“, wie die Mutter ihn nannte, nicht vorauszusetzen. Sein Nachtigallenflöten mußte also Jemand anders gelten – und Leonhard’s Gedanken hatten nicht lange zu suchen – nicht erst sich Edwin’s Schutzrede für Dora’s Bruder Damian in’s Gedächtniß zurückzurufen, um bestimmte Gedanken darüber zu hegen, wer aus dem Herzen des jungen Grünrockes diese nächtlichen Liebestöne locke. Dieses verstohlene Concert war eine hübsche, zartgedachte und poesievolle kleine Huldigung vor dem Schlafengehen – aber Leonhard beschloß doch, mit der Mutter sehr ernst darüber zu reden. Es empfahl sich, Edwin’s Abreise in’s Examen zu beschleunigen, wo man andere Dinge von ihm verlangte, als schmelzende Nachtigallenweisen in weichen Sommerabendstunden.
Leonhard fand am andern Morgen die Bewohner von Dortenbach im Eßzimmer zum Frühstück versammelt; nur der Baron fehlte; er pflegte sich erst in sehr vorgerückter Stunde zu erheben und befand sich dann „in seiner Morgenstimmung“, wie die Generalin es heute spöttisch nannte; „angegriffen von seinen schlechten Nächten“, corrigirte Frau von Ramsfeld. Er lehnte in solchen Stimmungen sogar die Sträuße ab, die Dora mehrmals versucht hatte, ihm zu bringen – er sei ganz menschenfeindlich in den Morgenstunden, sagte die Generalin.
„Menschenfeindlich ist er nie,“ fiel Frau von Ramsfeld ein; „er ist krank, der alte Mann; er ist nur zu gut – zu gut, da fehlt’s ihm.“
Frau von Ramsfeld legte in dieses „zu gut“ eine Betonung, die das Bewußtsein einer speciellen Berechtigung zu diesem Ausspruche verrieth; vielleicht mochte auch die Generalin ahnen, daß ein solcher Hintergedanke, wenn er von ihrer Cousine gehegt wurde, mit einer schadenfrohen Vorstellung von ihrer, der Generalin, beschleunigten Heimreise in einer ziemlich nahen Verbindung stehe.
„Zu gut?“ antwortete sie spitz und gedehnt. Und da sie den Ausdruck ähnlicher Gefühle nicht laut werden lassen durfte, setzte sie hinzu: „Er ist ein Egoist, wie die Männer alle sind – sonst wäre er ja auch mit seiner Gutmüthigkeit gar zu sehr aus der Art geschlagen; denn die Dortenbach sind immer ein leidenschaftliches, hartes und hochmüthiges Geschlecht gewesen – unser Eins, der selbst dazu gehört, darf das schon sagen.“
„Da muß ich denn doch bitten, liebe Cousine – wie man so etwas aussprechen mag über sein eigenes Blut“ – fiel Frau von Ramsfeld ein.
„Weshalb nicht die Wahrheit sagen, wenn man unter sich ist? Doctor Klingholt gehört ja so halb und halb auch mit zur Familie und wird schon wissen, daß ich vollauf berechtigt bin, so [259] zu sprechen. Nicht wahr, Doctor?“ wandte sie sich mit einem süß-sauren Lächeln an Leonhard.
„Wenn ich auch wüßte, daß Sie zu so scharfem Urtheile berechtigt wären, Frau Generalin, würde ich doch meine Zeugenschaft dafür ablehnen,“ antwortete Leonhard. „Meine Familie ist der unseres Herrn zu großer Dankbarkeit verpflichtet, und zudem bin ich zu jung, um zu wissen, ob vielleicht in vergangenen Tagen Thatsachen Ihr hartes Urtheil gerechtfertigt hätten –“
„Thatsachen!“ unterbrach ihn, gereizt durch den Widerspruch auch von dieser Seite, die Generalin; „ich sehe ja, daß Sie recht gut verstehen, welche Gründe ich habe, mich auszudrücken, wie ich that. Sie werden – meine liebe Cousine Ramsfeld ist vielleicht nicht der Ansicht – aber Sie werden mit mir einverstanden sein, daß, wenn in einer Generation die Brüder mit ihren Jägern und Knechten ihren Vormund überfallen und es eine Schlacht giebt, daß im Flure und in der Küche unten das Blut fließt, und daß, wenn in der folgenden Generation ein Vater und ein Bruder die eigene Tochter und Schwester so quälen und unglücklich machen, daß sie sich in den Schloßgraben stürzt – daß man alsdann sagen darf: es ist eine leidenschaftliche, harte Rasse.“
„Sie kennen ja die Familienchronik sehr genau – ich weiß von allem Dem nichts,“ bemerkte hier Frau von Ramsfeld.
„Sie hat sich in’s Wasser gestürzt? Aus unglücklicher Liebe?“ rief gespannt Dora, die hoch aufgehorcht hatte.
„Aus unglücklicher Liebe zu einem Bürgerlichen,“ antwortete die Generalin.
„Ist aber wieder herausgezogen und lebendig geblieben,“ sagte jetzt mit seiner hohlen Stimme apathisch Damian.
„Woher weißt Du denn davon?“ fragte Frau von Ramsfeld ihren Sohn.
„Ich? – wie weiß ich? Vielleicht hab’ ich’s geträumt,“ antwortete gähnend der Gefragte.
Leonhard schien die ganze Unterhaltung sehr peinlich zu berühren; er war sogar bei der Erwähnung des traurigen Vorfalls, auf den zuletzt die Rede gekommen, leicht erblaßt – jetzt erhob er sich gar, wie um der Fortsetzung des Gesprächs zu entgehen, und ließ durch Andreas seinen Morgenbesuch bei dem alten Herrn ankündigen.
„Wir haben eine sehr gute Nacht gehabt, Herr Doctor,“ sagte Andreas mit bedeutend erhelltem Gesichte; „mehrere Stunden fest geschlafen, heute Morgen mit gutem Appetit gefrühstückt, und jetzt studiren wir mit großem Interesse in einem dicken Kupferwerke, in welchem Abbildungen des Heidelberger Schlosses enthalten sind; ich habe es heute in der Frühe aus der Bibliothek holen müssen.“
„Desto besser!“ antwortete Leonhard erfreut und trat in das Schlafzimmer des Barons.
Dieser streckte ihm aus seinem Bette, das er noch nicht verlassen, die Rechte entgegen.
„Sie sind ein Wunderdoctor, Klingholt,“ sagte er lebhaft; „Sie haben mir nach langer Zeit einen guten tiefen Schlaf verschafft.“
„Nicht ich,“ entgegnete lächelnd Leonhard, „der Champagner, die frische Luft –“
„Und,“ setzte der Baron mit einem Seufzer hinzu, „wenn Ihre Mittel nicht zählen sollen, dann auch die Befriedigung, einmal eine vernünftige Unterhaltung, wie unsere gestrige Debatte über unsere Capelle, über Ihren Schloßbau geführt zu haben. O, Sie glauben nicht, Klingholt, wie wohl es mir thut, wenn ich einmal ein ernstes Wort über ernste Dinge reden höre, Gedanken, an denen mein Herz hängt, mit Menschen, die mich verstehen, austauschen kann – aber grundgütiger Gott, wo finde ich sie? Meine Freunde sind dahin, mir vorangegangen in die dunkle Tiefe, die uns Alle erwartet – ich hatte ihrer auch niemals viele – und nun bin ich allein – allein! O Doctor, glauben Sie mir, es ist ein trauriges Metier, in Einsamkeit ein alter Mann sein!“
Leonhard nickte nur dazu; er hatte die Hand des Barons gefaßt und zählte die Pulsschläge.
„Je älter wir werden,“ fuhr der Baron unterdeß fort, „desto mehr wird uns klar, daß wir Alle mit unserem unruhigen, fieberhaften Geistesleben doch nichts sind, als schwebende, webende Irrlichter, und daß der eigentliche Sinn von all diesem Auf und Ab, diesem Hin und Her, woraus unser Leben besteht, doch nichts ist, als das Suchen, das Streben, die Sehnsucht nach den andern tausend Flammen hoher und reiner Seelen, mit denen wir zusammenfließen und zusammen auflodern möchten zu einer großen göttlichen Sonnenexistenz. Und nun müssen wir doch ewig ein einsames Irrlicht über dem Sumpf unserer Alltagsexistenz bleiben, nur immer matter, bleicher, verglimmender – bis zum endlichen Erlöschen in Nacht und Dunkel.“
„In Einsamkeit ein alter Mann sein, sei ein trauriges Metier, sagen Sie,“ antwortete nach einer Pause Leonhard; „es ist also meine dringlichste Pflicht, dieses Metier Ihnen zu legen, lieber Baron; denn Trauer ist etwas, das allen Menschen und vorzugsweise Ihnen schlecht bekommt – ich sagte Ihnen schon, weshalb – und so muß ich als gewissenhafter Arzt dagegen einschreiten.“
„Wie wollen Sie das ändern?“ fragte der Baron mit resignirtem Lächeln.
„Es wird mir glücklicher Weise nicht so schwer werden. Ich werde Ihnen ein ganz anderes Regime vorschreiben, als das bisher befolgte. Bewegung, frische Luft, einige Gläser Champagner und – eine Unterhaltung, die Ihnen wohl thut, während dafür gesorgt wird, daß jede Unterhaltung, die durch Widerspruch und Tactlosigkeit Ihr Nervenleben reizt und Ihre Galle aufregt, von Ihnen ferngehalten wird.“
„Das heißt, Sie, Klingholt, wollen zu meiner Gesellschaft und – zu meinem Schutze hier bleiben?“ rief der alte Herr, indem ein Strahl von Freude seine mageren, bleichen Züge verschönte.
Leonhard schüttelte den Köpf.
„Leider kann ich das nicht. Meine Praxis in der Stadt würde ich Ihnen gern opfern, aber meine Kranken kann ich Ihnen nicht opfern. So oft ich es irgend möglich machen kann, werde ich zu Ihnen heraus kommen, und damit ich sicher bin, daß meine Anordnungen genau befolgt werden, damit Sie Jemand in der Nähe haben, der alle nachtheiligen Einflüsse von Ihnen fern hält, werde ich Ihnen eine zuverlässige Krankenpflegerin senden – eine junge Dame von Bildung und guter Familie, die sich dem ernsten Berufe der Krankenpflege gewidmet hat und die ich bei der Ausübung dieses Berufes habe achten lernen.“
„Ah!“ rief der Baron ein wenig enttäuscht aus, „Sie wollen mir noch ein Frauenzimmer, ein schwarzgekleidetes, melancholisch aussehendes Frauenzimmer in’s Haus senden, damit ich die Weiblichkeit in jeder Temperamentssorte um mich habe? Ich bitte Sie, Doctor! Mein Haus ist ohnehin zu voll.“
„Gerade deshalb! Sie sollen darunter zu leiden aufhören.“
„Was wollen Sie! Ich nehme ja dieses Leiden geduldig hin. Ihr Aerzte sagt uns von einem Irrigationsröhrchen, das über dem Menschenauge liegt und ihm fortwährend Feuchtigkeit zuführt, damit es rein und hell bleibt. Ich habe auch über meiner Seele solch ein Irrigationsröhrchen, das mir fortwährend die nöthige Gutmüthigkeit zuführt und die Bitterkeit vom Herzen fortspült.“
„Hilft alles nichts,“ entgegnete Leonhard lächelnd; „ich bin ein tyrannischer Arzt, und da Sie sich einmal in meine Hände gegeben, müssen Sie sich fügen. Macht das melancholische Temperament, vor dem Sie sich fürchten, Sie gar zu unglücklich, so will ich Sie wieder davon befreien – für’s Erste muß der Versuch gemacht werden.“
„Du lieber Gott!“ seufzte der alte Herr, „Sie beschwören nun noch ein neues Sturmelement über mein unglückliches Haupt herauf.“
Leonhard ließ sich nicht erweichen. Er bat nur, der Wirthschafterin die nöthigen Anweisungen zur Aufnahme der Krankenpflegerin geben zu dürfen. Das junge Mädchen selbst werde keine persönlichen Ansprüche machen, außer dem einen, nicht wie eine bezahlte Wärterin behandelt zu werden, sondern wie eine Dame, die sie ihrer ganzen Erziehung nach sei; alles Uebrige werde sich fügen, wenn sie selbst da sei. Und dann bat Leonhard noch, daß der Baron den treuen alten Andreas ihr zum besonderen Beschützer und Vertheidiger, wo es nöthig sein würde, geben möge. Wenn sie eines weiblichen Beistandes bedürfen würde, habe sie seine Mutter in der Nähe.
Der alte Herr mußte sich mit einem Seufzer in das Unabänderliche fügen – es war ja stets sein Schicksal gewesen, sich beherrschen lassen zu müssen.
Leonhard brach nun auf, um seinen Eltern den Rest des Vormittags zu widmen. Er war über den Zustand seines Patienten [260] hinlänglich orientirt, um auf den Nachmittag seine Abreise feststellen zu können, und nun drängte ihn nur noch Eines: über Edwin mit der Mutter zu reden. Als auch dies geschehen, als er dann mit dem Versprechen baldiger Rückkehr von seinem Patienten Abschied genommen, fuhr er in der Equipage des alten Herrn der nächsten Eisenbahnstation zu – gedankenreich und sinnend genug, und doch ohne zu ahnen, daß ihm böse Wünsche und zornige Worte nachflogen auf dieser Fahrt.
In ihrer ganzen Stärke und von Thränen begleiteten Heftigkeit wurden diese zornigen Worte freilich erst in der späten Abendstunde und ganz heimlich laut – nämlich im Walde. Es war, während die verehrten Cousinen aus Nord- und Süddeutschland mit dem Baron Whist spielten, Damian in der Fensternische zu der belehrenden Unterhaltung des Vetters Sergius gähnte und – – Fräulein Dora wieder einmal durch ihre Abwesenheit glänzte. Als sie endlich wieder auftauchte, sah sie auffallend blaß aus – sie klagte über Kopfweh.
„Wir haben eine Königin im Haus, eine wahre Königin, Fräulein Diering,“ sagte nach einer Woche der alte Andreas, indem er das hinter den Küchenräumen auf Haus Dortenbach liegende freundliche Wohnzimmer der Wirthschafterin betrat und die Hände vor Vergnügen zusammenschlug, „ist sie nicht wahrhaftig wie eine Königin? Regina heißt zu deutsch: Königin, Fräulein Diering.“
Das sie bezog sich auf die vor wenigen Tagen angekommene Krankenpflegerin.
