Die Gartenlaube (1882)/Heft 14
[221]
No. 14. | 1882. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Recht und Liebe.
Im Walde vor dem Forsthause saß ein städtisch elegant gekleideter Mann mit schönen, geistig belebten und wie von Gedankenarbeit verfeinerten Zügen. Auf der Bank, welche zwischen den Linden vor dem Forsthause stand, zurückgelehnt, sah er nachdenklichen Blicks in den Wald hinein, der eigenthümlich still war. Es war die Zeit, in welcher der Sommer in den Herbst übergeht, das Vogelvolk seine kleinen Familienpflichten erfüllt und die dabei entwickelte Aufregung ein Ende genommen hat. Kein Vogel sang im Walde; kein Ruf schallte heraus. Selbst die Schwalben zwitscherten nicht, die in schwindelerregender Rastlosigkeit auf dem freien Anger vor dem Hause hin- und herschossen.
„Welch ein seltsames Thier solch eine Schwalbe ist!“ sagte der junge Mann, als ein älterer, eine hochgewachsene stattliche Gestalt mit ergrauendem Vollbart und in der Jägerjoppe, aus dem Hause auf die Schwelle trat, – „welch seltsames Thier, das auf allen Idealismus des glücklichen Vogeldaseins verzichtet! Die neidenswerthe Zaubergabe der Flugkraft, welche von den anderen Vögeln zu freiem und ungebundenem Schwunge ausgebeutet wird, dient diesen gehetzten Geschöpfen nur zum rastlosen, unausgesetzten, nervös machenden Hin- und Herschießen von der ersten Morgenstunde bis zum Abend, von ihrem ersten Ausfliegen aus dem Nest bis zu ihrem Tode. Der Flug ist für sie ein Fluch geworden, der sie peitscht.“
„Nun ja,“ sagte der Förster; „wie so manches Lebewesen in der Zeit, wo es eine noch unentwickelte Art war, wie Ihr Naturforscher es nennt, sich darauf capricirte, in seiner Entwickelung just zu dem zu werden, was es heute ist – das begreife Einer! Zu solch einem hülflosen Sclaven seiner Natur! Weshalb hat sich solch ein armer Teufel von Hirsch in seinem Kampfe um’s Dasein das abscheulich schwere, in jedem Walddickicht für ihn verhängnißvolle Geweih aus seinem Schädel wachsen lassen? Und der arme wehrlose Hase, weshalb hat er es nicht dem klugen Igel nachgemacht und sich einen Stachelpanzer über die Ohren gezogen?“
„Weshalb?“ versetzte lächelnd der junge Mann. „Entwickeln die Menschen selber nicht auch so ihre Natur, ohne die geringste Rücksicht darauf zu nehmen, ob sie sich damit dem Kampfe um’s Dasein adaptiren oder nicht? Hast Du nicht Leute gesehen, die sich einen Stolz auf dem Kopfe wachsen ließen, der ihnen viel hinderlicher war, durch’s Leben zu kommen, als es dem Hirsch sein Geweih ist, um durch den Wald zu schweifen? Und was die Hasen angeht – nimm unsern alten Baron! Weshalb ist er ein solcher wehrloser Hase und nicht statt dessen ein stachliger Igel geworden, der die Hunde, die auf ihn Jagd machen wollen, in Respect zu halten weiß?“
„Du hast Recht,“ antwortete lachend der Förster. „Ich hätte Dich alsdann nicht aus der Stadt kommen zu lassen brauchen, damit Du Dich des alten Mannes annehmen könntest. Unser Quacksalber von Dorfarzt als Doctor, und dazu Damen, wie Du sie kennen lernen wirst, als Pflegerinnen – sie bringen den alten Herrn um. Es ging nicht anders; ich mußte Dich herkommen lassen, damit Du mit Deiner Autorität dazwischen fahren kannst; der alte Herr willigte ja endlich auch ein, daß ich Dich zu kommen bitte. So mußtest Du denn heran, obwohl es Dir schwer geworden sein mag, Dich aus Deiner Thätigkeit loszureißen.“
Während dieser Unterredung hatten sich beide Männer in Bewegung gesetzt und schritten nun langsam den Anger vor dem Hause hinab, in eine Eichen-Allee hinein, welche westwärts in den Wald führte.
„Es ward mir schwer, Vater,“ versetzte der jüngere Mann, „aber ich bin dennoch gern gekommen; von meiner anstrengenden Thätigkeit sind meine Nerven angegriffen, und wo giebt es eine bessere Erholung dafür, als hier im väterlichen Hause, in den Räumen, in denen ich aufwuchs, an denen alle meine liebsten Lebenserinnerungen haften; unter Deinen alten Bäumen, von denen ich mir als Kind einbildete, Du habest sie alle gepflanzt, und nur die Bäume, welche Du pflanztest, würden so groß.“
„Es ist hübsch von Dir, Leonhard,“ sagte der Förster mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit, seine Hand auf die Schulter seines Sohnes legend, „es ist hübsch von Dir, daß Du an dem alten Hause hängst, obwohl Du in der Stadt ein vornehmer Mann geworden bist, der persische Teppiche und sammetne Portièren in seinem Empfangszimmer hat – bei uns, weißt Du, giebt’s nur tannene Dielen – zur Freude der Mutter, die Mittwochs und Sonnabends ihre Schrubbewuth daran auslassen kann.“
„Die gute Mutter!“ antwortete der junge Arzt. „Und um des alten Herrn willen hättest Du mich immerhin schon früher herbeiholen sollen. Der Mann hat ein Recht auf uns. Die Klingholt und die Dortenbach gehören seit Urvätertagen zusammen, und – wer weiß das besser als Du? – wenn die eine auch die Herren- und die andere die Dienerfamilie ist, so haben sie einander doch Hülfe und Beistand mit Rath und That genug im Laufe der Jahre und in böser wie guter Zeit geleistet, um auf einander bauen zu dürfen.“
„Ja, ja, in guten und in bösen Zeiten,“ sagte seufzend der Förster, „und böse Zeiten hängen ja einmal wieder drohend über uns. Wenn der alte Herr das Zeitliche segnen sollte, so steh’ uns Gott bei! Diese Verwandten, die sich da oben eingenistet haben, diese liebevolle süßredende Erbschleicherbande, was werden sie, wenn [222] Dortenbach in ihre Gewalt geräth, daraus machen! Ich bitte Dich, was wird aus einem solchen schönen Gut, wenn es diesen Leuten in die Hände fällt! Verpfändet, verparcellirt, verkauft! Das Holz niedergeschlagen und versilbert! Die armen Häuslinge gepeinigt, ausgepreßt, vertrieben! Und am Ende, wenn der Rest zerstückelt, wird Dortenbach selbst, das Herrenhaus, verkauft und zur Einrichtung einer Garnspinnerei, einer Nesselweberei verwandt. Wasserkraft ist ja da, und die Tagelöhne sind niedrig in der Gegend. Mir bliebe nichts übrig als – wenn ich nicht vorzöge, mich an einen meiner höchsten Bäume aufzuhängen – auf einige Zimmerchen in der Stadt zu ziehen und mich von Dir wegen chronischer Gelbsucht behandeln zu lassen. Nicht lange, gewiß nicht lange; denn ich ertrüg’s nicht, in Euren engen Gassen, in solch einer Miethwohnung nur noch mit der Fliegenklappe auf die Jagd gehen zu können – in Filzpantoffeln, damit durch zu harsche Tritte der liebe Herr Nachbar unter mir nicht gestört wird. Gott steh’ mir bei! Welch ein Leben! Für einen Mann wie mich! Nach fünfundfünfzigjährigem freiem Leben im Walde …“
„Nach dreißigjähriger Herrschaft darin!“ fiel der jüngere Mann ein, „Du hast Recht, Vater; ich kenne Dich genug, um zu wissen, daß es Dein Unglück sein würde – und,“ setzte er lächelnd hinzu, „das der Mutter, wenn sie nicht als unerbittliche Tyrannin Mittwochs und Sonnabends ihr schönes altes Forsthaus unter Wasser setzen könnte. Und auch meines würde es sein – auch mir würde wie einer jungen Tanne der Herztrieb ausgebrochen sein, glaube ich, wenn mir das Vaterhaus genommen, aus meinem Dasein gestrichen wäre. Im Kampfe des Lebens bedürfen wir Alle einer Reserve des Herzens, und das ist und war mir immer noch als beruhigende und heilende Gedankenzuflucht das stille Haus mit seinen Wipfelschatten, seinen gemüthlichen Räumen, seinen phantastischen Ecken und Verstecken.“
„Und doch,“ sagte der Förster mit verdüsterter Stirn, „blüht uns das Schicksal, daraus vertrieben zu werden; Du wirst es sehen, wenn der alte Herr stirbt. Kann mir’s auch denken,“ fügte er mit gedämpfterer Stimme hinzu, „wie der Rentmeister Benning auf den Augenblick lauert: er hat all sein Lebenlang zusammengescharrt und vor einem Jahre erst in zweiter Ehe ein schrecklich aussehendes Weib um ihres Geldes willen genommen; wenn der alte Herr die Augen schließt, wird er die nöthigen Summen bei einander haben, um das Beste von Dortenbach an sich zu bringen.“
„Und Dortenbach muß unzerstückelt und in all seinen adligen Würden bleiben und Förster Klingholt der souveraine Tyrann über alle seine Wälder,“ sagte Leonhard lächelnd, „das ist unser Satz. Die Folgerung wäre: also ist der gute alte Herr so lange gesund und frisch am Leben zu erhalten, wie es irgend möglich ist!“
„Gott sieht in mein Herz,“ versetzte der Förster lebhaft, „Du wirst mir doch den Vorwurf nicht machen, daß dies mir nicht die Hauptsache und ich ein Egoist sei?“
„Du ein Egoist, Vater?“ fiel Leonhard lachend ein, „Du bist’s in Deinem Leben nur allzuwenig gewesen. Dein Eifer, zu helfen, für Andere Deine Kraft einzusetzen, Opfer zu bringen – das war ja immer – das Hirschgeweih auf Deinem Kopf.“
Sie waren aus ihrer Eichenallee auf einen gepflasterten Fahrweg gekommen, der jetzt zwischen sauber geschorenen Hecken zur Rechten und Linken auf ein großes und stattliches Herrenhaus zulief; über eine stattliche Zugbrücke gelangte man auf den Hof desselben. Das Haus zeigte in der Mitte einen mächtigen festen Quaderbau, der, aus grüngrauen Werkstücken aufgeführt, aus den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges stammen mußte; es war von zwei über das hohe gegiebelte Dach von der Rückseite her ragenden Thürmen flankirt. Auch an den vorderen beiden Ecken mochten einst solche Thürme sich erhoben haben; jetzt waren sie verschwunden; dagegen hatte man an den vorderen Ecken zwei vorspringende Flügel angesetzt, im schönsten Rococostil und in rothem Ziegelsteinrohbau, was dem Ganzen einen sehr unharmonischen Charakter gab.
Der Förster war an den sonderbaren Anblick des alten Schlosses gewöhnt, aber Leonhard, der es seit mehreren Jahren nicht gesehen, meinte:
„Wer an den biederen alten Renaissancebau diese zwei leichtsinnigen Rococoflügel geflickt hat, der hätte, um es ja recht bunt zu machen, etwas wie das rothe, gelbe und grüne Schloß der von der Thann daraus machen und jeden Theil besonders anstreichen sollen.“
„Wäre nicht übel, besonders für unsere Tage,“ versetzte lächelnd der Förster, „in dem Flügel links haben sich die Ramsfeld’schen eingenistet – der könnte gelb vor Neid, und im rechten hausen die Sander – der könnte grün vor Aerger dastehen. Aber da ist der alte Andreas,“ fuhr er fort, indem er auf einen alten Mann in Dienertracht deutete, der eben in die offene Portalthür trat. „Andreas kann Dich jetzt zum Herrn führen – angemeldet bist Du ja.“
Leonhard nickte.
„Also auf Wiedersehen, Vater!“ sagte er, seine Hand flüchtig dem Förster reichend, der sich nun wandte und heimwärts ging.
Der alte Mann mit dem Kopfe voll dichter schlohweißer Haare und dem gutmüthigen kummervollen Gesichte empfing Leonhard sehr respectvoll.
„Der gnädige Herr erwarten Sie,“ sagte er; „es ist uns eine rechte Freude, daß Sie gekommen sind – es geht dem gnädigen Herrn schon seit mehreren Wochen gar nicht gut – das alte Leberleiden – und die arge Schlaflosigkeit – und –“
„Ihr hättet mich früher rufen lassen sollen, Andreas,“ fiel ihm Leonhard in’s Wort; „Ihr wußtet doch, wie gern ich Alles aufbieten würde, Eurem guten alten Herrn Erleichterung zu verschaffen.“
„Freilich, freilich, aber die gnädige Frau von Ramsfeld meinte ja, Sie seien jetzt ein so berühmter und von hundert schweren Fällen in der Stadt in Anspruch genommener Herr, daß man Ihnen solche Landpraxis nicht zumuthen dürfe, und die gnädige Frau von Sander redet ja auch immer nur, als ob des Herrn Leiden die reine Einbildung sei und schon vorübergehen werde, wenn man ihn nur zerstreue und erheitere und gesellig mache und ihn recht aufmuntere – wenn man sich selber nicht krank gebe, sei man auch nicht krank –“
„Etwas Wahres ist an der Theorie,“ unterbrach ihn Leonhard lächelnd.
„Und so arbeiten sie denn mit ihrer Aufmunterung auf ihn ein,“ vollendete Andreas, „du lieber Gott, daß es ganz herzbrechend ist.“
Sie waren unterdeß durch den Flur die breite Steintreppe, die in’s erste Stockwerk führte, hinaufgeschritten und betraten jetzt einen großen Saal, einen imponirenden Raum, welcher mit dunklem Eichenholzgetäfel, einem schönen Deckengemälde, aus dessen Mitte ein großer kostbarer, alter Kronleuchter von venetianischem Glase niederhing, und mit kunstreichsten alten Möbeln aus verschiedenen Zeiten versehen war. Aber so herzerfreuend all dieses schöne Geräth auch für den Kunstliebhaber sein mußte – einen unbehaglichen und melancholischen Eindruck machte der Saal, in welchem eine kühle Luft die Eintretenden anfröstelte, dennoch; vielleicht kam es, weil die Hälfte der Läden geschlossen war und so das Licht etwas Dämmeriges hatte und all die verblichenen Farben der Gegenstände noch mehr abtönte.
Leonhard blickte sich in dem Raume um, als stiegen Schattenbilder vor ihm auf, die Gestalten seiner Kinderzeit. Er ließ seine Blicke über die Decke mit den verblaßten Götterfiguren, die Wände mit den verdunkelten Gemälden schweifen, bis Andreas an die Flügelthür zur Linken gepocht und sie dann respectvoll weit geöffnet hatte.
Ein mittelgroßer schwächlicher alter Herr mit einem Gesichte, das fast weiblich-feine Züge zeigte, einer dunklen Perrücke und auffallend schönen, sprechenden, dunklen Augen, die in einem ganz jugendlichen Glanze aufleuchteten, erschien im nächsten Augenblicke auf der Schwelle.
„Seien Sie mir gegrüßt, Doctor, seien Sie mir willkommen!“ sagte er mit wohltönender Stimme, die schmale weiße Hand, die ebenfalls etwas Weibliches, etwas von einer magern Frauenhand hatte, dem Doctor aus dem faltigen Aermel eines grünsammetnen Schlafrockes entgegenstreckend – „wenn Sie nicht ein so berühmter Mann geworden wären,“ fuhr er fort, „so würde ich sagen: sei mir gegrüßt, Klingholt, alter unternehmender Leonhard – so aber – die Wissenschaft verleiht ihre Würden –“
„Und doch,“ fiel Leonhard ein, „würden alle Würden der Welt mich nicht unempfindlich gegen das Glück machen, noch immer von Ihnen als ein zu Ihrem Hause gehörender Client betrachtet zu werden.“
„Client!“ sagte mit wehmüthigem Lächeln der alte Herr; „ach, Klingholt, Sie wissen nicht, wie schmerzlich mich das Wort berührt, seit ich empfinde, daß ich aus dem ehemaligen Herrn und Patronus nur noch aller Welt Client geworden. Der Client des Advocaten, des Rentmeisters, der lieben Verwandten, der – doch [223] treten Sie ein, setzen Sie sich – mir gegenüber – nein, am Kaminfeuer wird es Ihnen unbehaglich sein – hier, nehmen Sie auf dem Eckdivan Platz!“
Sie waren in des Barons Wohnzimmer getreten, ein mäßig großes Gemach, dessen Wände eine verschossene Tapete von grüner Seide und werthvolle alte Kupferstiche bedeckten. An der einen Wand stand ein altmodisches Clavier aus Kirschbaumholz, an der andern ein mit Decken und gestickten Kanapeekissen ausgestattetes Ruhebett; in dem Marmorkamine den Fenstern gegenüber brannten Scheite, welche in dem Raume bei der warmen Jahreszeit eine unangenehm hohe Temperatur erzeugt hatten. Der Ausblick aus den Fenstern zeigte eine hohe und melancholische Tannengruppe; weiterhin, an ihr vorüber, sah man auf eine Wiese, die von Wald umgeben war.
Leonhard hatte den Eindruck, als ob er in einen Raum, eine Welt träte, wie wir sie aus den Zeichnungen Chodowiecki’s kennen. „Sie heizen ein – jetzt?“ fragte er, indem er sich auf den Divan setzte.
„Was wollen Sie?“ antwortete der alte Herr, sich ebenfalls niederlassend und müde in seinem neben dem Kamin stehenden Fauteuil zurücklehnend. „Ich bin frostiger Natur und das ‚freundliche Element‘ leistet mir Gesellschaft. Ich habe,“ setzte er mit einem wehmüthigen Lächeln hinzu, „nie viel Feuer in mir gehabt – so such’ ich’s außer mir und lasse es auch die Zeit hindurch nicht ausgehen, welche man sich hier gewöhnt hat, Sommer zu nennen, obwohl der Sommer uns längst eine Mythe geworden ist – mich soll wundern, wie lange noch die Bäume den alten Aberglauben beibehalten und in jedem Frühjahr grüne Blätter treiben werden.“
Wenn der Baron Dortenbach bei solchen Reden über sein eingefallenes gelbgraues Gesicht ein mildes wehmüthiges Lächeln gleiten ließ, leuchtete darüber eine schattenhaft flüchtige Verschönerung in raschem Vorüberschwinden auf, der Schatten einer einstigen weichen Schönheit, die etwas Herzbestrickendes gehabt haben mochte; jetzt flößte ihr bleicher Wiederschein nur noch eine tiefe und theilnahmvolle Sympathie ein.
