Die Gartenlaube (1882)/Heft 15

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 15.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Recht und Liebe.

Novelle von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Ueber die Verhältnisse der Tischgesellschaft war Leonhard nicht erst heute von seinem Vater orientirt. Der Baron von Dortenbach hatte keine Erben. Nur entfernte, gleich nahe Verwandte – die Kinder und Enkel zweier Großtanten, von denen eine nach Frankenland, eine nach Pommern verheirathet war. Und, rücksichtsvoll, wie solche sich heiliger Pflichten stets, wenn es Zeit ist, erinnernde Verwandte sind, waren sie zu ihm auf sein Gut in Westdeutschland gekommen, um sich seiner in der Verlassenheit anzunehmen. Zuerst war eines schönen Tages die Frau Generalin bei ihm aufgetaucht, um in rührender Beflissenheit sich selber seiner Pflege zu unterziehen, und nun war bald darauf auch aus dem schönen Frankenlande die andere Dame ankutschirt gekommen und hatte in noch rührenderer Beflissenheit zur Unterstützung ihres Pflege-Eifers gleich einen Sohn und eine Tochter mitgebracht; einige Zeit darauf war dann, um Süddeutschland nichts voraus zu lassen, auch der Generalin Sohn, Sergius von Sander, angelangt – die Tochter Dora mußte man den Ramsfeld’schen freilich voraus lassen; denn die zwei Töchter der Generalin hatten daheim bleiben müssen, um „dem Vater das Haus zu führen“, in Wahrheit jedoch nur, um nicht störend in die Aussichten einzugreifen, welche sich für Louise, die jüngste, durch die Bevorzugung boten, deren Gegenstand sie daheim unverkennbar von Seiten eines vermögenden Regierungsassessors war.

Die Tischunterhaltung wurde von der Generalin eröffnet; sich stark aufrichtend und Leonhard durch ein Pince-nez fixirend, sagte sie:

„Wo haben Sie studirt, Herr Doctor?“

„In Bonn, Leipzig und Halle, Frau Generalin,“ antwortete Leonhard mit einem Blick, der seltsamer Weise für das Pince-nez etwas Unbehagliches haben mußte; es glitt nämlich leise an der langen Nase nieder und zog sich in den Schooß der Dame zurück.

„Und Berlin? Ist das heutzutage nicht zur vollendeten Ausbildung eines jungen Mannes durchaus erforderlich?“ fragte die Generalin mit dem Tone entschiedenen Nichtbefriedigtseins.

„Ach gengen’s!“ fiel hier die Frau von Ramsfeld ein, „ich denk’, Würzburg thut’s auch. Wir haben halt Aerzt’ so gut, wie Sie nur verlangen können, und die sind über Würzburg und höchstens München nie hinausgekommen –“

„Aber ich bitte Sie – ‚Minchen‘, wie Sie es nennen, liebe Cousine – und Berlin! Die Entwickelung des wissenschaftlichen Lebens nach allen Seiten und Richtungen hin, welche Berlin aufweist –“

„Ich muß,“ bemerkte hier, um den Streit zu unterbrechen, der alte Herr, „von meinem politischen Standpunkte aus wünschen, es entwickelte ein wenig mehr Sinn für die großen europäischen Fragen, statt den großen und weit aufgeblähten Sack Reichshauptstadt mit einem Knäuel von Partei-, Fractionen- und Fractiönchen-Hader und einer miserablen Persönlichkeits-Interessen-Hetze zu erfüllen.“

„Da machen Sie sich doch eine ganz falsche Vorstellung von den Dingen bei uns, lieber Onkel,“ entgegnete ihm jetzt lebhaft Sergius von Sander und begann eine lange redselige Berichtigung dieser Vorstellung, bis ihn mit einem wehmüthigen Blick und einer zitternden Bewegung des Kopfes der alte Herr durch die an Leonhard gerichtete Frage unterbrach:

„Soll ich jetzt trinken, Klingholt?“

Leonhard war mit einem satirischen Vergnügen den Reden des jungen Mannes gefolgt, der, die Augen auf ihn gerichtet, offenbar den Effect der Geistreichigkeit auf ihn beobachtete, mit der er dem Doctor von vornherein gründlich imponiren zu wollen schien. Jetzt winkte Leonhard Andreas und ließ dem Baron Sect einschenken.

„Sie trinken Wein?“ fragte die Generalin mit einem ebenso erstaunten wie verweisenden Tone.

„Ein Recipe meines lieben Doctors hier,“ versetzte der alte Herr, indem er mit größtem Behagen den ihm lange untersagten Stoff schlürfte.

„Aber, Herr Doctor – bei dem tiefverstimmten Nervensystem meines Cousins! Die Aufregung, die Erhitzung – bedenken Sie –!“

„Sie können unter allen Umständen annehmen, meine gnädige Frau, daß ich, ehe ich etwas verordne, es bedacht habe,“ antwortete Leonhard mit einem Tone außerordentlich kühler Ueberlegenheit.

Frau von Ramsfeld lachte. Ihr Gesicht strahlte vor Vergnügen über die Abfertigung, welche die Generalin erhielt. In ihrer Schadenfreude ging sie sogar zu der kühnen Behauptung über, Wein, guter Wein, schade nie, besonders der Steinwein nicht, den Andreas leider nicht im Keller habe. Der aus dem Hofkeller zu Würzburg, oder der aus dem Julius-Spital sei der beste, aber man kenne ihn ja hier gar nicht.

„Der Steinwein ist ein durchaus nicht zu empfehlender Wein, wegen seines Alkoholgehalts,“ sagte Sergius, sich strafend zu Frau von Ramsfeld wendend und ihr schnöde beweisend, daß man ihn [242] – was kannte überhaupt Sergius von Sander nicht! – sehr wohl hier kenne. „Der Steinwein führt bis zu achtzehn Procent Alkohol,“ sagte er, „der gute Rheinwein nur etwa zehn, der Madeira zwanzig, der echte Sherry …“

„Darauf wird viel ankommen,“ unterbrach ihn jetzt mit einer wunderlich hohltönenden Grabesstimme Damian von Ramsfeld, „der Steinwein ist gut, gesund und rein – das weiß Jedermann, der’s versteht, und das thun halt die Leute, die mit der Alkoholwage daherkommen, immer am wenigsten.“

„Als ob Sie in Ihrem Bierlande drüben es besser verständen!“ sagte Sergius scharf.

„Das Bier schadet gar nichts, um sich über alle Dinge auszukennen,“ versetzte Damian, „beim Biere läßt sich ebenso gut wie bei einem anderen Getränk aus dem Aermel schütteln, was die Leute verblüfft …“

„Wollen Sie damit sagen, daß meine Angaben von eben unrichtig seien?“

„Werde mich schön hüten! Bin auch so klug, nur Behauptungen aufzustellen, die mir keiner der Zuhörenden widerlegen kann.“

„Vetter Damian hütet sich mit Dir zu disputiren,“ sagte Frau von Sander und sah bei diesen Worten mit einem Aufwerfen ihrer blassen schmalen Lippen auf Vetter Damian in einer Weise herab, die für diesen nichts Schmeichelhaftes hatte. „Dabei,“ fügte sie hinzu, „gewinnt aber die Dialektik nichts.“

„Dialektik – möcht’ wissen, was dabei zu gewinnen wäre, wenn Sergius in seinem pommerschen und ich in meinem fränkischen Dialekt kauderwelschen,“ brummte Damian, eine Bemerkung, welche glücklicher Weise überhört wurde, weil der Baron laut sagte:

„Desto besser, verehrte Cousine! Disputiren ist thöricht. Wozu sich erhitzen, um einem Anderen eine falsche Vorstellung zu nehmen? In solch einem Menschenkopf ist eine ganze Sammlung falscher Vorstellungen. Ob eine mehr oder weniger darin ist, was verschlägt mir das?“

„Aber ich bitte Sie, wo bleibt dann die Bildung?“ warf die Generalin ein. „Wir werden doch nur gebildet durch ein fortwährendes Berichtigtwerden unserer Vorstellungen.“

„Ach,“ sagte Damian, „ich dank’ schön … das ewige Berichtigtwerden ist gar meine Sach’ nicht.“

Jetzt glaubte Sergius offenbar sein Stichwort gefallen; er räusperte sich zu einer gründlichen Erörterung, und nur Dora von Ramsfeld, das junge Mädchen neben ihm, hielt ihn noch zurück, weil sie aufgesprungen war, um mit ganz anmuthiger Koketterie, die Leonhard gelten mußte, auf’s Neue das Glas des alten Herrn zu füllen.

Dieser leerte es hastig und hob dann die Tafel auf. Sehr vorschnell, dachte Sergius, und auch Damian dachte so, da die Rothweinflasche vor ihm noch lange nicht geleert war.




3.

Leonhard hatte nach Tisch den alten Herrn an den Arm genommen, um ihn hinab in die Anlagen zu führen. Er sagte:

„Sie sollen, statt jetzt zu schlafen und sich die Nachtruhe zu verderben, mit mir in die freie Luft hinaus. Der Tag ist schön, klar und heiter, und ich freue mich darauf, mit Ihnen durch die alten Gärten zu wandeln, in denen ich mich als Knabe so viel umhergetrieben und Ihrem Gärtner Verdruß bereitet habe, mehr als ich verantworten kann.“

„Versuchen wir’s, ob die Kräfte reichen!“ versetzte der Baron. „Ihr fester Arm wird mich stützen – es ist, als wenn ein stärkendes Fluidum von Ihnen her mir zuströmte – das macht, Sie sind mir sympathisch, Klingholt; diese Anderen, die mich umgeben und die Sie nun haben kennen lernen, sind es nicht; sie reizen, sie ärgern mich.“

„Und das ist sehr übel, das sollte nicht sein; just Sie mit Ihrem Nervenleben sind nicht der Mann, der solchen Antipathien ausgesetzt sein sollte.“

„Aber was wollen Sie? Wie kann man sich all dieser liebevollen rührenden Theilnahme und Beflissenheit seiner nächsten Verwandten entziehen, blos deshalb, weil sie uns nicht angenehm sind und man auch sehr wohl die Katzenkrallen unter den Sammetpfoten welche sie einander reichen, bemerkt …“

„Senden Sie sie fort! Halten Sie etwa nur Fräulein Dora von Ramsfeld als Ihre Vorleserin hier!“

„Fräulein Dora? Das Kind ist gut, aber als Vorleserin nicht zu gebrauchen. Sie wird nie mit den Fremdwörtern fertig und überschlägt jeden Augenblick eine Zeile. Da ist der gebildete Sergius mir doch lieber, obwohl er auf jeder Seite wenigstens einmal plötzlich innehält, um mir eine nöthige Erklärung beizubringen …“

„Und die ganze Gesellschaft, welche hier doch nur das Streben, einander zu überwachen, zusammenführte …“

„Glauben Sie das? Da thun Sie ihnen Unrecht, Doctor – wozu sich überwachen? Sie sind meine gleichnahen Verwandten, haben die gleichen Erbansprüche und werden zu gleichen Theilen gehen, natürlich …“

„Aber ist es nicht ebenso natürlich, daß sie sorgen, Sie könnten Bevorzugungen eintreten lassen? Kann Frau von Sander nicht fürchten, die hübsche kleine Dora könnte Ihr Herz in einem solchen Grade erobern, daß es durchaus der Genialität ihres Sergius als Gegengewicht dagegen bedürfe?“

„Freilich, freilich,“ sagte der Baron, „es mag so sein, aber ich denke nicht gern Uebles von meinen Nächsten, und habe ja auch nicht die leiseste Neigung verrathen, Einen vor dem Andern zu bevorzugen.“

„Desto mehr hätten Sie das Recht, sie alle zusammen als lästige Gäste heimzusenden.“

„Was sagen Sie da?“ rief der Baron, wie durch diese Unumwundenheit verletzt, aus.

„Ich erscheine Ihnen tactlos, und bin mir doch bewußt, nicht über Das hinauszugehen, was ich als Ihr Arzt Ihnen sagen muß. Meine Behandlung kann Ihnen nicht nützen, wenn Ihnen der Friede des Diners durch Gezänk und Dispute gestört wird und wenn Ihnen eine Pflege zu Theil wird, bei der guten Willens Ungeschick eine größere Rolle spielt, als die genaue und blind gehorchende Ausführung der Befehle des Arztes.“

„Möglich,“ sagte mit einem Seufzer der alte Herr. „Aber Sie fordern eine Energie von mir, welche ich nicht besitze. Sie dürfen mich deshalb nicht verachten – ich bin krank – und das Leben hat mich nicht zur Energie erzogen. Das Leben hat nie Energie von mir verlangt.“

„Freilich, es ist so glatt und eben verlaufen, so ohne Kampf und Ringen, ohne je Anstrengung und das Einsetzen Ihrer vollen Kraft von Ihnen zu verlangen.“

„Es mag ja so sein,“ sagte der alte Herr mit elegisch weichem Tone – „es ist mir vielleicht zu gut gegangen im Leben, obwohl auch ich – obwohl es Stunden gab – doch lassen Sie uns auf jener Bank dort ein wenig ruhen!“

Dem Baron war das Gehen leichter geworden, als er gedacht hatte, bis sie jetzt einem Ruheplatze nahe gekommen, den eine hohe alte Blutbuche beschattete. Der Baron setzte sich hier, nun aber sahen Beide, daß Frau von Sander ihnen nachkam und schon in ihrer nächsten Nähe war – sie riß sich ein dunkles Umschlagetuch von den Schultern.

„Sie sind sicherlich vom Gehen erhitzt, lieber Vetter,“ sagte sie mit großer Zärtlichkeit; „wie gut, daß ich mich mit einem Tuche versehen habe! Bitte, nehmen Sie es als Plaid um!“

Dabei warf sie es ihm, hinter ihn tretend, um die Schultern, während er lebhaft und gereizt abwehrte.

„Lassen Sie doch, lassen Sie doch! Wie werde ich eine Dame um ihr Tuch berauben wollen – ich bin nicht erhitzt.“

„Aber Doctor, so sagen Sie ihm doch –“

Der Baron stand wieder auf.

„Kommen Sie, Doctor, gehen wir weiter! Wir reden besser im Weiterschreiten – entschuldigen Sie uns, liebe Cousine!“

Leonhard reichte ihm seinen Arm, und Frau von Sander, die, ein wenig überrascht über die Unhöflichkeit, mit der man sie stehen ließ, zurückblieb, sah den Weitergehenden mit sehr gerunzelter Stirn nach.