„Nun ja,“ antwortete Fräulein Diering, die waltende Hauswirthin, „königlich thut sie genug; wenn mir das Königthum nur nicht ein wenig viel zu schaffen machte! Die ganze Hausordnung hat sie ja umgeworfen …“
„Wie mit einer Bewegung des kleinen Fingers,“ fiel Andreas triumphirend ein. „Wie mit einem Hauch ihres Mundes! Sie sagt: Das soll so sein, und richten Sie dies so ein! und wie sie’s sagt, geschieht’s, blos weil es für sie gar nicht denkbar ist, daß etwas, was sie anordnete, nicht geschähe. Man sieht ihr in’s Gesicht, wundert sich und thut’s.“
„Besonders,“ sagte lächelnd Fräulein Diering, „wenn man sich in sie verliebt hat, wie Sie, Andreas.“
„Verliebt – wahrhaftig, thäte sich so etwas für unser Eins schicken, und hätte man nicht seine Sechszig auf dem Rücken, man könnt’ verliebt werden in dieses Fräulein Regine; es wär’ kein Wunder und würde ihr denn auch wohl nicht zum ersten Male vorgekommen sein. … Unser lieber, weiser, junger Herr, der Herr Sergius von Sander, ist wenigstens auf dem besten Wege dazu; er macht ihr, wo er ihr begegnet, die schönsten Augen und hat schon einen verunglückten Versuch angestellt, ihr mit der Blumensprache beizukommen – Junker Damian, der ihn mit einem Strauße daher kommen sah, hatte seinen Spott darüber. Junker Damian behauptete, er sei so furchtbar gebildet; er verstehe die Blumen phonographisch herzurichten, und wenn Fräulein Regine Bertram sie in ein Glas Wasser gestellt habe, in der Mitte ihres Kämmerleins, würden sie sich zu verlautbaren anfangen und ihr plötzlich das schöne: ‚Reich mir die Hand, mein Leben!‘ zuflöten.“
„Ich fürchte nur, die Frau Generalin, wenn sie so etwas wahrnimmt, singt dem jungen Herrn etwas anderes vor – bin überhaupt neugierig, wie lange der Frieden währt da oben; daß die beiden Gnädigen grollen, daß sich über dieses Fräulein Bertram ein dunkles Gewitter zusammenzieht – das merkt man, ohne Wetterprophet zu sein; sie brauchen nur erst unter sich ihre Donnerorgeln auf denselben Ton zu stimmen – dann kann das Concert losgehen.“
„Und Sie werden Ihre Freude daran haben, Fräulein Diering, wie das Fräulein Bertram ihnen die Glocke läutet, welche solche Gewitterstürme besänftigen,“ sagte Andreas sich die Hände reibend.
Andreas war in der That sehr vergnügt; denn seit das Fräulein Regine Bertram da war – ein schönes, groß und schlank gewachsenes Fräulein, mit einem ovalen, ein wenig blassen Gesicht, in dem ein Paar merkwürdig ausdrucksvoller und glänzender blauer Augen leuchtete, war wie mit einem Zauberschlage Alles im Hause zum Bessern umgewandelt. Der alte Herr jammerte nicht mehr über seine schlaflosen Nächte; der alte Herr hörte mit Interesse auf das, was Andreas ihm erzählte, während es früher gewesen, als ob er von der ganzen Welt nichts mehr hören möge; der alte Herr unterhielt sich mit dem Fräulein wie mit einer Tochter, ja er hatte schon mehrmals über die kurzen drolligen Antworten, welche sie ihm gegeben, herzlich gelacht. Die ganze Tagesordnung war ja aber auch verändert; der Baron kam nicht mehr zum Speisen nach unten in den Eßsaal, sondern speiste für sich in dem kleinen Salon hinter seinem Wohnzimmer, er mit Fräulein Bertram und einem Eingeladenen – nur Einem; bald war es der Förster, bald der Rentmeister, bald die Frau Generalin, bald Herr Sergius etc., stets abwechselnd, sodaß immer für eine ruhige und friedliche Unterhaltung gesorgt war. Und weiter durfte sich Niemand bei ihm blicken lassen; die Whistpartie und der gemeinsame Thee waren gestrichen; statt dessen spielte Fräulein Bertram mit ihm Schach oder las ihm vor, und statt Thee bekam er alten Rheinwein zu trinken. Andreas wußte nicht, ob er mehr den Doctor oder das Fräulein Bertram dafür loben solle – jedenfalls, behauptete er, habe die Menschheit seit hundert Jahren nicht einen solchen Fortschritt gemacht, wie mit diesem Institut der „Krankenpflegerinnen“, worunter er sich etwas so ganz Anderes gedacht und vorgestellt habe.
Während Andreas so bei Fräulein Diering, die nicht verhehlte, daß sie sich unter einer Krankenpflegerin bisher auch nicht solch eine schöne junge Person vorgestellt, sein Herz ausschüttete, war Fräulein Bertram allein ausgegangen. Ueber dem schwarzen einfachen Wollkleide, welches ihre schlanke biegsame Gestalt so vortheilhaft hervorhob, trug sie ein leichtes helles Seidentuch, und so, den Kopf nur mit dem grauen Sonnenschirm schützend, ging sie in den Wald hinein, wo in der schattigen Allee der Schirm sobald unnütz wurde. Als sie die Stelle erreicht hatte, wo der Weg zum Försterhause rechts abbog, blieb sie stehen und blickte eine Weile die Allee hinunter; dann setzte sie sich wie zu stillem Warten auf die Holzbank, die seitwärts an dieser Stelle angebracht war.
Nach einer Weile kam ein rascher Schritt vom Försterhause daher – Regine Bertram blickte mit leisem Erröthen auf; sie schritt dem rasch Nahenden entgegen – und bald lagen ihre beiden Hände in denen des mit freudigen Blicken auf sie niederschauenden Mannes. Es war Leonhard. Er blickte sich um – Niemand beobachtete sie – so hauchte er wie verstohlen einen flüchtigen Kuß auf ihre Stirn, zog ihren Arm in den seinen und führte sie zu der Bank zurück, auf welcher sie gesessen.
„Wie lang Sie mich hier allein gelassen haben, Leonhard!“ sagte sie mit zärtlichem Vorwurf.
„Wenn Sie wüßten, Regine, wie meine Kranken mich bedrängt haben …“
„Wirklich? Waren es wirklich nur die Kranken, welche Sie in der Stadt zurückhielten?“
„Was sollte es anders gewesen sein?“
„Nicht auch,“ sagte sie mit einem flüchtigen, wie prüfenden Blick in seine Züge, „nicht auch ein wenig der Wunsch, mir die Zeit zu lassen, um mich gründlich in unseren alten Herrn zu verlieben?“
„Das,“ antwortete er lächelnd, „wünsche ich ja so sehr, daß ich, wenn ich auch früher gekommen, sicherlich nicht störend dazwischen getreten wäre. Aber vor Allem lassen Sie mich Ihnen danken! Aus Ihren Briefen sah ich, wie gewissenhaft Sie sich der Sache angenommen haben – der alte Herr muß sich wie im Himmel fühlen!“
„Er sagt es,“ erwiderte sie heiter. „Aber meine Gewissenhaftigkeit brauchen Sie dabei nicht zu rühmen. Daß ich so gewissenhaft bin, ist eigentlich recht schlecht von mir; denn sehen Sie, es macht mir ein boshaftes Vergnügen, daß ich mit meiner Sorge für den alten Herrn seine ganze Umgebung in helle Flammen der Empörung versetze; sie hassen mich, diese edlen Verwandten des Barons; sie ärgern sich über alles, was sich ihnen gegenüber diese hochmüthige herrische Krankenpflegerin herausnimmt, ohne nur im Geringsten ihre Einwendungen zu beachten.“
Leonhard lachte.
„Da ich dies boshafte Vergnügen ganz gern mit Ihnen theile, Regine, so darf ich Sie deshalb auch nicht schelten. Ich werde nichts thun, als in meiner ärztlichen Souverainetät Sie mit allen Rechten ausstatten …“
„O, diese Rechte nahm ich mir schon,“ fiel sie in demselben [261]
scherzhaften Tone ein, „und so habe ich täglich meine Freude daran, wie sich der Norden und der Süden Deutschlands über die Anmaßungen einer ‚Krankenpflegerin‘ hier zu Lande verwundert. Machen Sie sich auf sehr düstere Mienen gefaßt, Sie, der Sie der Hauptschuldige sind!“
„Das soll uns die Freude über das bessere Befinden unseres Patienten nicht stören. Nicht wahr, es geht ihm um Vieles besser, und ich habe Ihnen nicht zuviel von ihm gesagt? Er ist ein guter, liebenswürdiger alter Herr, eine rührende Menschenseele in all seiner Weichheit und Schwäche … und Sie haben ihn auch lieb gewonnen, Regine?“
Regine schüttelte den Kopf.
[262] „Ich weiß nicht, was ich Ihnen darauf antworten soll, Leonhard,“ sagte sie. „Ich weiß nur, daß man härter, schärfer über ihn urtheilen könnte. Das will ich nicht. Aber ihn liebgewinnen? Ich? O mein Gott – wenn es mir auch nicht fern, nicht himmelweit fern läge – ich dürfte es ja gar nicht, ich nicht.“
Leonhard schwieg darauf; wie sich in ernsten Gedanken verlierend, blickte er vor sich hin.
„Lassen Sie uns davon nicht reden!“ sagte sie nach einer Pause. „Sie haben mir versprochen, diesen Punkt nie zu berühren – Sie haben es versprochen, Leonhard, als ich Ihnen nachgab und mich bereit erklärte, hier zu thun, was Sie mir als meine Pflicht darstellten.“
„Und was es doch auch war?“
„Was es war – nun ja – freilich – streiten wir darum nicht! Ich bin ja hier und thue meine Pflicht!“
Sie schwieg eine Weile.
„Kommen Sie!“ sagte sie dann plötzlich, sich erhebend und seinen Arm nehmend, um sich zärtlich und hingebend an seine Seite zu schmiegen; „gehen wir zu ihm in’s Haus – auf dem Wege dahin habe ich Ihnen etwas zu zeigen, Leonhard.“
Sie gingen die Allee hinauf, dem Edelhofe zu.
„Wie finden Sie denn eigentlich Ihre Hausgenossen?“ fragte er. „Haben Sie wirklich, wie Sie mir schrieben, in Allem meine Vorschriften und Ihren Willen durchsetzen können?“
„Meine Hausgenossen!“ sagte sie lächelnd – „ach, sie sind nicht ganz so arg, wie ich sie mir gedacht hatte. Einer darunter ist mir sogar interessant; es macht mir ein boshaftes Vergnügen, ihn zu beobachten –“
„Und dies ist?“
„Dies ist Sergius von Sander –“
Auch der Tabak ist eine Macht. Nur zu lebhaft drängt sich uns heute dieser Satz auf, heute, wo im Schooße des deutschen Volkes um das Tabakmonopol der erbittertste Kampf entbrannt ist und Hunderttausende mit Hangen und Bangen dem Ausgange desselben entgegensehen. –
Und nicht von heute ist die Macht des Tabaks. In raschem Zuge und mit unwiderstehlicher Gewalt hat er sich innerhalb weniger Jahrhunderte über die gesammte bewohnte Erde verbreitet: In der traurigen Oede des eisigen Nordens, in den üppigen Gefilden der heißen Zone, in den culturreichen Ländern der gemäßigten Klimate, überall hin hat er seine Herrschaft ausgedehnt; unter sein Scepter beugt sich der thätige Geschäftsmann wie der einsame Gelehrte, der arme Lohnarbeiter wie der reichste Geldbaron; in den Schlössern der Könige und Kaiser sind ihm Altäre errichtet, und Dichter haben ihm ihren Tribut gespendet. Wer seine Macht in so großartiger Weise documentirt hat und heute gerade das allgemeine Interesse beherrscht, über dessen Geschichte dürften unsern Lesern wohl einige Mittheilungen nicht unwillkommen sein.
Die Heimath des Tabaks ist unbestreitbar die neue Welt. Vor der Entdeckung Amerikas haben die übrigen Erdtheile den Tabak nicht gekannt. Wie alt aber in der neuen Welt sein Gebrauch ist und was den letzteren veranlaßt hat, darüber fehlt uns jede Nachricht. Als Columbus am 12. October 1492 an der Insel Guanahani landete, bemerkten die Spanier mit Erstaunen, daß die Eingeborenen Rauchwolken aus Nase und Mund ausbliesen. Ein trockenes Kraut wickelten sie in ein Maisblatt, zündeten das eine Ende der Rolle an und sogen aus dem andern den Rauch ein. Eine solche Rolle nannten sie Tabaco, das Kraut selber aber führte den Namen Kohoba; Tabaco wurde auch ein gabelförmiges Rohr genannt, dessen Aeste die Indianer in die Nase einführten, während sie das andere, trichterförmig erweiterte Ende über die auf Kohlen dampfenden Kohobablätter hielten und den Rauch derselben einsogen. Die frischen Blätter der Kohoba waren ihnen ein sehr beliebtes Wundkraut. Auch pflegten sie Hütten, in denen Kranke lagen, mit Tabaksdampf anzufüllen, um die Schmerzen derselben zu lindern und ihre Leiden zu heilen. Sie hielten das Kraut in hohen Ehren und betrachteten es als heilig; es sei, sagten sie, ein Geschenk des großen Geistes, der, wie alle guten Geister, ein eifriger Tabakraucher sei. Wollten sie dem Herrn der Welt ihren Dank bezeigen oder den Zorn desselben versöhnen, so zündeten sie ein Feuer an und streuten ihre besten Tabakblätter als Opfer auf die glühenden Kohlen.
In Mexico, welches die Spanier bekanntlich 1519 eroberten, fanden sie den Gebrauch des Tabaks ganz allgemein verbreitet; denn überall, wohin sie im Lande kamen, sahen sie die Bewohner jener Gegenden Schilfrohre mit den trockenen Blättern füllen, denen sie Rosenblätter und wohlriechende Harze beimischten. Auf die Anfertigung dieser Rohre, in denen wir die ersten Pfeifen erkennen, verwandten die Mexicaner viele Mühe und Kunst; sie verzierten dieselben mit den Abbildungen von Blumen und Thieren und brachten goldene Zierrathen darauf an. Die beliebteste Stunde zum Rauchen war bei ihnen die Zeit nach dem Mahle, und der Kaiser Montezuma sowie sein ganzer Hof versäumten nie nach aufgehobener Tafel den Genuß des duftigen Rauchrohres, welches Seine Majestät sich von den schönsten Mädchen anzünden und reichen ließ. Daneben bedienten die Mexicaner sich des Tabaks auch schon zum Kauen und Schnupfen.
Die Spanier ahmten das Tabakrauchen sehr bald nach und fanden großes Wohlgefallen daran. Sie beschrieben, als sie in die Heimath zurückkehrten, ihren Landsleuten das merkwürdige Kraut und brachten auch Samen desselben mit. Aber in Spanien cultivirte man die Pflanze anfangs nur vereinzelt in Gärten als Ziergewächs und als Arzneimittel; man verwendete die frischen Blätter oder den ausgepreßten Saft derselben gegen Kopfschmerz, Magenbeschwerden, Gicht und Zahnschmerzen, und auf diesem Gebiete erlangte die Tabakpflanze bald einen so bedeutenden Ruf, daß berühmte Aerzte sie als ein Universalmittel gegen alle körperlichen Leiden priesen.
Nach Frankreich gelangte die Kunde von dem wunderbaren Kraute durch Jean Nicot, der sich 1560 als französischer Gesandter am Hofe zu Lissabon befand, und nach seinem Namen wurde die Tabakspflanze Nicotiana genannt; ein etwas älterer Name für dieselbe, welcher einem brasilianischen Worte nachgebildet sein soll, ist Petum. Auch in Frankreich wandte man den Tabak zuerst nur als Heilmittel an, und besonders beliebt war die Pulverform zum Schnupfen. König Franz der Zweite schnupfte sehr eifrig, um seine heftigen Kopfschmerzen zu vertreiben, und natürlich beeilten sich auch die Hofleute, zu schnupfen, ja, sogar die Damen folgten bald nach. Die Geistlichkeit gebrauchte den Schnupftabak auf’s Eifrigste als Schutzmittel „gegen die Liebe“.
Nun breitete sich der Ruf dieses Wunderkrautes rasch über die Länder aller gebildeten Völker aus. In Deutschland erhielt im Jahre 1565 der Augsburger Stadtphysikus Adolf Okko getrocknete Tabaksblätter als neues Heilmittel von einem Freunde aus Frankreich zugesandt, da er sie aber nicht kannte, schickte er sie an einen befreundeten Arzt in Memmingen; auch dem waren sie neu; er sandte sie deshalb an den berühmten Botaniker Konrad Geßner in Zürich, und diesem wurde die Vermuthung, daß diese Blätter Tabak sein möchten, von dem gelehrten Benedict Aretius in Bern, der die Pflanze bereits in seinem Garten gezogen hatte, bestätigt. Im Laufe des siebenzehnten Jahrhunderts sproßte in der Schweiz und in Deutschland schon eine ziemlich reiche Literatur über den Tabak auf.