„Ich werde, fürchte ich,“ sagte Leonhard, „Ihnen das Feuer auslöschen – und vielleicht auch das Wasser Ihnen rauben müssen, das ich da in einer großen Caraffe neben Ihrem Sitz aufgestellt sehe.“
„O weh – dann wäre ich Aqua et Igne interdictus,“ scherzte der alte Herr, während Leonhard seine Züge fixirte und dabei nach und nach einen so zerstreuten Ausdruck in seine Mienen legte, daß der Baron lächelnd fortfuhr:
„Mein Aussehen giebt Ihnen offenbar viel zu denken, Klingholt.“
Leonhard erröthete tief. Seine Gedanken hatten ja eine so ganz andere Richtung genommen, als der alte Herr voraussetzte; was ihm „zu denken gegeben“, waren so ganz andere Züge, als die des alten Mannes vor ihm – Züge, die doch von diesen vor seinem inneren Auge heraufbeschworen waren, welche er doch unwillkürlich in diesen wiedergesucht hatte – er stand jetzt, ohne zu antworten, auf und nahm die Hand des Patienten, um seinen Puls zu examiniren.
Dann begann er seine Untersuchungen, prüfte die Mittel, welche dem Baron verschrieben waren – endlich sagte er, indem er zum Fenster ging und beide Flügel desselben aufriß:
„Sie sind nicht gerade unrichtig behandelt worden, Herr Baron, nur hat Ihr bisheriger Arzt Eines versäumt, das Wichtigste, nämlich Sie selbst zum Heilgehülfen bei Ihrer Cur zu machen. Bei Leiden, wie den Ihrigen, vermag der Arzt wenig, wenn er nicht den Patienten zum Collegen nimmt und zu ihm spricht: hilf dir selbst – dann werde ich dir helfen. Sie sind eine Natur, in welcher das geistige Leben, wie bei wenigen Menschen, mit dem körperlichen verflochten ist und dieses von jenem abhängt. Wenn Ihr Gemüth hell, klar und von nichts getrübt ist, werden auch Ihre Leiden zurücktreten. Also – halten Sie als Ihr eigener Arzt fern, was Ihr Gemüth trüben kann. Zum Optimisten zwar kann ich Sie nicht machen …“
„Nein – das können Sie freilich nicht,“ fiel ihm der Baron mit bitterem Lächeln in’s Wort. „Das ist zu spät.“
„Aber zum Egoismus besitzt jeder Mensch gottlob hinreichende Anlage, es wird auch in Ihnen so viel sein, daß Sie sich stets sagen können: wehre ab, wehre ab, was dich erregen, dich ärgern, dir schaden könnte! Das Leben ist Abwehr. Erst wenn Sie von diesem Axiom durchdrungen sind, es sich zum Lebensmotto genommen haben, werden Sie gesund bleiben können.“
„Das Leben ist Abwehr,“ wiederholte sinnend der alte Herr; „das ist eine neue Lehre; für den Kampf um’s Dasein, von dem Ihr Jüngeren so viel Gerede macht, heißt es die Defensive als Princip nehmen.“
„Richtig. Die Offensive läßt man denen, die noch nichts zu vertheidigen, die noch keinen inneren Besitz haben. Für reifere Naturen bleibt nichts übrig, als die Defensive – wehre ab, was dich aus deinem Pfade drängen, aus deiner Gedankenwelt locken, was dir etwas von deinem Sein stehlen will, oder was, weil es dich ärgert, dich krank macht!“
„Und sind das alle Ihre Vorschriften, Klingholt?“ sagte der alte Herr lächelnd. „Ist dieses philosophische Arcanum Ihre ganze Heilkunde?“
„Nicht meine ganze. Zunächst aber habe ich, nachdem ich Ihnen zwei Elemente, Feuer und Wasser, entzogen, Sie durch ein anderes zu entschädigen – durch Luft. An warmen Tagen, wie heute, werden Sie der frischen Luft die Fenster öffnen; Sie werden am Nachmittage einen kleinen Spaziergang durch die Gärten mit mir machen.“
„Ah – dazu fehlt mir alle Kraft …“
„Die Kraft wird kommen. Sie werden sehen. Im Nothfall bin ich ja da, um als Stütze zu dienen. Und zur Einleitung, um die nöthige Stärkung dazu zu haben – ist es zweckmäßig, daß Sie jetzt ein Glas guten alten Weines, Ungar oder Madeira, trinken.“
„Man hat mir den Wein verboten,“ sagte der alte Herr.
„Ihn zu verbieten war thöricht,“ entgegnete Leonhard die Klingel ziehend. „Ich werde ihn im Gegentheil Ihnen als Hauptmittel verordnen. Sie werden täglich bei Tisch eine halbe Flasche Champagner trinken.“
„Welch liebenswürdiger Arzt Sie sind!“ fiel der Baron ein. „Die Heilgehülfenstelle, die Sie mir übertragen, wird unter solchen Umständen mit Vergnügen angenommen.“
Andreas trat ein.
„Andreas,“ sagte der alte Herr, „Du führst den Kellerschlüssel – hast Du Ungarwein unter Deinem Verschluß?“
„Es wird nicht viel mehr da sein. – Die Gnädige von Ramsfeld hat ihn als ihren Frühstückswein sehr in Anspruch genommen.“
„So, so! Aber Madeira?“
„Der hat dem jungen Herrn von Sander so lange als Jagdtrunk gedient, daß wohl damit aufgeräumt sein wird.“
Des alten Herrn Brauen verfinsterten sich.
„Sie sehen,“ sagte er kopfschüttelnd zu Leonhard, „Sie finden hier im Hause einen zweiten Patienten – einen schwindsüchtigen Weinkeller.“
„Es scheint so,“ antwortete Leonhard lächelnd, „und ich werde ihm sogleich einen Besuch machen, um zu sehen, welche Recepte ich für ihn zu schreiben habe. Es muß auch hier einfach stärkend gewirkt werden, seh’ ich – führen Sie mich, Andreas!“
Leonhard Klingholt war aufgestanden.
Andreas sah den Doctor, der sich der Dinge hier so gründlich annehmen wollte, überrascht an, aber mit einem gehobenen Wesen, mit einem elastischeren Schritt, als womit der alte Mann seit Jahren aufgetreten, schritt er voran, ging er doch der Befriedigung entgegen, einer theilnehmenden Menschenseele einmal da unten in den kühlen dämmerigen Räumen zeigen zu können, wie räuberisch in den letzten Zeiten hier gehaust worden war, welche brutale Eingriffe ihm die schöne Ordnung, die er einst gehalten, zerstört.
Der alte Herr oben war, sobald er sich allein sah, aufgestanden. Er fühlte sich schon jetzt gekräftigt, wie von einem erfrischenden Luftzuge aus den Worten Leonhard Klingholt’s angeweht – zunächst ging er aber doch, das Fenster wieder zu schließen.
„Das Leben ist Abwehr,“ sagte er dann vor sich hin, bitter lächelnd und inmitten des Zimmers stehen bleibend, um auf die düstere Tannengruppe draußen zu starren. „Mit dem Grundsatz bewaffnet, soll ich mein eigener Arzt werden. Er hat Recht – tausendmal Recht, wenn nur nicht zur Abwehr auch die Wehr gehörte, die ich nun einmal nie recht zu schwingen verstanden habe! Unselige Natur, die meine! Ich glaube, meine Mutter trägt die Schuld, die nach meiner Brüder Geburt durchaus eine Tochter wollte – als ich nun endlich geboren wurde, war’s zwar wieder [224] keine Tochter, aber der Mutter Sehnen, Denken und Vorstellen hatten eine halbe Tochter aus mir gemacht, eine weibliche Natur. Gott verzeih’s ihr! Nannte sie mich nicht, wenn sie mir zärtlich durch die Locken fuhr, meine mißrathene Tochter? Sagt nicht auch Klingholt, daß bei mir das körperliche Leben von dem geistigen bestimmt wird – ganz wie beim Weibe? Und meine unselige Höflichkeit des Herzens, in einer Welt, die viel zu egoistisch ist, um sie zu erwidern, viel zu brutal und stupide, um sie zu begreifen! Und der unselige Trieb, mich in Anderer Stelle zu denken, ihre Anschauung zu verstehen, ihr Gefühl mitzuempfinden, tolerant gegen alle Welt zu sein! Tolerant, wenn auch dabei mein eigenes Recht in die Brüche geht! Ist das nicht alles weibliche Natur, Weiblichkeit, Weibischheit?“
Der alte Herr warf sich mit einem tiefen Seufzer in seinen Sessel.
„Gott besser’s!“ sagte er dabei. „Trinken wir also einmal wieder Wein! Vielleicht thut der’s. Dieser Klingholt sollte mir immer zur Seite bleiben – immer – immer – an des Sohnes Statt, den das Schicksal mir nicht gegönnt hat. – Was ist aus dem wilden, unlenksamen Försterjungen, der nie wußte, wo seine Bücher waren, der nie ein erträgliches Schulzeugniß aus der Stadt heim brachte, geworden? – trotz seiner Jugend der geschickteste, gesuchteste Arzt in der Stadt, der kühnste und glücklichste Operateur – und in Allem, was er angreift, ein Mann – ein ganzer Mann!“
Der alte Herr stützte, solchen Gedanken folgend, sein schmales zurücktretendes Kinn in die Hand; so blickte er lange schwermüthig in die erlöschenden Kohlen seines Kamins, bis sich die Thür wieder öffnete und Leonhard eintrat, von Andreas, der eine Flasche und Gläser trug, gefolgt.
„Es sieht da unten nicht glänzend mehr, aber doch auch nicht zum Verzweifeln aus,“ sagte er lachend. „Für Sect ist für einige Tage gesorgt, und hier ist Château d’Yquem, von dem Sie ein Spitzglas leeren sollen.“
Andreas füllte die Gläser.
Leonhard stieß mit dem alten Herrn an; dieser trank mit augenscheinlichem Behagen, und sagte dann mit einem heitern Aufleuchten seines schönen dunklen Auges:
„Ich glaube, dieser Heilgehülfe wird jedenfalls seine Schuldigkeit thun, Klingholt.“
„Ich bin davon überzeugt,“ entgegnete lächelnd Leonhard; „jetzt aber bitte ich mir durch Andreas ein Zimmer anweisen zu wollen, wo ich mich installiren und für einen oder zwei Tage aufhalten kann, so lange es nöthig ist, daß ich in Ihrer Nähe bleibe!“
„Ah,“ rief der Baron erfreut, „Klingholt, Sie wollen, Sie können mir einige Tage opfern? Sie wissen nicht, wie glücklich Sie mich dadurch machen, wie dankbar.“
„Dankbar? Was schulden wir nicht Ihnen, Baron, wir, die wir den Namen Klingholt tragen – meine Zeit, meine Kräfte, wem konnten sie vor allen Andern zuerst gehören, als Ihnen? Ich habe meine Kranken in der Stadt einem Freunde anvertraut, der meinen Assistenten macht.“
„Vortrefflich!“ sagte der Baron; „ich hätte nie gewagt, Ihnen so viel zuzumuthen. Also,“ fügte er, ihm die Hand reichend, hinzu, „bis zur Mahlzeit!“ – –
Zu dieser Mahlzeit wurde ein paar Stunden später Leonhard durch einen andern Diener, einen verdrossen aussehenden Menschen gerufen, der ihn schweigend in das Erdgeschoß führte, in den Speisesaal, der unter dem Wohnzimmer des alten Herrn lag. In dem Augenblick, wo er eintrat, kam durch eine entgegengesetzte Thür, auf Andreas’ Arm gestützt, der Baron herein. Er hatte den Sammetschlafrock mit einem Rock aus schwarzer, gesteppter Seide vertauscht. Jetzt auf die Lehne seines Sessels gestützt, stellte er Leonhard der versammelten Tischgesellschaft vor:
„Herr Doctor Klingholt – mein lieber Doctor Leonhard Klingholt,“ sagte er, und dann setzte er sich und überließ es Leonhard, Namen, Geltung und Bedeutung der Anwesenden in diesem Kreise für sich selber zu ermitteln. Für’s erste hielt Leonhard das Auge auf ihn gerichtet und beobachtete, wie er sich mühsam und mit vielen Weitläufigkeiten zu einem bequemen Sitzen in seinem Sessel brachte, den Andreas an die Tafel schob, wie viele Hände ihm dabei behülflich zu werden suchten, wie die eine – die fleischige Hand einer dicken kleinen Dame – ihm den Zipfel der Serviette in eines der obern Knopflöcher seines Rockes steckte, worauf der alte Herr mit einer Miene des Aergers die Serviette wieder losriß und auf seine Kniee warf, wie eine andere Hand – die schmale rosenrothe eines neben ihm niederknieenden jungen Mädchens – ihm ein gesticktes Kissen unter die Füße schob, was nur den Effect hatte, daß der Baron das Kissen mit dem Fuße wieder von sich schob, während er mit einem süß-sauren Lächeln und gefurchter Stirn ein Mal über das andere ein leises: „Danke, danke!“ – sagte.
Leonhard faßte die dicke Dame und das junge Mädchen in’s Auge, die nicht den Tact besaßen, zu fühlen, bis wie weit Hülfeleistungen bei alten Leuten gehen dürfen, wenn sie dieselben nicht kränken sollen, indem sie mehr Hinfälligkeit und Schwäche voraussetzen, als da ist. Der Baron hatte ihn mit einem Wink gebeten, an seiner rechten Seite Platz zu nehmen.
Die Dame setzte sich Leonhard zur Linken – sie hatte ein rundes rothblühendes Gesicht mit vollen Wangen, die sich zu Hängebacken zu entwickeln drohten, und einen ziemlich großen Mund mit beneidenswerth schönen wohlconservirten Zähnen; sie blickte aus ihren runden, vorliegenden blauen Augen wie die gute Zeit. Das junge Mädchen, welches sich neben sie setzte, mußte ihre Tochter sein; sie hatte zwar nichts von der Mutter wohlgenährter Leibesfülle, sondern war schlank und zeigte kindlich anmuthige Bewegungen, aber sie hatte die Augen der Mutter, deren heiteren Blick und dazu noch etwas Kluges, Satirisches, das von Zeit zu Zeit daraus aufblitzte und ihrem sehr hübschen Gesicht einen Reiz mehr gab.
Zur andern Seite des alten Herrn setzte sich eine in schwarze, ein wenig abgetragene Seide gekleidete, mit großem Würdebewußtsein sich niederlassende magere, starkknochige Dame mit einer langen spitzen Nase, einem Gebiß, welches mit unheimlicher Deutlichkeit seinen künstlichen Ursprung verrieth, und mit einem übergroßen Kreuz von Jet an dicken Jetperlen auf der Brust.
Leonhard hatte nun nur noch die beiden Jünglinge, von denen der eine neben dem jungen Mädchen, der andere neben der stolzen schwarzen Dame Platz nahm, zu recognosciren, nur noch einen Augenblick auf den Dialekt zu horchen, in welchem die Gesellschaft die ersten Worte wechselte, und er war über die Herrschaften an der Tafelrunde, welcher sich nur noch der Rentmeister Benning und ganz zu unterst eine die Wirthschaft leitende ältliche Dame zugesellt hatten, im Reinen. Die dicke Dame war offenbar die aus Süddeutschland gekommene Frau von Ramsfeld, die Wittwe eines „verkauften“ Gutsbesitzers aus Frankenland, das junge Mädchen ihre Tochter Dora, und der wunderliche junge Mensch von einigen zwanzig Jahren, der neben der mageren schwarzen Dame saß, der so hohläugig aus den Augen schaute und einen so hohlwangigen Kopf hatte, mußte ihr hoffnungsvoller Sohn Damian sein.
Die schwarze Dame aber, die lange, magere, war die Frau Generalin von Sander aus einem Städtchen Pommerns, wohin sich ihr als Obrist mit dem Generalscharakter pensionirter Gatte zurückgezogen hatte. Ihr der Mutter wenig ähnlich sehender Sohn, Sergius, hatte sich auf die süddeutsche Seite geschlagen – der wohlgenährte, hochgewachsene und mit eigenthümlich gespannten Mienen lebhaft um sich blickende junge Mann saß neben dem hübschen jungen Mädchen aus dem Frankenlande.
… Gottlob! noch nicht so ganz, wie Manche glauben, ist dem deutschen Volke der Maßstab für die wahre Bedeutung seiner Dichter abhanden gekommen, und eine Fabel, zum Hausgebrauch der Reaction erfunden, ist die Geschichte von unserem Materialismus und unserer nationalen Verwilderung. Ein Volk, das seine Dichter ehrt, ist der Gefahr, seiner idealen Charakterzüge verlustig zu gehen, niemals ausgesetzt, und der Ausdruck tiefen Schmerzes, welcher bei der Kunde von Berthold Auerbach’s Tode in ganz Deutschland zu Tage kam, hat dargethan, daß in der Seele der deutschen Nation trotz „Blut und Eisen“ die hohen geistigen Regungen, [225] welche ihr von Alters her verliehen waren, wach geblieben sind bis diesen Tag.
Kein König hätte frömmer und schmerzlicher betrauert werden können als Berthold Auerbach. Friedrich Vischer, der greise Meister unter den deutschen Aesthetikern, zog hin zu dem Grabe in Nordstetten, um am Rande desselben weithin ergreifende Worte des Leides zu sprechen; Friedrich Spielhagen warf weinend dem älteren Dichtergenossen eine Handvoll Erde nach; Lazarus, der Philosoph, stand in Cannes, im Angesichte der blauen See, zu Häupten des geschiedenen Freundes und pries in tiefsinniger Rede das Unsterbliche an diesem entflohenen Poetenleben. Und wo nur in deutschen Gauen emsige Hände sich regen, um geschriebenes Wort in gedrucktes
[226] zu verwandeln, wo ein winzigstes Zeitungsblatt wißbegierigen Menschen von dem Thun und Lassen der weiten Welt da draußen Kunde giebt, war Berthold Auerbach’s Name für eine Weile in Schmerzen lebendig, obwohl sein irdisches Dasein beschlossen lag wie verglommene Flamme.