„Ich fürchte, dieser Doctor,“ murmelte sie vor sich hin, „ist ein gefährlicher Mensch, der hier nichts Gutes stiften wird. Ich muß doch einmal mit Sergius reden, welchen Eindruck er auf ihn macht.“

„Wie das beobachtet, wie das überwacht!“ murmelte der alte Herr ärgerlich im Weiterschreiten. „Sehen Sie, Klingholt,“ sagte er dann auf sein Thema zurückkommend, „Sie wissen nicht, Sie haben keine Ahnung davon, wie wir alten Leute erzogen worden sind. [243] Kennen Sie Rousseau? Ein unglückseliger Mensch mit seiner Tugenddressur! Tugend! Wer spricht noch viel davon! Es ist Rococo geworden, das Wort. Wir aber wurden zur Tugend erzogen, das heißt, zur Bescheidenheit, zur Friedfertigkeit, zur Diensteifrigkeit gegen jeden Andern, zur Höflichkeit, zur weichen und weichlichen Hegung unserer Gefühle, zum Erdulden, Ertragen, Entsagen. Das ist nun Alles anders. Heute gelten andere Grundsätze. Aus Eurer Lehre vom Kampf um’s Dasein fließt eine Moral, welche der entgegengesetzt ist, in der wir erzogen sind. Bescheidenheit? Wohin würden wir mit ihr in dieser friedlosen Welt gelangen? Setz’ deine Schultern ein, dräng’ dich vor, stoß’ die Andern zurück, rede laut, damit man dich vernimmt, greife zu, damit du fassest, und statt des Herzmuskels stähle die Muskel deiner Arme! Das ist Eure Moral. Man erzog uns für den hohen reinen Aether des Ideals; man suchte unserer Seele die Schwingen zu geben, welche sie in dieser Luft trügen, hoch über dem dunklen Strome der irdischen Dinge, der gemeinen Wirklichkeit. Euch Kinder von heute aber lehrt man in diesem Strome schwimmen, mit dem Strome schwimmen. Sprecht Ihr von Idealen, so seid Ihr Fische bei Sonnenschein; Ihr schnellt über Eurem Gewässer empor in die reine goldige Luft, um gleich darauf wieder zurückzuplumpsen in Euer Wasser. Und nun sagen Sie, ist es ein Wunder, daß ich nicht die Energie habe, welche Sie von mir verlangen? Ich bin gelehrt worden, daß es besser ist, sich Liebe zu gewinnen, als sein Recht zu erkämpfen, und was man in den Knaben von heute als Willenskraft und Charakter zu stählen sucht, das brach man in uns als Eigensinn und Hartnäckigkeit. – Aber hier ist eine andere Bank, auf welcher man uns hoffentlich ungestört lassen wird – mein Gott, wie thut mir die Luft wohl!“

Der Baron lenkte auf die Bank zu und setzte sich darauf, Leonhard neben sich ziehend.

„Es freut mich, daß Ihnen die Luft wohl thut,“ sagte er lächelnd; er dachte: „die Luft, die Sie sich durch Ausschütten Ihres Herzens machen.“

„Das Leben,“ sagte er laut, „mußte Sie aber doch in Lagen, in Conflicte bringen, wo Ihre Energie herausgefordert wurde; das Leben eines reichen Mannes, eines großen Grundbesitzers kann nicht ohne Kämpfe bleiben – qui terre a, guerre a; Sie waren verheirathet, und so viel ich weiß, nicht glücklich …“

„Nicht glücklich?“ fiel der alte Herr mit einem schmerzlichen Lächeln ein. „O, da irren Sie – irren sehr. Ich war so glücklich in meiner Ehe, daß es mich erdrückte, mein Glück. Meine Frau war so schön, so geistreich, eine so glänzende Erscheinung. Sie war gewöhnt daran, vergöttert zu werden. Aber sie wählte mich; sie liebte mich; sie ließ sich wie eine beglückende Göttin zu mir nieder. Wie eine Göttin. Doch sie trug in ihrer hochgemutheten Brust auch den den höchsten Sternen nachtrachtenden Seelenschwung einer Göttin: sie verlangte eine volle Unendlichkeit von Glück, durch die ununterbrochene Empfindung und Ueberzeugung, daß sie mich grenzenlos beglücke. Ich sollte beglückter sein, als je ein Mensch gewesen, als die ewigen Götter es sind in ihrem Olymp. Und da ich kein Gott bin, auch in meiner von der Natur ein wenig schmal angelegten Brust keinen Raum habe für das Glück eines Gottes, wurde sie unzufrieden mit mir. Ich war ihr nicht dithyrambisch genug; mir fehlte das Pathos, von dem sie getragen sein wollte. Sie that das Zweckmäßigste, was sie unter solchen Umständen thun konnte, um mir eine tiefere Empfindung meiner Seligkeit beizubringen –: Sie demüthigte mich; sie zeigte mich mir selber zwerghaft klein; aus meiner Unbedeutenheit, aus der Tiefe meines Nichts sollte ich zu ihr aufschauen; sollte ich enthusiastischer das Glück ihres Besitzes empfinden. Was dabei mich, mein Denken und Fühlen, mein eigenes Sein anging, so kümmerte es sie wenig. Sie durfte ja nicht zeigen, daß ich ihr etwas, daß ich ihr wichtig sei. Je weniger ich ihr war, desto tiefer mußte ich empfinden, was ich an ihr besaß. Nun bin ich aber leider, wie jeder Sterbliche, nicht ohne Selbstgefühl, nicht ohne Eitelkeit, wenn Sie wollen. Statt eines dithyrambischen Sturmes meiner Gefühle rief das Wesen meiner Frau nur eine sinnige Stille, eine entsagungsvolle, vielleicht ein wenig satirische Abkühlung hervor. Nach ein paar Jahren, die uns weiter und weiter von einander abrückten, kam ein Entschluß der Entsagung auch über sie. Sie entsagte aller Hoffnung auf die Ausdehnungskraft meines Herzens. Und dann fand sie einen Mann, der ihr glückrauschfähiger als ich scheinen mochte … es war ein Künstler, ein Maler, ein Idealist von Profession … sie betrogen mich eine Weile, und als sie inne wurden, daß ich mich geduldig betrügen ließ und herzlich zufrieden war, nicht der Beglückte sein zu müssen, als die Sache für sie das Pikante verlor, beschlossen sie, dies durch einen Zuwachs von Romantik zu ersetzen. Sie flohen in die weite Welt hinaus – sie gingen mit einander durch, und ich habe sie nicht wieder gesehen. Sie sehen, Klingholt, von welcher Seite auch Sie mein Schicksal betrachten wollen, von der elegischen, wie ich es zu thun mir angewöhnt habe, oder von der humoristischen, wie Sie sich geneigt fühlen werden, es zu thun – Conflicte, Kämpfe, Katastrophen – damit hat das Leben mich verschont, und die allgemeine Wehrpflicht der Menschenexistenz hat mich immer in der stillen Friedensgarnison von Dortenbach gelassen.“

Der alte Herr schwieg, indem er sinnend in die Ferne blickte; auch Leonhard, der wohl gefühlt, daß durch die Worte des Redenden mehr Bitterkeit und altes Leid gezittert, als er verrathen wollte, blieb eine Weile stumm, bis er, aufstehend, sagte:

„Das Sprechen wird Sie doch erhitzt haben; es möchte besser sein, wenn wir heimwärts wandelten.“

Der Baron folgte, sich erhebend, seiner Mahnung. Dabei sagte er in leisem Tone, wie im Bedürfnisse, nun vor sich selber auch das noch auszusprechen:

„Nur einmal – so ist’s mir jetzt – nur einmal schien damals das Schicksal meine volle Energie herausfordern zu wollen. War mir’s doch schon damals, als ob eine derbe, ehrliche Faust mich bei der Brust packte und schüttelte und eine zornige Stimme mir zurief: sei einmal ein tüchtiger Wütherich und fahre darein, mache diesen empörenden Scenen ein Ende, dulde die Schmach nicht länger …!“

„Und Sie hörten auf den Ruf?“

„Was wollen Sie – nein!“ antwortete der alte Herr. „Es handelte sich zwar um meine arme jüngste Schwester – die gute Sabine – aber wie hätt’ ich’s durchführen können … den Kampf mit Eltern, die mich zur Bescheidenheit, Unterwürfigkeit, Tugend erzogen hatten – wie hätt’ ich’s können? Doch das ist lange her – es ist Gras darüber gewachsen – Gras über Gräbern, und heute, heute,“ setzte er mit einem tief schmerzlichen Seufzer hinzu, „ist das Alles so gleichgültig, wie ob der Wind, der durch die Grashalme auf diesen Gräbern weht, aus Osten oder aus Westen bläst. Ich bin ein alter einsamer Mann darüber geworden, dessen Herzen Niemand nahe steht, Niemand! Oft ist mir der Gedanke gekommen, es sei das wenigstens meine eigene Schuld; ich hätte Jemand adoptiren, an Kindesstatt annehmen sollen; aber fand ich denn je irgend einen jungen Menschen, bei dem ich hätte Vaterpflichten übernehmen mögen … ein mir sympathisches junges Wesen, das ich hätte immer um mich sehen mögen?“

„Sie könnten diesen Gedanken noch jetzt ausführen,“ sagte Leonhard. „Da ist zum Beispiel Fräulein Dora,“ setzte er lächelnd hinzu.

Der alte Herr schüttelte lebhaft den Kopf. Dann seufzte er tief auf und schwieg.




4.

Leonhard brachte den Baron auf sein Zimmer zurück, und dann verabschiedete er sich von ihm für eine Weile, um zum Forsthause hinüberzugehen. Er hatte seinem Vater versprochen, ihm möglichst bald Bericht zu erstatten, wie er den alten Herrn gefunden und was er für Mittel anwenden werde, den Lebensfaden einer Existenz zu verlängern, von der ja fast die eigene Existenz für seinen Vater abhing.

Leonhard fand diesen mit seiner Mutter und seinem viel jüngeren Bruder Edwin – Edwin war Eleve der Anstalt zu Neustadt-Eberswalde gewesen und bereitete sich jetzt daheim auf sein Oberförsterexamen vor – um den Kaffeetisch versammelt; in der gemüthlichen Wohnstube mit den alten Niedinger’schen Kupferstichen in schwarzen Holzrahmen, mit den alten saubern, wieder und wieder aufpolirten Möbeln, die doch immer noch so schön glänzten, als ob die Försterin Klingholt, die Frau mit den großen gutmüthigen blauen Augen, ein Geheimmittel dafür besitze. Leonhard setzte sich zu ihnen in den Sessel, den Edwin beflissen herantrug, erbat sich auch von diesem eine Cigarre – „die Cigarren der Herren Söhne sind immer denen der Väter vorzuziehen,“ sagte [244] er scherzend dabei – und dann berichtete er, um seines Vaters Spannung zu enden.

„Die Leiden des Barons sind durchaus nicht schlimmer, am wenigsten gefährlicher Natur,“ sagte er. „Sie sind zum Theil die ganz gewöhnlichen Leiden des Alters, zum Theil bedingt durch eine Nervenzärtlichkeit und Empfindsamkeit, wie ich sie bei einem Manne noch nicht gefunden habe. Das übt einen Druck auf seine Seele, unter welchem der Wille, gesund zu sein, geschwunden ist. Dieser Wille, der Wille zum Leben, muß neu in ihm erweckt, und zu dem Ende zuerst das, was seine empfindsamen Nerven reizt und krankhaft schwingen macht, beseitigt werden. Haben wir dann seinem Willen zum Leben die nöthige Energie gegeben, so werden seine körperlichen Leiden sich mildern und vertreiben lassen, wie alle Leiden, welche von durchaus keiner organischen Störung verursacht sind.“

„Siehst Du, Mutter,“ sagte erfreut und lebhaft mit dem Kopfe nickend der Förster, „siehst Du, hab’ ich nicht gesagt, daß der Leonhard uns ein ganz anderes Licht aufstecken würde, wenn er sich der Sache annähme?“

„Daran habe ich ja nicht gezweifelt,“ entgegnete Frau Klingholt, „daß er’s besser versteht, als unser alter Doctor Fellmeyer mit seinen Schröpfköpfen und Blutegeln. Aber diesem schwachseligen Herrn, der so gutherzig ist, erst den Leuten das Holz, das sie ihm gestohlen haben, zu schenken, und dann wieder nicht die Courage hat, dies dem Vater zu gestehen – dem einen Willen einzuflößen –“

„Das ist schwer, denkst Du, Mutter?“ fiel Leonhard ein.

„Aus der Apotheke wenigstens wirst Du’s ihm nicht verschreiben können.“

„Nein, Mütterchen. Aber hast Du je von der neuen Cur durch Transfusion des Blutes gehört?“

„Ach, ich bitte Dich, Leonhard, wohl habe ich davon gehört, und nichts ist mir grauslicher gewesen als eben das; Ihr seid schreckliche Leute, Ihr Mediciner.“

„Beruhige Dich, ich wollte Dir nur durch ein Beispiel klar machen, wie ich unserem guten Baron zu einem verjüngten frischen Willen zu verhelfen gedenke. Es soll kein Blut dabei fließen – es soll eine ganz unsichtbare geistige Transfusion des Willens aus einer starken, energischen Seele in die seine, die durch ihre weibliche Empfänglichkeit einer solchen Behandlung entgegenkommt, bewerkstelligt werden.“

„Und eine solche starke, energische Seele, die ihren Willen dazu hergiebt, wo wirst Du sie finden?“

„Da ist ja gleich die Frau Generalin in der Nähe,“ fiel hier spöttisch Edwin ein. „Energisch ist sie genug, und hergeben wird sie, was man von ihr verlangt, wenn sie später bei der Theilung dafür einige Thaler mehr bekommt.“

„Als ob die Ramsfeld’schen viel besser wären – Dein Freund Damian zum Beispiel!“ rief der Förster.

„Doch, doch, Vater,“ entgegnete Edwin lebhaft, „Damian zum Beispiel ist ein ganz vorzüglicher Bursche, der nichts dawider kann, daß sich Alles gegen ihn verschworen hat, ihn nicht aufkommen zu lassen. Was kann er dafür, wenn sie ihm in seinem Examen immer die Fragen stellten, die er just nicht beantworten konnte, und sich heimtückischer Weise nie nach den Dingen bei ihm erkundigten, die er wußte? Und wenn ihm dann, als er endlich Jagdjunker geworden war, bei der ersten Hofjagd ein boshafter Prinz in den Weg lief, um sich von ihm anschießen zu lassen? Harte Schicksale, mußt Du einräumen, Vater –“

„Laßt doch des hohlköpfigen Damian Schicksale!“ unterbrach ihn die Mutter. „Laßt Leonhard weiter reden!“

„Nun wohl, Mütterchen,“ nahm dieser wieder das Wort. „Ich kenne in der Stadt eine solche Seele, wie ich ihrer hier, um meine Cur auszuführen, bedarf. Eine sehr ernste, sehr vielseitig gebildete junge Dame, welche ich als Krankenpflegerin habe kennen lernen – ich werde mich an sie wenden, und ich hoffe, es gelingt mir, sie für die Uebernahme der Pflege unseres Patienten zu gewinnen. Hat sie sie übernommen, so bin ich beruhigt; sie wird die Cur dann mit all der strengen Gewissenhaftigkeit, die ich an ihr erprobt habe, durchführen.“

„Und wer ist, wie heißt Dein Muster von einer Krankenpflegerin?“ fragte die Mutter.