Vielleicht aus demselben Grunde, der in Frankreich die Geistlichen Freundschaft mit dem Tabak schließen ließ, zeigten auch in Italien hohe Kirchendiener sich als wohlwollende Beschützer des heilsamen Krautes. Der Bischof Tornaboni, Gesandter am französischen Hofe, schickte den ersten Samen nach Florenz.
Nach Rom gelangte derselbe durch den päpstlichen Nuntius in Lissabon, den Cardinal de Santa Croce, und nach ihm nannte man die Pflanze Erba Santa Croce (Kraut des heiligen Kreuzes). Aber hier, am Sitze der allzeit kriegsbereiten Nachfolger Petri, erwuchs dem Tabak zuerst Widerstand, der bald in einen Vernichtungskrieg
[263] überging. Papst Urban der Achte, der mit großer Entrüstung wahrgenommen hatte, wie Laien und Geistliche während des Gottesdienstes das Tabaksgläschen gebrauchten, belegte 1624 die Schnupfer mit dem Kirchenbann.
Zu furchtbarer Grausamkeit verschärfte man die Strafen gegen den Genuß des Tabaks in Spanien, wie denn in dem berühmten Wallfahrtsorte San Jago de Compostella 1692 fünf Mönche lebendig eingemauert wurden, weil sie zur Nachtzeit auf dem Chor geraucht hatten. Aber selbst aus dem Kampfe mit dem Papstthum ging der Tabak als Sieger hervor; denn Benedict der Dreizehnte, ein leidenschaftlicher Schnupfer, gab den Gebrauch des Tabaks 1724 wieder frei.
Ebenso wenig konnte die weltliche Obrigkeit sich irgend eines durchgreifenden Erfolges im Kampfe gegen den Tabak rühmen, obwohl man fast in allen Ländern dem neuen Gebrauche mit der äußersten Strenge entgegen getreten war.
König Jakob der Erste von England schrieb höchst eigenhändig im Jahre 1603 eine umfangreiche lateinische Schrift gegen den Tabak, in welcher er zu beweisen suchte, daß das Tabakrauchen das wahrhafte Bild der Hölle darstelle und unvermeidlich zur Hölle führe. Die Universität Oxford veranstaltete 1605 eine öffentliche Disputation gegen das Tabakrauchen; in Frankreich durfte der Tabak nur auf ärztliche Anweisung von den Apotheken abgegeben werden; in Schweden mußten die Raucher zur Zeit Gustav Adolf’s Kirchenbuße thun; in Rußland knutete man sie 1634 unbarmherzig und schlitzte ihnen die Nase auf, und zu derselben Zeit machte der grausame Sultan Murad der Vierte allnächtlich in Constantinopel die Runde mit seinen Henkern; wer beim Tabak gefunden wurde, dessen Leiche lag am nächsten Morgen vor dem Hause auf der Straße. In Persien warf man Soldaten, die man rauchend bei der Pfeife ergriff, mit zerschmetterten Händen und Füßen vor die Zelte, und auch bei den Mohammedanern waren die Geistlichen, die Muftis, erbitterte Feinde des neuen Genusses.
Aber selbst die grausamsten Verfolgungen gegen den Tabak blieben wirkungslos; denn er eroberte sich mit jedem Jahre ein größeres Gebiet; zu Tausenden traten neue Verehrer schnupfend, kauend, rauchend in die Reihen der Diener des verlockenden Genusses ein, und in verhältnißmäßig kurzer Zeit war jeder Widerstand der weltlichen wie der geistlichen Obrigkeiten vollkommen machtlos geworden; der aussichtslose Kampf wurde definitiv aufgegeben, und der Tabak hatte den vollständigen Sieg in sämmtlichen Ländern, in welchen er bekannt war, errungen. Wahrlich! eine staunenswerthe Thatsache, der sich nichts Aehnliches zur Seite stellen läßt, zugleich aber ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß der Genuß des Tabaks dem Menschen wirklich große Annehmlichkeiten gewähren muß.
Sobald man jedoch die Einsicht gewonnen hatte, daß kein Mittel ausreichte, den verführerischen Gast der neuen Welt wieder zu vertreiben, änderten sofort die Regierungen ihre Stellung zu demselben. Die klugen Kaufleute der Republik Venedig waren die ersten, welche erkannten, daß der Tabak „ein sehr steuerfähiges Object“ sei. Schon 1657 erklärten sie die Fabrikation und den Handel des Tabaks für ein Staatsmonopol und gaben beides in Pacht; die ersten fünf Jahre der Pachtzeit lieferten dem Staate einen Reinertrag von 46,000 Ducaten. Diesem verlockenden Beispiele folgte sogleich die päpstliche Regierung, und binnen kurzer Frist thaten die übrigen italienischen Staaten ein Gleiches.
In Frankreich führte der Minister Colbert 1674 die Tabakregie ein; sie warf sofort enorme Summen ab, und die Erträge stiegen von ½ Million Livres im Jahre 1674 bis zu 29 Millionen Livres im Jahre 1787. Die Revolution von 1789 beseitigte neben manchen anderen höchst verhaßten Einrichtungen auch das Tabakregal, aber Napoleon der Erste sah sich 1811 aus finanziellen Rücksichten genöthigt, dasselbe wieder einzuführen.
In England beeilte man sich, da der Tabaksverbrauch in’s Ungemessene zu wachsen begann, das Monopol 1625 einzuführen, aber diese Einrichtung wurde mit der größten Unzufriedenheit aufgenommen und nach einer Dauer von noch nicht 20 Jahren während des Bürgerkrieges durch das Parlament wieder aufgehoben. Während der kurzen Dauer der Republik war der Tabakzoll sehr gering, unter dem Königthum aber wurde er sogleich bedeutend erhöht und fortwährend gesteigert; er wuchs durchschnittlich in je 75 Jahren um 100 Procent, und ähnliche Erscheinungen und Verhältnisse wiederholten sich in allen cultivirten Ländern der Welt während des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Es würde uns zu weit führen, die Geschichte des Tabaks in sämmtlichen einzelnen Staaten hier zu berücksichtigen, und so wollen wir uns nur noch etwas eingehender mit der Cultur und dem Handel des Tabaks in Deutschland beschäftigen.
Die älteste Nachricht über Tabakraucher in Deutschland giebt ein Chronist der Stadt Zittau vom Jahre 1620. Englische Hülfstruppen, welche dem böhmischen Könige Friedrich von der Pfalz zugeführt wurden, verbreiteten die neue Sitte in Deutschland, die sich so rasch einbürgerte, daß schon 1642 der bekannte Schriftsteller Moscherosch klagte, „es sei kein Stand mehr, bei dem der höllische Rauch nicht bereits Eingang gefunden hätte.“
Sobald nach dem westfälischen Frieden geordnete Zustände in Deutschland wieder eintraten, begannen weltliche und geistliche Herren den Krieg gegen den Tabak. Im Badischen mußte sogar bei den Kirchenvisitationen über diejenigen Gemeindeglieder berichtet werden, welche Tabak rauchten, oder, wie man damals fast allgemein sagte, Tabak „tranken“. Der Rath zu Bern bestimmte 1661 für das Tabakrauchen dieselbe Strafe wie für den Ehebruch.
Aber als warme Freunde des Tabaks erwiesen sich in Deutschland und Holland die Aerzte; einer derselben ließ sich sogar in seiner Begeisterung für das neue Genußmittel zu dem in der damaligen Zeit oft citirten Ausspruche hinreißen: „Einer, der studirt, muß nothwendig viel Tabak rauchen, damit die Geister nicht verloren gehen. Zwanzig Pfeifen an einem Tage zu rauchen, ist nicht zu viel.“ Sogar den „Frauenzimmern“ empfahl derselbe Arzt das Rauchen. Besondere Gunst gewann der Tabak indessen am brandenburgischen Hofe. Schon Kurfürst Friedrich der Dritte gab bei Hofe eigene „Tabaksgesellschaften“ mit feierlichem Ceremoniel, bei denen Ihrer Durchlaucht der Frau Kurfürstin das Amt zufiel, dem Herrn Gemahl mit einem Fidibus die Pfeife anzuzünden. Weit ungezwungener ging es in den Abendgesellschaften des Königs Friedrich Wilhelm des Ersten zu, die unter dem Namen des Tabakscollegiums weltbekannt sind. Friedrich der Große war ein eifriger Schnupfer, und zu seiner Zeit war Rauchen und Schnupfen in Deutschland schon ganz allgemein geworden. Goethe dagegen war ein entschiedener Feind und Verächter des Tabaks, auch Lessing (nach seinem eigenen Zeugniß) und Immanuel Kant haben nicht geraucht, Schiller aber schnupfte mit großer Vorliebe.
Es ist selbstverständlich, daß die lebhafte Nachfrage bald einen sehr blühenden Handel mit Tabak hervorrief. Englische und vor allem holländische Handelshäuser erwarben damit in kurzer Zeit große Reichthümer, aber auch Bremen und Hamburg blieben nicht zurück. In Holland fing man schon 1615 zu Amersfort an, Tabak zum Verbrauch anzubauen, und dieser erste Versuch auf dem europäischen Continente gelang vollkommen. Rasch breitete sich nun die Tabakscultur im Gelderlande, um Utrecht und in einigen andern Gegenden Hollands aus, und in Amsterdam und Rotterdam erstanden ansehnliche Tabaksfabriken.
In Deutschland traten vielfach die Behörden der Ausbeutung des neuen Erwerbszweiges auf’s Thörichtste entgegen. Als ein deutscher Kaufmann 1620 in Straßburg größere Ackerflächen mit holländischen Tabaksamen bestellte, verbot der Rath der Stadt lange Zeit den Anbau, weil die Cultur des Getreides dadurch beeinträchtigt werden könnte. Aber auch diesen Zopf überwand der Tabak bald; denn schon 1660 wurde im Elsaß, im Bisthum Speier, in der Markgrafschaft Baden und im Breisgau Tabak auf größeren Flächen gebaut, und von hier aus breitete sich der Tabaksbau auch über andere Gegenden Deutschlands aus. Als die Heere Ludwig’s des Vierzehnten die Pfalz auf unmenschliche Weise verwüstet hatten, verließen viele nun brodlose Bewohner die Heimath; die meisten derselben fanden im Brandenburgischen gastliche Aufnahme, und von ihnen wurde die Cultur des Tabaks in die Gegenden von Brandenburg und Halle, in Schlesien und Thüringen eingeführt. Der große Kurfürst, der klüger war als der Rath der Stadt Straßburg, begünstigte den Anbau des Tabaks auf’s Emsigste.
Der Erzeugung des Rohproductes folgte die Anlage von Fabriken auf dem Fuße. Um 1677 war in Spanien eine große königliche Schnupftabakfabrik in Sevilla entstanden, welche den sehr fein gepulverten Spaniol herstellte; die Schnupftabakfabriken in Italien bereiteten zuerst den Rappée, und von letzterem Lande aus begab sich ein Fabrikant, Bolongaro mit Namen, nach Deutschland und legte die erste deutsche Schnupftabakfabrik in Höchst an. Im [264] Jahre 1718 errichtete der Markgraf von Baden-Durlach eine große Fabrik in Pforzheim, und gründete ein Baseler, Samuel Schook, eine Fabrik in Berlin. Die Geschäfte gingen überall vortrefflich; die Zahl der Fabriken mehrte sich rasch, und im Anschluß an die Thätigkeit derselben blühten auch andere Industriezweige auf; in Köln z. B. und in Almerode in Hessen fabricirte man in Massen die aus Thon gebrannten Pfeifenköpfe, welche zuerst die Holländer nach dem Muster der Indianerpfeifen angefertigt hatten.
In der Fabrikation der Pfeifen sowie der Gläser und Dosen für Schnupftabak entwickelte sich bald ein bedeutender Luxus; denn in kaum fünfzig Jahren waren Tabak und Tabaksgeräthe für Industrie und Handel Artikel ersten Ranges geworden, und ihre Bedeutung stieg mit jedem Jahrzehnt. Die Continentalsperre unter Napoleon brachte zwar dem Tabakhändler und -Fabrikanten schweren Schaden, aber nach dem Sturze des Gewalthabers trat eine neue, frische Blüthezeit ein, die bis auf die Gegenwart in stetig fortschreitender Entwickelung angedauert hat. Der Raum gestattet hier nicht, allen Phasen unseres Gegenstandes zu folgen; es sei uns nur noch gestattet, die Verhältnisse der Gegenwart kurz zu betrachten.
Die Production des Tabaks ist zu riesigen Verhältnissen angewachsen; sie beträgt gegenwärtig jährlich in Nordamerika Millionen Centner, auf Cuba 610,000, in Brasilien 300,000, in Ostindien 150,000, in Oesterreich 100,000, in den Niederlanden 85,000, in Italien 93,000, in Rußland 180,000, in Deutschland Million Centner, und zwar in letzterem Lande in Preußen rund 230,000, in Baden 242,000, in Baiern 156,000, in Elsaß-Lothringen 160,000, in Hessen 31,000 Centner. Die Tabaksproduction der ganzen Erde beträgt etwa 13 Millionen Centner jährlich. Der jährliche Consum, auf den Kopf der Gesammtbevölkerung berechnet, beläuft sich in Rußland auf 1 Pfund, in Frankreich und England ebenfalls auf je 1 Pfund, in Italien auf 1½ Pfund, in Cuba auf Pfund, in Oesterreich auf Pfund, in Nordamerika und Deutschland auf je 3 Pfund, in Belgien auf Pfund, in Holland auf Pfund. In allen unseren modernen Großstädten wird mehr Geld für Tabak als für Brod ausgegeben.
Während vor noch nicht sehr langer Zeit bei uns der Tabak überwiegend aus Pfeifen geraucht wurde, sind jetzt fast nur noch Cigarren üblich. Nach den Angaben der Tabaks-Enquête-Commission des Kaiserlichen Statistischen Amtes fabricirt Deutschland jährlich 5,259,000 Mille Cigarren, während es aus Amerika (von Cuba, den Philippinen und dem nördlichen Südamerika) zusammen etwa 93,000 Mille fertiger Cigarren importirt. Zu den in Deutschland fabricirten Cigarren werden etwa 751,400 Centner Tabaksblätter verbraucht. Da unser eigenes Land deren aber Million Centner producirt und an überseeischen Blättern nur etwa 700,000 Centner importirt, von denen ein bedeutender Theil zu Pfeifen-, Schnupf- und Kautabak verarbeitet wird, so ergiebt sich aus diesen Zahlen die Thatsache, daß die meisten in Deutschland zum Verbrauche kommenden Cigarren vorwiegend aus deutschen Tabaksblättern hergestellt werden.
Freilich bedarf unser Tabak einer besonderen Nachhülfe, um ihm den zu großen Nicotingehalt (er beträgt bis 11 %, bei den besten Havanablättern nur 2 %) zu benehmen und ihn im Geruch und Geschmack dem überseeischen Producte ähnlich zu machen. Es geschieht dies dadurch, daß man die abgelagerten Blätter einige Tage lang in einer Lösung von Weinstein und Salpeter liegen läßt und dann die wieder abgespülten und getrockneten Blätter oder auch die fertigen Cigarren durch eine vielfach zusammengesetzte Brühe parfümirt. Zu derselben verwendet man Lorbeerblätter, Wachholderbeeren, Coriandersamen, Cubeben, Rosinen, Cascarillrinde, Storax, Wein, Cognac, Bierwürze und ähnliche Sachen, je nach dem specifischen Geruch, den man erzielen will. Jede Fabrik hat ihre eigenen, meist geheim gehaltenen Recepte. Auch die importirten Blätter werden gewöhnlich mit einer solchen Brühe behandelt, und ohne die letztere werden Cigarren oder Tabak in Deutschland fast gar nicht fabricirt, während man auf Cuba, in Virginien etc. diese Brühe niemals in Anwendung bringt.