Freilich, das Ende des Dichters hatte etwas von tragisch erschütternder Schicksalsfügung. Er starb in der Fremde, unter anders redenden Menschen, und da ihm der Athem stockte, trennten ihn nur zwanzig Tage von der Schwelle des siebenzigsten Lebensjahres, an der die Freunde seiner Muse ihn huldigend zu begrüßen gedachten. Der Tod hatte ihn kurz vordem in Cannstatt angerührt, aber noch einmal losgelassen, und hoffnungsselig war der Dichter hinabgezogen an die Gestade des Mittelmeeres, um an dem Strahle der südlichen Sonne zu genesen. Es war eine trügerische Hoffnung. Der Tod schlich ihm nach als unentrinnbarer Begleiter.
„Ueber die Haide hallet mein Schritt;
Dumpf aus der Erde wandert es mit.“
Und aus der Jubelfeier ward eine Trauerfeier, aus dem Trunk vom schäumenden Becher des Ruhms der bittere Tropfen Lethe.
Nun liegt er in seinem Schwarzwälder Heimathsdorfe Nordstetten zu ewiger Ruhe gebettet, zwischen den Bergen und Bäumen, die einst in seine Jugend hineingeschaut, und wenn die Schatten der Dämmerung langsam über sein Grab dahinziehen, so geschieht es vielleicht, daß die Gestalten, die er schuf, daß Ivo und Emmerenz, Lorle und der Collaborator, das Bärbele und der Tolpatsch sich versammeln, um ihm ihre Nachrede zu halten. Sie waren ein Theil von ihm, als er noch jung und schöpferisch war, und sie haben ihn überlebt, um sein Andenken in die Zukunft zu tragen; sie leben, obwohl er todt ist, und er ist nicht gestorben, weil er in ihnen fortdauert.
In ihnen mehr als in Allem, was er sonst noch geschaffen. Er besaß eine unverwüstliche Arbeitskraft, und Entwürfe, Gedanken, Pläne beschäftigten allezeit seinen Geist, aber was ihm auch früh oder spät gelungen, es ist nichts vergleichbar mit seinen „Schwarzwälder Dorfgeschichten“. Und deshalb darf man ihn wohl rühmen wegen seiner drei großen Romane „Auf der Höhe“, „Das Landhaus am Rhein“ und „Waldfried“, darf man ihm auch dankbar sein für die fruchtbare Thätigkeit, die er als Herausgeber und Uebersetzer der Werke Spinoza’s entwickelt, aber seine Stelle in unserem nationalen Schriftthun hat er nur seinen „Dorfgeschichten“ zu verdanken, welche eine ungeheure Wirkung hervorbrachten, als sie erschienen, und deren Anspruch auf bleibende Bedeutung nicht erst gerechtfertigt zu werden braucht.
Vierzig Jahre sind es, seitdem dieser Wurf gelang. Berthold Auerbach, der Sohn des jüdischen Lehrers aus Nordstetten, hatte zuerst Talmud und rabbinische Theologie, dann Rechtswissenschaft und Philosophie studirt. Er war auch für etliche Monate als Gefangener auf den Hohenasperg gesetzt worden; denn er hatte als Burschenschafter das Mißtrauen der Obrigkeit erweckt. Schließlich war er unter die Poeten gegangen, um an zwei dialectisch gerichteten Judengeschichten, „Dichter und Kaufmann“ und „Spinoza“, seine schöpferische Begabung zu erproben. Aber seine Erfolge standen noch aus; die Rückkehr in sein Heimathsdorf, zu den Gestalten, unter welchen er als Knabe gewandelt, sollte sie ihm bringen; dort lagen die Wurzeln seiner Kraft.
Und als nun die Bauern aus Nordstetten in das deutsche Schriftthum eintraten, da kam ihnen ein gewaltiges Interesse, eine fast überlaute Sympathie entgegen; Ferdinand Freiligrath jubelte dem neuen Bauernpoeten zu:
„Aus Deines Schwarzwald’s tannendunkeln Wiesen
Mit seinen Kindern kommst Du froh geschritten
Und setzest ein das Tuchwamms und die Flechte
In ihre alten dichterischen Rechte!
Wie mich’s gepackt hat recht in tiefer Seele;
Wie mir das Herz bei diesem Blatt geschlagen
Und wie mir jenes zugeschnürt die Kehle;
Wie ich bei dem die Lippen hab’ gebissen
Das Alles aber ist Dir nur gelungen,
Weil Du Dein Werk am Leben ließest reifen;
Was aus dem Leben frisch hervorgesprungen,
Wird wie das Leben selber auch ergreifen,
Sturmschritts erobern warme Menschenherzen.“
Wodurch war diese Begeisterung zu erklären? Hatte es keine Dorfgeschichten gegeben vor denen des Schwarzwälder Poeten? War er der Erste, welcher Aufschluß gab über Leben und Denken des deutschen Bauers? O nein, Pestalozzi, Immermann, Jeremias Gotthelf hatten vor ihm ihre Muse in’s Dorf geführt, aber ihnen war es nicht darum zu thun gewesen, den Gegensatz zwischen Stadt und Land künstlerisch zu deuten, ihn mittelst der Dichtung zu überbrücken; Immermann’s westfälischer, Jeremias Gotthelf’s schweizerischer Bauer zeigten nicht das, was an ihnen verbindend mit der übrigen Welt sein mochte, sondern nur das Trennende. Und darauf liegt der Nachdruck. War diese Welt des Dorfes draußen eine Welt für sich, ohne Zusammenhang mit der übrigen Welt, so konnte man immerhin ein psychologisches oder artistisches Interesse an ihr nehmen, aber eine lebendige Sympathie blieb ausgeschlossen. Der Uli liebte sein Vreneli, und weiter nicht, als Beider Auge reichte, erstreckte sich ihre Welt. Konnte es aber also bleiben? Stand eine Mauer zwischen Dorf und Stadt, zwischen Bauer und Bürger? Berthold Auerbach zeigte, daß man diese Mauer niederwerfen könne und niederwerfen müsse, damit der Cultur und Bildung freier Raum geschaffen werde, und er war dazu vor Anderen befähigt, weil er als Jude ein halber Städter, als Dorfkind ein halber Bauer war. In ihm selbst hatten Dorf und Stadt sich gleichsam vermischt, und auch an seinem äußeren Menschen trat dieses Doppelleben deutlich zu Tage, in der robusten, kurzen Gestalt, dem rauhen Organ der Bauer, in der Behendigkeit der Bewegung, dem Bilderschmuck der Rede, dem Kopfe mit der Denkerstirn der Städter.
Nun erst ward die Frage aufgeworfen, wie Dorf und Stadt sich zu einander verhielten, während sie bisher nur immer neben einander gedacht und geschildert worden waren; nun erst kam der Maler Reinhard in das Dorf, um sich mit des Wadeleswirths klugem Töchterlein, dem Lorle, zu vermählen; nun galt es, zu schauen, welche Früchte sich ergäben, wenn der Städter in das Dorf, der Bauer in die Stadt verpflanzt würde.
Und das war in doppeltem Sinne eine culturhistorische That.
Das deutsche Volk stand grollend, mißvergnügt, feindselig dem Bundestage wie den Regierungen gegenüber. Man hatte ihm viel versprochen und wenig gehalten. Doch wie, wenn es bestritten ward, daß diese Burschenschafter, diese „Jungdeutschen“ und Hegelianer ein Recht hätten, im Namen des deutschen Volkes zu reden? War denn der deutsche Bauer nicht auch ein Theil der Nation, und schwärmte er etwa ebenfalls für den Rechts- und Verfassungsstaat, für Parlament und Tribüne? Um dies zu erproben, mußte der Städter in’s Dorf hinaus, der Künstler Reinhard zum Lorle, der Kaufmann zum Diethelm von Buchenberg, ja mehr noch, das ganze städtische Gedankenleben mußte sich hinaus verpflanzen, damit sich zeige, ob der Bauer sich ihm anzupassen vermöge, ob er es ablehne oder es in sich aufzunehmen bereit sei.
So wird von nun an in den Thälern des Schwarzwaldes von Gewissensfreiheit, von Zellenhaft und Schwurgericht, von Untheilbarkeit des bäuerlichen Besitzes gesprochen, und es ist nicht etwa bloßer Klang überkommener Worte, sondern das Schicksal selber nimmt davon andere Formen an, traurig wie bei dem armen Jacob, erschütternd wie im „Furchenbauer“, erquickend wie an Ivo dem Hajrle.
Aber darin, daß Berthold Auerbach in dem Bereiche der Dichtung dem nationalen Culturleben eine neue Welt erschloß, liegt nicht ausschließlich das Geheimniß des ungeheuren Erfolges und des bleibenden Werthes der Schwarzwälder Dorfgeschichten. Einen Antheil hat daran auch die demokratische Tendenz, welche sich aristokratischer Anmaßung siegreich entgegensetzte.
Für die Gesellschaftsschicht, der sie selbst angehörten, hatten die Gräfin Ida Hahn-Hahn, der Fürst Pückler-Muskau, der Freiherr Alexander von Ungern-Sternberg die Literatur als Monopol in Anspruch genommen; mit geistreichen Schrullen, verrenkten Paradoxen und unnatürlich geschraubten Erfindungen wähnten sie die Aufgabe der Dichtung erschöpfen zu können, die Hahn-Hahn in Romanen, Fürst Pückler in Reisebeschreibungen, Freiherr von Sternberg in Novellen. Diesem vornehmen Kauderwelsch des sogenannten Salonromans trat das ungeschminkte Schwarzwälder Deutsch Berthold Auerbach’s gegenüber, der aristokratischen Losung der Gräfin Faustine setzte sich die natürliche Anschauungsweise des Lorle entgegen.
Die Hoffnung freilich, daß der deutsche Bauer ohne Bedenken dem deutschen Städter in dem politischen Kampfe sich anschließen [227] würde, blieb lange getäuscht; er hielt sich vielmehr abseits, verständnißlos, apathisch in dem Augenblicke der Entscheidung, und beschämt mochte sich damals, im Jahre 1848, der Dichter gestehen, daß sein erster Apostelgang in’s Dorf, um den Bauer für die nationalen Aufgaben zu gewinnen, ein fruchtloser gewesen war. Ja, es hatte sich sogar erwiesen, daß der Strahl der Cultur, welchen der Poet in die Abgeschiedenheit seiner bäuerlichen Landsleute hinübergelenkt, deren Gemüther eher verwirrt, als aufgeklärt, eher verdorben, als veredelt hatte. Denn so schlau war kein städtischer Handelsmann, daß ihn der Bauer Diethelm nicht überlistet, so hart kein großstädtischer Philister, daß ihn der Furchenbauer nicht an Herzensverhärtung noch übertroffen hätte.
Später erst, viel später konnte Auerbach auch seine Schwarzwälder Bauern als gesittigt und geadelt durch die Cultur dem deutschen Volke vorführen, sie in ihrer siegreichen Natürlichkeit sogar am Königshofe zu Ehren bringen.
Immerhin bleibt es sein Ruhm, den die Geschichte unseres Schriftthums niemals wird verschweigen oder unterschätzen können, daß er den deutschen Bauer literaturfähig gemacht hat, und wenn in der Folge Bauern sogar activ an dem parlamentarischen Leben sich betheiligten, so war es sein Verdienst, dazu den Weg gebahnt, das Band der Gemeinsamkeit zwischen Stadt und Dorf zuerst gewoben zu haben.
Es ist oft gesagt worden, Auerbach habe seine Bauern reden lassen wie spinozistische Philosophen, und auch seine Abkehr von allem starren dogmatischen Glauben, übertragen auf seine Erzählungen und Gestalten, hat man herb getadelt. Seltsamer Einspruch! Er hätte das Bauernleben nicht erfaßt und poetisch verklärt, wenn er nicht ein Philosoph aus der pantheistischen Schule Spinoza’s gewesen wäre. Wie dies paradox klingt! Und doch ist es sicher, daß er mit vollem Bewußtsein die Bauernsprache durch künstlerische Behandlung erhob, mit dem Bewußtsein, das er aus dem tiefsten Studium der Volkssprache erlangt hatte, wie es ebenfalls sicher ist, daß er nur denen gegenüber ein Jude war, welche durchaus und mit Absicht den Juden in ihm übersehen wollten. Die Freiheit von aller positiven Religion machte Auerbach zum feinsten psychologischen Ergründer der Bauernseele, die Befreiung von der Enge des Dorfhorizontes erhob ihn über sich selbst und über seine Gestalten, sodaß er den letzteren dichterisch gerecht werden konnte.
Man mag einwenden, daß er den Bauer um etliche Linien höher, als es just nöthig war, zu sich emporrückte, daß er der Natur mehr sinnend als schauend nahestand, daß er, um sich über seinem Stoffe zu erhalten, bisweilen Naivetät zu zeigen beflissen war, wo er derselben ermangelte. Aber wie hätte er über den brutalen Dorfrealismus des Jeremias Gotthelf sich erheben können, wenn er dies nicht gethan hätte? Und dann mußte es ihm ja gerade darum zu thun sein, dem Salonroman gegenüber zu beweisen, daß auch im Dorfe draußen Menschen seien, begabt und gelehrig genug, um in die Volksgesammtheit als gleichberechtigt aufgenommen zu werden. Heute, nachdem jeder Zweifel getilgt ist, können wir leicht darüber spötteln, daß Spinoza’s Geist durch die Gassen von Nordstetten wandelt, daß künstliche Sprache von den Lippen der Auerbach’schen Bauern fließt und manierirtes Denken ihr Hirn beherrscht; nachdem er seit vierzig Jahren in der Literatur heimisch geworden, darf unser Bauer freilich ganz in seinem Originalcostüm sich zeigen, ohne befürchten zu müssen, daß ihm die Schwelle gewiesen werde. Aber damals brauchte er einen Einlaßschein; damals vertraute sich eine Gräfin Irma noch nicht dem naiv-resoluten Verstande einer Walpurga, und deshalb gab Auerbach seinen Schwarzwäldern weise Reflexionen, kunstvolle Wendungen mit; deshalb erfand er für sie kokette Reden und merkwürdig gestaltete Worte, wie die Adjectiva „bedenksam“, „marienhaft“ etc.
Die Kunst des plastischen Bildners ist ihm dabei aber nicht abhanden gekommen, und die Gabe des Erzählers noch weniger. Figuren, die er geschaffen, sind auf die Bühne verpflanzt worden, wo sie eine unverwüstliche Lebenskraft bekunden, Aussprüche moralischen und ästhetischen Inhaltes, die er gethan, haben Eingang gefunden in unserem Sprüchwörter- und Citatenschatz.
Nicht auf ein erschöpfendes literarisches Charakterbild ist es mit diesen Zeilen abgesehen, und auch eine psychologische Studie über Auerbach’s dichterische Persönlichkeit ist nicht bezweckt. Ein rastloses Schaffen von fast fünfzig Jahren ist begreiflichermaßen an Mißerfolgen und Irrthümern nicht bar, auch wenn es gleichzeitig durch seltenes Gelingen verschönt und ausgezeichnet gewesen. Die edle Absicht bleibt da und dort hinter dem Können zurück, und es ist erlaubt, zu sagen, daß von diesem Schicksale die Romane „Das Landhaus am Rhein“ und „Waldfried“ betroffen worden sind, daß die heiße Mühe, das Problem der Durchdringung von Stadt und Land immer neu und aus anderen Gesichtspunkten zu stellen, am Ende nicht durchweg vom Erfolge begünstigt war. Was thut’s? Mit größerem Rechte, als die Franzosen von George Sand, darf unser Volk von Berthold Auerbach rühmen, daß er ihm seine Dorfpoesie geschaffen.
Mehr als sonst nach dem Tode eines Dichters ist nach Auerbach’s Hingange seine Freundschaft reclamirt worden. Viele wollten ihn genau gekannt, ihm nahegestanden haben, und in Erinnerungen an ihn schwelgte Mancher, dem Auerbach flüchtig die Hand gedrückt, dessen Lob er mit Genugthuung hingenommen hatte. War er wirklich so eitel, daß er der Freundschaft eines Jeden, der ihm schmeichelte, seine Seele öffnete? Man hätte es fast glauben können, wenn man ihn mit den Leuten verkehren sah. Aber es war dennoch nicht der Fall; im Gegentheil, aus den besten seiner Eigenschaften quoll seine Selbstgefälligkeit und sein Ruhmesbedürfniß: mittheilsam wie ein Kind, hatte er auch eine kindliche Freude daran, seine Worte schön zu setzen, seine Gedanken und Einfälle spruchartig zuzuspitzen; er berauschte sich an dem kunstvollen Klange der eigenen Rede. In gleichem Maße aber sollten auch Andere von dem, was er sprach oder geschrieben hatte, bewegt sein, damit er daran erkenne, ob er nicht umsonst geschaffen und gearbeitet, wo er das Rechte getroffen, wo das Falsche nicht vermieden hatte. Solches Hinhorchen auf das Lob des Andern, solches Dürsten und Hungern nach Beifall und Zustimmung ist nicht, was man gemeinhin Eitelkeit nennt; denn man vermag dabei nicht zu unterscheiden, wieviel die Individualität für sich, wieviel sie für die Gesammtheit, zu der sie gehört, an Lob und Ruhm in Anspruch nimmt. Und ein Dichter von der Bedeutung Auerbach’s hat doch wohl das Recht, zu glauben, daß von dem Ruhme, den er genießt, ein Theil auch auf seine Nation entfalle. Ganz in dem Sinne seiner philosophischen Anschauung ist es, wenn er sagt:
„Ich lieb’, was sein ist,
Wann’s auch nicht mein ist;
Wann mir’s gleich nicht werden kann,
Hab’ ich doch meine Freude dran.“
Aber dazu paßt es auch, daß er die Grenze zwischen sich und seinem Volke nicht zu finden vermag, so oft er Veranlassung hat, sich seiner Erfolge zu freuen, die nicht ihm allein gehören, ja ihm weniger als seinem Volke, das ihn überlebt und seiner Werke sich noch freut, wenn er selbst längst zu Staube geworden.
Uns Jüngeren, die wir von den ehrwürdigen Dichterhäuptern, welche wir von Kindheit an bewundert, eines nach dem andern hinabsinken sehen, bleibt der kurze Trost, Nachreden zu halten und fremde Bedeutung liebevoll zu würdigen. Wir vermögen nur, das Andenken unserer hervorragenden Geister getreulich festzuhalten, damit dasselbe nicht verloren sei, wenn auch unser Scheitel sich neigt.