„Sie heißt Regine – Bertram,“ antwortete nach einem augenblicklichen Stocken und mit einem leichten Erröthen Leonhard.

Die Mutter sah flüchtig, wie forschend, in seine Züge, aber sie schwieg. Vater Klingholt aber fiel laut ein:

„Das Beste wäre, wenn sie die Energie hätte, dem Baron die ganze Sippschaft, die ihn umgiebt und ihn nur ärgert, vom Halse zu schaffen!“

„Darum, Vater,“ versetzte Leonhard, „würde es sich allerdings zunächst handeln. Aergern darf sich unser guter Baron nicht mehr; das muß ein Ende haben, und eine Gesellschaft, welche ihn fortwährend an seine Hinfälligkeit erinnert, während es vor Allem darauf ankommt, ihm das Gefühl derselben zu nehmen, ist für ihn die verkehrteste von allen.“

„Wird aber schwer durchzusetzen sein, schwer!“ meinte der Förster sich erhebend. Er schlug jetzt Leonhard eine Wanderung durch die nächsten Waldpartien vor, um ihm zu zeigen, wie seine Anpflanzungen in den letzten Jahren gediehen. Leonhard war mit Vergnügen bereit, wenn die Mutter sich anschließe, und diese hing sich gern an den Arm ihres Sohnes, auf den sie so stolz war. Edwin verschwand in sein Giebelzimmer zu seinen Büchern; so ging Leonhard bald zwischen Vater und Mutter unter den hohen Tannen und Buchen dahin, und während der Vater sprach und erklärte und Geschichten aus seinem Waldleben erzählte, überkam Leonhard ein weiches Gefühl, eine innere Rührung mit einem sehnsüchtigen Durchfühlen solch einer Existenz, wie sie hier zwei Menschen führten, an denen sein ganzes Herz hing. Es ist nicht wahr, dachte er, das Leben ist kein „Kampf um’s Dasein“ – das Leben ist heutzutage zunächst ein Kampf wider alle die Vorurtheile und alle die falschen Maximen, welche die moderne Bildung wie eine boshafte Fee dem jungen Menschen von heute in seine erste Geisteswiege, in seine Schulung, legt. Der „Wille zum Leben“ ist nicht Urquell alles Schöpfungjammers, sondern der Keim jeder großen und göttlichen Thätigkeit des Menschengeistes, der mit seinen letzten Zielen, nach welchen Himmelsgegenden er auch schaue, immer doch das Ideale sucht, und dem es gelungen ist, einzelne Strahlen des Idealen und Göttlichen in seinen Werken abzuspiegeln und festzuhalten. Und der Menschenseele eigentliches Element ist der Friede, der identisch ist mit Gesundheit; der Kampf ist die Ungesundheit, ist das Fieber, ist der Schmerz. Und nicht gleich sind die Menschen, nicht gleichen Werths, nicht unterschiedloses Korn in der Mühle des Weltenschicksals – zwischen dem starken Geist, der die Menschheit weiter reißt auf der Bahn zu ihren Zielen, und den Millionen insectenhaften Gethiers, das ihn hemmt und lähmt, ist ein Werthunterschied, groß wie das Meer. Mit einem tiefen Aufathmen den würzigen Duft der Tannen einsaugend und den Arm, der im seinen lag, drückend, sagte Leonhard:

„Ich fühle hier so recht aus Herzensgrunde wieder, wie glücklich ich sein könnte, wenn ich zwischen Euch Euer Leben führen dürfte. Ihr wißt nicht, Mütterchen, wie glücklich Ihr seid, und welch schwere Lebensaufgabe das ist, ein vielbeschäftigter Arzt in einer großen Stadt zu sein.“

„Keine Ruh bei Tag noch Nacht!“ unterbrach ihn der Förster.

„Ach, das drückt weniger … das Schwere sind die Verantwortlichkeiten, wenn die Hand des Operateurs schwankend nach dem Messer greift, wenn man nicht weiß, ist der Augenblick es einzusetzen nun wirklich gekommen oder nicht. Das Schwere sind die Stunden, verlebt im Kreise verzweifelnder Familien, für welche unser Wissen und Können keinen Trost mehr hat.“

„Freilich, freilich – kann mir’s denken,“ sagte kopfnickend der Förster; „muß oft ein hartes Amt sein, Eures. Aber auch Unsereins hat seinen Kummer, seine Sorgen.“

„Wir wollen nicht undankbar sein, Curt; wir wollen uns nicht versündigen,“ fiel hier die Mutter ein; „wenn wir nur die Gewißheit hätten, daß unser guter alter Herr nicht zu früh die Augen schließt – wenn nur diese dunkle Wolke, die über uns hängt, dahin gezogen wäre … denn siehst Du, Leonhard, wenn Alles anders hier würde, wenn wir hinaus müßten aus dem friedlichen Waldhause, in dem Dein Vater wie sein Vater groß geworden, in dem ich Euch gewiegt und groß gezogen habe, Dich, Leonhard, zuerst, und dann die arme süße Ulrike, Dein Schwesterchen, das blonde fröhliche Kind, das sie als wachsbleiches Engelchen uns hinaustrugen … und dann den Edwin, den wilden leichtsinnigen Menschen, der uns doch auch noch immer ein guter Sohn gewesen ist und mit Gottes Hülfe ein braver Mann werden wird – wenn wir das alte Heim verlassen müßten – der Vater seine treuen alten Hunde

[245]

Hochzeitszug. Nach dem Oelgemälde von Adolf Eberle.

[246] nur gleich todtschießen könnte, damit wir in der Stadt, wo sie solch Gethier ja nicht mögen, auf einigen Zimmern eine Aufnahme fänden …“

Der Förster, der vor den beiden Andern voraufging, legte seine Hände auf den Rücken und begann leise zu pfeifen, was Leonhard nur zu gut als Zeichen der Erregung bei ihm kannte.

„Und Du, Mutter,“ sagte er spöttisch, wie um ihre Rührung nicht aufkommen zu lassen, „hättest nicht einmal den Trost, in der Stadt dem Leonhard seine Teppiche schrubben lassen zu können …“

Sie hatte ihr Tuch an ihre weinenden Augen gebracht.

„Wenn Du jetzt auch spottest, Du überlebtest es doch nicht,“ versetzte sie, „der Vater überlebte es nicht, Leonhard.“

„Und darum soll und wird es nicht sein, Mutter. Vertraue auf mich, gutes Mütterchen! Ich gelobe es Euch.“

„Was kannst Du geloben?“ fragte der Förster befremdet, sein Gesicht seinem Sohn zuwendend. „Geloben? Du bist ein geschickter Arzt, wirst unserem guten Herrn auch vielleicht um ein paar Jahre das Leben verlängern – aber dann? Schwindsüchtige Willen kannst auch Du nicht curiren. Glaubst Du ihn dahin zu bringen, daß er ein Testament macht und darin festsetzt: die Försterstelle behält lebenslang Curt Klingholt, mein alter Diener, und nach dessen Ende bekommt sie Edwin Klingholt? Denk nicht daran! Ein Testament macht der nicht – der nicht!“

„Darin magst Du Recht haben, Vater. Ich denke nicht daran; ich verlasse mich auf Andres, auf ganz Andres, sage ich Euch, und mein gutes Mütterchen soll sich auf mich verlassen … willst Du, Mutter?“ fragte er stehen bleibend, indem er ihre beiden Hände erfaßte und ihr tief in die guten hellblauen Augen blickte.

Sie machte ihre weiche, rundliche Rechte aus seiner Hand los, und zärtlich damit über sein Gesicht fahrend, sagte sie mit vor Rührung zitternder Stimme:

„Mein braver Leonhard! Gewiß, nächst Gott auf Dich am liebsten!“

(Fortsetzung folgt.)




Zur Geschichte des deutschen Buchhandels in der Restaurationszeit.
Von Rudolf von Gottschall.

Hat sich auch der Jubel darüber, „wie wir es jetzt so herrlich weit gebracht“, oft allzu dithyrambisch geäußert, so wird doch jede wahrheitsgetreue Darstellung der deutschen Verhältnisse aus früheren Jahrzehnten unseres Jahrhunderts immer von Neuem den Beweis liefern, daß eine Menge jener Schranken gefallen sind, welche früher die Entwickelung des geistigen Lebens hemmten. Und wenn man die kleinlichen Interessen in’s Auge faßt, mit denen sich die damalige Staatsweisheit auch in den höchsten Regionen beschäftigte, so muß man anerkennen, daß die Perspectiven der innern und äußern Politik seitdem bemerkbar großartiger geworden sind.

Mit welchen Hindernissen damals besonders der Buchhandel zu kämpfen hatte, der als Träger der geistigen Bewegung angesehen werden mußte, davon entwirft uns der dritte Band der Biographie von Friedrich Arnold Brockhaus, die sein Enkel Eduard Brockhaus herausgegeben (Leipzig, F. A. Brockhaus), ein sehr lebendiges Bild. An der Treue und Wahrheit desselben darf man um so weniger zweifeln, als dieser Band wie die ganze Lebensbeschreibung überhaupt aus archivarischen Quellen geschöpft und durchaus gewissenhaft ohne jede Schönfärberei abgefaßt worden ist. Acten und Briefe sprechen für sich selbst, und das anscheinend Unglaubwürdige erhält durch sie eine unwidersprechliche Bestätigung.

Als einer der rührigsten und tüchtigsten deutschen Buchhändler, welcher den Kampf gegen die französische Fremdherrschaft und das Napoleonische Regiment in seinen „Deutschen Blättern“ und in vielen seiner Verlagsunternehmungen mit großer Ausdauer geführt hatte, konnte Friedrich Arnold Brockhaus doch nicht den Verfolgungen entgehen, welche zur Zeit der Karlsbader Beschlüsse sich an die Fersen vieler der besten Patrioten hefteten, und sowohl die preußische wie die österreichische Regierung belastete seinen Verlag mit Verboten, Recensuren, Postdebitentziehungen und anderen polizeilichen Chicanen; daneben hatte er unter den damaligen gesetzlichen Bestimmungen über den Nachdruck zu leiden, welche in die deutschen buchhändlerischen Verhältnisse eine unglaubliche Verwirrung brachten.

Wir haben zwar die scharfen Verdammungsurtheile gelesen, welche Jean Paul und andere damalige Schriftsteller über das Unwesen des Nachdrucks aussprachen, aber es wird wenigen bekannt sein, daß dieser Nachdruck zum Theil sogar von den Regierungen privilegirt wurde. Diese Erfahrung machte Brockhaus bei seinem Hauptunternehmen, dem „Conversationslexicon“, das seinen Weltruf bis auf den heutigen Tag behauptet hat und gegenwärtig in einer dreizehnten, völlig umgearbeiteten und wesentlich bereicherten, auch mit Illustrationen und Karten ausgestatteten Ausgabe erscheint, von welcher gegenwärtig der erste Band abgeschlossen vorliegt. Der Nachdruck des Lexicons, welchen die Firma A. E. Macklot in Stuttgart veranstaltete, erschien damals mit königlich württembergischer allergnädigster Genehmigung, und in der Ankündigung spendete die Firma in naivster Weise dem Original warmes Lob; über den Werth desselben sei in ganz Deutschland nur eine Stimme; es bewähre sich in ihm, was deutscher Geist und deutscher Fleiß bei großen literarischen Unternehmungen zu leisten vermöchten, und das durch den vereinten Fleiß vieler ausgezeichneter deutscher Gelehrten hervorgebrachte Werk mache eine ganze Bibliothek entbehrlich. Die Macklot’sche Buchhandlung habe sich entschlossen, eine neue Auflage davon zu veranstalten, um das so vortreffliche Werk besonders in dem südlichen Deutschland weiter zu verbreiten und durch Verringerung des Preises seinen Besitz auch unbemittelteren Lesern zu erleichtern.

Das erscheint von unserem heutigen Standpunkte aus als eine ganz unbegreifliche Naivetät; Brockhaus aber hatte mit thatsächlichen Verhältnissen zu rechnen und mußte alle erdenklichen Schachzüge unternehmen, um jenen Nachdruck so unschädlich wie möglich zu machen. Er erlangte für die vierte Auflage seines Conversationslexicons ein Privilegium der württembergischen Regierung auf sechs Jahre; aber die Regierung war so gerecht und wohlwollend, das Privilegium, das sie der Firma Macklot für die dritte Auflage ertheilt hatte, nicht zu vergessen und Herrn Brockhaus an’s Herz zu legen, daß er ja die noch nicht erschienenen Bände derselben ausgebe und Macklot das Recht des Nachdrucks gestatte; Brockhaus hielt es für das Beste, mit seinem Nachdrucker nun selbst einen Vertrag abzuschließen, in welchem er diesem die Vollendung des Nachdruckes in einer bestimmten Zahl von Exemplaren gestattete, auf einen späteren Druck verzichtete und 1500 Gulden Schadenersatz zahlte. Doch auch dieser Vertrag hatte nicht den gewünschten Erfolg; er wurde unter allerlei Vorwänden nicht eingehalten; es kam zu Händeln, zu Processen, die durch mehrere Instanzen gingen.

Gleichzeitig traten auch andere Nachdrucke des Conversationslexicons zu Tage; kann man es Brockhaus verdenken, wenn er sich in einem geharnischten Flugblatte gegen die Flibustier-Industrie des Nachdruckes aussprach, in jener kräftigen, witzigen Weise, die an das Vorbild Jean Paul’s erinnerte? „Nein, liebes Publicum,“ läßt er sich vernehmen, „solange der Deutsche noch nicht auf dem Kopfe geht und mit den Füßen denkt, wird dir kein Mensch – und wäre dieser selbst ein königlich württembergischer Geheimer- oder ein Regierungsrath – einreden, daß Verlagsrecht kein Recht, Buchhandel kein Handel sei. Wenn du dagegen alles das bedenkst, was seit Luther und Frobenius, 300 Jahre lang, verständige und rechtliche Leute und darunter Männer wie Kant, Fichte, Pütter, Munde, Campe, Becker, Jean Paul, gegen den Nachdruck gesagt haben, so wirst du wohl begreifen, daß der Bücher-Nachdruck nichts weiter sei, als ein Polyp im Herzen des edelsten Eigenthumsrechtes, das je eine Nation in Anspruch nehmen kann. Du wirst also einsehen, liebes Publicum, daß Gesetze, die den Nachdruck erlauben, nichts anderes erzielen, als Verleger und Schriftsteller, die nun auch einen Magen haben wie der Nachdrucker, wenn auch keinen Straußenmagen wie dieser – zu nöthigen, an ihrer eigenen Tafel zu fasten, an der sie Herrn Macklot und Compagnie bewirthen.“

Mit solchen Anklagen der Nachdrucker, die er weiterhin mit dem Crispin vergleicht, der das Leder stiehlt und den Armen Schuhe daraus macht, aber nicht umsonst, wie dieser, oder mit den

[247] Falschmünzern, die in das Raspelhaus gesteckt und an den Galgen gehenkt werden, begnügte sich Brockhaus nicht; er wandte sich an die Quelle der Gesetzgebung, an die Regierungen und den Bundestag mit seinen Eingaben und muß jedenfalls als einer der tapfersten Vorkämpfer gegen einen Mißbrauch angesehen werden, der uns jetzt nur noch wie eine dunkle Sage aus den Zeiten bundestäglicher Rechtsanarchie gemahnt.