Der beste Tabak auf Cuba wächst in dem wenige Quadratmeilen großen Gebiete der Vuelta Abajo, dem „niedern Felde“, einige Meilen westlich von der Stadt Havana. Hier verarbeitet man ihn in folgender Weise: Die reifen Tabaksblätter werden vorsichtig abgenommen und in Haufen gelegt, in denen sich eine starke Hitze entwickelt, welche den Tabak in eine leichte Gährung übergehen läßt. Zur rechten Zeit werden die Blätter aufgenommen, getrocknet und von den größeren Rippen sauber abgestreift. Man legt sie nun in Fässer und bedeckt sie leicht mit den eigenen abgestreiften Rippen und andern Abfällen. So lagern sie acht bis neun Monate, bis sie tauglich zur Verarbeitung sind. Diese geschieht nie bei Regenwetter, sondern nur an heißen und trockenen Tagen. Man feuchtet die Blätter mit reinem Wasser ein wenig an, um sie geschmeidig zu machen, und in offenen Schuppen beginnen nun Neger, auch wohl Negerinnen, die Herstellung der Cigarren; ein Messer und die Cigarrenform sind dabei ihre einzigen Werkzeuge. Man scheidet in Havana die Cigarren nach der Güte der Blätter und der Vollkommenheit der Arbeit in fünf Sorten. Das Tausend der ersten Sorte kostet an Ort und Stelle etwa 1500 Mark, die geringste Sorte von ganz kleinem Format etwa 140 Mark. Nun berechne man nach diesen Angaben, was eine wirklich echte Havannacigarre in Deutschland kosten muß! Im ganzen deutschen Reiche giebt es etwa nur 100 Firmen, welche Cigarren, die auf Cuba gemacht worden sind, importiren. Die bedeutendsten derselben sind in Bremen und Hamburg.
Nach den durchaus zuverlässigen Angaben der obengenannten Commission werden von den deutschen Rauchern jährlich etwa 312 Millionen Mark für Tabak verausgabt. Die Zahl der Verkaufsstellen für Tabaksfabrikate beträgt im deutschen Reiche zur Zeit rund 368,000. Zieht man nun diesen gewaltigen Umfang des deutschen Tabakhandels in Betracht, so kann man allerdings der Behauptung Glauben schenken, daß das deutsche Reich aus den Summen, die gegenwärtig am Tabak verdient werden, sämmtliche Ausgaben für Armee und Flotte bestreiten könnte.
Also würde ein kaiserliches Tabaksmonopol aller unserer Finanznoth sofort ein Ende machen?
Die Antwort auf diese Frage muß jedem vorurtheilsfreien Beurtheiler mindestens höchst zweifelhaft erscheinen. Sicher ist durch vielfache Erfahrung der Satz wenigstens festgestellt, daß staatliche Monopole noch nie irgend einem Fabrikations- oder Handelszweige aufgeholfen, wohl aber empfindlich geschadet haben.
Auch Preußen hat das Tabaksmonopol schon einmal besessen; Friedrich der Große führte es 1765 ein, doch schon sein nächster Nachfolger hob es auf. Solche staatliche Monopole sehen überhaupt den verabscheuten Träumen der Socialdemokratie verzweifelt ähnlich. Der Tabak ist ein Luxusartikel, und er kann eine hohe Steuer tragen; der Boden aber, auf dem bisher jede Industrie, jeder Handelszweig sich am blühendsten entwickelt hat, heißt freie Concurrenz, denn sie ist die Mutter der Intelligenz; sie entwickelt alle diejenigen Kräfte und Eigenschaften, welche den wahren, besonnenen Fortschritt fördern und den Menschen zum Menschen machen.
Muthigste aller Frauen! Sie wollen es also wirklich noch ferner mit mir wagen? Und nach der gluthhauchenden, farbenglühenden Wiege unseres Menschengeschlechtes, nach Asien soll es wieder gehen? Wohlan denn – es sei! Sie schwingen den Zauberstab Ihres allmächtigen Willens, und in demselben Moment sehe ich mich auch schon um zwanzig Jahre zurückversetzt, befinde ich mich wieder an Deck Seiner Majestät Corvette „Möve“ und ertheile Befehl, zu Anker zu gehen. Sie winkten, und das gute Schiff schaukelt sich bereits auf der Rhede von Singapore, angesichts der Insel gleichen Namens. Wir sind zur Stelle!
Welch ein schönes Ziel! Die Insel ist landschaftlich mit allen Reizen geschmückt, welche die Phantasie nur erdenken kann; sie ist mit einer selbst in den Tropen überraschend üppigen Vegetation und einem herrlichen, bei aller Hitze doch gesunden Klima bedacht – in Wahrheit ein kleines Paradies auf Erden.
Die Stadt an sich war damals noch durchaus nicht schön zu
[265]
Wenn uns im Kranze, der zu einer Feier
Uns winkt, der Name „Friedrich Fröbel“ grüßt,
So lächelt Kinderlust im Geist uns an,
Wir fühlen Waldesluft uns frisch umwehen,
Steig über Reihen stiller Herzensthaten
Des Volkes Bild in schönrer Zukunft auf.
Und all dies schuf des einen Mannes Streben
Mit seinem Wort: „Laßt uns den Kindern leben!“
Ein weites Thor für einen neuen Weg
Zum Menschenheile auf der Wahrheit Boden.
Mit dem Gesetz der lebenden Natur
Im Einklang fordert er des Menschenlebens
Den Gang der Menschenbildung an, sobald
Des Kindes Mund mit seinem ersten „Ich“
Des Selbstbewußtseins seinen Geist verkündet.
Den schöpferischen Trieb im Kind zu wecken,
Den Grund zum Mann zu legen – den Beruf
Vertraute er der Frauen Geist und Herzen,
Und so erhob er sie zu höh’ren Ehren,
Als je ein Meister Frauenlob vermocht.
Zu seinem Ziel – und hat er es erreicht?
Sein Ziel ist Ideal, ist unerreichbar –
Beglückend ist der Weg zum Ziel allein.
Sein Weg war lange eine Dornenbahn;
War er auch – der Prophet im Vaterlande.
Da zog er, ein Apostel seiner Lehre,
Von Ort zu Ort, und wo er Kinder fand,
Da nahm er sie, wie sie die Straße bot,
Und schloß den Reihen und begann sein Spiel.
Gelehrig sind die Kinder für die Lust;
Erst leise und verzagt, dann laut und lauter
Erschallt zu Spiel und Tanz das Koselied.
Und aus den Häusern strömet Alt und Jung
Zum nie erlebten Anblick. Lockend winkt er,
Ein hoher Greis, den Kindern zu – die ducken
Sich ängstlich in der Mütter Mantelfalten,
Die Schaar vermehrend und den hellen Jubel.
Und sieh, da ruckt’s und zuckt’s im Zagsten auch –
Ob scheu den Finger noch im Munde, folgen
Sie doch dem Wink – und voll ist nun der Kranz.
Die klugen Väter sich kopfschüttelnd zu:
„Es ist ein alter Narr!“ – Doch, klügern Herzens
Erkennen Mütter bald der Spiele Deutung
Und schau’n voll Andacht auf den selt’nen Mann.
Kommt langsam näher, weilet lange dann
Und scheidet als ein Jünger des Apostels.
Die Kinder aber seh’n und hören nur
Sein leuchtend Auge, seine sanfte Stimme,
Die Händchen in die seine – selig lacht
Das ganze Herz aus ihren lieben Blicken. –
So warb Er sich Gemeinde um Gemeinde
Und überwand die Spötter und die Feinde.
Gewonnen für des Volkes Kindergärten.
Doch daß sie recht des Volkes Gärten werden,
Ist einer neuen Arbeit Mühe werth. –
Wohl hatten Friedrich Fröbel’s Seheraugen,
Die große Zukunft seines Werks erschaut –
Wie eng auch noch der Kreis der Jünger war,
Den er zurückließ; die Begeisterung,
Die nur der Wahrheit heil’ger Geist erzeugt,
Und wenn uns heut’ in allen deutschen Gauen
Der „Kindergärten“ Blüthenreich erquickt,
wenn es von Land zu Land durch ganz Europa
Der Kindheit erste Lust und Liebe hegt,
Eroberte mit seinem Freudenbanner,
Wenn an der Südsee äußersten Gestaden
Die Spiel- und Koselieder wiederhallen –
Und Friedrich Fröbel’s Hundertjahresfest
In allen Zungen – ist’s des Meisters Geist
Und seiner Jünger That, die Das errungen.
Uns aber ruft die Pflicht, des Meisters Werk
Nach seines Herzens Ziele zu vollenden:
Die, weil sie arm sind, vor dem Zaune steh’n.
Treu Fröbel’s Wort: „Ich seh’ in jedem Kinde
Die Möglichkeit, ein ganzer Mensch zu werden“,
Sei jedem Kinde seiner Zukunft Recht
Nicht Mitleid und Mildthätigkeit allein
Darf solche Gärten gründen und erhalten:
Des deutschen Namens Ehre fordert sie;
Es fordert sie des Vaterlandes Wohlfahrt.
Die Armuth sei kein Fluch schon für die Kinder!
Der Reichthum schändet sich, wo er dies duldet.
O, weihet Friedrich Fröbel’s Ehrenfest
Durch den Entschluß zu frischer schöner That!
Zur rechten Lust und Liebe auch den Armen –
Aus freier Menschenpflicht, nicht aus Erbarmen!
Thut’s – und beneidenswerth ist euer Herz.
nennen, machte aber den ersten Abend, als ich sie durchstreifte, mit Hülfe der trügerischen Dunkelheit einen ziemlich erfolgreichen Versuch, sich wenigstens als „malerisch“ in meine Phantasie einzuschmuggeln.
Ueber die Esplanade, den großen öffentlichen Spaziergang schlendernd, war ich allmählich immer tiefer in ihre Straßen hinein und endlich in den malayischen Theil derselben gerathen.
Die kleinen, unregelmäßigen Gebäude mit ihren reisstroh- und palmengedeckten Dächern erschienen, vom täuschenden Mondlicht umwoben und in prachtvollen Bäumen halb versteckt, anmuthig genug und hoben sich bizarr vom nächtlichen Himmel ab. Und zwischen diese lose aus Bambus und Brettern zusammengefügten Hütten schoben sich winzige steinerne, in europäischer Art aufgeführte Häuser, mit weit geöffneten Thüren, durch die hindurch man einen ungenirten Blick in’s Arbeits-, ja in’s Familienleben werfen konnte.
[266] Diese naturwüchsige Unbekümmertheit ist überhaupt ein charakteristischer Zug jener paradiesischen Gegenden, und nur zu oft wandte sich mein von der Cultur und ihrem Schicklichkeitscodex dressirter Blick verlegen ab und einer andern Richtung zu, um dann freilich nicht selten von der Scylla in die Charybdis zu gerathen. Manch liebes Mal lehnte ich aber auch, unbehelligt von solchen Scrupeln, an den Thürpfosten und blickte in die erleuchteten Flure und Werkstätten mit ihrem munteren Treiben und den scharf abgegrenzten Figuren, die – mit allerlei fremdartigen Apparaten hantirend – sich in ihnen herumbewegten.
Ueberhaupt herrschte unerachtet der späten Abendstunde noch reges Treiben in der Stadt. Dunkle Gestalten huschten an mir vorüber, mich manchmal hart streifend und mit ziemlich drohenden Mienen musternd, dabei in dem ungewissen Licht, das aus den erleuchteten Häusern fiel, so spitzbübische Physiognomien aufweisend, daß die Hand mehr denn einmal zum Säbel griff und ihn unwillkürlich in der Scheide lockerte. Aber auch sanfte, schöne Augen lugten unter dem übergeworfenen Kopftuche verstohlen nach dem Fremden, und gazellenleichte Tritte veranlaßten mich, den Kopf zu wenden und den schlanken Mädchengestalten nachzublicken.
Mehr denn je lernte ich an diesem Abende des bekannten Bagdader Kalifen Leidenschaft begreifen, nächtlich herumzuschweifen und seine Allerhöchste Nase in Alles zu stecken.
Noch öfter hätte ich wohl diesen neu erwachten Harun al Raschids-Neigungen gefröhnt, wenn meine Unternehmungslust nicht in andere Bahnen gelenkt worden wäre. Ich hatte nämlich die Bekanntschaft eines Mr. W…, eines gleich mir passionirten Nimrods gemacht, und durch ihn wurde es mir ermöglicht, den Traum meines Jägerherzens zu verwirklichen und eines Tages nach den Dschungeln zur heißersehnten Tigerjagd aufzubrechen.
Wie Amerika und Afrika seine Urwälder, so hat Indien seine Dschungeln. Sie sind das Product eines überaus ergiebigen und fruchtbaren Bodens und der großen Feuchtigkeit jener Gegenden, welche zusammen eine Vegetation erzeugen, so üppig, so großartig, wie man sie ähnlich kaum anderswo antreffen dürfte. Man ist aber im Irrthum, wenn man annimmt, daß die Dschungel nur auf sumpfigem Boden gedeihe. Sümpfe und Wasserlachen giebt es in ihnen allerdings, mehr vielleicht sogar als in anderen Wäldern, aber ebenso oft mächtige Strecken trocknen Bodens und sogar recht ausgedörrter Erde. Das eigentlich Charakteristische an ihnen sind die dicken, durch Unterholz und Schlingpflanzen zu fast undurchdringlichen Mauern verwachsenen Dickichte und das übermannshohe Gras, das die lichten Stellen überwuchert.
Auf diese Lichtungen tritt Morgens und Abends das Wild zur Aesung heraus, und hier sind die gegebenen Punkte, ihm auf dem Anstand aufzulauern. Wer nun die Gegenden und ihre vierfüßigen Bewohner kennt, wird sich zu diesem Behufe nicht sorglos auf ebener Erde aufstellen, sondern er baut sich schon vorher auf einem mittelhohen Baume, maskirt durch grüne Zweige, ein Nest, eine sogenannte „Kanzel“, um von ihr aus zu operiren und sich nicht ungedeckt dem tödtlichen Sprunge wilder Bestien auszusetzen.