Unverlöschbar wird in meinem Gedächtnisse die merkwürdige Mississippi-Schwimmfahrt fortleben, welche ich in Gesellschaft des eigenartigen Mannes unternahm, der, eher einem Meergotte des Alterthums als einem Menschen vergleichbar, durch seine abenteuerlichen Wasserreisen den Lesern der „Gartenlaube“ aus früheren Jahrgängen bereits genugsam bekannt ist. Ich spreche vom Capitain Boyton. Da es an dieser Stelle keiner wiederholten Beschreibung der Persönlichkeit, sowie der eigenthümlichen Gummi-Ausrüstung dieser
[228] zweibeinigen Amphibie bedarf, so habe ich hier nur kurz die Gründe darzulegen, welche mich bestimmten, während der von Boyton unternommenen Fahrt auf dem Mississippi mich ihm als Reisegefährte anzuschließen. Es war das einmal der Umstand, daß gerade die hohen landschaftlichen Reize des oberen Mississippithales weit weniger bekannt sind, als die meisten sonstigen amerikanischen Naturschönheiten, zweitens aber durfte ich hoffen, während der langsamen Fortbewegung eingehende Studien über den Fluß, seine Ufer, die umliegenden Städte und ihre bei Boyton’s Landungen voraussichtlich zusammenströmenden Bewohner anstellen zu können. Wiewohl sich meine Erwartungen im vollsten Maße erfüllten und ich Gelegenheit fand, mein Tagebuch und meine Skizzenmappe mit mannigfachster Ausbeute zu bereichern, so muß ich mich hier doch darauf beschränken, aus dem reichen Kranze des Geschauten und Erlebten nur Einiges in zwangloser Schilderung dem Leser vorzuführen; denn unsere abenteuerliche Fahrt auf dem Vater der Ströme erstreckte sich fast über die Dauer eines Monats, und da die Scenen rasch vor unseren Augen wechselten, so wäre es geradezu unmöglich, eine vollständige Schilderung unserer merkwürdigen Schwimmfahrt auf dem kurzen Raum weniger Spalten der „Gartenlaube“ dem Leser zu entrollen.
Nach reiflicher Ueberlegung war ich mit Capitain Boyton übereingekommen, mit der schwierigen Passage des Quellgebietes des Mississippi keine Zeit zu verlieren, sondern die Hauptstadt von Minnesota, St. Paul, als denjenigen Ort, wo der Vater der Ströme auch für größere Fahrzeuge schiffbar zu werden beginnt, zum Ausgangspunkt der Expedition zu wählen, und so geschah es.
Wohl nach Tausenden zählte die schaulustige Menge, welche die Ufer des Stromes und die ihn überspannende Brücke bedeckte, als wir am Morgen des 30. Mai vorigen Jahres unsere abenteuerliche Reise antraten. Gegen 11 Uhr erschien der Fischmensch, gekleidet in die bekannte Gummihülle, sein kleines, Proviant, Mappen und Instrumente bergendes Miniaturboot, „baby mine“, sorgsam auf dem Arme tragend. Langsam schritt er bis an die Brust in den Fluß hinein und legte sich, die Füße voran, auf den Rücken; „baby mine“ schwamm, und sein Doppelruder gebrauchend, befand Boyton sich bald in der Mitte des Stromes. Auch ich hatte unterdessen mein Boot bestiegen, von dessen Stern die deutsche Flagge wehte und in dessen Schlepptau ein Fäßchen köstlichen Gerstensaftes – ein Geschenk meiner St. Pauler Freunde – sich lustig drehte. Noch einmal wurden die näheren Bekannten und die gesammte jauchzende Menge begrüßt; dann schlug Charlie Mangraff, unser schwarzer Diener und Factotum, mit den Rudern die Fluth, und schon [229] trieben wir der Strombiegung entgegen, die binnen Kurzem das gastliche St. Paul unseren Blicken entrückte. Wir waren allein. Breit und gewaltig entrollte sich vor unseren Augen ein imposantes Strombild, umsäumt von unermeßlichen Waldungen und nur unterbrochen von zahllosen größeren und kleineren Inseln, die auch ihrerseits vermöge einer großartigen und buntfarbigen Vegetation zur Hebung des majestätischen Gesammtbildes wesentlich beitrugen. Den Saum dieser Eilande bekleideten Weiden und Baumwollensträucher, gegen deren hellfarbige, lichtgrüne und silbergraue Blätter mächtige Sycomoren, schwarze und rothe Eichenarten, sowie Linden und Maßholder den dunkleren Hintergrund bildeten. Es lag ein wunderbarer Reiz in diesem Alleinsein mit der Natur, die, von Menschenhand noch unberührt, sich hier in ihrer ganzen jungfräulichen Pracht und Feierlichkeit entfaltete; seltsame, märchenhafte Töne stiegen aus der Tiefe des Wassers herauf, bald dem fernen Gurren der Turteltauben im Walde, bald dem klagenden Rufe der Unken vergleichbar.
Stundenlang trieben wir so stromabwärts; nur ein einziger Dampfer kam uns entgegen, durch die tiefen Laute der Signalpfeife uns seinen Gruß entbietend. Am späten Nachmittage erreichten wir die Stadt Hastings, hier von einem mit Menschen gefüllten Excursionsdampfer jubelnd begrüßt. Da jedoch das felsige Stromufer für eine Landung des Capitains wenig geeignet schien, so schwammen wir weiter, dem 35 Meilen von St. Paul entfernten Prescott zu, wo wir bei Einbruch der Dämmerung anlangten, um am anderen Morgen zunächst die von steilen Felsen überragte Ansiedelung Diamond Bluff zu erreichen. Bis hierher schienen die neuesten Zeitungen mit ihren Berichten über Capitain Boyton’s abenteuerliches Unternehmen noch nicht gelangt zu sein; denn als der Gummimann, dicht am Ufer dahinstreichend, einer halbverfallenen Cottage sich näherte, aus deren Fensteröffnung zufällig der Kopf eines alten Niggers herausfuhr, erschrak der grauköpfige Schwarze bei dem unerwarteten Anblick des unheimlichen Gesellen im Wasser so gewaltig, daß er mit dem Schrei: „bless God, bless God, the devil is there!“ („um Gotteswillen, der Teufel ist da!“) entsetzt zurückprallte. Aehnliche komische Scenen wiederholten sich im späteren Verlaufe unserer Reise noch öfter.
Unter ähnlichen Erlebnissen gelangten wir zu dem Eingange des Lake Pepin, der uns mit seinen windgepeitschten Wellen empfing. Der See, ringsum von Felsgebirgen eingefaßt, ist eigentlich mehr eine Erweiterung des Flußbettes, vier bis fünf Meilen breit und fünfundzwanzig Meilen lang. Am rechten, steilabfallenden Ufer kreuzte eine Schaar mächtiger Falken und Adler; aus der Tiefe des Wassers erscholl wieder und jetzt weit stärker jenes seltsame Gurren, welches wir schon Tags zuvor bemerkt hatten, und das nach der Aussage Einiger von Fröschen und Schildkröten, nach Anderen aber von einer gewissen Art von Fischen herrühren soll. Der Abend war wunderbar schön; die Sonne brach durch die im Westen lagernden Wolkenbänke, und der Streifen Himmel, der zwischen diesen und dem Horizonte lag, erschien wie in lauter Gold gebadet.
Unser nächstes Reiseziel am anderen Morgen war der „maiden rock“ (Jungfernfels), eine senkrecht abfallende Felsenmasse von etwa hundertfünfzig Meter Höhe, an die sich eine ähnliche Sage knüpft, wie sie auch in verschiedenen Gegenden Deutschlands (z. B. beim Mägdesprung im Harz) dem Reisenden begegnet. Hier soll es eine schöne Indianerin gewesen sein, die sich durch einen kühnen Sprung in den Abgrund den Verfolgungen eines Häuptlings entzog. Der maiden rock ist wohl der bemerkenswertheste und interessanteste Punkt in diesem Theile des Mississippigebietes.
Schon seit Morgengrauen hatte sich ein heftiger Wind aufgemacht, und als wir um das Vorgebirge von maiden rock bogen, leuchtete mir mehr und mehr die Unmöglichkeit ein, mit meinem schwachen, schwerbeladenen Kahne, der schon bald nach der Abfahrt von St. Paul zu lecken begonnen, den wildbewegten [230] See zu kreuzen. Glücklicher Weise fügte es sich, daß ich von einem uns begegnenden Manne ein dauerhafteres, für unsere Zwecke durchaus geeignetes Boot einhandeln konnte, auf dem wir wohlbehalten über den See gelangten und gegen Mittag in Lake City eintrafen. Auch in diesem Städtchen concentrirte sich alsbald das gesammte Interesse der Einwohnerschaft auf Capitain Boyton, den kühnen Schwimmer. Jung und Alt wetteiferte, unsern Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Die jungen Damen des Ortes schmückten uns mit Blumen, und unser Mittagstisch wollte schier brechen unter der Last der uns dargebotenen vorzüglichen Speisen und Delicatessen.
Nur ein einziger wunder Punkt – und er stellte sich, dank unserem intensiven Durste, bald genug heraus – war schmerzlich zu beklagen. Kaum war nämlich das verhängnißvolle Wort „Bier“ unseren nichts Arges ahnenden Lippen entflohen, als plötzlich Alles scheu vor uns zurückwich. Ja, es war so: über dem Städtchen lag die Temperenzseuche, jene seltsame geistige Epidemie, die sich zum Entsetzen aller Deutschen mit reißender Schnelligkeit in den Vereinigten Staaten verbreitet, die nicht blos Dörfer, Städte und Landschaften, sondern ganze Staaten erfaßt und die, wie allen alkoholartigen Flüssigkeiten, so auch unserem verhältnißmäßig harmlosen deutschen Gerstensafte den Tod geschworen hat. Gleichwohl fand sich auch hier für unsere durstigen Kehlen insgeheim ein modus vivendi, den wir jedoch, in zarter Rücksicht auf die Betheiligten, den Lesern der „Gartenlaube“ nicht verrathen, sondern lieber im verschwiegenen Busen für uns behalten wollen.
Der nächstfolgende Morgen war insofern günstig, als uns der Wind im Rücken stand. Allein je mehr wir in den offenen See gelangten, desto schärfer wurde die Brise, desto unheimlicher die ganze Scenerie; die sich kräuselnden Wellen schlugen höher und höher; weißliche Kämme zeigten sich auf den tiefe und dunkle Thäler bildenden Fluthen, und bald war Alles nur noch ein weißschäumender, wild durch einander tosender Wasserschwall.
Etwa eine Stunde lang vermochten wir, das heißt unser Schwarzer und ich, uns noch in des Capitains Nähe zu halten, endlich aber erlahmten unsere Kräfte, und wir überließen unser Boot den Wogen. Binnen wenigen Minuten war Boyton außer Sicht; immer höhere Wasserberge wälzten sich, vom Sturme gepeitscht, heran, und Sturzwelle auf Sturzwelle überschüttete uns mit ihren Güssen. In dieser Noth sank mein Neger auf die Kniee und begann laut zu beten, zwischendurch mich anflehend, ich solle um Gotteswillen auf das Ufer zuhalten, um dort dem Wogenwirrsal zu entrinnen. Da dies jedoch einmal wegen des kolossalen Anpralles der Wellen an das zunächst liegende Ufer, sodann aber auch wegen der steilen und felsigen Beschaffenheit des Strandes der offenbare Wahnsinn gewesen wäre, so zog ich vor, unbeirrt den bisherigen Cours innezuhalten, um so bald wie möglich den Ausgang des Sees zu erreichen.
Hier war der Kampf und das Toben am ärgsten, Welle wälzte sich über Welle, und die ganze Wassermasse preßte und stürzte sich dem schmalen Ausgange entgegen, dem wir mit reißender Schnelligkeit zutrieben. Fast eine Stunde lang wurde unser Boot wie ein Spielball bald in die Höhe geschleudert, bald wieder in die Tiefe hinabgerissen; Wasserbäche von oben, von unten, von den Seiten flutheten über uns hinweg, schließlich aber war Alles glücklich vorüber, und tiefaufathmend schwammen wir wieder auf dem ruhigeren Fahrwasser des Stromes.
Unser neues Boot hatte die Feuer- oder vielmehr die Wasserprobe glänzend bestanden.
Nachdem wir mehrere Stunden gewartet, langte endlich auch Boyton an, und nun setzten wir nach kurzer Rast über die unterhalb Wabasha und Reads Landing gelegenen Stromschnellen. Erst gegen Abend, als wir uns Fountain City näherten, klärte sich der Himmel allmählich wieder auf; die malerisch schönen Stirnen senkrecht abfallender Felsen erglühten in den Strahlen der untergehenden Sonne und verliehen der Landschaft einen eigenthümlich anheimelnden, an die vaterländischen Ufer des Rheines oder der Mosel erinnernden Charakter. Und wirklich waren es auch vorwiegend deutsche Laute, die hier unser Ohr umtönten; ist doch die ganze freundliche Ansiedelung von Fountain City fast ausschließlich von deutschen Landsleuten bewohnt, mit denen wir den Rest des Abends gemütlich verplauderten.
Nachdem wir auf die ausgestandenen Strapazen prächtig geruht, sah uns das nächste Morgengrauen schon wieder unterwegs. Winona, nach irgend einer schönen Indianerjungfrau benannt, mit seiner mächtigen Eisenbahnbrücke kam bald in Sicht, um ebenso bald wieder hinter uns zu verschwinden. Interessant waren für mich mehrere uns begegnende Canoes mit Winnebago-Indianern. Die Art und Weise, wie sie ihre leichten Fahrzeuge fortbewegten, war mir neu. Die ganze Gesellschaft knieete nämlich in den Booten, tauchte die Ruder einfach vor sich in’s Wasser und zog sie wieder zu sich heran. Im Bug des einen Canoes saß der „Chief“ in rothem Hemde, mit Perlen und Federn geschmückt. Uebrigens sah die ganze Bande ziemlich abgerissen aus und sperrte vor lauter Verwunderung ob unseres vorbeischwimmenden Fischmenschen die Mäuler bis an beide Ohren auf.
Im weiteren Verlaufe des Morgens passirten wir Trempealeau, einen Ort, der sich, anmuthig wie ein Moseldörfchen, gegen einen braungoldigen Sandsteinberg lehnte.
Der nun folgende Abschnitt des Stromes erwies sich angefüllt von den berüchtigten „snags“, das heißt, starken schwimmenden Baumstämmen, deren schwere Wurzeln sich im Moraste des Strombettes festgesetzt und verfangen haben, während der Stamm selbst, mit seinen nackten Aesten einer vielzackigen Lanze gleich, der Stromrichtung folgt und wie eine Palissade im Wasser steht. Während bei niedrigem Wasserstande das düstere Haupt des snag sich nickend aus den Fluthen hebt, verräth bei Hochwasser nichts als ein kaum bemerklicher Wirbel das Dasein dieses Todfeindes aller Dampfer, welche demselben besonders häufig bei der Fahrt zu Berge zum Opfer fallen. Tausende von Schiffen haben sich schon an diesen snags den Leib eingerannt und sind spurlos gesunken, weshalb die Beseitigung dieser submarinen Schiffszerstörer bei der Masse von Treibholz, welches der Mississippi mit sich führt, eine ebenso kostspielige wie vorläufig noch immer ungelöste Aufgabe der amerikanischen Regierung bildet.
In den nächstfolgenden Tagen führte die Reise ohne besonders bemerkenswerthe Zwischenfälle über la Crosse, Brownsville, das prachtvoll gelegene, dem Entdecker des Mississippi zu Ehren benannte De Soto und Lansing (woselbst der deutsche Musikverein uns in den Abendstunden mit einem solennen Ständchen überraschte) nach Mac Gregor, einem zwar hübsch gelegenen, aber in Folge ungünstiger Conjuncturen dem Verfall entgegengehenden Orte, bei dem die schier endlose Pontonbrücke der Chicago-Milwaukee-St. Paul-Eisenbahn den Strom überschreitet.
Ein von Mac Gregor aus unternommener Ausflug nach den zwei bis drei Meilen unterhalb des Städtchens gelegenen „Pictured Rocks“ gewährte mir einen der großartigsten Eindrücke der ganzen Reise. Auf der Spitze der Felsen angelangt, erblickte ich fünfhundert Fuß tief unter mir den Mississippi, der, viele Hunderte von waldgrünen Inseln in seine Stromarme schließend, in stiller Majestät dahinzog; ein Riesenpanorama, umsäumt von abgeplatteten Felsenhöhen, deren unabsehbare, noch von keiner Menschenhand berührte Urwälder in voller, ursprünglicher Schönheit prangten. Erst hier vermochte ich den König der Ströme in seiner ganzen Pracht, in seiner Unermeßlichkeit zu erfassen. Dreißig, vierzig Meilen weit schweifte der trunkene Blick über dieses fließende Meer, über diese ungezählten, herrlichen Eilande dahin. Im Mittelpunkte des Bildes schimmerten die verstreuten Häusergruppen von Prairie de Chien; dort drüben lugte das äußerste Ende von Mac Gregor hinter einem Berghange hervor, während zur Rechten der aus blauer Ferne kommende Wisconsin River seine silbernen Fluthen in gewundenem Laufe längs dichtbewaldeter Hügelketten dem Vater der Ströme entgegenführte – ein Gesammtbild, das auch nur annähernd wiederzugeben dem Griffel keines Sterblichen beschieden ist.
Auf unserer Weiterfahrt berührten wir unter andern Orten auch Clinton, wo die Scenerie des Flusses insofern eine wesentliche Veränderung erfährt, als die die Ufer begrenzenden, steil abfallenden Felsmassen jetzt mehr und mehr verschwinden und leicht hingleitende Höhenzüge an ihre Stelle treten.