Viel aufreibender noch waren die Kämpfe, welche F. A. Brockhaus mit der preußischen Regierung zu bestehen hatte, in denen sich Erfolge und Mißerfolge, Zugeständnisse und die Zurücknahme derselben in oft überraschender Weise ablösten. Diese Kämpfe werfen zugleich ein Licht auf die damaligen politischen Strömungen in den höchsten Kreisen Berlins, wo die Intentionen des Fürsten Hardenberg oft genug von den anderen Ministern gekreuzt wurden; denn der alte Staatskanzler hatte in dem absolutistisch regierten Preußen lange nicht jene durchgreifende Macht, wie sie Fürst Bismarck in dem parlamentarischen Preußen und Deutschland besitzt. Brockhaus hatte in dem Historiker Friedrich von Raumer einen getreuen Bundesgenossen, der ihm nicht nur Stimmungsberichte aus Regierungskreisen schrieb, nicht nur Rathschläge über die besten zu ergreifenden Schritte ertheilte, sondern auch selbst Mitglied des Obercensurcollegiums war; trotzdem konnte Brockhaus der widerstrebenden Elemente in Berlin nicht Herr werden und mußte, wenn er zwei Schritte nach vorwärts gemacht hatte, bald darauf wieder einen Schritt zurückthun. Das gerade zehrte an seinem Leben und hatte, zusammen mit anderen Mißhelligkeiten und mit der literarischen Polemik, in die er mit dem kritischen Kernbeißer Advocat Müllner in Weißenfels gerathen war, seinen verhältnißmäßig frühen Tod zur Folge.

Bei der preußischen Regierung war Brockhaus schon seit dem Jahre 1810, wo er die „Memoiren Massenbach’s“ veröffentlicht hatte, nicht gut angeschrieben. Das „Literarische Wochenblatt“ aber hatte sich einen offenbaren Verstoß zu Schulden kommen lassen, indem es im Juni 1820 in der „Correspondance inédite de Napoléon Bonaparte“ einige wenig schmeichelhafte Bemerkungen über den König von Preußen und die Königin Luise mitgetheilt hatte. In Folge dessen war das Blatt durch den Minister Hardenberg verboten worden. Das „Literarische Wochenblatt“ war von Kotzebue begründet worden und erschien zuerst in Weimar; Müllner machte es in seinem Kriege mit Brockhaus zu einem Hauptorgane seiner Polemik; der gewandte Buchhändler suchte ihm diese Waffe zu entwinden, indem er das Blatt kaufte und in den eigenen Verlag übernahm, in welchem es bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Zweimal (1820 und 1826) wechselte es in Folge der preußischen Censurscherereien seinen Titel; es sind die heutigen „Blätter für literarische Unterhaltung“, welche seit mehr als sechszig Jahren ihrem ursprünglichen Programme treugeblieben sind, dem Publicum, dem Salon wie dem häuslichen Herde ein Leitfaden zu sein für die Lectüre und ein Rathgeber mitten in einer überreichen Production, die ohne Sachverständige und Vertrauensmänner sich von dem Einzelnen gar nicht mehr sichten und beherrschen läßt.

Das Verbot des „Literarischen Wochenblattes“ wußte Brockhaus noch in demselben Jahre wieder rückgängig zu machen, indem er demselben einen veränderten Titel gab: „Literarisches Conversationsblatt“. Kaum aber hatte er durch Audienzen bei dem Staatskanzler und den Ministern die Freigebung des Blattes durchgesetzt, als ein anderer Sturm, der über den ganzen Brockhaus’schen Verlag hereinbrach, es wieder in Mitleidenschaft zog. Dieser Sturm war veranlaßt worden durch eine in’s Deutsche übersetzte Schrift des Abbé de Pradt über die damalige spanische Revolution, „welche“, wie der preußische Gesandte in Dresden meinte, „eigentlich gegen die ganze bestehende Ordnung gerichtet sei, ja den Meineid und die Empörungen der Armeen und Völker ohne Scheu predige.“

Die Schrift wurde in Preußen verboten, obschon sie mit Censur gedruckt worden war. Die preußische Regierung wandte sich an die sächsische mit Beschwerden über die Leipziger Büchercommission und über den „zur Verbreitung alles Revolutionären jederzeit fertigen“ Buchhändler Brockhaus. Die sächsischen Behörden erwogen den Fall unparteiisch und ließen sich auch durch das Sündenregister, welches der preußische Gesandte in Dresden von dem Brockhaus’schen Verlag, von einzelnen Artikeln des Conversationslexicons, von den „Zeitgenossen“ entwarf, nicht zu übereilten Schritten hinreißen; die Conferenzminister vertheidigten viele der angegriffenen Stellen; doch ein kleiner, anscheinend höchst unbedeutender Zwischenfall verbitterte die Stimmung in Berlin gegen Brockhaus im höchsten Grade: es waren in seinem Verlag zwei lobpreisende Biographien des Königs Friedrich Wilhelm des Dritten und des Staatskanzlers Fürsten Hardenberg veröffentlicht worden; die erstere wurde als soeben erschienen von Berliner Buchhandlungen im Inseratentheil der dortigen Zeitungen angekündigt. Der König war, wie Raumer an Brockhaus schrieb, ungehalten darüber, daß er und sein Leben ausgeboten wurde wie Häring und Neunaugen und mitten unter solchen Objecten. Der Minister Schuckmann, der seine Stellung gegenüber derjenigen Hardenberg’s zu befestigen suchte, benutzte den Unwillen des Königs, um eine entscheidende Maßregel gegen den ganzen Brockhaus’schen Verlag durchzusetzen, und in der That wurde die Recensur desselben in Preußen verordnet, auch betreffs aller künftig erscheinenden Schriften, das heißt: sie durften in Preußen nicht verbreitet und verkauft werden, bis die preußische Censur die Erlaubniß dazu ertheilt hatte.

Es genügte also nicht, daß ein Werk die Censur eines Bundesstaates passirt hatte; es mußte sich eine zweite Censur in Preußen gefallen lassen, sowie ja auch die Druckerlaubniß in einem Staate nicht vor dem Verbot in einem andern schützte. Diese politische Zwickmühle war ganz darnach angethan, daß dem deutschen Buchhandel ein Stein nach dem andern geschlagen wurde. Unermüdlich war Brockhaus bestrebt, diese Maßregeln rückgängig zu machen oder ihnen wenigstens die Spitze abzubrechen; er hatte mehrfach Audienzen bei Herrn von Schuckmann in Berlin, sandte dem Staatskanzler eingehende Memoiren ein und wandte sich wiederholt direct an den König; es gelang ihm auch, vorübergehende Erleichterungen durchzusetzen; namentlich schlief längere Zeit die Recensur des „Conversationsblattes“, für welches der Postdebit wieder gestattet worden war, gänzlich ein, ja einmal wurde sogar die Maßregel dem ganzen Verlag gegenüber suspendirt. Doch irgend ein neues corpus delicti, das der Brockhaus’sche Verlag in’s Leben gerufen, wie das satirische „Taschenbuch ohne Titel“, wirbelte wieder so vielen Staub auf, daß die Recensur, obschon sie jährlich zweitausend Thaler kostete, wieder auf der Bildfläche erschien. Brockhaus führte diesen Kampf tapfer und unerschrocken durch.

„Was mein ‚Literarisches Conversationsblatt‘ betrifft,“ schrieb er an Raumer, „so habe ich Einsicht und Urtheil genug, um zu erkennen – und ich sage es frei heraus, ohne zu glauben, deshalb unbescheiden zu sein – daß es in seiner Art das erste Blatt nicht blos in Deutschland, sondern in Europa ist und daß jede Regierung, die das Blatt verbietet, sich beschimpfen muß.“ Er verhandelte wie eine kriegführende Macht mit der anderen und ging soweit, den Ministern selbst abgearbeitete Vorschläge zu unterbreiten, wie die Ausnahmegesetze am besten gehandhabt werden könnten. Keine günstige Chance in diesem Kampfe ließ er sich entgehen. Als in der „Allgemeinen Zeitung“ heftige Artikel gegen ihn erschienen, spürte er dem Verfasser derselben nach, und als er entdeckte, daß sie von einem Doctor Klindworth herrührten, einer problematischen Existenz, in welcher manche Söldlinge des Reptilienfonds vorspukten, ruhte er nicht eher, bis er den Staatskanzler von der Verworfenheit dieses Scribenten überzeugt hatte, der sich jetzt als Held der Legitimität aufspiele, während er früher dem Brockhaus’schen Verlag selbst eine auf demagogischen Grundsätzen beruhende Constitution für Preußen zur Verbreitung durch den Druck angeboten habe. In der That kam es hierüber zu scharfen Differenzen zwischen dem Staatskanzler, der damals allerdings schon altersschwach war, und dem Polizeiminister von Schuckmann, der aber zuletzt doch wieder über den Grafen Hardenberg triumphirte und die Wiedereinführung der Recensur durchsetzte. Brockhaus selbst, der immer verbitterter wurde, unterwarf sich derselben nicht mehr und suchte sie durch Gründung einer Altenburger Filiale und dadurch, daß er viele Verlagsartikel in der Metzler’schen Buchhandlung in Stuttgart erscheinen ließ, zu umgehen. Die preußischen Behörden behandelten ihn jetzt wenig glimpflich; Schuckmann spricht von seinen „verächtlichen Drohungen“, „absichtlichen Unwahrheiten“, „den Phantomen seiner eingebildeten Wichtigkeit“, ja er selbst fügt eine Drohung hinzu, welche ein höchst charakteristisches Streiflicht auf die damaligen Verhältnisse wirft, daß nämlich die Producte der Brockhaus’schen Handlung in Preußen ohne Ausnahme verboten, dagegen „der Nachdruck derselben unter diesseitiger Censur verstattet und dies öffentlich bekannt gemacht werde, damit achtbare Verfasser, denen an dem Umlauf ihrer Werke im diesseitigen Staate gelegen ist, in der Wahl ihres Verlegers sich hiernach richten.“ Der vom Fürsten [248] Hardenberg für ehrlos erklärte und in Preußen gesetzlich verbotene Nachdruck ward hier von einem preußischen Minister selbst als Schreckgespenst heraufbeschworen, und mit dieser Verhöhnung des Gesetzes war es vollkommen ernst gemeint.

Friedrich Arnold Brockhaus selbst erlebte den Frieden mit der Regierung nicht; erst nach seinem Tode, im December 1823, nach dreijähriger Dauer, wurde die Recensur in Preußen aufgehoben; nur das „Conversationsblatt“ mußte sie bis zum Mai 1825 über sich ergehen lassen, wurde dann gegen Ende jenes Jahres abermals verboten und erst unter dem veränderten Titel: „Blätter für literarische Unterhaltung“ zugelassen.

In Oesterreich machte der tapfere Verleger nicht minder bittere Erfahrungen: es war ja die Zeit der Karlsbader Beschlüsse; Metternich saß am Staatsruder, und Gentz führte die diplomatische Feder und übte das kritische Censoramt über die verwerfliche Literatur. Mehrere Bände des Conversationslexicons, eine große Zahl von Verlagswerken, darunter auch ein Jahrgang des Taschenbuches „Urania“, wurden hier verboten. Auch hier nahm sich Brockhaus seiner buchhändlerischen Producte auf’s Eifrigste an, ohne je pater peccavi zu sagen oder in einen kriechenden Ton zu verfallen. So erklärt er dem Polizeiminister Grafen Sedlnitzky, daß er der entschiedenste Feind jeder Willkür und alles Despotismus sei, und leugnet nicht, in einzelnen Momenten tief von der politischen Lage Deutschlands ergriffen gewesen zu sein und in diesen Momenten mehr gethan zu haben, als sich vielleicht dem Buchstaben nach rechtfertigen ließ oder läßt. „Sowie ich bis zum Jahre 1813 und wieder 1815 der glühendste Feind der Napoleonischen Herrschaft war, so ergriff mich 1819 die preußische Denunciation Deutschlands in Beziehung auf die angeblichen demagogischen Umtriebe, an die ich so wenig damals glaubte, wie ich ihnen noch jetzt im Sinne der preußischen Denunciation Glauben schenken kann; mich ergriff die Reaction, die ich in den Karlsbader Beschlüssen wahrzunehmen glaubte, und die mir die Ehre des deutschen Volkes und der deutschen Regierungen anzugreifen schien.“

Uebrigens war die österreichische Censur insofern nicht so intolerant, wie die preußische, als sie einzelnen Schriften nicht das Recht entzog, im Buchhandel verkauft, sondern nur die Erlaubniß, in den Zeitungen angezeigt zu werden, und einigen Kategorien von Persönlichkeiten, Gelehrten und Staatsmännern, gegen Reverse von der Polizeihofstelle den Ankauf solcher Bücher gestattete, in denen die Anstößigkeiten das Gute und Gemeinnützige überwogen.

Auch die Ungleichheit der deutschen Rechtsverhältnisse mußte der Leipziger Verleger schmerzlich empfinden in den Injurienprocessen, die er gegen den Advocaten Müllner in Weißenfels und dieser gegen ihn führte. Nach sächsischem Recht mußte der Verurtheilte eine gerichtliche Abbitte leisten, und auch Brockhaus mußte sich dieser Demüthigung unterziehen, während dies nach preußischem Rechte der unterliegenden Partei erspart blieb. Der literarische Großkophta von Weißenfels war mit allen diesen Kniffen hinlänglich vertraut, um jeden Vortheil wahrzunehmen, den ihm die zersplitterte deutsche Justizorganisation gewährte. Wie hoch der fehdelustige Rabulist auf seinem Kampfroß saß und welchen kräftigen Stil man damals in literarischer Polemik schrieb, möge man in der Brockhaus-Biographie selbst nachlesen! Wie sehr aber der Dichter der „Schuld“ damals zu den Modeschriftstellern gehörte und wie unglaublich sich die buchhändlerischen Honorare für dramatische Werke und der Absatz derselben seitdem verschlechtert haben, geht aus der Notiz hervor, daß Müllner’s „König Yngurd“ in Auflagen von je 4000 Exemplaren gedruckt wurde und er für jede Auflage 1200 Thaler Honorar erhielt, ja für die in 10,000 Exemplaren gedruckte „Albaneserin“ ein Honorar von 3000 Thalern. Und wer liest und kennt diese Stücke jetzt? Mögen die Lieblinge der Mode von diesen Thatsachen Notiz nehmen und des alten Spruchs eingedenk sein: „Sic transit gloria mundi – so geht der Ruhm der Welt vorüber.“




Das Monogramm.