Von Tigern zumal, und zwar von solchen der stärksten und bösartigsten Sorte, wimmelte damals Singapore. Theils eingeboren, theils von Malakka herüberschwimmend, überflutheten sie die Insel und machten sie im höchsten Grade unsicher. Bis in die Straßen der Vorstädte selber wagten sich die hungrigen Ungethüme, und erst kurz zuvor war es einem derselben gelungen, sich ebendort den mittelsten von drei auf einem offenen Gefährt sitzenden Kulis herunterzuholen und fortzuschleppen. Man berechnet die Opfer dieser Bestien jährlich auf fünfhundert Menschen, und es waren besonders die in den Dschungeln arbeitenden Chinesen, die den ersten Anprall auszuhalten hatten und nahezu decimirt wurden. Diese betriebsamen Leutchen, die es unternommen, den Boden durch Ausroden des Gestrüpps und Anlage von Kaffee- und Tabakplantagen immer mehr zu cultiviren, bildeten unter sich Gesellschaften von je zwanzig bis dreißig Mann, die unter einem selbstgewählten Oberhaupte, dem sogenannten „headman“, standen und wirklich Anerkennenswerthes in der Urbarmachung des Landes leisteten. Je mehr die Tiger nun aber unter ihnen aufräumten, und je fragwürdiger mithin das Lohnende ihrer mühseligen Arbeit wurde, desto mehr mußte es sich die Regierung angelegen sein lassen, eine Abhülfe zu schaffen. Es wurden denn auch namhafte Prämien, bis zu hundert Rupien (zweihundert Mark) auf die Tödtung eines Tigers gesetzt, aber ohne sonderlichen Erfolg. Auch das Auskunftsmittel, das gefährliche Raubzeug in tiefen, mit grünem Buschwerk überdeckten Gruben zu fangen, erwies sich als unzureichend. Endlich wurden sogenannte „Tigerstationen“ errichtet und mit je vier bis sechs Mann, meistens Malayen, die geneigt waren, neben ihrem Tagelohne noch die Prämie zu verdienen, aber auch nicht anstanden, ihr Leben dagegen einzusetzen, belegt. Diesen Stationisten fiel die Aufgabe zu, die Erlegung der Bestien gewissermaßen systematisch zu betreiben.
Mr. W. und ich langten denn am Nachmittage eines glühenden Tages nach beschwerlichem Marsche durch die Dschungeln bei der Station, wo die meisten der von Malakka herüberschwimmenden Thiere landen sollten, an. Das Glück wollte uns wohl. In „Old Sam“ lernten wir einen ziemlich intelligenten braunen Malayen kennen, und der alte Stationist erfreute unsere Herzen sofort mit der Nachricht, daß er in der Nähe die Spuren eines starken Tigers gefunden und daß, obgleich diese Thiere einen bestimmten Wechsel nicht einzuhalten pflegten, doch mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten sei, derselbe würde den Platz auch in heutiger Nacht aufsuchen. Wir begaben uns natürlich sofort nach der bezeichneten Stelle und fanden dieselbe, eine kleine, von einzelnen Bäumen bestandene Lichtung, zu unserem Zwecke wie geschaffen. Von drei Seiten umgab den Platz dichtes Bambus- und Dornengebüsch; die vierte war von einer steil in die Höhe steigenden Felswand abgeschlossen, und dicht unterhalb dieser strebten, hart neben einander, die beiden Bäume, die wir ausersahen, um uns in ihren Zweigen die bergenden Nester zu bauen, empor.
Nachdem alle nöthigen Vorbereitungen getroffen, verfügten wir uns zur Stationshütte zurück, um uns durch einen kurzen Schlaf zur bevorstehenden Nachtwache zu stärken. Meine „tigergewohnten“ Gefährten schnarchten denn auch bald um die Wette, während ich, der Neuling, mich fieberhaft erregt umherwälzte.
Da aber in jenen Gegenden die Sonne schon kurz vor oder nach sechs Uhr untergeht und dann sofort, ohne jede vermittelnde Dämmerung, tiefe Finsterniß eintritt, sollte meine Geduld nicht auf eine zu harte Probe gestellt werden; bald nach fünf Uhr brachen wir bereits wieder nach der Lichtung auf. Begleitet waren wir von Sam und einer Ziege, die als mitleiderweckendes Lockungsmittel für die Tiger dienen sollte.
An Ort und Stelle angekommen, banden wir die arme Geis inmitten des Platzes und im Bereich unserer Schußwaffen an einen Pfahl, warfen ihr noch ein Bündel duftender Kräuter, ihre Henkersmahlzeit, vor, und dann bestiegen Mr. W… den einen, Sam und ich den andern Baum; wir richteten uns auf ihnen, so gut es gehen wollte, für die Nachtwache ein.
Und tiefer und tiefer sank die Sonne; schwächer und schwächer tönte das Rauschen der Seebrise; die Dunkelheit und mit ihr lautlose Stille trat ein. Doch nicht auf lange! Von Osten her goß bald ein anderer silberner Schein sein magisches Licht über die Gegend. Der Mond ging auf und – langsam emporsteigend und immer andere Schatten erzeugend – schuf und webte er wundersame Wahngebilde. Bald erschien die seltsam beleuchtete Scene dem getäuschten Auge als ein herrlicher Park, mit Marmorstatuen und Cascaden geschmückt, bald als mächtige Stadt mit Thürmen, Kuppeln und Palästen, bald als wilde Felspartie mit starren, bizarren Steinmassen, immer aber phantastisch lockend und reizend. Und mit dem heller fluthenden Lichte erwachte auch das nächtliche Leben der Wildniß. Das eintönige Summen und Surren der Musquitos ließ sich mehr und mehr vernehmen; ab und zu wurde es unterbrochen von dem Schrei des Eisvogels, dessen Ruf täuschend dem Ton eines über dünne Eisfläche gleitenden Steines ähnelt; zwischendurch erhob der wilde Pfau seine schrille Stimme, oder riefen sich Eulen und Käuze ihr unheimliches Losungswort zu, und schwirrend und sausend streifte die wunderliche Gestalt des fliegenden Hundes die leise unter seinem Flügelschlag erschauernden Blätter.
Wie gebannt saß ich und lauschte dem geheimnißvollen Weben der Nacht – da – plötzlich bewegte es sich im Dickicht. Die Ziege schrak zusammen und stieß ein leises, ängstliches Meckern aus, dabei scheu den Kopf nach der verdächtigen Richtung wendend. Unsere Finger flogen an die Drücker der Büchsen. Eine Pause athemloser Erwartung, während welcher ich das Klopfen meines Herzens zu hören glaubte, dann wieder und verstärkter das Geräusch brechender Zweige – ein jähes Auffahren der gefesselten Ziege, ihr todesängstlicher Aufschrei, ihre vergeblichen Fluchtversuche [267] und dann ein mächtiger, dunkler Körper, der aus dem Dickicht heraus und in furchtbarem Satz dem armen Geschöpf an die Kehle sprang. Ich hörte den gurgelnden Todesschrei des gefällten Opfers, hörte das Krachen der zermalmten Knochen gleichzeitig mit dem winselnden Geheul des Tigers, und im Nu lag meine Büchse an der Backe und donnerte mein Schuß durch die Nacht.
Die getroffene Bestie stieß ein furchtbares Gebrüll aus, ließ ihre Beute fahren und schnellte rachedürstend nach unserer Richtung hin. Im Sprunge aber brach sie zusammen und kroch nun unter markerschütterndem Wuth- und Schmerzensgeheul bis unmittelbar unter die Zweige meines Baumes. Hier hob sie sich krampfhaft auf die Vordertatzen und starrte mit weit aufgerissenem Rachen und glühenden Augen zu uns empor.
Um die Qualen des Thieres durch einen gut gezielten Schuß zu enden, legte ich abermals an, beugte mich weit über den Rand der Kanzel hinaus und – verlor plötzlich das Gleichgewicht. Die Waffe entfiel meinen Händen und, jäh herniederstürzend, konnte ich nur noch in instinctivem Erhaltungstrieb einen Ast ergreifen und mich an ihm anklammern.
„Und da hing ich und war’s mir mit Grausen bewußt“[WS 1] – daß meine Füße sich nämlich fast schon im Bereiche des wüthenden Ungethüms, dessen heißer Athem zu mir empordampfte, befanden und daß der Ast, der mich hielt, mehr und mehr nachzugeben begann und binnen Kurzem zu brechen drohte. Wie lange ich in dieser Situation zwischen Himmel und Höllenrachen geschwebt, vermag ich nicht anzugeben; vermuthlich nur Minuten – mir kamen sie wie ebenso viele Stunden vor, und nur wie im Traume hörte ich endlich Sam’s Ruf: „Kann nicht schießen! Füße hoch!“
Mechanisch zog ich die Beine an mich, laut krachte der Ast bei der Bewegung und tiefer und tiefer bog er sich; ich befahl meine Seele Gott – da – ein Schuß – ein zweiter – und dann – dann knackte es und brach es über mir und unter mir und ich stürzte herab – nun lag ich unmittelbar neben dem Körper des verendenden Thieres.
Meine braven Gefährten waren sofort von ihren Bäumen und an meiner Seite, bereit, mich vor den etwa noch zuckenden Klauen und Krallen des Ungeheuers zu schützen, hatten aber nur nöthig, mir wieder auf die Beine zu helfen, auf die ich mich zwar etwas betäubt, aber – dem Höchsten Dank! – ganz wohlbehalten erheben konnte. Der Rest der Nacht verlief ohne fernere Abenteuer, und mit Morgengrauen kehrten wir, nachdem wir Sam in den Alleinbesitz der verdienten Prämie gesetzt und außerdem noch reichlich belohnt hatten, heim, todtmüde zwar, aber sehr befriedigt, und ich außerdem noch im Besitz des prachtvollen Tigerfells.
Unser Aufenthalt in Singapore ging nunmehr seinem Ende zu, nicht aber, ohne mir zuvor einen zweiten Lieblingswunsch zu erfüllen. Ich sollte noch einen indischen Fürsten kennen lernen und zwar in seinem eigenen Heim. Der Maharajah von Johore nämlich, der Regent des auf Malakka gelegenen Landes gleichen Namens, hatte große Besitzungen auf Singapore und ganz in der Nähe der Stadt seinen Lieblingswohnsitz; unser Commandant, der ihm seinen officiellen Besuch angesagt, forderte uns auf, ihn zum Fürsten zu begleiten.
In mehrere Wagen vertheilt, machten wir uns auf den Weg. Die Hitze war groß, das Aechzen und Stöhnen darüber aber noch größer; ich allein lamentirte nicht mit, da meine Gedanken viel zu angenehm beschäftigt waren, als daß sie die Nichtigkeiten dieser Erde gewahr geworden wären. Mächtiger, schaffender Brahma! Erhaltender Wischnu! Wie arbeitete meine Phantasie! Welche zauberhafte Gebilde aus „Tausend und einer Nacht“ stiegen vor ihr auf und umgaben die Person des indischen Rajah mit märchenhafter Pracht und Herrlichkeit! Aber – o gütiger, zerstörender Siwa! – wie sollten meine Luftschlösser zusammen- und ich aus allen meinen Himmeln stürzen, als wir vor der indischen Residenz einem großen, mit luftigen Veranden umgebenen Gebäude, anlangten und an seiner Schwelle von einem überaus wohlbeleibten, braunen Menschen empfangen wurden; Turban, bloße Füße, europäisch geschnittene Kattunjacke nebst eben solchen Beinkleidern – das war seine sehr primitive Toilette, und diese Erscheinung entpuppte sich als – der Erbprinz von Johore.
Der Anblick des Maharajah selber aber sollte mich fast noch mehr ernüchtern. Inmitten eines sehr bunt eingerichteten Salons stand ein erstaunlich dicker alter Herr mit gutmüthigem, aber entsetzlich nichtssagendem Gesicht, enorm breitem Munde und fast verquollenen Augen. Gekleidet war er in eine gelbe Nankingjacke, weite weiße Hosen und weiße Weste; um die unförmigen Hüften schlang sich ein bunter Shawl, in dem der Kriß (Dolch) stak, und um den Kopf ein schlafmützenartiger Turban, während die Füße mit Sandalen geschmückt, sonst aber nackt waren. Prüfte man aber diese Toilette Seiner indischen Hoheit näher, dann fand man allerdings, daß der Glanz an ihr nicht gänzlich fehlte, wenn er auch nur da zu finden war, wo man ihn nicht erwartete. Die unförmig großen Knöpfe an der Jacke stellten sich nämlich als massiv goldene heraus und zeigten in ihrer Mitte je einen Brillant von gewiß sehr beträchtlichem Werthe. Aehnlich reich und kostbar waren auch die Sandalen verziert, und zahlreiche funkelnde Ringe schmückten außerdem noch Finger und – Zehen des hohen Herrn. Wir fanden ihn umgeben von seinen vielen Söhnen, unter denen sich ein paar bildschöne Menschen befanden; leider trugen auch sie schon die Spuren eines Embonpoints an sich, in dessen unförmiger Entartung die Formen ihres Vaters und der Aeltesten unter ihnen sich bereits aufgelöst hatten.
Nach einer längeren Unterhaltung, die, wie alle derartigen officiellen, durch den Dolmetscher vermittelten Gespräche, nicht gerade durch sprühenden Geist sich auszeichnete, führte uns der Rajah zu seiner Waffensammlung, und hier konnte sich das Auge von aller bisher geschauten Geschmacklosigkeit erholen. Selten sah ich schönere Arbeit und zierlichere Ausführung als an jenen dort bewahrten Prachtstücken. Die Griffe der zahllosen Dolche und Lanzen wiesen kostbare Fassungen von rothem Gold und verschwenderisch verstreuten edlen Steinen auf; die Klingen waren haarscharf und von vorzüglicher Güte. Daß die meisten dieser schönen Waffen, die alle in seltsam geformten Holzfutteralen steckten, vergiftet waren, dieser Umstand konnte uns nicht sonderlich in unserer Bewunderung stören, und nur ungern rissen wir uns endlich von ihrem Anblick los, um der Aufforderung zu einem süperben, nur leider wieder ganz europäischen Frühstück Folge zu leisten und darnach, uns von dem Rajah verabschiedend, die Rückfahrt anzutreten.
Seit jenen Jahren sind unser hoher Wirth und sein Erbprinz zu ihren Vätern versammelt worden. Bei meiner letzten Anwesenheit in Singapore trat mir in dem damaligen Maharajah eine völlig fremde Persönlichkeit entgegen. „Sir Abu Bakar“ unterscheidet sich aber von seinen vorerwähnten, erlauchten Verwandten auf das Vortheilhafteste. Gekleidet in eine etwas phantastische, aber nicht geschmacklose Mischung von reicher, gold- und juwelengestickter englischer Uniform und landesüblichem Sarong (Lendentuch) ist er eine stattliche, sympathische Erscheinung, dabei sehr wohlunterrichtet und ein vortrefflicher Gesellschafter; er redet geläufig englisch und entspricht jedenfalls sehr viel mehr meinen Vorstellungen von einem indischen Großen als sein weiland Herr Papa.
Als wir von unserm Besuch heimkehrten, erwartete uns der Befehl, sofort aufzubrechen und nach China zu gehen, und schleunigst mußten wir dem schönen Singapore mithin Valet sagen.
Wohin nun aber Ihre Segelordre, hochmögende Frau, meine demnächstige Tinten- und Federexcursion dirigiren wird, das erwarte ich mit Spannung und in erneuter Angelobung des schuldigen Gehorsams als Ihr allzeit ergebener
Ein einsam Leben und ein einsam Sterben – das ist oft die kurze, tiefernste Geschichte eines Alten-Junggesellenlebens. Um das offene Grab steht eine kleine Gilde theilnehmender Freunde; die letzte Erdscholle rollt auf den dürftigen Sarg, und der darunter schläft, ist vergessen – – vielleicht auch nicht; vielleicht hat einer seiner Lebensgenossen ihm tiefer in das einsame Herz geschaut und den Schatz erkannt, an welchem Tausende gleichgültig vorübergegangen.
Ja, es war ein reicher Schatz warmherzigen Empfindens
[268] und tiefgründigen Wissens, den Du in der schlichten Hülle Deiner bescheidenen Persönlichkeit bargst, mein alter Freund, liebenswürdigster unter den Junggesellen. Lebhaft steht Dein Bild noch vor meiner Seele: die kleine, unansehnliche Gestalt, die klugen, milden Augen, die klare Stirn, welche trotz des Alters von dichtem, ungebleichtem Haar umrahmt war! Durch die Gassen der ehrwürdigen Universitätsstadt Leipzig sehe ich Dich im altmodischen Kleide schreiten; ich sehe Dich mit altväterlicher Förmlichkeit da und dort ein bekanntes Gesicht grüßen und still Deiner Wege gehen. Das ist nun lange her.