Am 13. Juni, Nachmittags, erreichten wir Burlington, vom deutschen Ruderclub der Stadt festlich begrüßt. Während der Fahrt dahin bemerkten wir viele Hunderte von Schildkröten, die sich auf den aus dem Wasser ragenden Baumstämmen sonnten, beim geringsten Geräusch unserer Annäherung aber sofort in der Tiefe verschwanden. Weniger eilig hatten es die grünlich-braunen Wasserschlangen, die, um dürre Zweige geringelt, nur dann den scheußlichen, dreieckigen Kopf emporhoben, wenn ein Frosch oder [231] ein graues Eichhörnchen ihre Ruhe störte. Reich vertreten war auch die Vogelwelt. In den Lüften schwebten weißköpfige Adler, Habichte und Falken von mächtiger Spannweite, während im seichten Wasser die Reiher auf Beute lauerten. Aus der Tiefe des Urwaldes aber klang das einförmige Hacken der Spechte und das Gurren der wilden Tauben, von den Wassertümpeln her das Geschnatter der vielartigen Enten und Gänse zu uns herüber.
Numerisch am häufigsten vertreten von allem Gethier war aber unstreitig die Classe der Netzflügler, die von ihrer Existenz auf die unverschämteste Weise Kunde zu geben pflegten. Die Muskitos vereinigen die Findigkeit deutscher Postbeamten mit der Rücksichtslosigkeit der russischen Nihilisten. Die kleinste Blöße des menschlichen Körpers wird entdeckt; an die Stelle der im Kampfe gefallenen rücken sofort noch zahlreichere Ersatzmannschaften nach; das unglückliche Opfer, des ewigen Sichselbstohrfeigens müde, hält zuletzt verzweifelnd still, und das satanische Insect bleibt Sieger.
Von Burlington aus gelangten wir über Dallas und Madison, in deren Nähe der etwa drei Meilen breite Strom zahlreiche Sandbänke und niedrige Inseln bildet, nach der ehemaligen Mormonenstadt Nauvoo, die im Jahre 1840 unter der Führung des Propheten Joë Smith gegründet, acht Jahre später aber in Folge der entstandenen Streitigkeiten mit der Regierung nach vorheriger Niederbrennung des prachtvollen Tempels von den „Heiligen der letzten Tage“ wieder aufgegeben und mit Utah, der bekannten späteren Niederlassung am Salzsee, vertauscht ward. Die berüchtigten Stromschnellen von Keokuk machten uns, dank dem hohen Wasserstande, nichts zu schaffen. Wir kamen glücklich hinüber und passirten demnächst Alexandria, einen unbedeutenden Ort, in dessen Umgebung die gesammte Städtegeographie des classischen Alterthums sich ein modernes Stelldichein gegeben zu haben scheint. Unweit von Alexandria liegen nämlich Arbela und Gaugamela, etwas entfernter Karthago und ähnliche archäologisch interessante Ortschaften. Charakteristisch für diese an’s Komische streifende Vorliebe der Amerikaner für historische Reminiscenzen ist der Lebenslauf eines bekannten amerikanischen Politikers. Der Mann war nämlich von einer aus Ninive stammenden Mutter in Karthago geboren, genoß in Rom seine Erziehung, lebte dann in Athen, heirathete in Syrakus eine Jungfrau aus Sparta, starb in Troja und liegt in Memphis begraben. Gott Pluto hab’ ihn selig!
In das Reich des Pluto wären wir übrigens auf unserer Weiterreise nahezu selbst hinabgestiegen. Das war jenseits des Ortes Hannibal. Wir waren nämlich, ohne es zu bemerken, in einen Seitenarm des Mississippi gerathen, der hier einen etwa drei Meter hohen Wasserfall bildete. Fast wären wir von dem wilden Strudel begraben worden, doch kamen wir auch diesmal, wenn schon in jähem Sturze und vollständig durchnäßt, hinüber und konnten uns von dem ausgestandenen Schrecken im Städtchen Louisiana wieder erholen.
Je mehr wir jetzt dem Süden zueilten, um so üppiger, wilder und großartiger gestaltete sich die landschaftliche Scenerie. An den Uferborden reckten wahre Baumriesen ihre zackigen Aeste aus dem undurchdringlichen Gestrüppe von Blätterwerk und Schlingpflanzen hervor. Wilder Wein schwang sich in erstaunlicher Fülle an den Stämmen hinauf und sandte von den Gipfeln aus seine Ranken in weitem Bogen wieder zum Erdboden hernieder. Hier und da ragten wie Wartthürme die kahlen, absterbenden Greise des Waldes über das unendliche Meer buntfarbiger Baumwipfel empor, ein Ausguck für die Schaaren der Habichte, Bussarde, Reiher und Aasgeier.
Wunderbar waren die Abende. Um diese Zeit flammte das ganze Firmament in kupferfarbener Gluth, und wie ein weiter See voll glühenden Metalles erschien die ohne Wellenschlag, ohne jede sichtbare Bewegung dem Süden zutreibende Wasserwüste, eingezäunt nur durch zwei lange schwarze Uferlinien, deren Ende hinter den tiefdunklen Silhouetten großer Inseln verschwand. Fliegend schnell kam die Dämmerung. Während im Westen noch gluthrothe Wolken zogen, lagerte im Osten schon bleischweres Dunkel, aus dem nur hin und wieder ein Stern schüchtern hervorleuchtete. Und dann kam die Nacht, und aus den schwarzen, gespenstischen Massen des Ufers erscholl der Eule dämonisches Lachen und des Ochsenfrosches seltsames Blasen, während allüberall roth, grün, gelb und blau phosphorescirende Funken aufleuchteten, um sofort wieder zu verschwinden.
Zwanzig Reisetage lagen bereits hinter uns, und wir zogen, von krachenden Gewittern halb belästigt, halb erquickt (denn die Sonnengluth Tags über wurde allmählich immer drückender), an der Einmündung des Illinois und an jenen seltsamen Kaltsteinformationen vorüber, die sich von hier bis nach Alton das ganze linke Stromufer entlang erstrecken. Einzelne dieser Felsgebilde sollen in früherer Zeit mit indianischen Sculpturen und Malereien geziert gewesen sein, für deren Zerstörung man die Franzosen verantwortlich macht. Nachdem wir in Alton übernachtet, fand uns die Mittagszeit des 19. Juni dem fraglos interessantesten Punkte der ganzen Reise gegenüber: der etwa achtzehn Meilen oberhalb St. Louis sich vollziehenden Mündung des Missouri, oder, richtiger gesagt, der Mündung des Mississippi in jenen.
Welch eine Mesalliance! Der stolze, grüngoldige Flußgott verbindet sich mit einer abscheulich schmutzigen Plebejerin. Im Grunde genommen freilich verbindet er sich nicht mit ihr, er wird heimtückisch von ihr überfallen. Wie ein Riese sträubt er sich gegen die Umarmung seiner mächtigen Gegnerin; wild brausend quirlen die verschiedenfarbigen Fluthen durch einander, hier wirbelt noch eine krystallklare Mississippiwelle empor, als strebe sie, Licht und Freiheit wieder zu gewinnen, aber schon im nächsten Augenblicke wird sie verschlungen von jener gelblich dicken, undurchsichtigen und ekelerregenden Lehmfluth des Missouri, welche der Amerikaner mit dem treffenden Namen „big muddy“ („dicker Schlamm“) getauft hat. So wird nach kurzem, aber heftigem Kampfe der edle Vater der Ströme schmählich überwunden.
Die Bezeichnung der nunmehr vereinten Wassermassen beider Ströme mit dem Gesammtnamen „Mississippi“ ist unstreitig ein geographischer Fehler. Der Charakter des schönen Stromes, der bis hierher so genannt wurde, ist wie mit einem Schlage verschwunden; er ist untergegangen in den Wellen des Missouri, der von nun an der ungeheuern, nach Süden strömenden Wasserfläche wie auch den Uferlandschaften sein eigenartiges Gepräge verleiht. Also: der Mississippi mündet in den Missouri. Nicht allein, daß der Lauf des letzteren um einige hundert Meilen länger ist, sondern er führt auch eine bei weitem größere Wassermasse herzu und ist demnach als der Hauptquellarm des ganzen Stromgebietes zu betrachten.
Wir schwimmen nicht mehr auf der Welle des gemessenen, herrlichen, stolzen Mississippi; wir schießen dahin auf einer wüthenden, kochenden Strömung, auf trüben und reißenden Fluthen, angefüllt mit unaufhörlich wechselnden Schlammbänken, umgrenzt von zerrissenen Ufern, deren unternagte und zerwühlte Erdmassen fortwährend dumpfen Falles in den wild wirbelnden Strom hinabstürzen.
Ohne Zweifel hat die hier gerügte geographische Unrichtigkeit ihren Ursprung in dem Umstande, daß man den Missouri weit später entdeckte, als den oberen, mittleren und unteren Lauf des Mississippi. Wäre das ungeheure Stromsystem des Missouri früher bekannt geworden, man hätte sicherlich letzteren als Hauptfluß betrachtet und dem gemäß seinem Namen die Ehre des Vortritts gegönnt.
Von der mächtigen Strömung der vereinten Wasserläufe des Missouri und des Mississippi getragen, eilten wir nun in beschleunigtem Tempo der Metropole der mittleren Staaten der Union, St. Louis, entgegen. Unabsehbare Häuserlinien, von zahlreichen Thürmen überragt, tauchten endlich am Horizonte auf und nahmen immer deutlichere Umrisse an, und auch die mehr und mehr sich häufenden riesengroßen Ankündigungen von allerhand wohlthätigen Patentmedicinen und sonstigen Quacksalbereien verkündeten nach amerikanischer Weise die große Stadt.
Je mehr wir uns St. Louis näherten, desto rascher wuchs die Flotille von Fahrzeugen aller Art an, die Capitain Boyton und unserem im Schmucke aller denkbaren Flaggen prangenden Boote das Geleit gaben, desto dichter drängte sich die Menge, welche die Ufer belebte. Und als wir, eingeholt von zwei Dampfern, der gewaltigen Steinbrücke zusteuerten, welche, ein Wunderwerk modernen Geistes, hier in drei mächtigen Bogen den Strom überspannt – hilf Himmel, welche Menschenmassen! Schwarz überlagert waren Uferböschung, Brücke, Werfte, Dampfer und Häuser, und überall ein Hüteschwenken und Hurrahrufen, als sollte ein neuer Messias bewillkommnet werden. Unterdessen hatten wir unter fortwährenden Kanonenschlägen und Raketengeprassel die Riesenbrücke passirt und landeten, von der jauchzenden Menge fast erdrückt, am Fuße der Poplar-Straße, von wo wir uns nach dem Lindell-Hôtel begaben.
[232]
[233] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [234] Wir hatten beschlossen, in St. Louis zwei Tage der Erholung zu widmen, und ich benutzte diese Frist, um mich kopfüber in das Treiben der amerikanischen Großstadt von 350,000 Einwohnern zu stürzen. Gleichwohl werden die Leser der „Gartenlaube“ an dieser Stelle ein näheres Eingehen auf die Hauptstadt des Staates Missouri und ihre Sehenswürdigkeiten nicht erwarten, da dies den mir zugemessenen Raum bedenklich überschreiten würde. Der wichtigen und gewaltig emporstrebenden Stadt wird ihre besondere Würdigung in der „Gartenlaube“ nicht vorenthalten bleiben.
Am Mittwoch, den 22. Juni, Nachmittags, erfolgte unsere Weiterreise unter ähnlicher enthusiastischer Theilnahme des Publicums wie bei unserer Ankunft. Wir passirten am andern Morgen mehrere kleine Ortschaften, die sich schon durch die Namen „Wittenberg“ und „Hamburg“ als deutsche Niederlassungen zu erkennen gaben, und wiederum einen Tag spätter, am 24. Juni, früh elf Uhr, waren wir nach einer Fahrt von fünfundzwanzig Tagen und fünf Nächten am Ziele unserer Reise, der Mündung des Ohio, wohlbehalten angelangt. Von diesem Punkte aus hatte Boyton schon früher, im Jahre 1879, den unteren Lauf des Mississippi bis zum mexicanischen Meerbusen genau in derselben Weise bereist, wie diesmal den oberen Theil des Stromes in meiner Gesellschaft. Ich drückte dem wackern Capitain herzlich die Hand und gratulirte ihm zu der glücklichen Beendigung seines strapaziösen Unternehmens sowie der dabei bewiesenen außerordentlichen Ausdauer und Energie.
Noch waren die Spuren von Regen, Sturm, Wellen und Sonnengluth im Antlitze des Wackern deutlich zu lesen; hatte er doch in den letzten einundvierzig Stunden zweihundert Meilen zurückgelegt, ohne das Wasser nur einen Augenblick zu verlassen; nichtsdestoweniger klangen unsere Gläser an einander, und in echtem deutschen Gerstensafte tranken wir uns zu auf ein lebenslängliches Gedenken unserer gemeinschaftlichen Mississippifahrt.
Wie nach einer bekannten Aussage die Sprache nur dazu dienen soll, die Gedanken des Sprechenden zu verheimlichen, so suchte man auch schon sehr früh nach Mitteln, Geschriebenes vor Unbefugten zu verbergen. So erzählt Plutarch im „Leben des Lysander“: „Wenn ein griechischer Staat einen Feldherrn aussandte, so ließ er zwei cylindrische hölzerne Stäbe mit solcher Genauigkeit anfertigen, daß sie in Länge und Dicke vollständig gleich waren; einen von diesen behielt man daheim, den andern gab man dem Feldherrn. Hatte man nun irgend ein Geheimniß diesem mitzutheilen, so nahm man einen langen schmalen Streifen Pergament, rollte ihn spiralförmig derartig an den Stab, daß die Ränder des Streifens genau an einander paßten, und schrieb die geheime Mittheilung quer darüber. Sodann wurde der Streifen abgenommen, aufgerollt und dem Feldherrn überschickt. Da nur er allein den passenden Stab besaß, so waren für jeden Anderen die Zeichen unverständlich.“
Diese Art von Geheimschrift nannten die Griechen Scytale.
Aeneas Taktikus, der zur Zeit des Aristoteles lebte, theilt uns in einem seiner Commentare eine andere damals übliche Art von Geheimschrift mit, bei der die Vocale durch Punkte bezeichnet wurden; das Wort „Dionysios“ z. B. sollte geschrieben werden: .
Freilich war dies eine sehr naive Verheimlichungsmethode, deren Geheimniß leicht gelüftet werden konnte. Gab es doch im Alterthum Völker, wie z. B. die Hebräer, welche stets nur die Consonanten niederschrieben und es dem Leser überließen, die fehlenden Vocale aus dem Sinn der einzelnen Worte zu errathen.
Wie nun den Völkern des Alterthums verschiedene Arten geheimer Mittheilungen bekannt waren, so soll man sich auch am Hofe Karl’s des Großen und Alfred’s von England öfter der Kryptographie, d. h. der Geheimschrift, bedient haben, und im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderte gab es viele Gelehrte, die hiermit sich eingehend beschäftigten. Mit unermüdlichem Scharfsinne wurden schon in der damaligen Zeit neue Methoden erfunden, mit ebenso großem etwa aufgefangene diplomatische Schriftstücke entziffert.
Bis in die jüngste Zeit hinein wurde die Kunst des Chiffrirens fast ausschließlich von Diplomaten, den Generalstäben der Armeen, sowie revolutionären Verschwörern oder auch gemeinen Verbrechern ausgeübt. Da es aber gegenwärtig bei der Verwendung der offenen Postkarten und der Telegramme Jedem gestattet ist, seine kleinen oder großen Geheimnisse in Räthselzeichen abzufassen, und auch von Handelshäusern, Banquiers etc. die Geheimschrift vielfach zu discreten Mittheilungen benutzt wird, so dürfte eine Erklärung derselben auf allgemeineres Interesse Anspruch erheben.
Für den telegraphischen Verkehr sind diejenigen Geheimschriften am meisten geeignet, die entweder nur aus Buchstaben oder nur aus Zahlen bestehen. Es werden zwar auch aus Zahlen und Buchstaben gemischte Depeschen von den Telegraphenämtern angenommen, doch sind die Gebühren für derartige erheblich größer; denn in Folge der internationalen Bestimmungen werden Zahlen- oder Buchstaben-Telegramme für so viele Wörter gezählt, wie sie Gruppen aus je fünf Buchstaben oder Zahlen bilden. Deshalb ist es auch praktisch, sie sogleich in solchen Gruppen niederzuschreiben, und sei hier nur noch bemerkt, daß für genaue Collationirung der Geheimschriften regelmäßig die Hälfte der Gebühren für das ganze Telegramm bei der Bezahlung hinzugerechnet wird.
Sehen wir uns nunmehr, nach diesen einleitenden Bemerkungen, einige der so überaus mannigfachen Methoden der Geheimschreibekunst genauer an!
Die einfache Buchstaben-Geheimschrift besteht darin, daß die Zeichen unserer gewöhnlichen Buchstaben eine andere, als die sonst ihnen zukommende Bedeutung erhalten. Diese Methode ist überaus einfach; sie wurde schon im Alterthum und im Mittelalter häufig angewendet und ist auch jetzt noch vielfach in Gebrauch; ohne alle Kenntniß der Kryptographie vermag jeder sich einen Schlüssel zu dieser Art von Geheimschrift zu bilden.
Es wird uns erzählt, daß jüdische Gelehrte, um gewisse Mittheilungen nur Auserwählten zukommen zu lassen, den Kunstgriff gebrauchten, die einzelnen Buchstaben zu versetzen. Auch Cäsar und der Kaiser Augustus bedienten sich dieser Art von geheimer Correspondenz; Cäsar setzte, wie wir bei Suetonius lesen, statt des a ein d, statt des b ein e, statt des c ein f etc., Augustus aber für a ein b, für b ein c, für c ein d etc. Ob jedoch durch diese einfache Art der Buchstabenversetzung jetzt noch das Geheimniß gehörig gewahrt werden mag, steht dahin.
Wenn wir mit noch größerer Willkür, als jene beiden Römer, die Buchstaben derartig ändern wollten, daß
a b c d e f g h i j k l m n o p q r s t u v w x y z bezeichnet würde durch:
n h j e r m b y k v q a s i x z f t o c w l g u p d, so würde z. B. die geheime Depesche: „Die Armee wird Frontveränderung morgen vornehmen“, folgendermaßen lauten: Ekr Ntsrr gkte Mtxiclrtniertwib sxtbri lxtirysri. Da hier aber die großen Buchstaben leicht etwaige Eigennamen und Hauptwörter verrathen würden, so bedient man sich nur kleiner und zwar lateinischer Buchstaben und schreibt entweder alles als ein Wort, oder verbindet immer je fünf Buchstaben, ganz abgesehen davon, ob sie zu einem Worte oder zu mehreren gehören; man würde also in diesem Falle schreiben: ekrnt srrgk temtx iclrt niert wibsx tbril xtiry sri.