Unsere hastig vorwärtsdrängende, den Unterschied zwischen Hoch und Niedrig mehr und mehr ausgleichende Zeit hat auf dem Gebiete des Kunstgewerbes eine eigenartige Erscheinung hervorgerufen. Der Eifer, mit welchem überall die Parole: „Veredelung des Geschmacks“, „Bildung des Stilgefühls“ ausgegeben und befolgt wurde, hat zahllose Apostel begeistert und – in der That – schon jetzt einen machtvollen Einfluß auf die Producenten und auf die Käufer aller Stände gewonnen. Der schlichte Krug macht dem reliefreichen Humpen Platz, und da letzterer – dank den technischen Fortschritten unserer Industrie – kaum mehr kostet, als das alte, geschmacklose Hausgeräth, wählt sich selbst der einfache Mann instinctmäßig das Geschmackvolle, um sein Zimmer damit zu schmücken. Mit Gleichgültigkeit geht man an dem Teppich mit seinen flammenden, „natürlichen“ Blumen vorüber; die matten, stumpfen Töne und edlen Muster des „neuen, alterthümlichen“ Teppichs haben ja etwas so „Vornehmes“; sie erinnern an Schlösser und Paläste und wecken selbst im wenig gebildeten Auge eine wohlthuende Empfindung. Dem Handtuch wird eine blaue oder rothe Kante, streng nach Lessing, gegeben, und die Maschine hat dafür gesorgt, daß diese Zier sozusagen umsonst mit hineingewebt ist – kein Wunder also, wenn sich der, welcher die Wahl hat, ohne langes Besinnen für das Stilgerechte entscheidet.

In breiten Wogen ergießt sich die Fluth stilgerechter Gebilde in alle Kreise des Volkes. Von der angestaunten harmonischen Façade eines Prachtbaues bis auf den Tisch des Tagelöhners, dem sein Teller mit imitirtem Meißener Zwiebelmuster nicht mehr kostet, als der zerbrochene, alte weiße Teller, dessen Scherben er eben hinausgeworfen hat, von der kostbaren Brokatrobe der Fürstin bis zu dem Kleide des Dienstmädchens, welches in billigem Gewebe, aber täuschender Nachbildung das noch neueste Muster der ersten Modemagazine copirt – überallhin schlagen die Wellen dieser kunstgewerblichen Reform. Ob zum Glücke und Wohle der bisher bescheidenen Leute? Wer möchte es bejahen und nicht die Befürchtung hegen, daß dadurch die raffinirte Cultur, das Behagen an Glanz und Schein und die Selbstüberhebung bei sehr vielen für dieselbe Empfänglichen genährt werden!

Und in so rascher Entwickelung befindet sich dieser an sich mit Recht erstrebte und in seinen Grundsätzen edle Läuterungsproceß, daß er schon jetzt Gefahr läuft, über das Ziel hinauszuschießen. Bereits zeigt sich hier und da eine Uebersättigung an den hauptsächlich wieder in Mode gekommenen Motiven der Renaissance. Die alten Kästen, Truhen und Schränke, die halb vergessen in der Rumpelkammer standen, werden vom Antiquitätenjäger ausgestöbert und mit hohem Preise bezahlt. Und wer sich keines von Ahnen ererbten Familienstückes rühmen kann, findet moderne Fabriken von „Alterthümern“ genug, in denen das frappante Copiren alter Muster mit Hochdruck betrieben wird.

Ja, wenn mit diesem Tempo auch die ästhetische Bildung, sowie der Wohlstand der Massen zunähmen! Aber so Vielen fehlt noch leider das Verständniß für die Bedeutung und das Wesen der Formen und Farben, so Viele begnügen sich mit einem halb unbewußten Gefühle des Behagens, und so wenige finden sich, indem sie über ihre bisherige Sphäre hinausgehen, in der neuen und höheren zurecht!

Ein deutliches Beispiel, wie weit diese Verallgemeinerung künstlerischen Zierrathes jetzt geht, bietet das „Monogramm“, jene wundersame Verbindung und Verschlingung zweier oder mehrerer Buchstaben, meist der Anfangsbuchstaben des Vor- und Familiennamens. Sonst nur die Signatur des deutschen Kaisers, hochgebietender Fürsten oder alter Adelsgeschlechter, eine seltene Zier auf den Prachtgeräthen edler Patricier, auf den Siegeln der Machthaber, über den Portalen der Vornehmsten – jetzt, jenes Nimbus längst beraubt, ein für Jedermann um ein Weniges erreichbarer Zierrath. Vorräthig liegen sie in den Schaufenstern, die Monogramme, in allen möglichen Combinationen des Alphabets. Der Lehrling kauft sich Manschettenknöpfe mit seinem Monogramme; dem Schulmädchen legen die Eltern Briefbogen und Couverts mit seinem Namenszuge auf den Schreibtisch; für wenig Groschen läßt sich der Spießbürger ein Metallmonogramm an den Griff seines Regenschirmes befestigen, und ein Studio ohne ein Monogramm auf seinem Seidel oder Spazierstock ist kaum denkbar. Zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum wird dem Meister ein Photographie-Album

[249]

Dogenmütze.
Königskrone.   Krone des Dauphin.
Weltverkehr.
Victor.   Walter.

Monogramme.
Aus dem Werke „Das Gewerbe-Monogramm“ herausgegeben von Martin Gerlach.

[250] überreicht; natürlich prangt sein Monogramm auf dem Deckel. Zum Sonntage schmückt sich die Nähterin, indem sie ein riesenhaftes Monogramm am Sammtbande, dem geliebten Geber zu Ehren, anlegt. Kurz – wohin wir sehen, welchen Zweig des Kunstgewerbes, welche Classe der Bevölkerung wir betrachten – sogar das Militär mit den Namenszügen auf den Achselklappen nicht ausgeschlossen – überall hin ist das Monogramm gedrungen.

Einst war es anders! In den steinernen Ueberlieferungen aus grauer Vorzeit begegnen wir neben den leichter zu entziffernden Worten und Sätzen jenen Abkürzungen, die zu verstehen und zu enträthseln eine eigene Kunst ist. Herrscherzeichen, Priesternamen, religiöse Symbole, der damaligen Welt leicht verständlich, uns kaum oder nur durch scharfsinnige historische Forschung erklärlich. Dann treten jene populär gewordenen Monogramme auf, wie das Feldzeichen der römischen Legionen (S. P. Q. R. = der Senat und das Volk von Rom), Züge, die ihren Siegesflug über die ganze civilisirte Welt zurücklegten.

Und welche Fülle von Monogrammen finden wir im Mittelalter, unter den amtlichen Urkunden, wo sie bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts die Signatur des Regenten darstellten, die Jeder kannte und respectirte! Wir begegnen dem Monogramm in dem künstlerischen Codex des Mönches, in den sogenannten „redenden“ Wappen und an den Werksteinen der Bauhütten. Als Zeichen des Mächtigen sehen wir es verschwinden, als Künstlerzeichen wieder auftauchen und nunmehr in reichster Fülle – eine Welt von Räthselzeichen – die Werke der Maler, Kupferstecher, Formschneider, Zeichner und Goldschmiede schmücken. Viele dieser Schöpfungen mittelalterlichen Kunstfleißes, die jetzt unser Auge entzücken, die Zierde der Museen bilden und als Muster nachgebildet werden, tragen ein solches Zeichen – aber von welchem ehrsamen Meister es uns kündet, bleibt uns oft unbekannt. Wohl hat uns der Nürnberger Paul Behaim, der das erste Monogramm-Lexicon (1618) geschaffen, viele Deutungen hinterlassen, wohl sind zahlreiche spätere Werke eine Fundgrube für das Verständniß der Künstlermonogramme, aber nicht jedes ist so populär, wie Albrecht Dürer’s giebeldachartiger Namenszug, den fast jeder Laie schon von weitem erkennt.

Mancher kostbare Stich, manche seltene Klinge und kunstreiche Waffe trägt unlösbare Zeichen, und nur Eingeweihte vermögen oft an jenen alten Majolikas und Porcellanen, deren echte Exemplare immer seltener, deren Fälschungen immer häufiger werden, den Namen des Künstlers oder den der Werkstatt zu erkennen und die Echtheit des Kunstwerks zu entscheiden.

Ist es doch allbekannt, daß die Nachahmung alter Fabrikzeichen, z. B. des als Vieux Saxe berühmten Meißner Porcellans, systematisch von gewissen Händlern betrieben und durch gleichzeitige Bemalung der Geräthe im Geschmacke jener Epochen geradezu als Mittel zur Täuschung unerfahrener Käufer benutzt wird, ein Verfahren, das, so unmoralisch es ist, sich der gerichtlichen Verfolgung entzieht und darum an den Pranger gestellt zu werden verdient.

Seit dem letzten Jahrhundert ist das Künstlermonogramm im Aussterben. Die großen Meister ebenso wie die kleinen Geister verewigen sich mit ihrem vollen Namen, und so ist die Gefahr, daß sich künftige Generationen über die Autorschaft moderner Kunstwerke den Kopf zerbrechen, viel geringer geworden.

Seinen Triumph feiert heutzutage das Monogramm in seiner Anwendung auf das Kunstgewerbe, und welche Mannigfaltigkeit, welcher Geschmack, welche Noblesse der Erfindung und Ausführung hier zu Tage tritt, ist erstaunlich. Ein großes, prachtvoll ausgestattetes Werk, das gegenwärtig in zweiter Auflage vor uns liegt: „Das Gewerbe-Monogramm“ von Martin Gerlach (Wien, M. Gerlach u. Comp.), giebt auf hundertzehn Folioblättern, die mit sorgsamst abgeführten Holzschnitten geschmückt sind, einen ungefähren Begriff davon, bis zu welch hoher Vollendung man es auf diesem Gebiete der Ornamentik gebracht hat.

Ein weiter Weg ist es, den das Monogramm von seinen, wie es scheint, sehr idyllischen Anfängen bis zu solcher Höhe und bis in unsere Tage zurückzulegen hatte. Seine ersten Spuren waren vielleicht nur von dem sinnenden, liebesehnenden Jünglinge in den flüchtigen Sand gezeichnet oder dem Steine eingekritzelt. Die Geliebte sein zu nennen, war ihm unmöglich. So tröstete er sich denn im Geiste mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft und begnügte sich, ihren Namenszug, mit dem seinen verschmolzen, niederzuschreiben, symbolisch sein erträumtes Glück andeutend. Und später vielleicht mochte er, die geliebte Braut zur Seite, wieder ähnlichen Monogramm-Studien auf einem gemeinsamen Spaziergange im Walde nachhängen, wie es uns Bleibtreu so schön dargestellt hat. Und da tönte es gewiß in freudigerem Tone aus der beglückten Brust des Jünglings:

„Wie wir uns’re Namen schneiden
     In die junge Birke ein,
Soll in Freuden und in Leiden
     Unser Bund besiegelt sein.

5
Wollen uns die Hände reichen,

     Wollen treu zusammensteh’n,
Und nach diesem Liebeszeichen
     Jedes Jahr im Lenze seh’n.

Mag das Glück den Baum bewahren,

10
     Daß, was jetzt die Klinge schreibt,

Selbst nach stürmereichen Jahren
     Unser’n Augen lesbar bleibt.

Aber quillt es einst wie Thränen
     Aus zerborst’nem Namenszug,

15
Denk’ in wehmuthsvollem Sehnen

     An das Herz, das treu dir schlug.“

Und später mochte vielleicht der geschmückte Bräutigam seiner holden Braut ein Schmuckkästlein überreicht haben, auf dem Meister Goldschmied die Initialen Beider, kunstreich verschlungen, angebracht hatte. Damit war denn der Uebergang zum Gewerbe-Monogramm geschaffen; dem ersten Falle der Verwendung folgten bald Hunderte und Tausende, kein Gebilde, keine Geschmacksrichtung des Kunstgewerbes unbenutzt lassend. Das einfache Material, mit dem sich unter Gott Amor’s Herrschaft die Liebenden begnügten – Sand und Stein, Glasscheiben und Baumrinden – es machte dem Holze, den Edelmetallen, dem Elfenbein Platz; Bronze und Zink, Leder und Papier – Alles, sogar die tätowirte Haut des Seemannes wurde dem Universal-Ornamente dienstbar, welches man als Monogramm bezeichnet.

Gravirt und geschnitzt, gemalt und gestickt taucht es heutzutage überall auf, wo es überhaupt anzubringen ist, von der diamantbesetzten Tuchnadel, dem Geschenk eines Fürsten, bis zu dem einfachsten Wäschestempel, mit dem sich die Nähterin im Dachstübchen die Namenszüge vorzeichnet, eine Specialität von so großer Bedeutung vorstellend, wie man dies noch vor zehn bis fünfzehn Jahren kaum geahnt hätte. Alle nur möglichen Combinationen von Anfangsbuchstaben bieten sich hier zur Auswahl an, bald in schlichten, kernigen lateinischen, bald in gothischen Schriftzügen, oder in der speciell für Siegel bestimmten Spiegelschrift; hier in den zarten, duftigen, verschnörkelten Ranken, dort im Stile der größeren verzierten Anfangsbuchstaben (Majuskeln) mittelalterlicher Manuscripte. In den noch alterthümlich stilisirten Mönchsalphabeten und in den kühnsten Formen des Rococo, vor allem aber in jenen kräftigen Zügen reiner Renaissance, die der Kunstschmiedearbeit nachgebildet sind – in allen Erscheinungen tritt das Monogramm, jener Proteus der Ornamentik, uns entgegen! Es haben besonders England und Wien so Großes in der verständnißvollen Ausnutzung der besten Vorbilder und in der Neugestaltung ganzer Alphabet- und Namengruppen früherer Jahrhunderte geleistet, daß hier allein schon eine beachtenswerthe Summe von Geschmack und Talent vorliegt.

Ab und zu artet freilich die Lust, alles Mögliche in diesen Verschlingungen wiederzugeben, in eine das Auge verwirrende Spielerei aus, die aber in höheren Kreisen zur Zeit fashionable ist und besonders in seinen Brief- und Couvertmonogrammen, Brochen u. dergl., zuweilen in bedeutenden Größenverhältnissen, Verwendung findet. Wir meinen die Namenmonogramme, bei denen sämmtliche Buchstaben des Namens als große Anfangsbuchstaben durch einander gesteckt sind, ein für das nicht eingeweihte Laienauge unlesbarer oder nur mühsam zu entziffernder Complex von Schriftzügen.