Und doch ist es mir, als wäre es noch heute, als müßte ich eintreten in Dein einsames, hochgelegenes Heim. Hochgelegen wahrlich! Hoch über dem Treiben der wechselnden Menge hast Du ein halbes Säculum hindurch gewohnt: im Thurmhause der Pleißenburg war Dein Heim, und hoch über dem Thorweg, der nach der Promenade zu liegt, schaute oft Dein ruhiges, freundliches Gesicht in das Menschentreiben hinab.
Ich steige noch einmal zu Dir hinauf, alter Freund, in die einsame Thurmstube. Hinter mir bleibt der Lärm und das Gewoge des Lebens – hier oben ist es friedlich still. Der blaue Himmel blickt durch die offenen Fenster herein, auf deren Brüstung, im Sonnenschein girrend, die Tauben sitzen, die in diesem Raume willkommene, ungestörte Gäste sind. Zwei alte gepolsterte Stühle, ein einfaches Schreibpult, bedeckt mit Büchern und Druckbogen, ein primitiver Papierkorb, ein Regal mit Gläsern und Flaschen, dazwischen die vielgebrauchte Studirlampe, ein Büchergestell und ein Schlafsopha – das ist die Einrichtung der weltfernen Junggesellenwohnung. Auf dem Boden liegt eine aufgeschlagene Kiste mit Büchern und Papieren; im Hintergrunde singt die alte Theemaschine ihr trauliches, brodelndes Lied, an der verräucherten Wand aber hängt ein längst vergilbter Lorbeerkranz mit seidenem Bande – ein verstaubter, welkender Zeuge schönerer, vom Sonnenglanze der Jugend vergoldeter Tage.
Und in diesem Stillleben steht der alte Candidat und merkt nicht, wie die Dämpfe des bereits kochenden Wassers aus der Theemaschine aufsteigen und wie die weiße Taube zu seinen Füßen nach dem gewohnten Futter sucht. Angethan mit dem langen, grauen Schlafrocke, die hohe Hausmütze auf dem Kopfe, steht er sinnend da und prüft mit ruhiger Ueberlegung, was er soeben gelesen. Nun klappt er das Buch zu und tritt an das offene Fenster. Blauer Himmel und lichter Sonnenschein, wie hat er euch so lieb, der alte, einsame Mann, der wie ein Kind sich fürchtet, wenn Gewitterwolken über seinem Thurme sich zusammenballen und gelbfahle Blitze die Stirn seines lieben Himmels durchfurchen! Er wohnt höher, als die anderen Menschen, und sein Herz ist besser und reiner, als die sind, welche da unten rennen und ringen, jagen und drängen. Er hört in seiner Höhe die Uhren schlagen und die Glocken läuten, und sie tönen ihm heller und mahnender, als den Anderen, die tief unter seinem Fenster hinwandern in Leid und Lust.
Wie sonnendurchleuchtet ist heute der Tag! Eine reine, ätherklare Luft weht ihn an, und er athmet sie mit innigem Behagen ein; sie gemahnt ihn an den Waldeshauch seiner lange entbehrten thüringischen Heimath.
O, du lieblich frische Idylle im freundlichen väterlichen Forsthause! Es ist schon lange her! Tannendurchrauschte, waldeinsame Jugendzeit – wer dich noch einmal durchleben dürfte! Die grünen Bäume umschatteten das Elternhaus und sahen den lustigen Knaben im Kreise der Gespielen: des Vaters Büchse knallte im nahen Forst, und die Mutter saß vor der braunen Thür, über der das Hirschgeweih prangte, und hielt den Strickstrumpf in der fleißigen Hand – vorbei, vorbei! – Dann kam er, ein blutjung Bürschlein, nach dem gassen- und giebelreichen Leipzig, auf das Alumnat der altehrwürdigen Thomas-Schule, und sehnte sich – wie bald schon! – aus dem Staube und Dunst der Mauern nach seinem Walde zurück. Auch das ward überwunden. Ist die Natur eine milde Fee, in deren Schooße es sich süß träumen läßt, so ist die Wissenschaft eine ernste, aber wunderthätige Göttin, welche die Träume scheucht und das forschende Auge stärkt und stählt, und wer beiden nicht dienen kann, der findet, wenn er ehrlich strebt, Trost auch bei der einen – hier oder dort. Ihm galt’s der ernsten Göttin dienen; ihm galt’s forschen, ringen, erkennen. Er bezog die Universität. Zu den Füßen der Gottesgelahrtheit saß er, und eines Tages – er erschrak fast[WS 2] über die praktische Wendung, die sein Leben nun nehmen sollte – eines Tages stand er an der Schwelle eines geistlichen Amtes. Forschen, ringen, erkennen – ja, das war ihm innerstes Geistesbedürfniß – aber frei forschen und ringen, frei bekennen, was er frei erforscht. Ein geistliches Amt! Dem Staate verantwortlich sein! Einem Staate von Knechten des Dogmas! Da kam der Tag, an welchem er die entscheidende Predigt halten sollte. Er betrat die Kanzel; unter ihm saß die andächtige Gemeinde; Orgelton und Kirchenlied war verklungen, und nun begann er zu den Andächtigen zu sprechen. Seine eigene Stimme kam ihm so seltsam vor, so laut und doch so unsicher; er fühlte, daß, was er sagte, nicht seine tiefinnerste Ueberzeugung war – die Pulse jagten ihm schneller; sein Denken verwirrte sich; er verlor den Faden der Rede und deckte mit einem improvisirten Schlusse nur nothdürftig den Rückzug. Seit jenen Tagen hat er die Kanzel nie wieder bestiegen; er hätte vor sich selbst erröthen müssen, wenn er es gethan – er war eben ein Charakter. Wo ihm die lebendige Ueberzeugung fehlte, mochte er nicht eintreten mit seinem Selbst. So wurde er Corrector, nur ein Corrector, statt eines Pfarrers.
Seitdem lebt er nun hier oben in der alten Thurmstube und liest Jahrzehnte hindurch die Correcturen gelehrter Werke, einsam, ruhig und unverzagt. Dies giebt seinem Geiste Nahrung, seinem Leibe Brod. Die Producte der erlauchtesten Geister, noch ehe sie die Welt in Aufregung versetzen, steigen zu ihm in die stille Thurmstube hinauf; bevor die Kritik ihre Feder gespitzt zu ihrer Beurtheilung, saugt schon der kleine Mann mit den klaren, milden Augen bienengleich den ersten Honig aus den leuchtenden Geistesblüthen. Seltsame Poesie des Correctorlebens!
Noch immer steht er am Fenster, der alte Candidat – und träumt und träumt – von der Jugend träumt er und von Thüringens Waldesduft, vom lustigen Studentenleben und dem Sturm und Drang seines wissenschaftlichen Strebens – dahin, dahin, alles dahin! Nun aber tritt er zurück in’s Zimmer, und während er dem dampfenden Kochapparate sich zuwendet, summt er eine Arie aus einem Oratorium vor sich hin. Ja, Musik und Gesang war in jungen Jahren seine Freude gewesen, und sie ist ihm lieb geblieben bis heute. In der tannenduftigen Heimath hat er das Singen gelernt von den lustigen Vögeln der Wälder, und von der sangesfröhlichen Mutter, und die Thomas-Schule hat der frischen Natur die Weihe der Kunst hinzugefügt. Einst trug er einen ganzen Reichthum in seiner Kehle – aber er hat es selbst nicht gewußt.
Durch das offene Fenster weht der Wind herein; er rauscht durch die dürren Blätter des vergilbten Lorbeerkranzes dort über dem Pulte, und aus dem Rauschen klingt es leise, wie eine gedämpfte Stimme: „Nicht gewußt, nicht gewußt!“
Nun lächelt der alte Candidat. Süße Erinnerung! Es war eine schöne Zeit, als er, jung und lebensfrisch, die strahlenden Lampen über sich sah, die strahlenden Lampen des berühmten Gewandhauses da unten in der Stadt, als er als Solosänger manch schmelzendes Lied vor der lauschenden Menge sang, als der Beifall des Hauses ihn belohnte, als er den Lorbeer empfing, der nun vergilbt und verdorrt. Ja, es ist noch derselbe Lorbeer. „Nicht gewußt, nicht gewußt!“ rauscht es in seinen Blättern. Armer Alter, was hast Du verscherzt! Du warst zu bescheiden, und so wurdest Du – ein Corrector, nur ein Corrector.
Aber es war nicht immer so einsam wie heute in dem luftigen Thurmgemache der Pleißenburg; dann und wann kam ein freundlicher Besuch aus dem Treiben der Stadt herauf in die stille Stube, und dann hatte der gute Alte immer ein Fläschchen Wein, eine Cigarre oder wohl gar eine Delicatesse seinen Gästen vorzusetzen. Das brauchte er zumeist nicht einmal zu kaufen; seine guten Freunde schickten Das und Jenes. Der alte Schrank in der Ecke war seine Schatzkammer: dahin stellte er sein Lieblingsgericht, das eine freundliche Hausfrau dem einsamen Junggesellen schickte, und bewahrte es, so lange es gehen mochte, um sich gleich einem Kinde recht lange auf den Genuß freuen zu können; dort barg er Obst und Erfrischungen, Cigarren und Wein – nicht für sich, nur für die Gäste, welche die vielen Stiegen zu ihm herauf nicht scheueten. Er war eine gute Seele, der alte Corrector.
Aber nicht nur gut war er – sein Leben hatte auch große Züge. Da hatte er irgendwo einen Freund gehabt und in dessen Auftrage ein Lotterieloos gespielt – Jahr für Jahr; der Freund zahlte den Einsatz, aber er gewann nicht, sodaß er endlich mißmuthig
[269][270] wurde und seinen Auftrag zurückzog. Nun that es dem guten Magister leid um das viele Geld, das Jener umsonst daran gesetzt – und schnell entschlossen spielte er das Loos weiter, ohne daß der Freund davon wußte. Aber siehe da – eines Tages klopft es an der Thür der Thurmstube, und der Postbote bringt eine glückliche Botschaft, den Gewinn von 10,000 Thalern. Und was that der plötzlich wohlhabend gewordene Einsiedler der Pleißenburg? Er packte das Geld zusammen und schickte es seinem Freunde – das war so selbstverständlich nach seiner geraden Auffassung.
„Mir würde kein Bissen wieder geschmeckt haben, wenn ich Jahre lang das Loos für einen Anderen gespielt und dann den Gewinn für mich behalten hätte,“ sagte er in seiner einfachen Weise zu seinen Freunden.
Unverdrossen las er nach wie vor seine Correcturen und verdiente sich mühsam, aber fröhlich sein ehrliches Brod. Er war eben ein Charakter und eine vornehme Natur dazu.
Alter Freund, ich kann Dich nie vergessen. Nun setzest Du Dich zu Deinem Frühstücke und verzehrst den selbst gekochten Trank; das freundliche alte Gesicht zeigt ein inniges Behagen; Du rückst die hohe Tuchmütze weiter über die breite Stirn hinaus und wirfst Deinen Lieblingen, den Tauben, die durch’s Fenster aus- und einfliegen, Semmelkrümchen zu. Das geflügelte Volk gurrt und zankt, und nun redest Du polternd dazwischen:
„Das macht’s wie die Menschen; keins will dem anderen den größern Bissen gönnen; ’s ist doch traurig, daß überall die leidige Selbstsucht waltet. Die Leute da unten nennen’s den Kampf um’s Dasein.“
Jetzt überlegt der alte Herr, ob er heute einmal einen Spaziergang machen soll, und überzählt die Wochen, während welcher er den Hof der Pleißenburg nicht betreten hat.
Seit er älter geworden ist und besonders seit seine Stimme ihr Metall verloren, hat er sich mehr und mehr eingesponnen auf seinem Thurme, und seine Freunde sehen ihn recht selten, wenn sie nicht die fünf Treppen nach seinem Horste heraufsteigen wollen. Es paßt ihm nicht, seinen langen, gefütterten Hausrock und seine hohe Mütze abzulegen und eine besondere Toilette zu machen, wie es nun einmal die Gesellschaft verlangt; auch fühlt er sich unter der jüngeren Generation nicht sonderlich behaglich.
Aber er hat sich in seiner Einsiedelei ein warmes Herz und ein kluges Verständniß für alle Vorgänge der Welt erhalten, die da unten an seinem Thurme ihre Wellen schlägt. So eine und die andere kleine Schrulle hat sich freilich wohl auch bei ihm eingenistet – aber wer hätte die nicht?
Eben tritt seine alte Dienstmagd ein; sie hat ihm Papier und Tinte besorgt und legt ihm nun einige Kupfer- und Silbermünzen in die Hand. Er wirft das Geld auf den Tisch, als ob ihn ein böses Insect gestochen, und über sein gutes Gesicht geht wirklich etwas wie ein kleiner ärgerlicher Zug:
„Muß ich denn jeden Tag wiederholen, daß mich ekelt vor diesen schmutzigen Groschen und Pfennigen? Kann Sie denn nicht den Leuten sagen, daß ich sauberes, blankes Geld haben will? – Hier sieht man ja kaum mehr, ob das auf dem Gelde da Kopf oder Schrift ist.“
„Aber, Herr Magister, die Leute haben’s eben nicht anders; es kann sich doch nicht Jeder jeden Tag die frische Prägung aus der Münze holen.“
„Das weiß ich, aber säubern, waschen kann man das Kupfer und Silber.“
Und das ist der pure Ernst des alten, wackeren Herrn; er veranstaltet wirklich ab und zu eine Geldwäsche und freut sich wie ein Geizhals, wenn die Münzen so recht glänzen und flimmern. Nun ist ihm freilich für heute die Lust am Spaziergange wieder vergangen; er hat zu thun: dies widerwärtig schmutzige Geld muß sauber werden. Er tritt an den Waschtisch; er wäscht und reibt; es schimmert und glänzt; nun geht er an’s Fenster und läßt die Silberstücke im Sonnenglanz flimmern; da kommt ihm ein neuer Gedanke: er will das Silber vergleichen mit anderem, und so begiebt er sich an sein Pult und zieht Kasten um Kasten heraus: hier liegt sein Reichthum, sein Schatz. In Reih und Glied, geordnet nach chronologischen und historischen Regeln, hat er hier Münze an Münze aufgehäuft, von den massigen Goldstücken mit den altrömischen Kaiserköpfen bis zum geprägten Metall vom neuesten Datum. Er liebte sie sehr, seine Münzen, fast noch mehr als seine Bücher, seine Tauben und Blumen, aber der Inbegriff all dieser stillen Leidenschaften des guten Alten, gewissermaßen deren Lebensbedingung, war doch die Einsamkeit seiner stillen Thurmwohnung, das hohe Nest, wo er den blauen Himmel so nahe hatte und wo seine Tauben ihm den Morgenbesuch abstatteten. Und ach! er sollte dieses trauliche Heim verlassen, sollte die fünf Stiegen auf immer herabsteigen müssen zu dem lauten Treiben da unten auf Märkten und Gassen. Das war der Schmerz seines Alters. Fremde Leute sollten hausen, wo er so lange gewohnt.
Wer kann ermessen, was damals in der Brust des alten Mannes vorging, als er mit dem letzten wehmüthigen Blicke Abschied nahm von dem lieben Heim, das ihn mehr als ein halbes Jahrhundert beherbergt hatte. In diesen verräucherten Wänden lag seine ganze stille, arme und doch so reiche Vergangenheit. Das hat ihm ein Stück von seinem Herzen gekostet. Lange aber hat er nicht in der neuen Wohnung gehaust, in welcher seine Freunde ihn untergebracht. Eine freundliche Parze schnitt ihm den Lebensfaden ab; er starb ohne Schmerzen schnell und plötzlich, ein Lächeln auf den Lippen. Nun mußte er, der fünfzig Jahre so hoch über der Erde gewohnt, so tief herab und unter die Erde ziehen.