Das Dechiffriren solcher Geheimschrift geschieht dadurch am leichtesten, daß man die Chiffres, das heißt die geheimen Zeichen, nach dem Alphabet schreibt und darunter die gewöhnliche Bedeutung, also:
das a b c d etc. der Geheimschrift bedeutet
ein l g t z etc. nach dem gewöhnlichen Alphabet. Setzt man dann Buchstabe für Buchstabe die gewöhnlichen Zeichen, so lüftet sich der Schleier des Geheimnisses.
Die im elften Jahrhundert beliebte Geheimschrift, deren sich auch der Cleriker Reginpold bediente, statt der Vocale immer den im Alphabet folgenden Consonanten zu setzen, ist nur eine Abart obiger einfacher Methode der Buchstabenversetzung. Reginpold würde statt „Gartenlaube“ geschrieben haben: Gbrtfnlbvbf.
Zu den einfachen Buchstabenchiffren gehört auch die geheime Vocalschrift. Man theilt ein großes Quadrat durch fünf senkrechte
[235] und fünf wagerechte Linien in sechsunddreißig kleine Quadrate, schreibt in die ersten fünf oberen Quadrate die fünf Vocale a e i o u und in die von links an gerechneten ersten fünf senkrechten Quadrate dieselben Vocale in umgekehrter Reihenfolge. Die noch leeren fünfundzwanzig Quadrate werden dann ohne jegliche Reihenfolge durch die fünfundzwanzig Buchstaben unseres Alphabets ausgefüllt.
* | a | e | i | o | u |
u | c | h | u | b | o |
o | n | v | i | f | r |
i | t | a | m | x | g |
e | k | w | p | d | z |
a | e | s | q | y | l |
Soll nun in Geheimschrift geschrieben werden: „Der heimliche Gast“, so suche man den ersten Buchstaben der Klarschrift, das heißt der ursprünglichen Schrift, die in die geheime umgeändert werden soll, also den Buchstaben D in den fünfundzwanzig kleinen, durch die feinen Linien begrenzten Quadrate auf (in dieser Tabelle in der vorletzten Reihe der vorletzte Buchstabe) und setze statt desselben als Chiffres die zwei Vocale, welche in der nämlichen Horizontal- und Verticalreihe ganz nach links und nach oben hinter den dicken Strichen stehen, hier also eo. Der zweite Buchstabe der Klarschrift, das e, wird auf dieselbe Art gefunden und chiffrirt durch aa. Ebenso verfährt man mit den übrigen Buchstaben, sodaß also die Geheimschrift von „Der heimliche Gast“ lauten würde:
Um nun diesen bestimmten Charakter der Geheimschrift nicht sogleich zu verrathen, kann man beliebige Consonanten dazwischen setzen oder auch Wörter bilden, die mehr oder weniger Sinn und Zusammenhang haben, z. B. „Der Vocal hat noch um uns“ etc., oder: „Geograph anno Unruh der Anna oft ihr Irrlicht aus“ etc.
Bei dem Dechiffriren streicht der Empfänger zuerst alle Consonanten fort, schreibt dann je zwei und zwei Vocale zusammen und findet auf der Schlüsseltabelle, indem er jedesmal vom ersten Vocal nach rechts, vom zweiten nach unten geht, an dem Kreuzungspunkte die einzelnen Buchstaben der Klarschrift.
Eine Geheimschrift, die sehr schwer zu dechiffriren ist, ist die Kartenschrift. Um sie herzustellen, nimmt man ein Spiel Karten mit weißem Rande, legt die Karten nach einer vorher vereinbarten Ordnung, bringt sie dann in die Kartenpresse und schreibt die Depesche auf den Rand aller Karten. Werden diese dann gehörig gemischt, so kann der Empfänger nur dann die Depesche lesen, wenn er zuvor alle Karten in die nur ihm und dem Absender bekannte Reihenfolge gelegt hat. Soll der Rand der Karten durchaus undeutlich erscheinen, so bedient man sich der sogenannten sympathetischen Tinte, einer Flüssigkeit, mit der man schreiben kann, ohne daß die Buchstaben sichtbar hervortreten. Erst ein bestimmtes, für die verschiedenen Flüssigkeiten verschiedenes Mittel zaubert die Schrift hervor. Auch die Anwendung solcher Tinten für geheime Mittheilungen reicht in das Alterthum hinauf. Der römische Dichter Ovid räth schon, Briefe an die Geliebte mit Milch zu schreiben. Die unsichtbare Schrift tritt erst durch Aufstreuen von Kohlenstaub oder Ruß hervor, und die Fettkügelchen der Milch lassen den Kohlenstaub an den beschriebenen Stellen gerade so haften, wie wenn mit einem Streichhölzchen und Zuckerwasser auf dem Handrücken geschrieben und dann, nachdem die Schrift getrocknet, jene Stelle mit verkohltem Papier gerieben wird.
Der Major Kasiski theilt in seinem Schriftchen über die Dechiffrirkunst die Recepte zu sechs verschiedenen sympathetischen Tinten mit und beschreibt die Anfertigung eines magischen Streusandes. Auch Stöckhardt erwähnt in seiner „Schule der Chemie“, daß, wenn man mit einer schwachen Lösung von Kobaltchlorür auf Papier schreibt, die getrocknete, schwarz-röthliche Schrift nicht zu erkennen ist, sie kommt aber mit blauer Farbe zum Vorschein, wenn man das Papier behutsam erwärmt, und verschwindet wieder nach dem Erkalten (durch Anziehen von Feuchtigkeit). Nimmt man zum Schreiben aber eine verdünnte Lösung von Kupferchlorid, so tritt nach dem Erwärmen die Schrift mit gelber Farbe hervor.
Die Zahlenchiffre ist diejenige Art von Geheimschrift, in der alle Buchstaben, Interpunctionen, auch wohl Worte und ganze Sätze der Klarschrift durch Ziffern ausgedrückt werden. Sie ist jetzt die gebräuchlichste, weil Zahlen zur telegraphischen Mittheilung sich besser eignen als Buchstaben außer Zusammenhang. Die einfachste Art, jeden der 26 Buchstaben mit den Zahlen von 1 bis 26 zu bezeichnen, ist aber als Geheimschrift völlig unbrauchbar; bedient man sich jedoch der Zahlen von 27 bis 99 zur Bezeichnung der Interpunction, der Ziffern, der Wechsel-, Sprachen- und anderer Zeichen, einiger auch als Nieten, die keine Bedeutung haben und Uneingeweihte beim Dechiffriren irre führen sollen, so erhält man eine zwar einfache, aber doch sehr verwendbare Geheimschrift. Vortheilhaft ist es, diese Art so zu bilden, daß jeder Buchstabe, jedes Zeichen durch eine gleichstellige Zahl bezeichnet wird, weil dann alle Zahlen ohne Trennung geschrieben werden können. Bezeichnet man z. B. die 26 Buchstaben durch 01, 02 … 10, 11, 12 etc. bis 26, Punkt, Komma, Fragezeichen, Ausrufungszeichen durch 27, 28, 29, 30, die Zahlen von 0 bis 9 durch 31 bis 40, Nieten durch 81, 85, 90, 96 etc., so würde: „Die ‚Gartenlaube‘, 1882. Begründet von Ernst Keil 1853.“ lauten:
Beim Dechiffriren werden zuerst die Nieten fortgestrichen, sodann aus der Tabelle die Buchstaben etc. für die übrigen Ziffern gesetzt. Eine Unsicherheit wegen Zusammengehörigkeit der Ziffern kann hier nicht eintreten, weil der Dechiffreur weiß, daß alle Zahlen zweistellig sind.
In neuerer Zeit verwendet die Diplomatie fast aller Staaten bei ihren Depeschen Chiffrirsysteme, die aus eigens zu diesem Zwecke angefertigten Wörterbüchern bestehen.
Schon im Jahre 1856 ließ der preußische Minister für die auswärtigen Angelegenheiten eine entsprechend große Anzahl Bände durch Buchdruck herstellen, in denen die Wörter wie in einem Wörterbuche folgen und ebenso die Ziffern in natürlicher Reihe bei jedem Worte, doch gab von diesen letzteren nur die am Colonnenkopf stehende die volle Zahl durch Zehntausende, Tausende und Hunderte hindurch, während von der zweiten Stelle der Colonnen an bis nach deren Ende nur die Zehner und Einer aufgeführt waren.
Diese Exemplare, „Chiffres“ genannt, stimmten zu zwei und zwei in ihren Zifferwerthen für ein und dieselben Wörter überein, jede Gruppe von zweien unterschied sich aber von der folgenden durch stetes Fortschreiten um eine gewisse Zahl. Ein Exemplar jeder Gruppe blieb im auswärtigen Ministerium, das andere der Gruppe A aber erhielt z. B. der Botschafter in Paris, das zweite Exemplar der Gruppe B der Gesandte in Madrid etc. So konnten die einzelnen preußischen Gesandschaften zwar mit der Centralstelle, aber nicht unter sich mit Hülfe dieser Wörterbücher chiffriren. Als jedoch in Folge der Veröffentlichung jener bekannten geheimen preußischen Staatsdepesche durch das vom österreichischen Generalstabe 1869 herausgegebene Werk über den Feldzug von 1866 das preußische Ministerium andere Verbesserungsvorschläge „für den amtlichen Gebrauch“ prüfen mußte, entschied es sich endlich, statt der früheren vielen Bände nur ein einziges Buch mit fingirten Ziffern zu verwenden, das an allen Orten, zu allen Zwecken und für alle Correspondenten mit gleicher Sicherheit zu verwerthen wäre.
Der Buchdruckereibesitzer M. Niethe in Berlin, der das Studium der Kryptographie zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte, gab 1874 ein solches Werk heraus, das dann bei der Chiffrirabtheilung des deutschen Reichskanzleramtes „als telegraphisches Chiffrirsystem für den allgemein praktischen Gebrauch und mit besonderer Berücksichtigung der diplomatischen, militärischen und Börsen-Depeschen“ eingeführt wurde. Dieses Buch wurde auch von England prämiirt mit der durch Parlamentsacte für Leistungen im Gebiete der „neuen wissenschaftlichen Erfindungen“ ausgesetzten Medaille. Das Buch ist von der Größe eines gewöhnlichen französischen [236] Taschenwörterbuches und besteht aus zwei Abtheilungen. In der ersteren folgen auf den zweispaltigen Seiten die Wörter wie in einem Lexikon, und vor jedem Worte steht, mit 5001 beginnend, in fast ununterbrochener Reihenfolge eine Zahl, also 5001 Aal, 5002 aal–, 5003 Aar, 5004 A(a)as, 5005 aasen etc., 5014 verlorene Chiffre, 5228 neuer Schlüssel + 11, 7088 Baake etc., 31,514 zwitschern, 31,519 zwölfte. Da die Anwendung der zur Substitution für die Worte gewählten und neben sie gestellten Chiffres jegliches chiffrirte Correspondenzstück der Gefahr des Verrathes an Unberufene aussetzen würde, so sind die Chiffres im Allgemeinen nicht natürlich, sondern fingirt zu gebrauchen. Sollte also nach diesem trefflichen Buche chiffrirt abgesendet werden die Depesche: „Abonnement auf Garten–laube“ mit den im Buche daneben stehenden Zahlen 5355 6859 14,294 18,360, so brauchte ja nur jeder diese Zahlen aufzusuchen, und das Geheimniß wäre gehoben. Nun haben aber zwei Correspondenten eine gewisse positive oder negative Zahl (± x) unter sich als Geheimniß vereinbart. Diese Zahl nennt man den Hauptschlüssel (H S), und sie wird je nach ihrem ± Charakter zu den im Lexikon gefundenen Chiffren addirt oder von ihnen abgezogen. Wäre also die Einigung dahin erfolgt, daß in diesem Monate der Hauptschlüssel + 201 sein sollte, so würde ich zu jeder der obigen vier Zahlen 201 addiren und depeschiren: 5556 7060 14,495 18,561. Sähe nun wirklich ein Unberufener diese Zahlen und schlüge sie im Buche auf, so fände er: „abspielen aufsammeln Gegenuntersuchung Lerngegenstand“ und erführe dadurch nichts. Da der Correspondent weiß, daß in diesem Monate der Absender 201 zu jeder Zahl hinzugezählt hat, so wird er zuerst von jeder Zahl 201 subtrahiren und erst dann die erhaltenen Reste im Buche aufsuchen.
Die zweite Abtheilung des Niethe’schen Buches besteht aus einer Tabelle für Declination und Conjugation und Silbenzusammensetzungen für Eigennamen. Eine bestimmte Zahl bedeutet z. B.: nimm vom folgenden Worte den Dativ oder den Pluralis, nimm vom folgenden Verbum diese oder jene Zeit, diese oder jene Person! Wollte ich sodann aus der Silbentabelle den Namen des berühmten asiatischen Reisenden, des russischen Oberst Przewalski chiffriren, so finde ich neben der Verbindung prz: 28,665, neben ew: 23531, neben al: 17,550, und neben ski: 29,502, und alle diese Zahlen werden mit dem Schlüssel gerade so wie die anderen behandelt. Natürlich sind auf dieser Tabelle auch bestimmte Chiffres für die Interpunktionen angegeben. Es würde uns jedoch zu weit führen, auf alle Einzelheiten dieses höchst interessanten Buches einzugehen, umsomehr als wir unseren Lesern noch einige andere Arten der Geheimschrift vorführen möchten.
Bei der Anwendung der ziemlich alten Faden-Punktir-Methode nahm man als Schlüssel zwei gleich lange vierkantige Stäbchen, auf denen man sechsundzwanzig gleiche Theile markirte, und bezeichnete jeden Theilstrich mit einem Buchstaben. Das eine Stäbchen behielt der Absender, das andere wurde dem Correspondenten zugesandt. Zur Anfertigung der Geheimschrift nahm man einen Zwirnfaden, legte das eine Ende desselben an den Anfang des Stäbchens und maß bis zum Strich des ersten Buchstabens der Depesche; an dieser Stelle markirte man mit Tinte auf dem Faden einen Punkt, legte diese Stelle an den Anfang des Stäbchens und markirte ähnlich den zweiten und die folgenden Buchstaben, bis ein Wort zu Ende war; hier wurde hinter den schwarzen Punkt noch ein rother gesetzt. War derartig nun die ganze Depesche punktirt, so wurde der Faden zu einem Knäuel zusammengerollt und dem Correspondenten überschickt. Mit Hülfe seines Stäbchens konnte er dann leicht dechiffriren.
Als Schlüssel zu der Linien-Geheimschrift dient gewöhnlich ein Quadratnetz auf dickem Papier. In jedem Quadrat steht ein Buchstabe. Zum Zweck des Chiffrirens legt man hierüber ein durchscheinendes Stück Papier und zeichnet da auf dem Papier, wo in dem darunter liegenden Netze der erste Buchstabe der Depesche verzeichnet ist, ein Ringelchen, damit der Empfänger wisse, daß mit diesem Buchstaben die Geheimschrift beginnt. Von dort zieht man dann eine gerade Linie nach dem Quadrat, das den zweiten Buchstaben enthält, dann nach dem dritten etc., bis alle Worte chiffrirt sind. Am Ende der Linien, bei dem letzten Buchstaben, zeichnet man einen kleinen Pfeil als Schlußzeichen. Wäre nun die Mittheilung zu machen. „Losung ist Grenoble“, so würden der Schlüssel auf dem Quadratnetze und die Geheimschrift das Aussehen haben, wie hier angegeben worden ist.
Der Dechiffreur legt dieses Liniengewirr auf seinen Schlüssel, verfolgt, vom Ringelchen anfangend, die Linien, bis sie einen Winkel bilden, und liest an dieser Stelle den betreffenden Buchstaben des Schlüssels ab. Solche Linienchiffres können auf vielerlei Art gebildet werden und bieten der Phantasie des Erfinders einen großen Spielraum.
In weitem Sinne ließen sich zu der Kryptographie auch noch die geheime Polizeischrift und die Blumensprache der Morgenländer rechnen; doch sind diese Methoden theils zu complicirt und künstlich, ohne die nöthige Sicherheit zu gewähren, theils, wie die Blumensprache, nicht so sehr zu allgemeinen Mittheilungen als zur Sprache sehnsuchtsvoller Liebe verwendbar. Im Orient, wo das schöne Geschlecht zur Einsamkeit des Herzens verurtheilt ist, soll zuerst der Gebrauch entstanden sein, natürliche Blumen zum Ausdruck der Gedanken und Empfindungen, zum beredten Liebesboten zu wählen.
Diese orientalische Blumensprache, Selam, ist aber sehr verschieden von der unserigen, da sie sich fast ausschließlich auf die Namen der Pflanzen gründet, unsere Blumensprache aber manches noch aus gewissen andern Eigenschaften der Pflanzen hernimmt. Uebrigens giebt es, so weit die deutsche Zunge klingt, wohl nur wenige Blumen, die überall dieselbe Deutung haben. So versinnbildlicht, ob Nord oder Süd, West oder Ost, den Abend die Mohnblume, den Aerger das blaue Leberblümchen, die Beruhigung die Camille, die Armuth die leere Aehre, den Kummer die Aster und die hellen Thränen der Rosmarin. Diese Blumen, die wir Deutsche seit Jahrhunderten zu Trägern unserer Gefühle erkoren, sie werden es immerdar bleiben.
C–f. Dr. B. L.
Mit gerechtem Stolze darf die medicinische Wissenschaft und vor Allem die Chirurgie auf die letzten Jahrzehnte ihrer Entwickelung zurückblicken; denn was heutzutage in der Behandlung der Wunden und in der Sicherheit der Operationsmethoden geleistet wird, gehört wahrlich zu den glänzendsten Errungenschaften des menschlichen Geistes, deren Wohlthaten jahraus jahrein Tausenden von Unglücklichen zu Theil werden.
Leider sind aber diese Fortschritte bei den täglich vorkommenden plötzlichen Unglücksfällen noch gar wenig zur Geltung gelangt, und darum verbluten und verkrüppeln noch heute zahllose Verunglückte, [237] denen die richtige Hülfe nicht sofort geleistet werden konnte; darum gehen so Viele zu Grunde, welche hätten gesunden müssen, wenn sie vom Augenblick ihrer Verunglückung an zweckmäßig behandelt worden wären.