Abgesehen von dieser Abart, die doch wohl über den Rahmen des guten Geschmacks hinausrankt und mehr eine vorübergehende Mode, als eine dauernde Bereicherung kunstgewerblicher Ornamentik darstellt, ist aber noch jenes fast unentbehrliche Beiwerk der Monogrammkunde, welches in der geschickten Gruppirung von Symbolen, in der trophäenartigen Anordnung von Gegenständen des wirklichen Lebens (Waffen, Werkzeuge), in der Beifügung von [251] allegorischen Figuren, Schildhaltern etc. besteht, zu einer hohen Blüthe gelangt. Diese sprechenden, bildlichen Monogrammzuthaten bieten den Künstlern ein reiches Feld für ihr Schaffen, und rechnet man hierzu noch das Beiwerk von den verschiedenartigsten Kronen aller Zeiten und Länder, von Kurhüten, von Dogen- und Bischofsmützen, sowie den Formenreichthum der Heraldik, so darf man in der That behaupten, daß hier dem Kunsthandwerker außerordentlich mannigfache Gelegenheit zu lohnender und ansprechender Thätigkeit gegeben ist.

Besonders das Gerlach’sche Werk, von dessen Abbildungen wir einen verschwindend kleinen Theil vorführen, um die Trefflichkeit der Technik zu zeigen, enthält – neben einzelnen Excentricitäten – einen wahren Formenschatz des Monogramms. Im Atelier und in der Kunstwerkstatt, sowie zum Studium ist es geradezu unentbehrlich, und mit Stolz darf man diese Leistung in artistischer und xylographischer Beziehung als eine der ersten hinstellen. Daß der höhere Kunstgewerbtreibende eine Menge neuer Anregungen daraus schöpfen kann, ist vom praktischen Standpunkte aus ein unbestreitbares Verdienst des Werkes, um so mehr, als die Entwürfe offenbar für die verschiedensten technischen Verwendungsarten und Materialien gedacht sind.

Schließlich noch ein Wort über die zahllosen Monogramme (Cirkel) der studentischen Verbindungen. Keines derselben hat eine solche historische und ethische Bedeutung, als das der Burschenschaft:

= „Freiheit, Ehre, Vaterland!“

einst und noch jetzt der Wahlspruch der jungen deutschen Patrioten. Dies Monogramm mag uns heut’ an die erhebenden Worte eines Burschenschaftsliedes vom Jahr 1823 gemahnen:

„Drum achtet’s klein, was draußen Euch bedroht;
Ihr standet hier für Freiheit und für Ehre,
So wollet steh’n dem Vaterland zu Schutz und Wehre!
Dies Euer Heil im Leben und im Tod.“

Allen denen aber, welche diesen Betrachtungen über das Monogramm mit Interesse gefolgt sind, wünsche ich, daß, wenn man ihnen einst das letzte Monogramm Α und Ω (Alpha und Omega) als Zeichen irdischer Vergänglichkeit und seelischer Dauer auf ihren Stein eingräbt, diese Zeichen für den Anfang und das Ende zugleich ein schönes und inhaltsreiches Leben einschließen mögen.

Livius Fürst.



Die Kettenschifffahrt auf der Elbe.
Von A. Woldt.

Viele Bewohner der Elbstädte erinnern sich gewiß noch mit leisem Schauder an die früheren Zustände der Elbschifffahrt, an jene gar nicht so fernen Zeiten, in denen ein merkwürdiges Menschengeschlecht an den Elbufern hauste, eine aus Tausenden von Personen bestehende Gesellschaft, welche sich der Aufgabe widmete, diejenigen Schiffe, welche stromaufwärts fahren mußten und in der gewaltigen Strömung weder durch Rudern noch durch Segeln vorwärts gebracht werden konnten, durch das sogenannte „Treideln“ stromaufwärts zu ziehen.

Diese Menschenclasse führte den Namen: „Die Bomätscher“. Schaarenweise spannten sie sich an die lange Leine, welche von einem derartigen Schiffe bis zum „Treidelsteg“ am Ufer reichte, und zogen das Fahrzeug, langsam im Tacte dahinschreitend, vorwärts. Wenn das Hochwasser des Frühjahrs den Beginn der Schifffahrt anzeigte und die aufgestaute gelbliche Fluth gegen das Schiff anstürmend in zahllosen Wirbeln mit Eilgeschwindigkeit vorüber tanzte, dann waren die „Bomätscher“ am thätigsten.

Unsere Illustration führt sie uns vor, wie sie, mit gewaltiger Kraft sich in die Gurte legend, den Kampf gegen das unbändige Element aufnehmen und in trotziger Energie vorwärts dringen. Wenn aber im Laufe der Sommermonate die Elbe um mehrere Fuß fiel, dann sahen sich die verwegenen Gesellen eines Theiles ihrer Einnahme beraubt, und in solchen Fällen kam es ihnen auf ein bischen Wegelagern nicht an.

Nun sind sie längst dahin geschwunden, diese Leute, und nur ein Andenken von ihnen ist der Nachwelt geblieben: der eigenthümlich originelle Gesang, welchen sie beim Ziehen der Schiffe erhoben, hat Richard Wagner Veranlassung zur Composition seines Matrosenchores im „Fliegenden Holländer“ gegeben.

Welch ein anderes Bild bietet uns heute die Elbschifffahrt dar! Auf den Wellen des Stromes, die ungeduldig Hamburg, einem der größten Häfen der Welt, zutreiben, fährt ein Dampfer sicher und stolz zu Berg und zieht unaufhaltsam vorwärts eine lange Reihe schwerbelasteter Kähne. Aber es ist nicht allein die ungestüme Kraft des von Wasser und Feuer erzeugten Dampfes, welche hier über die zu Thal drängenden Wogen des Flusses den Sieg davonträgt. Unten im Bette des Stromes ruht eine schwere eiserne Kette, an welcher der Dampfer sozusagen Anhalt gewinnt und mit deren Hülfe er den Anprall der Gegenströmung zu überwinden vermag. Nach dieser Kette tragen nun die Fahrzeuge den Namen Kettendampfer, und nach ihr wird die gesammte, also betriebene Schifffahrt Kettenschifffahrt genannt.

Mit Hülfe der unserem Artikel beigegebenen, für die „Gartenlaube“ eigens gezeichneten Illustration von Paul Heydel, welche das Loschwitzer Elbufer mit der Villa Souchay,[WS 1] den prachtvollen Albrechtsschlössern, dem bekannten Saloppenschlößchen und den Dresdener Wasserwerken darstellt, werden unsere Leser die Einrichtung eines Kettendampfers und den Betrieb der Kettenschifffahrt sich leicht zu veranschaulichen vermögen.

Wir schicken zunächst voraus, daß mitten in der Fahrbahn in der ganzen Länge des Stromes eine Kette versenkt ist, welche nur an ihren beiden Enden fest verankert wurde. Diese Kette wird nun, aus dem Wasser emporgehoben, von einem an dem Vordertheil des Schiffes befindlichen Arme aufgenommen und von diesem vermittelst Leitrollen zu zwei auf dem Schiffsdeck befindlichen Trommeln geführt. Um diese Trommeln, welche mit Rinnen versehen sind, wickelt sich die Kette dreimal in der Art, daß sie von der ersten Rinne der ersten Trommel zu der ersten Rinne der zweiten Trommel übergeht, von dieser um die zweite Rinne der ersten Trommel sich schlingt und zu der zweiten Rinne der zweiten Trommel zurückkehrt etc. Zuletzt wird die Kette in einer schräg abfallenden Leitrinne an das hintere Ende des Schiffes geführt, wo sie wieder in das Wasser sinkt.

Der Kettendampfer bewegt sich nun vorwärts, indem seine Dampfmaschine die beiden Trommeln in Bewegung setzt, wobei alle von der Kette umschlungenen Trommelumfänge eine gleiche Länge der Kette auf- und wieder abwickeln und hierdurch das Schiff um dieses Stück vorwärts rücken. Der von dem letzten Umfange der zweiten Trommel abgewickelte Theil der Kette läuft nach dem Heck des Schiffes und versinkt dort wieder in der Tiefe des Stromes. So wie sich also der Zug der Rigibahn durch das Eingreifen des Zahnrades in die Zähne der Mittelschiene bergan bewegt, so rollt sich hier die Windevorrichtung des Kettenschiffes unter der Kette fort.

Durch ein sehr einfaches Experiment ist man im Stande, sich hiervon eine directe Anschauung zu schaffen. Man lege zwei runde Bleistifte oder Federhalter neben einander und wickele um sie gemeinschaftlich einen Faden drei- bis viermal herum; dann wird man, wenn die Enden des Fadens ein wenig festgehalten werden, durch gleichmäßige Achsendrehung beider Bleistifte den Faden auf- und abwickeln können.

Die auf dem Boden des Stromes liegende Kette, an welcher der Kettendampfer durch die beiden Trommeln befestigt ist, sodaß er nur vorwärts oder rückwärts fahren kann, wird je nach der Kraft des Anzuges und der Wassertiefe auf eine gewisse Länge vor dem Schiffe gehoben; der Punkt, an welchem sie ungehoben bleibt, ist gewissermaßen der Ankerpunkt des Schiffes, indem das Gewicht und die Reibung der fortlaufenden Kette den Anker ersetzen. Da sich nun auf diese Weise der Kettendampfer mit der ganzen hinter ihm angehängten Last der geschleppten Fahrzeuge während der Fahrt „zu Berg“ in jedem Augenblick gewissermaßen vor Anker befindet, so wird er sogar im wildesten Gefälle niemals auch nur einen Zoll breit von dem einmal zurückgelegten Wege rückwärts gedrängt. [252] Würde dagegen die Maschine eines anderen frei im Strome schwimmenden Schleppdampfers einmal stoppen oder nachlassen, ohne sofort Anker zu werfen, so würde der ganze Zug unaufhaltsam stromabwärts treiben.

So läßt also der Umstand, daß das Schiff an der Kette einen festen Widerstand findet, die von der Maschine abgegebene Kraft möglichst voll zur Ausnutzung gelangen.

Die Kette reicht also, wie wir gesehen haben, vom Grunde aufwärts und wird durch geeignete Leitung über die ganze Länge des Schiffes geführt, wobei sie in Windungen um die beiden Trommeln geht; alsdann verläßt sie das Hintertheil des Schiffes und geht wieder schräg abwärts bis auf den Grund. Hieraus erhellt schon, daß die Kette nicht gespannt, sondern nur lose auf der Flußsohle aufliegt. Die aufgehobene Länge der Kette gestattet dem Schiffe mittelst der Steuer nach rechts und links eine zwar

Die Bömätscher auf dem Treidelsteg.
Nach einer Skizze.

begrenzte, aber genügende Beweglichkeit zum Ausweichen, die bei Krümmungen des Flußlaufs von besonderer Wichtigkeit ist. Hieraus sieht man aber auch, daß das Schiff eine gewisse Länge der Kette zu tragen hat, und daß es aus diesem Grunde auch tiefer eintauchen muß, als wenn es sich ohne Kette bewegte.

Natürlich ist es nicht gleichgültig, wie groß die Last der Kette ist, und deshalb darf die Tiefe des Gewässers ein bestimmtes Maß nicht überschreiten. Man würde beispielsweise in einem Wasser, das etwa dreißig bis fünfzig Fuß tief ist, die Kettenschifffahrt nicht mehr mit Vortheil betreiben können, weil das Schiff eine zu große Last zu heben hätte. Als zweckmäßige Grenze in Bezug auf die Verwendbarkeit der Kettenschifffahrt hat sich eine Tiefe von acht Metern ergeben.

Der wesentliche Vortheil der Kettenschifffahrt besteht also darin, daß sie bei sehr starken Gefällen zu Berg zu fahren auch dort ermöglicht, wo die frei schwimmenden Dampfer mit ihren Schleppzügen nicht mehr vorwärts kommen. So finden beispielsweise Raddampfer bedeutende Schwierigkeiten bei Gefällen, wie sie etwa der Rhein von St. Goar bis Bingen oder von Philippsburg bis Lauterburg[WS 2] und wie sie die Elbe von Niedergrund[WS 3] bis Aussig[WS 4] besitzt; sie müssen sogar auf das Schleppen der Lastkähne vollständig verzichten in Gefällen, wie sie von Lauterburg bis Straßburg auf dem Rhein, oder von Mannheim bis Heilbronn auf dem Neckar vorkommen.

Selbstverständlich muß die Stärke der Kette stets den gegebenen Verhältnissen, der Tiefe und der Stromgeschwindigkeit des Flusses angepaßt werden. So sind z. B. die einzelnen Glieder der in die Elbe gelegten Kette etwa so groß wie ein Handteller und haben eine Eisenstärke von zweiundeinhalb Centimeter, während das Gewicht jedes einzelnen Gliedes etwas mehr als ein Kilogramm beträgt. Dies ergiebt für die bis jetzt mit Kette belegte Strecke der Elbe ein Gewicht von mehr als zehn Millionen Kilogramm. Auch der Bau der Kettendampfer muß unter den oben erwähnten Umständen von dem unserer gewöhnlichen Flußdampfer abweichen.

Sie sind, da sie sich zumeist nur an der Kette stromauf und -abwärts bewegen, vorn und hinten symmetrisch gebaut, führen auch der höheren Manövrirfähigkeit wegen vorn und hinten je ein Steuer. Ihre Dampfmaschine besitzt in der Regel 100 bis 150 Pferdestärken und bewegt die beiden Trommeln auf Deck gemeinschaftlich nach einer Richtung. Je stärker die Gefälle und je größer der Schleppzug ist, um so energischer legt sich die vordere Trommel in die stark gespannte knirschende Kette, mit zornigem Ruck Glied auf Glied mit ihrer stahlharten Oberfläche erfassend und sich und den ganzen Schleppzug an ihr stromaufwärts windend.

Der nunmehr von Wind und Wetter und anderen Zufälligkeiten unabhängige Schleppdienst auf der Elbe wird so gehandhabt, daß jeder Kettendampfer die von ihm gezogenen zehn oder zwölf Schiffe, die, durch Taue mit einander verbunden, einen stattlichen Schleppzug bilden, so lange stromaufwärts fährt, bis ihm ein anderer entgegenkommender Kettendampfer diese Last abnimmt. Dann wird Station gemacht, was an jedem beliebigen Punkte der Kette geschehen kann, und der frei gewordene Motor kehrt

[253]

Kettendampfer auf der Elbe bei Dresden.
Nach der Natur für die „Gartenlaube“ gezeichnet von Paul Heydel.

[254] zurück, bis er stromabwärts den nächsten Schleppzug trifft, den er dann wieder stromaufwärts fährt. So reichen sich die Dampfer die Lasten einander zu und schaffen sie an den Ort ihrer Bestimmung.