Das war das Leben meines alten Freundes, und wahrlich es war reicher und reiner als das tausend Anderer. Nicht an welchem Platze man steht, sondern wie man denselben ausfüllt, darauf kommt es an. Der alte Magister von der Pleißenburg hat seines Herzens Meinung nie verrathen, seine Hände nie geschwärzt mit dem unsauberen Solde einer käuflichen Gesinnung. Sein Leben war redliche Arbeit in Verborgenheit – wenn er auch nur ein Corrector war.
Du fragst: Und hat ihn niemals der sanfte Flügelschlag jenes Engels berührt, den die Menschen Liebe nennen? – Ich weiß es nicht. Ob ihm ein Frauenauge jemals milder geleuchtet, eine weiche Hand die seine verständnißinnig gedrückt – wer mag es sagen? Wenn es geschah, dann ist es sein Geheimniß geblieben, und er hat es mit hinüber genommen zum ewigen Schlaf. Sein Herz war reich genug, um ein anderes Wesen liebend zu umfassen, und wer weiß, ob er nicht in seinen jungen Tagen den bitteren Kampf der Entsagung gekämpft hat, und wenn er ihn kämpfte, dann wußte er auch, warum.
Schlaf wohl, ehrlicher, alter Magister! Um Deinen Hügel weht es wie Hauch des Friedens. Kein Weib und Kind weint an Deinem Grabe, aber da und dort denkt wohl Einer, der Dich gekannt hat, Deiner in Liebe und spricht in Wehmuth und Achtung zugleich: Er war ehrlich und gut – er war ein Charakter, der alte Junggeselle.
Die Warteräume in Gerichtslocalen haben schon Unzähligen schwere Seufzer ausgepreßt, und zwar nicht blos den Sträflingen, sondern auch den Rechtsuchenden, den Zeugen und anderen Unschuldigen. Wenn es in alten Gebäuden, in welchen man hier und da aus Sparsamkeitsrücksichten der Gerechtigkeit ihre Sitze anwies, die Regel ist, daß ohne Ausnahme Alle, welche auf den Beginn einer Amtshandlung zu warten haben, oft stundenlang in wahrhaft erbärmlichen Räumlichkeiten ausharren müssen, so sollte das doch nicht auch in manchen Justizhäusern jüngeren Datums vorkommen. Bald benutzt man dazu so beschränkte Zimmer, daß sie leicht überfüllt sind; bald sind es nur Durchgangsräume, zugige Gänge oder Vorplätze, welche als Wartelocale dienen, und nirgends wird Rücksicht auf die Wartenden genommen, ja nicht einmal auf alte und schwache Personen. Wohl entgeht der Zustand solcher Warteräume der Aufmerksamkeit des großen Publicums, weil immer nur ein sehr geringer Bruchtheil desselben vor den Schranken der Justiz zu thun hat, aber selbst diesem Bruchtheile gegenüber dürfte wohl daran erinnert werden, wie viel besser, selbst auf der kleinsten Station, die Wartelocale der Eisenbahnen eingerichtet sind, Locale, in welchen man für gewöhnlich sich nicht stunden-, sondern oft nur minutenlang auszuhalten braucht.
Es ist nöthig, daß solche Uebelstände besprochen werden, und zwar um so lauter, je länger darüber geschwiegen worden und je gewisser es ist, daß solche Wartelocalzustände nicht blos Aergerniß, sondern sogar schon Nachtheil an der Gesundheit der Wartenden verursacht haben. Wären all die Fäuste in den Taschen, die aus solchen Amtshäusern herausgetragen wurden, gezählt worden – es hätte eine imponirende Ziffer gegeben, vor welcher vielleicht längst schon das beklagte Uebel geschwunden wäre.
[271] „Bilder aus der Vogelstube“ von Karl Ruß. Der Verfasser dieser Schilderungen aus dem Leben fremdländischer und einheimischer Stubenvögel hat es sich seit Jahren zur Lebensaufgabe gemacht, der Vogelliebhaberei allgemeineren Eingang in der deutschen Familie zu verschaffen und das Verständniß für die richtige Pflege der Stubenvögel mehr und mehr zu verbreiten. Diesem bisher so glücklich von ihm verfolgten Zwecke dient auch das vorliegende Buch des kenntnißreichen Ornithologen, ein Werk, dem wir hier gern zu Anerkennung und Empfehlung das Wort reden. Die Karl Ruß’schen „Bilder aus der Vogelstube“ wollen in erster Linie nicht eigentlich belehren, sondern vor Allem zur Zucht und Pflege der Stubenvögel anregen; sie thun es mit großem Geschick und gewähren zugleich in der bunten Anordnung ihrer Capitel eine Art historischen Rückblicks auf die bisherige Entwickelung der Vogelliebhaberei.
Das mit Holzschnitten nach Zeichnungen von Robert Kretschmer und Karl Gerber gezierte und geschmackvoll ausgestattete Buch bietet in seinen drei Abschnitten – „Zum Willkomm in der Vogelstube“, „Stimmen- und Farben-Vielerei“ und „Lebensbilder“ – sowohl eigene Schilderungen des Herausgebers, wie Aufsätze anderer Vogelkenner und -pfleger, die sämmtlich den zehn Jahrgängen der Ruß’schen Zeitschrift „Die gefiederte Welt“ entnommen und hier zu einem hübschen Ganzen zusammengestellt worden sind. Mögen die „Bilder aus der Vogelstube“ zahlreiche Freunde finden!
Wir benutzen diesen Anlaß, um zugleich auf die eben genannte Zeitschrift des fleißigen Vogelpflegers aufmerksam zu machen. Die Pflege der Vogelliebhaberei leistet der Förderung des Gemüthslebens in Volk und Familie so vielen dankenswerthen Vorschub, daß wir die Gelegenheit nicht haben versäumen wollen, sie mit obigen Zeilen fördern zu helfen.
Die Frage der Entschädigung für schuldlose Haft ist neuerdings vielfach öffentlich zur Sprache gekommen, und zwar in Folge des eigenthümlichen Zusammentreffens einer Anzahl von Fällen, in welchen sich die Unschuld von bereits zu harten Freiheitsstrafen verurtheilten Personen nachträglich herausgestellt, nachdem dieselben schon einen Theil ihrer Strafe verbüßt hatten. Besonders waren es zwei kurz hinter einander in Oesterreich zu Tage getretene Fälle, welche die öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen und schließlich einen bestimmten Antrag im Abgeordnetenhause veranlaßten.
Der eine Fall betraf den vom Schwurgerichte zu Krakau wegen Veruntreuungen im Amte zu fünf Jahren schweren Kerkers, Ausstoßung aus dem Militärstande und Verlust der Pension verurtheilten pensionirten Major und Postmeister Halle. Nachdem der Verurtheilte bereits siebenzehn Monate seiner Strafe verbüßt hatte, brachte ein glückliches Ungefähr seine Unschuld unwiderleglich zu Tage.
Im zweiten Falle war eine moralisch allerdings bereits compromittirte ledige Frauensperson, Namens Katharina Reiner, in den Verdacht der Ermordung einer Hausgenossin gekommen und vom Schwurgerichte zum Tode verurtheilt, die Strafe in einer weiteren Instanz aber in sechs Jahre schweren Kerkers umgewandelt worden. Katharina Reiner hatte bereits vier Jahre im Kerker zugebracht, als ein früherer Wiener Student, jetzt Soldat in Znaim, sich selbst als den Mörder anzeigte, worauf die arme Verurtheilte in Freiheit gesetzt wurde.
In Deutschland regte zu gleicher Zeit der Haarbauer’sche Fall die Gemüther auf. Hier war ein Vater auf Grund eines neuerdings wissenschaftlich corrigirten ärztlichen Gutachtens wegen Vergiftung seines Kindes mit Schwefelsäure gerichtlich verurtheilt worden. Auch dieser Fall brachte bei Gelegenheit der Berathung des Justizetats im preußischen Landtage die Frage der staatlichen Entschädigung wieder in Anregung, und Abgeordneter Windthorst trat für die Bejahung der Frage ein, aber Justizminister Dr. Friedberg, welcher gleichzeitig noch einen weiteren Fall unschuldiger Strafverbüßung anführte, fand die gesetzmäßige Zusage einer solchen Entschädigung namentlich aus dem Grunde für bedenklich, weil gewisse problematische Existenzen aus einer solchen hinterlistig herbeigeführten unschuldigen Verurtheilung geradezu eine Erwerbsquelle machen würden.
In juristischen Kreisen hat die Entschädigungsfrage längst schon eine eingehende Würdigung – leider aber noch keine befriedigende Lösung gefunden. Auf den deutschen Juristentagen hat sie wiederholt die Tagesordnung beherrscht. Bedeutende juristische Capacitäten haben über dieselbe Bericht erstattet. Diese Gutachten wiesen aber schon in der Beantwortung des Princips scharfe Gegensätze auf, noch mehr in den einzelnen Modificationen. Der im August 1876 zu Nürnberg abgehaltene zwölfte deutsche Juristentag war bestimmt, die Sache zum endlichen Austrag zu bringen. Der gewandte und sachlich begeisterte Berichterstatter Hofgerichtsadvocat Dr. Jacques-Wien sprach sich für Bejahung der Entschädigungsfrage aus mit Ausnahme des Falles, daß der Beschuldigte erweislich lügenhafte Angaben, Collusions- (= ein geheimes, betrügliches Einverständniß) oder Fluchtversuche gemacht, oder durch sein Verhalten erweislich die Verhaftung oder Haftverlängerung selbst hervorgerufen habe. Es handelte sich dabei weniger um die Fälle, daß Jemand eine ihm irrthümlich zuerkannte Freiheitsstrafe verbüßt, als um diejenigen, daß er eine Zeitlang in Untersuchungshaft gesessen hatte, dann aber die Untersuchung eingestellt oder der Gefangene förmlich freigesprochen worden war. Nach einer zweistündigen Debatte wurden indeß sowohl der Antrag des Berichterstatters wie die weiter gestellten Anträge abgelehnt. Die Frage verschwand somit von den Tagesordnungen der Juristentage, auf denen sie lange wie ein gefürchtetes Gespenst einhergeschlichen war.
Man hoffte, daß die Sache bei der Ausarbeitung der neuen Justizgesetze innerhalb des Rahmens der Strafproceßordnung zur gesetzlichen Regelung kommen werde. Aber auch die Reichstagscommission lehnte es ab, eine Bestimmung über die Entschädigung des Beschuldigten für unschuldig erlittene Haft dort aufzunehmen, und somit ist das Problem nach wie vorher ein gesetzlich ungelöstes. Aber die Humanität wie die Gerechtigkeit selbst verlangen immer mahnender eine Abhülfe.
Die Fälle, in welchen Jemand unschuldig verurtheilt worden ist, sind zum Glück doch nur sehr seltene, obwohl hier das Unrecht am schreiendsten ist. Weit häufiger sind dagegen die, daß Jemand wegen des Verdachtes einer von ihm begangenen verbrecherischen Handlung gefänglich eingezogen, die Untersuchung aber wieder eingestellt wird, ehe es zu einer Anklage kommt, oder daß ein längere Zeit in Haft Verbliebener durch ein förmliches Erkenntniß freigesprochen wird. Auch hier erleidet der Gefangene eine empfindliche Einbuße an seiner persönlichen Freiheit, seinem Vermögen und, wenn auch nur vorübergehend, an seiner Ehre.
Die Frage der Entschädigung hat nun in der That verschiedene Seiten.
Eine unbedingte und ausnahmslose Entschädigung würde das Kind mit dem Bade ausschütten: sie würde, statt zu einem Rechte und einer Wohlthat, sogar in vielen Fällen zu einem Unrechte. Denn die Einstellung einer Untersuchung und die Freisprechung eines Angeklagten erfolgt sehr oft nur deshalb, weil nicht genügendes Beweismaterial zur Ueberführung des Beschuldigten vorliegt. Sie trägt also oft nur einen formellen Charakter. Der Beschuldigte bleibt sehr oft doch der Thäter; es fehlt nur das namentlich für den juristisch gebildeten Richter, der sein Urtheil auf bestimmte Entscheidungsgründe zu basiren hat, nothwendige Maß von Ueberführungsmomenten. Eine Entschädigung wäre hier geradezu eine Prämiirung des Verbrechens. Es könnte sich also dieselbe doch nur auf diejenigen Fälle beziehen, in welchen die Unschuld des Angeschuldigten bis zur Evidenz nachgewiesen ist. Diese Fälle lassen sich aber durch Gesetz von vornherein gar nicht feststellen. Es müßte vielmehr lediglich dem Richter überlassen werden, die Frage in jedem Einzelfalle zu entscheiden. Das Gesetz hätte dann nur zu bestimmen, daß im Falle einer Freisprechung der erkennende Richter gleichzeitig mit darüber zu entscheiden hat, ob und welche Entschädigung dem Freigesprochenen zuzubilligen sei. In denjenigen Fällen, wo es überhaupt nicht zu einer förmlichen Entscheidung der Schuldfrage kommt, müßte diese Entscheidung entweder von denjenigen Richtern gegeben werden, welche den Beschluß fassen, daß der Angeschuldigte außer Verfolgung zu setzen sei, oder es müßte dem Letzteren das Recht zustehen, ein freisprechendes Erkenntniß noch herbeizuführen. In der dritten Serie von Fällen, wo der Beschuldigte bereits rechtskräftig verurtheilt war und seine Unschuld sich später herausstellt, müßte man im Wege der Wiederaufnahme der Untersuchung zu diesem Ziele kommen. Damit wäre wenigstens für die eclatantesten Fälle Abhülfe geschaffen; dann wäre auch der vom Staatsminister Friedberg geltend gemachten Gefahr vorgebeugt.
Ein vollständiges Aequivalent für die Schädigung, welche ein unschuldig in Haft Genommener unter Umständen erleidet, läßt sich freilich überhaupt nicht ermöglichen. Die verlorene Zeit läßt sich nicht einbringen, die Qual der Seele nicht ungeschehen machen, der furchtbare Eindruck auf das Gemüth nicht leicht wieder verwischen. Die Entschädigung kann sich nur in Geld ausdrücken, dem alleinigen äußeren Werthmesser aller irdischen Dinge; vielleicht noch in einer Art öffentlicher Ehrenerklärung. Immerhin ist das doch ein Etwas. Das, was dem Geschädigten nicht vergütet werden kann, muß er hinnehmen als ein über ihn verhängtes Unglück, als ein Product der Verhältnisse, die in ihrem eigenthümlichen Zusammentreffen oft weit stärker sind, als aller menschliche Wille.
Vermißte. (Fortsetzung von Nr. 35 des Jahrgangs 1881.) Wir wiederholen hier, daß alle Nachfragen nach den in den Vereinigten Staaten von Nordamerika Vermißten nur auf den Umschlägen der Heftausgabe für Nordamerika abgedruckt werden.
1) Alexander Gustav Ronneberger, Barbiergehülfe aus Grimma, den 19. August 1860 geboren, hat sich im März 1879 nach Hamburg und im Herbst desselben Jahres nach London begeben, wo er bei M. W. Brand (Blackman-Street 41, Borough S. E. London) in Arbeit gestanden und von wo er am 10. October 1880 zum letzten Male geschrieben. Er soll früher den Wunsch, nach Australien zu reisen, geäußert haben.