Es ist daher im höchsten Grade wünschenswerth, daß die Kenntniß der ersten Hülfe bei den mannigfaltigsten Verletzungen, welchen die Menschen bei der Ausübung ihres Berufes zu Lande und zu Wasser ausgesetzt sind, nicht allein auf ärztliche Kreise beschränkt bleibe, sondern zum Gemeingut aller Derer werde, die Herz genug haben, dem Nächsten in Noth und Gefahr die erforderliche Hülfe zu leisten.
Die Lösung dieser hohen Aufgabe, welche den lautersten Gefühlen der Humanität ihren Ursprung verdankt, ist vor wenigen Jahren in einem fremden Lande mit glücklichem Erfolge angestrebt worden, und wir wenden uns im Nachstehenden an den weiten Leserkreis der „Gartenlaube“, um ihn zur regen Mitthätigkeit an ähnlichem Wirken in unserem deutschen Vaterlande wachzurufen.
Als im August vorigen Jahres Aerzte aus aller Herren Ländern zu dem großen internationalen medicinischen Congreß in London erschienen waren, wurden in dem Garten des berühmten Kensington-Museums vor einer großen Zuschauermenge aus allen Gesellschaftsclassen seltsame, höchst interessante Uebungen abgehalten, die ohne Zweifel bei dem größten Theil der Leser der „Gartenlaube“ ein gelindes Befremden, bei Allen aber sicher auch gerechtes Erstaunen hervorgerufen hätten. Es wurden dort in drei Abtheilungen je drei Männer auf den Rasen gelegt, welche Verunglückte vorstellen sollten. An die Schulter eines jeden war ein Zettel geheftet, auf welchem eine beliebige der häufig im Leben vorkommenden Verletzungen notirt war.
Hierauf erschienen auf dem Platze einige Männer, die zum Theil mit Tragbahren versehen waren; je zwei von ihnen eilten sofort zu einem Verunglückten, untersuchten denselben, das heißt lasen den Zettel, legten den für die angedeutete Verletzung zweckmäßigen Nothverband an, lagerten den Verbundenen auf die Tragbahre und trugen ihn in dem vorgeschriebenen Tempo von dem Platze fort. Jeder von diesen Nothhelfern hatte in der Tasche ein dreieckiges Tuch oder ein großes Schnupftuch, welches er in der passendsten Weise zu verwenden wußte. Mit großer Sicherheit benutzten ferner Alle die verschiedensten Gegenstände, welche sie gerade bei der Hand hatten, wie Büchsen und Seitengewehre, Regenschirme und Spazierstöcke oder von den Bäumen gebrochene Zweige, um diejenigen Glieder der improvisirten Verunglückten, welche nach dem Wortlaut des betreffenden Zettels gebrochen sein sollten, zu schienen.
In anderen Fällen, in denen die Verunglückten für Ertrunkene oder Erstickte galten, wurden von den herbeigeeilten Nothhelfern künstliche Athembewegungen an dem Körper derselben eingeleitet.
In Deutschland hatte man schon seit vielen Jahren ähnliche Schauspiele bei den Friedensübungen der Sanitätstruppen gesehen, hier aber, im Garten des Kensington-Museums, waren es Leute aus allen Ständen, Polizisten, Soldaten des Freiwilligencorps, Maschinenarbeiter, Eisenbahn- und Postbeamte, Kaufleute und Andere, welche diesen Dienst der ersten Hülfe in der Noth versahen.
Die anwesenden, zum Theil sehr angesehenen Aerzte waren von den überraschenden Leistungen jener freiwilligen Helfer in der Noth in hohem Grade befriedigt, und wohl Manche verließen den genannten Schauplatz mit dem festen Vorhaben, diese in England großgezogene Institution auch in ihrem Vaterlande zur Geltung bringen zu helfen. So möchten denn auch diese Zeilen dazu beitragen, durch Gründung von Samariterschulen, in welchen im obigen Sinne die Leistung der ersten Hülfe bei Unglücksfällen gelehrt würde, diese humanitären Bestrebungen auf den deutschen Boden zu verpflanzen. Bevor wir aber auf diese Frage näher eingehen, möge im Nachstehenden ein kurzer Bericht über die auf diesem Gebiete durch die unermüdliche Friedensthätigkeit des Johanniterordens in England erzielten Erfolge Platz finden.
Auf der Generalversammlung des genannten Ordens am Johannistage 1877 wurde beschlossen, die Aufgaben desselben zu
[238] erweitern und namentlich Maßregeln zu treffen, mittelst welcher bei plötzlichen Unglücksfällen den Kranken und Verwundeten die erste Hülfe in höherem Maße gewährt werden könne, als dies bisher der Fall gewesen. Dies sollte durch die Gründung einer mit dem Johanniterorden in Verbindung stehenden Ambulance-Association erreicht werden, und so wurden bereits im Februar 1878 zu diesem Zwecke von den Ordensmitgliedern 2230 Pfund Sterling gezeichnet; nachdem sich die Gesellschaft alsdann constituirt hatte, ging man unter der Leitung des Majors Duncan und des Capitain John Furley sofort an die Gründung von Verbandlehrschulen. Das englische Volk nahm diese Neuerung mit großem Enthusiasmus auf – schon nach sechs Monaten hatte sich die Bewegung über ganz Großbritannien ausgebreitet.
Besonders günstig gestalteten sich die Verhältnisse in Woolwich, wo eine große Zahl von Bürgern und Militärpersonen, sowie intelligenten Handwerkern des berühmten Arsenals sich der Ambulancegesellschaft angeschlossen hatte. Hier wurde daher die erste Centralschule für den Unterricht im Anlegen des ersten Verbandes und in der ersten Pflege der Verwundeten errichtet, und um jeden Schein religiöser oder politischer Tendenzmacherei zu vermeiden, wählte man in den Localausschuß Geistliche aller Confessionen und den jeweiligen Parlamentsabgeordneten des betreffenden Bezirkes zum zweiten Vorsitzenden, ein Grundsatz, der auch bei der Begründung anderer Centralhülfsstationen mit dem besten Erfolge durchgeführt wurde. Höhere Militärärzte erklärten sich in Woolwich bereit, den Unterricht zu ertheilen, und nachdem alsdann die angemeldeten Schüler in je drei Classen für Frauen und Männer eingetheilt worden waren, begannen die Curse, von denen jeder sechs Wochen dauerte und in einer allwöchentlich abgehaltenen zweistündigen Vorlesung bestand.
In den fünf ersten Vorlesungen wurden die Zuhörer zunächst mit dem Bau des menschlichen Körpers, mit dem Blutumlaufe, der Athmung etc. vertraut gemacht; ferner wurden ihnen die Unterschiede zwischen den Blutadern und Pulsadern (Venen und Arterien) und den verschiedenen Blutungen erläutert, wobei die gebräuchlichen Mittel zur Stillung derselben angegeben wurden; hierauf wurden den Schülern auch die Knochenbrüche und Verrenkungen nebst den verschiedenen Arten ihrer Behandlung, die Bewußtlosigkeit, die Ohnmacht und ihre Ursachen, die Trunkenheit und Vergiftung, sowie das Rettungsverfahren bei Ertrunkenen und Erstickten geschildert. Bis dahin war der Unterricht für die Frauen- und Männerclasse durchaus derselbe. In der letzten Vorlesung aber erhielten die Frauen einen besondern Unterricht in der Krankenernährung, in der Erwärmung und Lüftung der Krankenzimmer und in der Anwendung des Thermometers; sie empfingen Anleitungen über eine zweckentsprechende Bewachung der Kranken, über vernunftgemäßes Verbinden der Wunden, über richtiges Auflegen von Umschlägen und vorschriftsmäßiges Wechseln der Betttücher, sowie schließlich über das kunstgerechte Aufheben und den Transport hülfloser Patienten.
Der besondere Unterricht für die Männer bestand dagegen in Schilderung des Aufhebens und Fortschaffens Kranker oder Verletzter auf Tragbahren, mittelst Eisenbahnwagen oder auf Landfuhrwerken.
Alle diese Vorträge waren mit praktischen Uebungen verbunden; hier lernten die Schüler vor Allem größere Blutungen momentan zu stillen, um die Verblutung des Kranken, bevor der herbeigerufene Arzt erschienen ist, zu verhüten; sie erfuhren, wie man mit dem dreieckigen Tuche zweiunddreißig verschiedene Verbände in einfacher Weise anzulegen vermag, wie man dieses Tuch im Nothfalle durch ein Taschentuch ersetzen kann, wie man bei gebrochenen Knochen Seitengewehre, Büchsen, Regenschirme, Spazierstöcke, Baumzweige, Zeitungen u. dergl. m. zu provisorischen Schienenverbänden, welche das Glied in der normalen Lage erhalten sollen, benutzen darf; hier übten sie sich in der Hervorrufung der künstlichen Athmung, durch welche Erstickte und Ertrunkene in’s Leben zurückgebracht werden; hier lernten sie Tragbahren benutzen und im Nothfalle aus Stangen und Brettern solche herstellen; hier endlich wurden sie mit dem Transport Verletzter auf weite Entfernungen hin vertraut gemacht.[1]
Um aber dem Unterricht einen wirklichen Erfolg zu sichern, wird in den englischen Schulen am Schluß des Lehrcurses eine scharfe theoretische und praktische Prüfung mit den Schülern abgehalten, und die Bestehung derselben befähigt den mit einem Zeugniß entlassenen „Helfer in erster Noth“ zur activen Mitgliedschaft des Ambulance-Departements des Johanniterordens.
Von Woolwich aus verbreitete sich die Bewegung in kurzer Zeit über ganz England, und in London allein wurden sechsunddreißig Schulen für die Verwundetenpflege in’s Leben gerufen. Hier richteten die Behörden ihr Augenmerk besonders darauf, daß die Polizeimannschaften nach dieser Richtung hin ausgebildet würden, und dies sollte man wahrlich auch bei uns beherzigen. Es ist die Pflicht des Schutzmannes, bei Unglücksfällen an Ort und Stelle zu erscheinen; was nützt es ihm aber, wenn er nicht versteht, dem Verunglückten die erste Hülfe angedeihen zu lassen, wenn er den Halberstickten nicht in’s Leben zurückzurufen weiß, den Verwundeten verbluten läßt? Ferner betheiligten sich an den Lehrcursen Eisenbahn- und Postbeamte, sowie Fabrikarbeiter, und in den Grubendistricten Englands wurde die Begründung dieser Schulen von der Bevölkerung mit wahrem Jubel angenommen.
Es vergeht schon heute fast kein Tag, an dem nicht in England irgend ein Nothhelfer in zweckmäßiger Weise einem Verunglückten beigesprungen wäre, und wenn England in einen Krieg verwickelt und der Johanniterorden auf den Schlachtfeldern sein hohes Friedenswerk auszuüben berufen würde, dann hätte es sicher an tüchtigen Freiwilligen, die den leidenden Kriegern Hülfe zu bringen im Stande sind, keinen Mangel.
Durch diese schlagenden Erfolge des Auslandes ermuthigt, hat der Verfasser vorliegenden Artikels es unternommen, auch das deutsche Volk mit den Grundsätzen der ersten Hülfe in der Noth vertraut zu machen, und zu diesem Zwecke im Februar des laufenden Jahres die erste Samariterschule in Kiel in’s Leben gerufen. Die gegen 800 Personen zählende Zuhörerschaft folgte den Vorträgen mit großer Aufmerksamkeit und nahm den thätigsten Antheil an den praktischen Uebungen, welche nach jeder Vorlesung von zwölf jüngeren Aerzten in den verschiedenen Vorlesungsräumen der Universität geleitet wurden.
Auch die englische Ambulance-Gesellschaft zeigte ein warmes Interesse für unsere Bestrebungen, und wir hatten die Ehre, in der Kieler Samariterschule Herrn John Furley als Gast zu begrüßen, dem vor Allen das Verdienst gebührt, die englischen Verbandlehrschulen mit geschaffen und in wahrhaft großartiger Weise organisirt zu haben.
Schließlich wurde am 5. März in Kiel ein Verein für die Förderung der Samaritersache von angesehenen Männern der Stadt gegründet und zunächst ein Ausschuß gewählt, welcher die Statuten des Vereins entwerfen und einen Aufruf zum Beitritt an das deutsche Volk veröffentlichen wird.[2]
Hoffen wir, daß diesen ersten deutschen Samaritern die nöthige Unterstützung nicht fehlen wird, daß Private und Behörden die Agitation in weitere Kreise tragen werden! Ein hohes Friedenswerk, ein Werk der Nächstenliebe ist es, um dessen Bethätigung es sich handelt; ihm dürfen sich die Herzen unserer Landsleute nicht verschließen.
Kiel, Ende März.
[239]
Jüngst fiel mir Längstvergessnes in die Hand,
Verblaßte Kleidchen und vergilbtes Band,
Spielzeug, wie es vor Zeiten Mode war,
Und eine Locke von hellblondem Haar:
Von einer Schwester, die ich nie gekannt.
Ich muß gesteh’n, er lag mir fast zur Last;
Im Feuer gönnt’ ich ihm die letzte Rast.
Schon stand ich sinnend vor der rothen Gluth –
Ich sah der Mutter bleich, verhärmt Gesicht,
Verweinter Augen halb erloschen Licht,
Sah ihren Kuß auf jenem goldnen Haar
Und über’s Kleidchen dort, so unscheinbar,
Ich sah mich selber scheu und wie gebannt,
Und fühlte, wie mein ahnend Kinderherz
In Andacht schlug vor tiefem Mutterschmerz.
Leis schauernd trat ich von des Feuers Schein,
„O Mutter, wende ab Dein bleich Gesicht:
Ich thu’ es nicht, gewiß, ich thu’ es nicht.“
Die Humboldt-Akademie in Berlin. Wir haben schon häufig Gelegenheit gehabt, auf den gewissermaßen idealen Zug in der Physiognomie der deutschen Reichshauptstadt hinzuweisen, der sich in dem rastlosen Eifer bekundet, mit welchem von Behörden und Bürgerschaft die Verallgemeinerung der Bildung gefördert wird. Ein leuchtendes Beispiel dieser echt humanen Bestrebungen, welche zu der in jeder Großstadt ebenfalls hervortretenden Jagd nach materiellen Genüssen ein wohlthuendes Gegengewicht bilden, ist die erst vor wenigen Jahren gegründete und stetig aufblühende Humboldt-Akademie, welche in ihrer Anlage und Entwickelung einzig dasteht und recht eigentlich das Gepräge des universellen deutschen Geistes trägt.
In der Georgenstraße, ganz nahe dem Centralbahnhof der neuen Stadtbahn, erhebt sich ein stilvoller Rohziegelbau, die Dorotheenstädtische Realschule. Dorthin pilgert im Winterhalbjahr allabendlich eine Schaar von Herren und Damen aller Altersclassen, Stände und Lebensberufe, um den Vorträgen in der Humboldt-Akademie zu lauschen. Auf den nicht übermäßig bequemen Schulbänken sitzend, folgen sie mit hingebender Aufmerksamkeit den objectiven Darlegungen der Docenten. Nicht um einzelne Vorträge über dies und jenes begrenzte, interessante Thema handelt es sich hier, sondern um systematische Vortragscyklen, die ein Viertel- oder Halbjahr hindurch an denselben Wochenabenden eine ganze Disciplin, oder doch den größeren Abschnitt einer solchen, im Zusammenhange darstellen. Solchen zwanglosen Vorträgen Woche für Woche beizuwohnen, ohne den Sporn bevorstehender Prüfungen oder nutzbringender Zeugnisse, dazu kann nur ernster Wissenstrieb, nur innerer Drang nach Erkenntniß veranlassen. Und daß unter solchen Umständen die Humboldt-Akademie seit ihrer vor drei Jahren erfolgten Gründung bereits 4500 Hörer zählt, die sich auf 132 Vortragscyklen aus den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft vertheilten, das ist ein gutes Zeichen zugleich für Berlin und die Akademie.
Eine solche Anstalt mußte mit innerer Notwendigkeit aus den Bildungsbestrebungen der Weltstadt hervorgehen. Jahr für Jahr werden zwar viele Hunderte von Einzelvorträgen in Berlin gehalten, die gewiß größentheils sehr aufklärend, sehr lehrreich sind, aber wegen ihrer Unvollständigkeit und Zersplitterung können sie den Weiterstrebenden nicht genügen. Wer von der Quelle der Wissenschaft nicht hin und wieder nippen, sondern mit vollen Zügen trinken wollte, der konnte bisher nur in Lehrbüchern oder an der Universität seinen Zweck erreichen, das Bücherstudium erscheint aber dem Geschäftsmanne meist zu trocken und abspannend; die Universität ist ihm schon durch die Tageszeit der Vorlesungen unzugänglich. Es lag also nahe, für die große Zahl Derer, die aus Gymnasium oder Realschule zu einem praktischen Lebensberufe übergehen, wie überhaupt für alle Wissensdurstigen systematische Vortragscyklen einzurichten, und gerade in Berlin fehlen die vollbefähigten Lehrkräfte nicht, um diese Cyklen, zu einer umfassenden Anstalt vereint, zu organisiren.
Dieser Gedanke wurde im Frühjahr 1878 von dem bekannten Reichstagsabgeordneten Dr. Max Hirsch auf Grund seiner langjährigen Thätigkeit als Leiter und Lehrer in Bildungsvereinen gefaßt und in einem „Plane zur Gründung einer Anstalt für populärwissenschaftliche Vortragscyklen“, welcher zugleich die Motive und die Vorschläge zur Verwirklichung enthielt, zunächst in engeren Kreisen von Freunden der Wissenschaft verbreitet.
Der Plan fand lebhaften Anklang, und trotz der großen Schwierigkeiten gelang es dem zu diesem Zwecke gewählten Curatorium schon am 13. Januar 1879 die Humboldt-Akademie – so war die Anstalt zum Andenken an die beiden, Natur- und Culturwissenschaft universell umfassenden und erleuchtenden Brüder genannt worden – zu eröffnen. Dank der Bereitwilligkeit einer großen Zahl von Docenten, worunter Professoren der Universität und der staatlichen Akademie, sowie der höheren Schulen, bot das Lehrprogramm neunzehn Vortragscyklen aus fast allen Wissensgebieten dar, welche größtentheils zahlreich, einige von hundert Hörern und darüber, bis zur letzten Stunde besucht wurden und lebhafte Anerkennung fanden.