Wenn es einmal erwünscht ist, daß ein Dampfer ganz frei von der Kette fahre, zu welchem Zwecke die Mehrzahl der Dampfer auch noch mit einer Schraube versehen ist, so wird einfach ein Kettenschloß gelöst, wie man auf jedem halben Kilometer ein solches antrifft, oder es wird nöthigenfalls ein Glied der Kette mit einem Meißel zerschlagen und nachdem man die Kette von den Trommeln genommen, vereinigt man ihre beiden Enden wieder durch ein einfaches Kettenschloß.

Die Idee dieser Kettenschifffahrt ist viel älteren Datums als die Dampfschifffahrt. Wir können sie bis zum Jahre 1723 zurück verfolgen. Damals gab der in Dresden lebende Mathematiker Marperger ein Werk heraus, betitelt: „Wasserfahrt auf Flüssen und Canälen“, und in demselben findet sich folgende Stelle:

„Wir können nicht umbhin, der von dem berühmten Mechanico, und Math. Prof. Herrn Nicolaus Molwitz zu Magdeburg zwar angegebenen, aber nicht zum Gebrauch gekommenen Maschine, vermittelst welcher die schwer beladenen, die Elb hinaufkommenden Schiffe durch etwan fünf bis sechs Mann, da dermalen wohl fünfzig nöthig seyn, über den schnellen Wasserfall unter der Magdeburgischen Brücken hatten heraus gezogen werden sollen, noch einmal zu gedenken. Es besteht aber solche Maschine in zwei liegenden Wellen, worauff die Taue oder funes Tractorii gewickelt werden, und zwar vermittelst sechs abwechselnder Vectium-Homorodromorum, oder gleich aufflauffender Hebel, wobey denn dieser Umbstand, daß die Tauen, wie sie umb die vordere Welle umbgeschlagen werden, sich immer wieder von derselben ab und auff die hintere auffwickeln, die ganze Maschine aber auf einen Ponton oder Prahm gar füglich kann angebracht werden.“

Mit dieser Beschreibung ist das Princip unserer heutigen Kettenschifffahrt vollkommen dargestellt.

Die ersten Versuche der Kettenschifffahrt sollen in Dresden gemacht worden sein; späterhin, im Jahre 1732, ließ Marschall Moritz von Sachsen bei Straßburg im Elsaß ähnliche Versuche anstellen, welche nachher in Frankreich Fortsetzung fanden. Die Franzosen waren es auch, welche diese unzweifelhaft deutsche Erfindung praktisch vervollkommnet haben. Der erste Ingenieur, welcher vor etwa sechszig Jahren die Dampfkraft auf ein Kettenschiff zu übertragen suchte und die Grundzüge der heutigen Kettenschifffahrt entwarf, war Tourasse; sein System fand jedoch damals wenig Anerkennung, sodaß erst im Jahre 1839 der erste Erfolg bringende Kettendampfer gebaut und im Innern von Paris in Dienst gestellt wurde. Späterhin dann, seit den fünfziger Jahren bis zum Jahre 1873, wurden in Frankreich noch etwa 500 Kilometer Wasserstraßen mit der Kette belegt.

In Deutschland hatten indessen die beiden Elbstädte Magdeburg und Dresden ihr altes Prioritätsrecht auf die Kettenschifffahrt nicht vergessen. Das erste deutsche Versuchsschiff dieser Art wurde 1866 vom Director der Vereinigten Hamburg-Magdeburger Dampfschifffahrtscompagnie Herrn Graff für den Localdienst durch die Magdeburger Brücken in Dienst gestellt. In den darauf folgenden Jahren fand in der Einrichtung der Kettenschleppschifffahrt der Oberelbe die erste Ausdehnung derselben auf eine größere Strecke des nicht canalisirten Elbstromes statt. Der kühne und unternehmende Schöpfer dieser Anlage ist der noch heute an der Spitze der gesammten deutschen Kettenschifffahrt der Elbe stehende Ingenieur General-Director E. Bellingrath in Dresden, der neuerdings in den weitesten Kreisen bekannt geworden ist durch die von ihm gemachte wichtige Erfindung des hydrostatischen Wagens, mit welchem beladene Schiffe beliebiger Form und Größe auf besonders dazu eingerichteten Eisenbahnen, selbst bei wechselnden Steigungsverhältnissen, sicher und ohne Schaden zu nehmen, bergauf und -ab transportirt werden können.

Damals, im Jahre 1869, als die erste Probefahrt auf der Strecke von Riesa nach Dresden unter seiner Leitung stattfand, war die Herrschaft der Bomätscher noch in voller Blüthe, und sie waren sich derselben so wohl bewußt, daß sie nicht im Mindesten die Concurrenz des Kettendampfers fürchteten. Im Gegentheil, sie bemitleideten ihn sogar, da sie jeden Augenblick erwarteten, daß er an einer der vielen gefährlichen Stromschnellen zu Grunde gehen würde. Als aber das Fahrzeug mit dem von ihm geschleppten Zuge elegant und sicher die berüchtigte scharfe Ecke der Meißener Fuhrt passirt hatte, da wurden die Gesichter merklich länger, und nachdem zum Schluß sogar noch der Schrecken aller Schrecken für die damalige Schifffahrt, die gefährliche Passage unter der den Strom verengenden Augustus-Brücke in Dresden, ohne die geringste Beschädigung des Schleppzuges zurückgelegt war, da überkam die Bomätscher das Gefühl der Wuth und Feindschaft, und mehr als ein Stein flog, aus ihrer Mitte geschleudert, auf das Fahrzeug.

Bis zum Jahre 1871 war die Elbe von Magdeburg bis zur böhmischen Grenze, bis 1872 von der böhmischen Grenze bis Aussig und von 1870 bis 1874 von Magdeburg bis Hamburg durch drei verschiedene Gesellschaften auf eine Gesammtlänge von 668 Kilometer mit der Kette belegt worden, und es wurde durch 28 Kettenschiffe der Dienst versehen. Gegenwärtig nun, seit wenigen Monaten, ist durch eine Fusion verschiedener Gesellschaften die Deutsche Elbschifffahrts-Gesellschaft „Kette“ mit dem Sitze in Dresden entstanden, in deren Händen der gesammte auf 630 Kilometer sich erstreckende deutsche Elbkettenbetrieb vereinigt ist.

Freilich begründet die Einlegung einer Kette oder eines aus Metalldrähten bestehenden Seiles in das dem Staate gehörige Strombett ein, wenn auch nicht gesetzlich ausgesprochenes, doch aus technischen Gründen als thatsächlich vorhanden zu betrachtendes Monopol; denn zwei oder mehrere Ketten oder Seile verschiedener Unternehmer können neben einander nicht bestehen. Die Kette liegt nämlich durchaus nicht immer an derselben Stecke des Flußbettes, sondern schlängelt sich auf dem Grunde hin und her und wird fast von jedem Schleppzuge seitlich verlegt. Es würden deshalb mehrere Ketten sehr bald sich gegenseitig verwickeln und in Unordnung gerathen. Aber weil nur eine Kette liegen darf, und das Monopol vom Staate nur durch besondere Concession verliehen werden kann, so ist der Staat auch berechtigt, daran alle die Bedingungen zu knüpfen, welche eine einseitige Ausbeutung des Monopols verhindert. Diese Bedingungen machen die Ketten- oder Seilschifffahrt zu einem außerordentlich gemeinnützigen Unternehmen, wodurch sie sich sehr wesentlich von den übrigen Schleppschifffahrts-Unternehmungen unterscheidet. Letztere können ihre Kundschaft nämlich nach Belieben wählen und die Preise ganz nach Wunsch ändern; sie können dem Einen billige, dem Anderen hohe Schlepplöhne anrechnen, einem Dritten sogar die Mitnahme verweigern; sie dürfen auch zu beliebiger Zeit ihren Betrieb unterbrechen oder ganz einstellen. Alles dies kann und wird die Behörde bei Concessionirung von Kettenschleppschifffahrtgesellschaften vermeiden und letzteren aufgeben, zu jeder beliebigen Zeit jedem Schifffahrttreibenden nach einem festen, von der Regierung genehmigten Tarife die nothwendige Schleppkraft zu liefern. Hierdurch verliert die „Bergfahrt“ eines mit der Kette belegten Stromes alle ihre Schrecknisse und unangenehmen Zufälle. Aus Monaten und Wochen früherer Fahrten werden jetzt genau zu berechnende Tage; die Hin- und Rückreise kürzt sich so sehr ab, daß das Fahrzeug im Vergleich mit den früheren Zuständen jetzt während eines Jahres fast die doppelte Anzahl Touren unternehmen kann.

Man erhält einen Begriff von der Leistungsfähigkeit der Kettenschifffahrt wenn man bedenkt, daß ein einziger Kettendampfer im Stande ist, die Last von mindestens einem halben Dutzend unserer gewöhnlichen Güterzüge selbst gegen den schärfsten Strom mit solcher Schnelligkeit zu ziehen, daß er zu dem Wege von Hamburg nach Dresden kaum mehr als eine Woche braucht. Es sind auch gegenwärtig auf der Elbe vielfach an Stelle der kleineren Segelfahrzeuge von zweitausend bis viertausend Centner Tragkraft große Schleppkähne von achttausend bis zehntausend Centner Tragkraft getreten.

So ist die Kettenschifffahrt das vorzüglichste Mittel, regelmäßig große Lasten auf schnellströmenden Flüssen zu befördern, und bei der großen Bedeutung unserer Wasserwege für den Handel und Wandel wird sie auch fernerhin ohne Zweifel an Ausbreitung gewinnen.

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Die Cultur und Verarbeitung der Weiden in Deutschland.

Von Robert Berge.

Die ästhetischen Eigenschaften und noch mehr die Nutzbarkeit der Weiden treten auf den ersten Blick so deutlich hervor, daß diese Pflanzen bereits in der grauesten, sagenumwobenen Vorzeit die Aufmerksamkeit der Menschen erregt haben und die Geschicke derselben als stumme Zeugen zu begleiten des öftern berufen waren. Schon der Psalmist, welcher die verzweiflungsvolle Stimmung der gefangenen Juden in Babylon schildert, führt, indem er an den üppigen und farbenprächtigen Gewächsen jener Gegend vorübergeht, mit seiner Meisterschaft in seine knappe Darstellung die Weiden ein, an welche das thränenreiche Volk seine verstummten Harfen hing,[WS 5] und von dem „göttlichen Dulder Odysseus“ berichtet Homer, daß er das Nothschiff, auf welchem er die Göttin Kalypso verließ, zum Schutze gegen die Meereswogen mit Weidengeflecht umgeben habe.

Es war natürlich, daß sich sehr früh das Bedürfniß der Anpflanzung von Weiden geltend machte, sei es zur Zierde oder zur Befestigung von Ufern, sei es zur Verwendung in der Industrie. Cato der Aeltere (gestorben 149 v. Chr.) hält bereits die Weidencultur für einen der wichtigsten Zweige der Landwirthschaft, und im ersten Jahrhundert n. Chr. fand sich Columella bewogen, in sein Werk über die Landwirthschaft auch eine Anleitung über den Anbau der Weiden aufzunehmen.

In Deutschland genügten bis in die neuere Zeit herein die an Gewässern, Zäunen, Brüchen etc. wild vorkommenden Weiden, um den Bedarf der heimischen Industriellen vollständig zu decken. Daher wissen auch die zahlreichen deutschen „Kräuterbücher“ des sechszehnten und siebenzehnten Jahrhunderts, welche den Inbegriff der damaligen Kunde über die Pflanzenwelt enthalten, nichts von einer Cultur der Weiden. Nichtsdestoweniger waren schon in jener Zeit obrigkeitliche Verfügungen nöthig, welche gegen das unbefugte Abschneiden von Flechtweiden auf fremdem Grund und Boden einschritten. Eine derartige Verordnung erließ z. B. Kurfürst Johann Georg der Erste von Sachsen im Jahre 1621 für einige Ortschaften des Muldenthales bei Zwickau, in welcher den dasigen Korbmachern der Weidendiebstahl auf’s Strengste untersagt wurde.

In dem Maße aber, wie die moderne Korbindustrie sich ausbreitete und veredelte, wurde das wildaufwachsende Weidenmaterial in quantitativer Hinsicht unzureichend, wie auch qualitativ vielfach ungenügend. Welche Unmassen von Weidenholz gehören nicht zu den tausenderlei Sachen und Sächelchen, die man heutzutage aus demselben hergestellt sieht, und welche Regelmäßigkeit des Wachsthums ist erforderlich, um die Ruthen jener Pflanze in die langen, dünnen Stäbchen, oder die biegsamen, bandartigen Streifen zu spalten, aus denen unsere feinen Weidengeflechte kunstvoll gearbeitet sind! Damit war die Veranlassung geboten, den Weiden einerseits mehr Flächenraum zu gewähren und sie andererseits in geregelte Cultur zu nehmen. Die ersten Versuche hierzu fallen bei uns allem Anschein nach in das vorige Jahrhundert. 1777 erschien eine Schrift von Weismantel über den verbesserten Weidenbau, welcher Arbeiten ähnlichen Inhaltes aus den Jahren 1786, 1796, 1800 etc. folgten. In Frankreich, Belgien und England befand sich indessen die Cultivirung der Weide auf einer ungleich höheren Entwickelungsstufe, und die deutsche Korbindustrie sah sich daher seit Jahren genöthigt, einen bedeutenden Theil ihres Bedarfs an Flechtmaterial, nämlich gerade die edelsten und theuersten Weiden, aus dem Auslande zu beziehen. Noch im Jahre 1875 erhielt ein einziger Korb- und Weidenhändler in Lichtenfels, laut einem amtlichen Berichte des „Landwirtschaftlichen Kreiscomités für Oberfranken“, fünfundvierzig Eisenbahnwagenladungen an Weiden im Werthe von 125,000 Mark aus Belgien und Frankreich. Diese bildeten jedoch nur den sechsten Theil derjenigen Weiden, welche 1875 allein in den Kreis Oberfranken eingeführt worden sind, einen Kreis, dessen Korbindustrie allerdings nach demselben Berichte etwa 25,000 Arbeiter beschäftigt.

So wanderten viele Millionen in’s Ausland, bis sich vor nicht zu langer Zeit umsichtige Landwirthe angelegen sein ließen, die Möglichkeit einer Concurrenzfähigkeit der deutschen Weiden mit den französischen und belgischen allgemeiner begreiflich zu machen, und man erinnert sich der mannigfachen Anregungen in Zeitungen, Flugschriften und Vereinen, welche seit Jahren das öffentliche Interesse auf diesen Gegenstand zu lenken versuchten. Verschiedene Regierungen unterstützten jene Bestrebungen zur Hebung der deutschen Weidencultur, so die preußische, die sächsische, die baierische und die österreichische, welch letztere neuerdings sogar Preise für mustergültige Weidenplantagen auswarf.