2) Ein Vater, der vor dem siebenzigsten Jahre steht, sucht seinen Sohn, der ihm von sechs Kindern allein geblieben und von dem er seit 1866 keine Nachricht mehr hat. Dieser Sohn ist der Schlossergeselle Ernst Julius Porzig aus Altenburg, jetzt 34 Jahre alt. Er arbeitete auf der Wanderschaft durch Deutschland zuerst in Crimmitschau, Essen und Hamburg. Von letzterem Orte aus schrieb er zum letzten Male, ohne Andeutung über etwaige weitere Reisepläne zu geben. Erst durch einen Mitgesellen erfuhr der Vater, sein Sohn habe nach Aegypten wandern wollen, und durch denselben später (1870), er sei in Jerusalem. Wie viel Wahres an diesen Nachrichten, ist leider bis jetzt unerkundet geblieben.
3) Ein Sohn sucht den Vater. Seit 1866 ist der Kaufmann Wisselinck, der in Aachen sein Geschäft hatte, für seine Familie spurlos verschwunden. In seiner Vaterstadt Wetzlar wohnt jetzt sein Sohn Gustav als Handschuhmachergehülfe und hofft endlich auf diesem Wege den Vater wieder zu finden oder wenigstens eine Nachricht über ihn zu erhalten.
4) Im September 1861 verließ der damals vierundzwanzigjährige Landwirth Julius Adolay aus Kirchheimbolanden (Rheinpfalz) Mutter und Geschwister zu Freiesheim bei Dürkheim, um nach Südamerika auszuwandern. Er war von kleiner, magerer Gestalt, aber von frischer Gesichtsfarbe, Augen und Haare braun, die Nase stark gebogen. Von Buenos Ayres gab er den Seinen Nachricht; Briefe gelangten stets an ihn „– p. adr. Signor Don Leon Vela, Calle Piedad 307“ daselbst. Im letzten Brief, vom 1. September 1871, äußert er den Wunsch, nach Deutschland zurückzukehren. Seitdem ist jene Adresse vergeblich benutzt und nun über zehn Jahre vergeblich auf seine Heimkehr gewartet worden.
[272] 5) Der Tapezierergehülfe Rudolf Amelon aus Magdeburg, der am 8. December 1880 plötzlich sein elterliches Haus verlassen und seitdem vergeblich gesucht und zurück erwartet wurde, wird – sein Vater ist todt – von Mutter und Geschwistern um Nachricht und um seine Heimkehr gebeten.
6) Der in Seidnitz bei Dresden 1861 geborene Maximilian Angermann, ein Bursche von großer und starker Gestalt, gesunder Gesichtsfarbe, rundem Gesicht, blondgelocktem Haar und blauen Augen, hat sich aus der Lehre bei einem Küchenmeister in Dresden am 9. December 1877 heimlich entfernt und ist seitdem spurlos verschwunden. Die trostlosen Eltern bitten um Nachricht von ihm oder über ihn.
7) In tiefen Kummer versetzt ein Elternpaar das unheimliche Schicksal, das ihren Sohn in Paris betroffen: Ernst Balzar aus Neuwied, am 29. September 1859 geboren, befand sich als Handlungscommis bei I. L. Martini u. Comp. im Boulevard Magenta, wo er in den angenehmsten Verhältnissen lebte. Am Mittag des 1. Januar 1880 verließ er das Haus seines Principals, und seitdem ist, trotz aller Nachforschungen, an welchen sich die Pariser Polizei und die deutsche Gesandtschaft betheiligte, keine Spur von ihm zu entdecken gewesen. Vielleicht ist es Einem der vielen Deutschen in Paris möglich, Nachricht über ihn zu geben.
8) Der Stiftsherr zu Heilige-Leichnam in Danzig, Herr Ferdinand Drusendorff, sucht seinen Bruder Ernst Drusendorff, der, um 1839 zu Soldau in Ostpreußen geboren, 1853 zur See ging und 1873 aus Australien zum letzten Male geschrieben hat.
9) Max Cohn aus Oppeln, Seifensiedergehülfe, 1852 geboren, arbeitete zuletzt in Szitas-Keresztur in Siebenbürgen, von wo seit 1878, trotz eifrigster Nachforschungen, keine Nachrichten über ihn mehr von den betrübten Eltern zu erlangen waren. Letztere, jetzt in Leipzig (Brandvorwerk 89) lebend, warten noch immer auf seine Wiederkehr.
10) Aus Friedland in Mecklenburg geht uns die dorthin brieflich gelangte Nachricht zu, daß auf der Insel Sumatra ein Deutscher im Kriege gegen die Atchinesen tödtlich verwundet worden und im Lazareth gestorben sei. Sein Name war Daalenburg und er sollte aus Pommern stammen. Verwandten desselben können Adressen zu weiteren Erkundigungen mitgetheilt werden.
11) Eine verlassene Gattin sucht ihren Mann: den Techniker Johann (Jenicz) Dolezal aus Kuttenberg (Kotna Hóra) in Böhmen. Derselbe verheirathete sich mit Einwilligung seiner Eltern und standesamtlich 1875 zu Posen, lebte in glücklicher Ehe und schied im Sommer 1877 friedlich von seiner Frau, um sich in Oesterreich um eine Feldmesserstelle zu bewerben. Seitdem ist er verschollen; auch von dem Vater desselben, einem Maurermeister in Kuttenberg, hat die Frau keine Auskunft über ihren Gatten erhalten können[WS 3].
12) Aus Pforzheim nahm am Abend des 2. November 1876 ein junger Mann stillen Abschied, und zwar mit der ausgesprochenen Absicht, in den Tod zu gehen. Dies vertraute er brieflich von Karlsruhe aus seinem treuesten Freund, der uns das nachstehende Signalement mittheilt: „Gustav Heinrich Firnhaber, geboren in Stuttgart 1850, war Graveur und arbeitete früher in Stuttgart, Hanau, Genf und zuletzt in Pforzheim; er ist mittlerer Statur, hat bleiches Gesicht, dunkle Haare und Vollbart; er trug bei seinem Weggange dunkle Tuchkleidung und Winterüberzieher, spricht gut französisch und auch etwas italienisch.“ Der seitdem Vermißte lebte in guten Verhältnissen, hatte durch Geschicklichkeit, Fleiß und Sparsamkeit sich ein Vermögen erworben und vermachte bei seinem Weggange seine ausstehenden Ersparnisse seinen Eltern. Wieviel er selbst baares Geld mit sich genommen, ist nicht festzustellen. Der Freund glaubt nicht an den Tod desselben, und die armen betagten Eltern klammern sich an die Hoffnung des Wiedersehens dieses ihres einzigen Sohnes an, nachdem sie seinen Bruder in demselben Jahre durch den Tod verloren haben. Könnte doch die Hoffnung der unglücklichen Eltern erfüllt werden!
13) Zwei vermißte Söhne des Schauspielers Fernau: Johannes Fernau, im April 1844 zu Rostock geboren, zuletzt Matrose auf dem Hamburger Schiff „Louis Napoleon", zeigte 1863 von Belfast, wo sich sein Schiff zur Weihnachtszeit befand, dem Vater an, daß dasselbe nach Mexico bestimmt sei. Seitdem ist er verschollen, und alle Nachfragen beim deutschen Consulat in Vera-Cruz, bei dem Hamburger Rheder etc. blieben erfolglos. – Dasselbe Schicksal traf Emil Fernau, der, im September 1847 zu Stettin geboren, ebenfalls Matrose, eine Zeitlang in Callao (Peru) unter dem Namen „Harry Carsten“ in dem Mercantile House Mr. O’Connor u. Comp. in Dienst stand, dann wieder zur See ging und nichts mehr von sich hören ließ.
14) Eine arme 67 Jahre alte Mutter in Leoben (Steiermark) sucht ihre Tochter: Marie Gambbelsberg. Im Jahre 1841 geboren, mußte sie, als Kind vermögensloser Eltern, schon früh in die Welt, um sich selbst zu erhalten. Sie diente zuletzt als Köchin bei einer Herrschaft in Graz, besuchte von da 1872 ihre Mutter in Leoben, als diese aber im März des folgenden Jahres die Tochter in Graz aufsuchen wollte, war dieselbe nirgends mehr zu finden, auch die Nachforschung der Behörden vergeblich gewesen. Sollte keine Spur von diesem als mittelgroß, untersetzt und brünett geschilderten Mädchen zu finden sein?
15) Rudolph Goldfriedrich, Seemann, 1852 geboren, lebte mit Eltern und Geschwistern in Petersburg, besuchte dort ein Gymnasium und fuhr im August 1867 von Libau (Kurland) auf einer russischen Brigg, Cap. Böwadt, nach Schottland, dann auf einer preußischen Brigg, Cap. Bünning, nach Westindien und kam mit diesem Schiffe wieder nach England zurück. Im Jahre 1868 befand er sich auf dem englischen Schiff „Jane Butcher“, Cap. Snock, machte mit demselben eine Reise nach Gibraltar und kam von da nach Liverpool zurück. Daselbst erhielt er auf dem Contor der Rhede des Schiffs (Mssrs. Strong, Reid und Paze, Chapel Walks-Castle Str.) seine Löhnung und nahm zugleich einen Brief der Seinen in Empfang, die Antwort auf einen Brief, den er von Gibraltar aus an dieselben geschrieben hatte. Seitdem ist seine Spur verschwunden.
16) Ein zwanzigjähriges Dienstmädchen, Amalie Therese Hesse aus Zschorna bei Radeberg, das zuletzt, vom December 1881 bis 1. Januar 1882, in Neu-Ostra bei Strehlen (Dresden) gedient, hat sich, angeblich um einen andern Dienst zu suchen, von da entfernt und ist seitdem verschollen. Ihre arme Mutter, eine Arbeiterin auf dem Rittergute Zschorna, befürchtet, ihre Tochter möchte, von falschen Vorspiegelungen verlockt, in die Hände gewissenloser Agenten gefallen sein, aus denen bekanntlich die Rettung so schwer ist.
Ein Wiener Burschenschafter. Die alte Fahne der deutschen Burschenschaft, die erste schwarz-roth-goldene Fahne Deutschlands, wird in der Universitätsbibliothek zu Jena aufbewahrt. Das Burschenschwert ist augenblicklich im Besitz der Burschenschaft „Arminia“ daselbst.
I. St. zu O. in Baden. Wir hätten Ihnen die Auskunft über Friederike Brion von Sesenheim nicht so rasch und vollständig zusammenstellen können, ohne das in unserem Blatte bereits empfohlene Hülfsmittel zum Nachschlagen in der „Gartenlaube“: Dr. Friedrich Hofmann’s „Vollständiges Generalregister der ‚Gartenlaube‘ vom ersten bis zum achtundzwanzigsten Jahrgang (1853 bis 1880)“. Mehrere der obigen Angaben hätten wir selbst mit großem Zeitverlust aus den Bandregistern nicht herausfinden können, sondern verdanken sie nur diesem Generalregister, in welches auch Tausende von kleinen, in großen versteckten Artikeln mit ihren Stichwörtern eingereiht worden sind. In diesem Register würden Sie in wenigen Minuten Alles gefunden haben, was Sie brieflich erfragten und nun erst nach mehreren Wochen hiermit erfahren. Es geschieht unsern Lesern selbst zu Liebe, wenn wir Hofmann’s Generalregister recht bald in ihren Händen wünschen: es wird ihnen den Besitz ihrer „Gartenlauben“-Bände um so werthvoller, weil erst vollständig als „Quelle der Belehrung“ nutzbar machen. – Darnach geben wir Ihnen nun die gewünschte Auskunft. Ueber Goethe’s Friederike finden Sie in der „Gartenlaube“ folgende Artikel: unter „Brion, Friederike“ 1869, Seite 702; 1879, Seite 810; 1880, Seite 72. Unter „Sesenheim“ 1864, Seite 330; 1871, Seite 452. Unter „Goethe“, außer den eben bezeichneten, 1871, Seite 486 und 487; 1880, Seite 591. Unter „Friederiken-Album“ 1868, Seite 48.
G. B. in München. Der Urheber des in Nr. 12 unseres Blattes reproducirten Bildes „Der bezwungene Hercules“ ist, wie wir berichtigend mittheilen, nicht J. Adam, sondern K. Knabl.
A. C. in M. Sie haben der Redaction ein Manuscript eingesandt und um eine Kritik Ihrer Arbeit gebeten, da aber diese Arbeit sich für unser Blatt als nicht verwendbar erwies, so wurde dieselbe Ihnen mittelst gedruckten Briefes zurückgesandt. Darüber sind Sie nun so ungehalten, daß Sie uns sogar zutrauen, wir würden über Ihren Brief lächelnd die Achseln zucken. Nein, geehrter Herr, das geschah nicht und wird nie geschehen. Aber bitten müssen wir Sie, sich eine richtige Vorstellung von der Arbeit in einem Redactionsbureau zu bilden. Es ist uns völlig unmöglich, neben den alle Zeit in Anspruch nehmenden Pflichtarbeiten auch noch Muße zu brieflicher Kritik über vorgelegte schriftstellerische Versuche zu finden. Wir würden dies nicht hier (und zwar wiederholt) öffentlich aussprechen, wenn solche Zumuthungen nicht wöchentlich mehrfach an uns herantraten. Eben darum ist auch unsere Bitte eine öffentliche, uns mit diesen Zeugnissen eines unter anderen Umständen gewiß ehrenden Vertrauens menschenfreundlichst zu verschonen.
Frau von St. in Wien. Sie suchen für Ihren Sohn, der ein öffentliches Gymnasium besuchen soll, eine Pension, in der, neben sorgfältiger physischer Pflege und gewissenhafter Erziehung, fachmännische Aufsicht und genaue Controlle der Schularbeiten stattfindet. Ihrem Zwecke dürfte das seit sieben Jahren bestehende Pensionat des Herrn A. Fleischhacker in Leipzig (Jacobstraße 3) vollständig entsprechen. Dasselbe wird von den Directoren der hiesigen höheren Lehranstalten angelegentlich empfohlen. Auch der Umstand, daß circa achtzig Procent der bisherigen Zöglinge Söhne Leipziger Familien waren, dürfte Ihnen beweisen, daß man das Fleischhacker’sche Pensionat hier am Orte zu schätzen weiß.
Stadtr. D. in B. Die Mahnung an die Herren Buchbinder, die über zwei Seiten der „Gartenlaube“ laufenden Bilder nicht dadurch zu verderben, daß sie dieselben ohne Weiteres in den Band hineinbinden, sondern sie auf Falz zu befestigen, ist im „Briefkasten“ von Nr. 6, Jahrg. 1880, ausgesprochen worden, scheint aber, wie Ihre Klage uns zeigt, dringend wiederholt werden zu müssen.
H. W. in Hamburg. Nein; wird auch nicht erfolgen.
Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:
Robert Blum. Ein Zeit- und Charakterbild für das deutsche Volk von Hans Blum. Mit R. Blum’s Portrait in Stahlstich und einem Facsimile. Eleg. brosch. Preis 6 Mark.
Das vorliegende Buch, in welchem der Sohn Robert Blum’s, auf Grund reichhaltigen Materials und wichtiger Familienpapiere, den Lebensgang seines Vaters, des Repräsentanten der Idee einer freiheitlichen und nationalen Gestaltung Deutschlands, zeichnet und dessen Entwickelung und Kämpfe sowie dessen thatkräftiges Eingreifen in die Geschicke des deutschen Vaterlandes in ein helles Licht stellt, ist zugleich von hohem Wert für die Geschichte der deutschen Bewegung von 1848.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Zitat aus dem Gedicht Der Taucher von Friedrich Schiller
- ↑ Vorlage: ast
- ↑ Vorlage: könnnen