Es war ein großer Erfolg. Die leitende Idee des Planes: systematischer Zusammenhang, Kürze und Uebersichtlichkeit durch Hervorhebung des Wesentlichen und möglichste Umfassung des gesammten Wissensbereichs – letzteres unseres Wissens bisher wohl nirgends in Europa von solcher Anstalt durchgeführt – hatte die Probe glänzend bestanden. Der kühne Gedanke, die genossenschaftliche Selbsthülfe auch auf die höhere wissenschaftliche Bildung anzuwenden und ohne Subvention von oben, ohne jede Ausschließlichkeit und Beeinflussung von Partei oder Richtung, eine freie Bürger-Akademie zu errichten und zu leiten, war verwirklicht.
Selbstverständlich fehlten auch die Gegner nicht, besonders in den Kreisen des exclusiven zünftigen Gelehrtenthums, welche eine Concurrenz gegen die Universität, eine Vorschule für hochmüthige Halbbildung befürchten zu müssen glaubten. Allein, wie Professor Steinthal, selbst eine wissenschaftliche Größe, in seiner Eröffnungsrede der ersten Generalversammlung hervorhob, konnte die Modephrase von Halbwissen nirgends weniger Anwendung finden, als bei der Humboldt-Akademie, deren Lehrplan vielmehr durch den ersten Hinweis auf die Methode, auf den gewaltigen Umfang und die unergründliche Tiefe der Wissenschaft zur Bescheidenheit führte. Und schon „im Plan“ war betont: „Nicht als Rivalin, sondern als bescheidene und nützliche Gehülfin der Universität wird unsere Anstalt eine verdienstvolle Stellung im deutschen und internationalen Bildungswesen einnehmen.“
Diese Stellung hat die Humboldt-Akademie errungen. Obgleich die immer heftigeren Parteikämpfe auf religiösem, wissenschaftlichem und politischem Gebiete die Aufmerksamkeit von der Pflege der objectiven Wissenschaft abgelenkt haben, erhält sich die Akademie nicht nur, sondern sie gewinnt immer größere und weitere Anerkennung.
Eine Reihe bedeutender Gesellschaften und Vereine hat sich dem Verein corporativ angeschlossen, und die städtischen Behörden haben ihre Lehrsäle bewilligt. Neben den modernen Sprachen und Literaturen bilden Astronomie, Physik und Chemie, politische und Kunstgeschichte, zumal der griechischen Plastik, Nationalökonomie, Rechtskunde, Versicherungs- und Eisenbahnwesen – die letzteren zum ersten Male in Deutschland durch die Humboldt-Akademie auf’s Katheder gebracht – die hauptsächlichen Gegenstände der Vorlesungen.
Daneben veranstaltet seit zwei Jahren der Wissenschaftliche Centralverein, um allen seinen Mitgliedern Anregung und Belehrung zu bieten und den Verkehr zwischen Lehrenden und Lernenden zu fördern, auch Einzelvorträge hervorragender Gelehrten und Schriftsteller. Weitere Veranstaltungen, wie die Errichtung einer wissenschaftlichen Bibliothek mit Zeitschriftenlesezimmer sind in Aussicht genommen, auch Verbindungen mit andern deutschen Städten angeknüpft, um Anschluß an diese wahrhaft idealen und nationalen Bestrebungen, die besonders der einer richtigeren Selbstverwaltung dienen werden, herbeizuführen.
Wachsenden Erfolg der guten Sache muß jeder Vaterlandsfreund wünschen und fördern; denn was der Plan zur Gründung der Humboldt-Akademie 1878 aussprach, das gilt noch heute in vollem Maße: „Immer lauter und schwerer werden die Klagen über das Einreißen eines flachen Realismus und damit zusammenhängend die Erweiterung der Kluft zwischen den Hochgebildeten und der übergroßen Masse, welche, allen Idealen entfremdet, nur dem Genusse und der äußeren Macht nachjagt. Dieser bedauerliche und gefahrdrohende Zustand beruht – abgesehen von den großen Schäden unseres Elementar- und Secundärunterrichts – wesentlich auf der schweren Zugänglichkeit der höheren, wahrhaft wissenschaftlichen Bildung für die große Masse, selbst derer, welche im Leben eine führende Rolle spielen.“
„Cultur- und Literaturgeschichte der Französischen Schweiz und Savoyens“ von H. Semmig. Die Schweiz, namentlich die herrlichen Gestade des Genfer Sees, sind bekanntlich alljährlich das Ziel zahlreicher Reisender aus den gebildeten Ständen Deutschlands, von denen der größte Theil lediglich durch die Reize der Natur angezogen wird, mit denen diese Landschaften so verschwenderisch geschmückt sind. In den vielen Pensionaten und Lehranstalten der romanischen Schweiz befindet sich aber auch eine nicht geringe Anzahl junger Leute, die hier einen längeren Aufenthalt nehmen, um sich in der französischen Sprache auszubilden, und sie Alle möchten wir auf ein Werk hinweisen, das ihren Zwecken auf das Beste dienen dürfte, auf Hermann Semmig’s soeben im Verlage
[240] der Trüb’schen Buchhandlung (Th. Schröter) in Zürich erschienene „Cultur- und Literaturgeschichte der Französischen Schweiz und Savoyens“. Der Verfasser hat zwanzig Jahre in Frankreich, darunter zwei in Savoyen, zugebracht und namentlich die französische Sprache und Literatur zum Gegenstand eingehender Studien gemacht. Bisher galt Frankreich, das um Paris concentrirte Frankreich, für den ausschließlichen Herd französischer Sprache und Literatur, während es doch nur eine, wenn auch die größte Pflanzstätte des französischen Sprach- und Schriftthums ist. Man hat dabei aber ganz übersehen, daß es in Frankreich solcher Pflanzstätten noch mehrere giebt und daß die sogenannte französische Schweiz unter ihnen einen hervorragenden Rang einnimmt; denn in ihr ist aus einer eigenen selbstständigen Civilisation und auf einem selbstständigen geschichtlichen Boden eine eigene Literatur erwachsen, und zwar mit dem sechszehnten Jahrhundert – eine Literatur, deren Einwirkung auf die französische eine größere gewesen ist, als umgekehrt. Das Semmig’sche Buch weist dies nun überzeugend nach und giebt dabei so zahlreiche Auszüge aus den Werken der einheimischen Schriftsteller, daß man daraus die moderne französische Sprache verstehen und beherrschen lernt. Er widmet sein Werk den Familien und Schulen und stellt ihm die Aufgabe, die Erziehung der Jugend vollenden zu helfen – er hat vollkommen Recht darin; denn die ganze Literatur der protestantischen romanischen Schweiz ist mit dem Boden der Reformation verwachsen und von tief religiösem Geiste durchdrungen; sie athmet aber auch treue, aufopfernde Vaterlandsliebe und belebt und pflegt den Sinn für Naturschönheit in einer idealen Weise, die an die Innigkeit und Wärme erinnert, in der einst Klopstock den Zürichsee besungen hat. So sei denn das Werk allen Freunden der französischen Literatur auf’s Beste empfohlen!
Schriftstellerische Leichtfertigkeit – wenn nicht mehr! – Durch mehrere Blätter ging ein Feuilleton-Artikel von Albert Lindner unter dem Titel „Drei Verkommene – Verschollene“. Er stellt in demselben zwei Thüringer, Louis Böhner und Alexander Rost, und einen Sachsen, Adolf Böttger, als warnende Beispiele von begabten Männern auf, die „alle Drei weniger geleistet, als die Natur mit ihnen versprochen hatte“, und zwar, weil alle Drei an der „Trunksucht“ zu Grunde gegangen. Ein tactvoller Schriftsteller wird schon schwer an die Wahl eines solchen Stoffs für ein Volksblatt-Feuilleton gehen, um die Hülle von dem Privatleben trotz alledem verdienter Männer, deren Wittwen noch um sie trauern, schonungslos wegzureißen. Thut er dies aber, dann könnte nur der Beweis der strengsten Wahrheitsliebe mit einem solchen Schritte versöhnen. Nun höre man was Herr Albert Lindner über Adolf Böttger vorbringt:
„Von Böttger,“ sagt er, „kann ich wenig berichten. Er domicilirte in den vierziger Jahren in Leipzig, dichtete nichts Originales mehr und ließ von Zeit zu Zeit eine Uebersetzung, gewöhnlich das Werk eines großen Engländers, erscheinen. Als ich mit meiner Mutter einmal von der Naumburger Messe zu Fuß zurückkehrte, fanden wir einen betrunkenen Menschen im Chausseegraben schnarchend. Ein hinzugekommener Dorfschulmeister erzählte uns, wer das wäre. Der Mann schien große Stücke von diesem unglücklichen Dichter zu halten. Regelmäßig alle acht Wochen mache er sich von Leipzig aus zu Fuß auf den Weg, um Weimar zu erreichen, aber er sei bis jetzt nie weiter, als bis Naumburg gekommen und werde dann in dem Zustande, wie wir ihn fanden, sei es durch die Behörde oder durch mitleidige Menschen, nach Leipzig zurückgeschafft. Er starb ungefähr an derselben Stelle, wo ich ihn als Knabe zuerst getroffen: im Chausseegraben bei Naumburg vom Schlage gerührt, und abermals auf einer Mekkatour nach Weimar begriffen!
Ich bitte nicht zu vergessen, auch bei den folgenden Ausführungen (über Böhner und A. Rost) nicht, daß eine thüringische Eisenbahn damals noch nicht existirte.“
An dieser ganzen Geschichte ist kein wahres Wort. Der Verfasser verwechselt ganz einfach Adolf Böttger mit dem unglücklichen Ernst Ortlepp. Dieser hochbegabte Mann, 1800 in Droyßing bei Zeitz geboren, war Zögling von Schulpforta; es spricht gewiß für seinen Fleiß, daß er noch als Schüler eine Uebersetzung von Goethe’s „Iphigenie“ in’s Griechische wagen und vollenden konnte. Später zeichnete er sich in Leipzig als einer der ersten politischen Dichter aus. Sein „Osterlied für Europa“ begründete seinen Ruf. Seiner politischen Richtung wegen aus Leipzig ausgewiesen, suchte er in Stuttgart neuen Boden für seine literarische Wirksamkeit, aber ohne ihn zu finden. Arm und niedergedrückt kehrte er in die Heimath zurück. Das Glück hatte ihn ganz verlassen, und so verlor er sich selbst. Das Elend trieb ihn zur Trunksucht. Ob verunglückt, ob freiwillig in den Tod gegangen, – er war’s, den man als vierundsechszigjährigen Greis todt in einem Wassergraben bei Schulpforta gefunden. – Daß bei Adolf Böttger ebensowenig wie bei Alexander Rost der Zustand der Trunkenheit „ein permanenter“ gewesen, wie der Verfasser behauptet, widerlegt ein Blick auf ihre Werke. Rost’s Dramen athmen in der That einen anderen Geist, als von welchem Herr Albert Lindner ihn „permanent“ erfüllt sein läßt, und wenn Adolf Böttger nur seine deutsche Bearbeitung der Werke Lord Byron’s und nicht noch sechs Bände eigener lyrischer, epischer und dramatischer Dichtungen hinterlassen hätte, so müßte einem Kinde es einleuchten, daß solche umfassende Arbeiten auch lange Zeiten der Klarheit und Ruhe des Geistes erfordert hatten. Böttger ist nicht im Chausseegraben bei Naumburg, sondern in seinem Bette zu Gohlis bei Leipzig gestorben; er ist mit großem Ehrengeleite zu Grabe getragen worden; sein Grab schmückt ein schönes Denkmal mit seinem Medaillonbild und sein Geburtshaus eine Gedenktafel.
Auch dem alten Louis Böhner geschieht Unrecht; der geniale Mann war in der nicht leichten Kunst des Lebens ein Kind geblieben; er ergab sich wohl einem fröhlichen Genuß, wenn er ihm geboten war, aber ein „Trunkenbold“ erreicht schwerlich das dreiundsiebenzigste Jahr, wie er.
Mit welcher Gedankenlosigkeit Herr A. Lindner sein „Feuilleton“ hinwarf, dafür zeugt seine Schlußbehauptung, die das Leben seiner drei „Verschollenen“ noch vor die Eisenbahnzeit setzt. Böhner ist am 28. März 1860, Böttger am 16. November 1870, Rost am 15. Mai 1875 gestorben, und selbst Ortlepp entgeht jener Behauptung; denn ihn hat man am 14. Juni 1864 todt gefunden.
Ein Blick in das erste beste Conversationslexicon hätte den Verfasser und die Redactionen, welche das traurige Schriftstück zum Abdruck brachten, vor diesen – Irrthümern warnen können. Es geschah nicht, und so ist es Pflicht der Presse, die Wahrheit an das Licht zu stellen.
Pfänderspiele. (Mit Abbildung S. 232 und 233.) Der Satz, daß ein wahres Kunstwerk keiner Erläuterung bedarf, sondern durch sich selbst die Idee des Künstlers am deutlichsten wiedergiebt, trifft vor Allem bei Genrebildern zu, welche, wie das von uns heute im Holzschnitte reproducirte anmuthige von der Beek’sche Gemälde, mitten aus dem Volksleben der Gegenwart herausgegriffen sind. Wir brauchen uns ja nur an Selbsterlebtes zu erinnern, um die frohe Stimmung der im Schulzenhofe bei regnerischem Wetter versammelten Dorfjugend zu begreifen. Meister Theodor von der Beek hat schon mehrere derartiger trefflicher Volksscenen dem deutschen Publicum geschenkt. Wir erinnern nur an seine Gemälde: „Wallfahrer an der Fähre“, „Auf dem Heimweg“, „In Gedanken“ etc., die allgemeinen Beifall gefunden haben. Der Künstler, am 20. April 1838 zu Kaiserswerth als Sohn eines Bierbrauers geboren, wurde anfänglich zum Eintritt in das Geschäft des Vaters bestimmt, bezog erst in den Jahren 1856 bis 1866 die Akademie zu Düsseldorf und machte dann Studienreisen in ganz Süddeutschland, sowie in den Rheingegenden. Daß er aber beim Wechsel seines Berufes den richtigen Weg eingeschlagen, davon zeugt sicherlich unser heutiges Bild, welches unseren Lesern ohne Zweifel einen wirklichen Kunstgenuß bereiten wird.
W. H. in M. Gl. Sie lesen der Druckerei der „Gartenlaube“ energisch die Leviten, indem Sie sich darüber beklagen, daß dieselbe regelmäßig in unserem Blatte die Linien, welche die Columnen in zwei Spalten theilen, auf mindestens zwei, „sogar aber oft auch (!) auf drei bis vier Seiten“ fortläßt. Sie gerathen in eine gelinde Entrüstung über diese vermeintliche Nachlässigkeit unserer Druckerei. Das ist aber doch etwas vorschnell, Verehrtester; denn wenn Sie sich die Mühe genommen hätten, die Sache genauer in’s Auge zu fassen, so würden Sie gefunden haben, daß diese Linie stets auf der Rückseite einer Illustration – und zwar einzig und allein an solcher Stelle – fehlt; bei genauerem Nachdenken würden Sie ferner zu dem Schlusse gekommen sein, daß sie hier fehlen muß, und zwar, um den Bilderdruck durch ein störendes Durchschimmern nicht zu beeinträchtigen. Sie finden dieselbe Einrichtung bei sämmtlichen illustrirten Blättern. Also nicht so hitzig!
Amalie von W. Ihr Wunsch ist ja bereits in schönster Weise erfüllt: Zur häuslichen belehrenden und belustigenden Unterhaltung können Sie Kindern von zehn bis vierzehn Jahren nichts Besseres in die Hand geben, als J. Jentzsch’s „Kleines Experimentirbuch“, eine Sammlung physikalischer Experimente, Kunststückchen und Spiele, die ohne besondere Apparate, mit dem gewöhnlichen Haus- und Küchengeschirre auszuführen sind. Das Büchlein ist in Alfr. Oehmigke’s Verlag in Leipzig erschienen.
Abonnentin in Mähren (Oesterreich). Der Fall ist schlimm. Sie können nur durch sorgfältigste Ueberwachung des Knaben etwas erreichen. Suchen Sie sich sein vollstes Vertrauen zu erwerben, setzen Sie ihn daher nicht den andern Kindern gegenüber zurück, entziehen Sie ihm auch nicht erlaubte Genüsse, wohl aber beobachten Sie genau seinen Umgang, seine Neigungen, sein ganzes Thun und Treiben, und drohen Sie ihm bei einem etwaigen Rückfalle mit Entfernung aus dem elterlichen Hause! Der beschränkte Raum erlaubt uns hier nicht weiter auf den Fall einzugehen; wünschen Sie dies, so bitten wir um Ihre genaue Adresse.
Abonnent W. in Glauchau. Den Artikel „Der weiße Schrecken“ von Johannes Scherr finden Sie in Nr. 18 von 1866 der „Gartenlaube“.
H. G. in Rochester. In Köln a. Rh. giebt es drei täglich, also auch Sonntags, erscheinende Zeitungen.
Abonnent in L. Eingezogenen Erkundigungen zufolge finden sich in den Provinzen Sachsen und Brandenburg keine Findelhäuser.
B. L. in Danzig. Das in unserem Artikel „Institute für Körperwägungen“ erwähnte „Lebensbuch“ ist bei Theodor Fischer in Kassel erschienen.
Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:
Der bekanntlich soeben verstorbene beliebte Mitarbeiter der „Gartenlaube“ bietet mit diesem Werke dem Publicum höchst interessante Mittheilungen aus dem altjüdischen Leben, welche in allen Kreisen ungetheilten Beifall gefunden haben und hiermit der Beachtung auf’s Neue empfohlen werden mögen.
- ↑ Die „Gartenlaube“ wird voraussichtlich schon in den nächsten Nummern dies Alles ihren Lesern an einigen Beispielen darzuthun versuchen.
- ↑ Die Mitgliedschaft dieses Vereins kann schon jetzt erworben werden, und zwar durch die Zahlung eines Jahresbeitrages von mindestens einer Mark. Wer aber auf einmal zwanzig Mark einzahlt, der erlangt hierdurch lebenslängliche Mitgliedschaft. Die Anmeldung kann direct bei dem Schatzmeister (Herrn Consul von Bremen in Kiel) erfolgen, worauf nach Entrichtung des Beitrages die Satzungen des Vereins dem Einsender zugestellt werden.