Gegenwärtig ist die deutsche Weidencultur der ausländischen vollkommen ebenbürtig geworden; unsere Weidenzüchter erzielen von ihren Grundstücken dieselben hohen Gelderträge, wie die französischen und belgischen; wir finden heute umfangreiche, wohlgepflegte Weidenanlagen in Nord und Süd, in West und Ost unseres Vaterlandes, und eine kürze Beschreibung derselben dürfte wohl ein allgemeines Interesse beanspruchen.

Die Weide kommt bekanntlich entweder in Baum- oder in Strauchform vor. Die erstere zeichnet sich besonders durch ihre ästhetisch wirkungsvolle Gestalt aus, welche zahlreiche Landschaftsmaler benutzt haben, um ihren Compositionen ein eigenthümliches, stimmungsvolles Colorit zu geben; als Trauerweide schmückt sie unsere Kirchhöfe und unterbricht melancholisch die Ruhe der Gräber durch das Geflüster ihrer zahllosen leichtbeweglichen Blätter; sie hat auch als Anknüpfungspunkt für eine Reihe von Sagen gedient. Die Strauchform dagegen ist die für die Landwirthschaft und Industrie werthvollere, weil unter Anwendung dieser Form große Massen von Flechtmaterial erzeugt werden können.

Die Anschauungen über die Bodenflächen, welche zur Weidencultur geeignet sind, haben sich im Laufe der Zeit geändert. Ihrem besonderen Wasserbedarf entsprechend, wurden die Weidensträucher ursprünglich besonders längs der Uferböschungen gehegt. Bei zunehmender Nachfrage aber verbreiterte man hier und da die Weidenbestände bis in die das Ufer begrenzenden Wiesen hinein. Der Ufercultur folgte also die Wiesencultur der Weiden, welcher sich noch eine dritte und zwar die Feldcultur anschloß. Die wenigste Mühe verursacht der Anbau der Weide an Ufern; die höchsten Erträge können derselben unter günstigen Verhältnissen auf Feldern abgewonnen werden, während der Anbau auf Wiesen eine Mischcultur ist, insofern zwischen den Weiden mehr oder weniger breite Streifen der Grasnutzung überlassen bleiben.

Die Feldcultur, als die jüngste, erfordert die meiste Ueberlegung. Das hierzu bestimmte Feldgrundstück wird sorgfältig bearbeitet, bevor die Anpflanzung beginnt. Die Weidenstecklinge werden sodann eng genug gesetzt, damit die sich entwickelnden Sträucher dicht und lückenlos neben einander stehen. Ein lückenloser Bestand ist so wichtig, daß jede zufällig in demselben entstandene Lichtung vermittelst Nachpflanzung wieder geschlossen zu werden pflegt. Denn jede Lücke dient in der Regel als Brutstätte für das sich rasch ansiedelnde Unkraut, welches von hier aus leicht in die umgebenden Sträucher eindringt und mit diesen ohne Weiteres den Kampf um’s Dasein eröffnet.

Man erreicht den nun erforderlichen Zusammenschluß der einzelnen Sträucher, indem man die Weidensetzlinge reihenweise und etwa in Entfernungen von zwanzig Centimeter in den Boden steckt, während man zwischen den einzelnen Reihen einen freien Raum von etwa fünfzig Centimeter läßt. Dicht und schlank, wie die Halme eines Getreidefeldes, steigen in solchen Anpflanzungen die Weidenruthen senkrecht vom Boden auf und erheben sich bis zu einer Höhe von mehreren Metern, zahlreichen Insecten, Singvögeln, Rebhühnern und Hasen willkommene Schlupfwinkel bietend.

Jeder Knabe weiß, daß frische Weidenruthen, welche man zu geeigneter Zeit in den Erdboden steckt, sehr bald Wurzeln schlagen und weiter wachsen. Diese Erfahrung verwendet der Weidenzüchter, indem er Weidenruthen in Stücke von etwas mehr als 20 Centimeter Länge zerschneidet und diese ohne weiteres als Stecklinge benutzt. Nach Ablauf jeder Vegetationsperiode, also Jahr für Jahr, wird der gesammte Weidenbestand tief an der Erdoberfläche abgeschnitten, und jedes Jahr ergänzt er sich von Neuem. Es ist fast zu verwundern, daß diese lebenskräftige Unverwüstlichkeit der Weiden noch nicht sprüchwörtlich geworden ist.

Eine weitere wichtige Aufgabe des Weidenzüchters besteht in der Auswahl der für sein Klima und seinen Grund und Boden am besten passenden Arten. Und hier ist seinen Wünschen ein so [256] weiter Spielraum gegeben, daß er oft des Guten zu viel vor sich hat. Die zahlreichen Weidenarten stufen sich nämlich in viele Spielarten und diese wiederum in verschiedene Formen ab. Dazu kommen die aus Bastardirung hervorgegangenen Formen, wie diejenigen Verschiedenheiten, welche durch das Geschlecht der als zweihäusig bekannten Weiden bedingt sind. In Folge dessen befinden sich 200 bis 300 verschiedene Korbweidenformen von mehr oder weniger guter Beschaffenheit im Handel. In einer Hinsicht ist diese Vielgestaltigkeit der Weiden von Vortheil, in der anderen nicht. Denn es lassen sich zwar für verschiedene Bodenarten, sowie auch für verschiedene Anforderungen der Korbindustrie leicht passende Weidensorten auswählen; es läßt sich weiter unschwer eine Verbesserung von Sorten herbeiführen, die bei den Weiden in Folge ihrer Fähigkeit, sich durch Stecklinge zu vermehren, leicht verallgemeinert und auf die Zukunft vererbt werden kann. Aber die Vielgestaltigkeit hat auch einen sehr erheblichen Mangel an Sicherheit und Ordnung der Benennung der Weiden in den Weidenanlagen zur Folge gehabt, welcher zu vielen Mißverständnissen und Mißgriffen in der Weidencultur geführt hat.

Das Schneiden der Weiden kann im Herbste, Winter oder Frühjahr erfolgen. Die abgeschnittenen Ruthen werden behufs leichteren Transportes in Bündel gebunden, um entweder mit der Rinde oder, was weit häufiger der Fall ist, geschält verarbeitet zu werden. Die Entrindung kann nur nach Eintritt des Saftes im Frühjahr geschehen, und daher pflegt man die im Herbst oder Winter abgeschnittenen Weiden bis dahin in Wasser zu stellen.

Das Schälen geschieht mit einem klammerartigen Instrument. Man zieht eine Ruthe zwischen den beiden Schenkeln desselben hindurch, spaltet auf diese Weise deren Rinde und kann dieselbe, falls sie nicht selbst abfällt, dann leicht in zwei langen Bändern von der Ruthe abstreifen. Mit dieser Arbeit betraut man häufig Frauen und Kinder, welche dann an sonnigen Frühlingstagen singend, plaudernd und scherzend überall vor den Häusern sitzen und der Ortschaft ein eigenthümlich belebtes, den Fremden überraschendes Gepräge geben. In Gegenden, wo die Weidenbestände zerstreut oder entlegen sind, ziehen mitunter Korbmacher zur Zeit der Weidenernte, mit der nöthigsten Habe versehen, von Ort zu Ort, um eine ausreichende Menge von Flechtmaterial zusammenzubringen. Zuweilen führen sie ihre eigenen Hütten mit sich, dieselben an dem Orte ihrer Thätigkeit nach Bedürfniß aufschlagend und während der Zeit ihres Einsammelns als Wohn-, Speise-, Toiletten-, Vorraths- und Schlafraum benutzend.

Als ich vor einigen Jahren von Bamberg im Regnitzthale abwärts ging, tauchte plötzlich hinter dem Schutzdamme dieses Flusses ein derartiges Zigeunerlager vor mir auf, in welchem sich mehrere Korbflechterfamilien vereinigt hatten. Es war zur Zeit der Mittagspause, und die bunte, muntere, etwa zwölf bis fünfzehn Köpfe zählende Gesellschaft, vor den barackenähnlichen Wohnungen inmitten der aufgespeicherten Materialvorräthe gruppirt, bot in der That ein anmuthend patriarchalisches Bild dar.

Nachdem der Züchter seine Aufgabe beendet, kommt die Weide in die Hände der Industrie. Rinde und Holz sind die brauchbaren Bestandtheile. Die erstere ist besonders werthvoll durch ihren Gehalt an Farbestoff, Gerbstoff und Weidenbitter oder Salicin. Man pflegt deshalb die Weidenrinden zum Gelb- und Braunfärben feiner Ledersorten, z. B. des Leders der Glacéhandschuhe, zu verwenden. Der Reichthum an Gerbstoff, dem zweiten der obengenannten verwerthbaren Bestandtheile der Rinde, ist bei verschiedenen Weidenarten ungleich. Denn während er bei den sogenannten Purpurweiden so unbedeutend ist, daß dieselben zum Gerben untauglich erscheinen, so beträgt er in den betreffenden Rindenzellen der Sahlweiden, der Bruchweiden, der Hanfweiden etc. bis dreizehn Procent des Inhaltes. Das russische Juchtenleder wird größtentheils mit Weidenrinde gegerbt, die demselben jedoch nicht auch den eigenthümlichen Geruch verleiht; dieser wird vielmehr durch Anwendung von Birkenöl erzeugt. In Deutschland sind Weidenrinden besonders zur Herstellung feiner Ledersorten, z. B. des Saffianleders, beliebt.

Das Salicin oder Weidenbitter, ein Alkaloïd, das in weißen Blättchen krystallisirt und der Weidenrinde ihren bitteren Geschmack verleiht, tritt am reichlichsten in der Rinde gerbstoffarmer Weidenarten, also der Purpurweiden auf, während es sich bei den gerbstoffreichen Weiden nur in geringer Menge vorfindet. Salicin- und Gerbstoffgehalt pflegen also in umgekehrtem Verhältniß zu stehen. Das Salicin, dessen Gehalt in der Rinde bis zu drei Procent betragen kann, dient als Surrogat für theure Bitterstoffe und wird z. B. in der Medicin zuweilen an Stelle des bei Fieberkrankheiten gebrauchten Chinins verordnet.

Trotz dieser mannigfachen Verwendung bildet die Rinde indessen nur ein Nebenproduct der Weidencultur; den Hauptertrag derselben liefert das Holz, welches nach dem Trocknen und Schwefeln sofort zur Verarbeitung tauglich ist und um so höher geschätzt wird, je weißer seine Farbe, je zarter seine Structur, je dünner sein Markcylinder und je gleichmäßiger und reiner von Seitenästen es gewachsen ist.

Die Mannigfaltigkeit der Verarbeitung, zu welcher die Weiden in der Hand geschickter Arbeiter fähig sind, geht fast in’s Unglaubliche, und manche in stiller Dorfeinsamkeit aufgewachsene Weide gelangt später, zu einem geschmackvollen Flechtwerk herausgearbeitet, in ein vornehmes Haus. Nun ist allerdings die Weide nur eins von den verschiedenen Materialen, welche unsere Korbindustrie verarbeitet, dürfte aber als solches um so beachtenswerther und werthvoller sein, weil sie im eigenen, an industriellen pflanzlichen Rohproducten nicht eben überreichen Lande mit großem Nutzen und in vorzüglicher Qualität gewonnen werden kann. Man ist daher auch bestrebt, die Kunstfertigkeit in der Weidenflechterei immer mehr zu heben, und wendet ihr da, wo man die Korbindustrie in geeigneten Districten einzubürgern strebt, eine entsprechende Berücksichtigung zu, wie z. B. in den königlichen Lehrwerkstätten für feine und mittelfeine Korbflechterei, welche die sächsische Staatsregierung im Mülsengrunde bei Zwickau eingerichtet hat und unterhält. Daß das Holz der Weide auch noch zu andern Zwecken, z. B. zur Herstellung einer geschätzten Holzkohle dient, braucht nur angedeutet zu werden.

Schauen wir nun zurück auf die vielfache Verwendung, welche die Weidenrinde und das Weidenholz in der Industrie finden, und mustern wir nur flüchtig die große Zahl der Hände, welche durch die Verarbeitung dieser Pflanzen zu den verschiedenartigsten nützlichen Gegenständen ihr tägliches Brod verdienen, so werden wir ohne Bedenken zugeben müssen, daß die Weiden, wie einst nach Cato’s Ausspruch bei den Römern, so auch in Deutschland zu den nützlichsten Pflanzen zählen.




Blätter und Blüthen.


Der Maler des „Hochzeitszuges“. (Mit Abbildung S. 245.) Der Familienname des trefflichen Malers, dessen neuestes Werk wir heute in Holzschnittreproduction unseren Lesern vorführen, ist schon seit vielen Jahren den Freunden der Kunst wohlbekannt. Wer mit Aufmerksamkeit die öffentlichen Bildergallerien und großen Privatsammlungen Deutschlands durchwandert hat, der wird sich erinnern, dort überall Gemälde von Robert Eberle angetroffen zu haben, welche verschiedenartige Scenen aus dem Thierleben darstellen und unter denen sich die Schafheerden-Bilder durch ihre lebenstreue Auffassung und Wiedergabe besonders auszeichnen. Kurz nach dem Tode dieses Malers (1860) trat im Jahre 1861 sein Sohn Adolf Eberle mit einem größeren Gemälde vor das Publicum. Das Bild, welches in ergreifender Wahrheit die Pfändung der letzten Kuh darstellte, fand eine sehr günstige Aufnahme, und der damals kaum achtzehnjährige Künstler wurde bald einer der beliebtesten Genremaler der Gegenwart. Adolf Eberle bezog ziemlich früh die berühmte Akademie seiner Vaterstadt München und bildete sich hier unter Karl von Piloty’s Leitung zu einem trefflichen Coloristen aus, der sich außerdem in seinen jüngsten Werken durch die Tiefe der Auffassung und scharfe Charakteristik auszeichnet.




Kleiner Briefkasten.


Zum bevorstehenden Fröbel-Feste! Die Vorstände vieler Kindergärten haben zur Fröbel-Feier, die bekanntlich am 21. dieses Monats überall begangen wird, die demnächst in der „Gartenlaube“ erscheinende Abbildung des Grabdenkmals von Friedrich Fröbel bestellt, um dieselbe beim Feste unter die Kinder zu vertheilen. Da jedoch nur bei sehr wenigen der aus den Kindergärten eingesandten Beiträge die Zahl der beitragenden Kinder angegeben war, so werden die Vorstände ersucht, dies unverzüglich unter Einsendung der empfangenen Quittung nachholen zu wollen. Alle Zuschriften, die auf diese Angelegenheit Bezug nehmen, sind ausschließlich an den Schriftführer des „National-Fröbel-Comités“, Herrn Professor E. Wiebe in Hamburg, Grindelberg 45, zu richten.


Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Villa Souchay: das nach Plänen Christian Friedrich Arnolds erbaute heutige Schloss Eckberg
  2. fr: Lauterbourg
  3. cs: Dolní Žleb, ein Ortsteil der Stadt Děčín
  4. cs: Ústí nad Labem
  5. vgl. Psalm 137,2