Die Gartenlaube (1882)/Heft 19
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No. 19. | 1882. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen.
Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Recht und Liebe.
Regine schritt eiliger, als sie gekommen, davon – und jetzt wandte sie sich dem Edelhofe zu – in einer leicht erklärlichen Aufregung. Welche Enthüllung war ihr geworden! Also so genau kannte man in der Försterei ihrer Eltern Schicksale, so genau hatte Leonhard, noch bevor er sie kennen gelernt, um dieselben gewußt – und nicht der Zufall war es gewesen, der sie in der Stadt zusammengeführt, sondern die überlegte, planmäßige Berechnung hatte ihn bewogen, ihr den Schein des Zufälligen vorzuspiegeln, sich ihr allmählich mit erheuchelter Schüchternheit zu nähern, ihr zu huldigen und endlich, seines Erfolges sicher, um sie zu werben – um die Erbin – Alles um ihres Rechtes auf dieses Dortenbach willen, um eines Geburtsrechtes willen, das sie nicht sollte von sich schleudern dürfen, obwohl es ihr das Leben vergiftete!
Sie war nicht mehr zornig, nicht mehr empört, wie am Morgen – sie war entsetzt, innerlich gebrochen – das Herz blutete ihr; es drohte ihr zu brechen bei der unseligen Entdeckung, so grenzenlos abscheulich betrogen worden zu sein – von ihm, von dem reinsten, edelsten Menschen auf Erden, wie sie gewähnt hatte.
Sie rief es sich wieder in die Erinnerung zurück, wie er sich ihr zuerst genähert; auf der Eisenbahn von einem weiteren Ausfluge in’s Gebirge heimkehrend, hatte sie ihn im Coupé sich gegenüber gefunden – nach längerer Fahrt war der Tante neben ihr unwohl geworden – er hatte sich hülfreich gezeigt – den Arzt hervorgekehrt; beim Auseinandergehen nach der Ankunft in der Stadt hatte die Tante ihn gebeten, am anderen Tage kommen und nach ihrem Befinden sehen zu wollen; er war gekommen und von da an öfter und öfter, bis Regine ihm ein Recht gegeben hatte, seine Besuche dauernd fortzusetzen.
Aber so oft er gekommen, er hatte Reginen nie verrathen, daß er aus Dortenbach stamme, daß er die Geschichte ihrer Eltern kenne – mit keiner Silbe. Das verdammte ihn in Reginens Augen jetzt unrettbar. Nur ein Intrigant konnte so handeln, ein Intrigant, der ihr gefolgt war, der sich geflissentlich eines Platzes in demselben Coupé mit ihr bemächtigt hatte und dem der Zufall dann so wunderbar beigestanden …
Und erst nach längerer Zeit, kurz bevor sie ihm das Jawort gegeben, das nach beider Wünschen vorerst noch nicht bekannt werden sollte, hatte er ihr gegenüber, anscheinend ganz unbefangen, einmal Dortenbach erwähnt und auf ihre erstaunte Frage, wie er es kenne, geantwortet, daß es seine Heimath sei … von seinen Eltern, von seinem Bruder Edwin hatte er ihr nun gesprochen, gesagt, daß sein Vater Forstmann, der Förster der Dortenbach’schen Waldungen sei. Und von da an war denn bei ihrem unbedingten Vertrauen auf ihn das Eis gebrochen – sie hatte ihm ihrer Eltern Schicksal erzählt und er ihr gelauscht, als ob er nie davon gehört. Und dann war es geschehen, daß sie ihm ihre Entschlüsse, ihre zornige Entschlossenheit geoffenbart, nie in die geringste Berührung mit der adeligen Sippschaft ihrer Mutter kommen zu wollen.
Er hatte weder Lob noch Tadel für diese Art zu empfinden gehabt, nur skeptisches Lächeln – zu widersprechen war er wohl viel zu klug gewesen – erst nach und nach war leise, mit einem überlegenen Lächeln, mit einer spöttischen Indifferenz der Widerspruch gekommen, bis er eines Tages bei ihr erschienen war, um ihr mitzutheilen, daß er als Arzt zu ihrem Oheim berufen sei; als er dann zurückgekehrt, hatte er den zweiten großen Schachzug gethan – sie zu überreden gewußt, hierher, nach Dortenbach zu kommen.
So lag jetzt Alles klar vor Reginens Augen. Nach seiner Mutter Aeußerungen, welche er so thöricht gewesen war, nicht ganz in’s Vertrauen seines verdeckten Spiels zu ziehen, war Alles aufgedeckt worden; die abscheuliche Intrigue lag nun klar und offen vor ihren Augen.
Regine war in einer furchtbaren Verzweiflung; ihn als ruchlos, als schlecht, als einen Menschen, der ihr um ihres Erbes willen Liebe gelogen, der ihre Hingabe geduldet, weil die Hoffnung auf ein Rittergut damit verbunden war – ihn so erkennen zu müssen, das war mehr, als sie zu ertragen wußte – das löschte ihr die Sonne aus und ließ alle Gestirne, die dem Leben leuchten, in Nacht und Dunkelheit ersterben – es war nichts Helles, nichts Großes, nichts Schönes mehr auf der Welt – es war Thorheit, noch weiter leben zu wollen unter Menschen, von denen, wenn Er trügen und lügen konnte, Keiner, auch nicht ein Einziger gut sein konnte – nein, nicht ein Einziger – Regine hätte eine letzte bange Zuflucht in ihrem vernichtenden Schmerze da suchen mögen, wo einst ihre arme Mutter sie zu finden gehofft.
Als sie endlich ganz erschöpft und zum Sterben elend in ihr Zimmer kam, fand sie ein Billet auf ihrem Tische – es war von Ihm. Er schrieb:
„Regine – Sie haben ein vollständiges Recht, auf Ihr Recht zu verzichten. Aber Sie haben kein Recht zum Argwohn wider mich, und ich bin zu stolz, mich dagegen zu vertheidigen. [306] Doch – wenn Sie auch darin Recht hätten, so müßte all dieses Denken an Ihr Recht doch untergehen in dem Gefühl Ihrer Liebe, Ihrer Liebe für das Haus, in welchem Ihre Mutter aufwuchs und ein fröhliches Kind war, für den Boden, der Ihrer Väter Heim war seit Jahrhunderten, für den Oheim, der Sie nicht entbehren kann, und für mich, dem Sie Ihr Wort, Ihre Treue verpfändet haben. Ich gehe, Regine, und kehre zurück, wenn Sie, die Kranke, den Arzt rufen.“
„O mein Gott!“ rief sie erschrocken, empört aus. „Er trotzt auf das ihm verpfändete Wort. Er trotzt noch.“
Regine hatte gegen die Dämmerstunde hin sich einigermaßen gefaßt und gesammelt; sie beschloß, ihren Dienst bei dem alten Herrn wieder aufzunehmen, der sie sicherlich ungeduldig erwartete – sie pflegte, wenn die Lampen entzündet wurden, ihr Vorleseramt anzutreten, und wollte es auch heute thun – es war vielleicht eine Zerstreuung, eine Flucht aus all den schrecklichen Gedanken, welche ihre Stirn glühen, ihre Schläfen hämmern ließen, ihre warmen Hände kalt und feucht machten. Sie wollte noch ein paar Tage lang still wie bisher weiter walten um den kranken Mann und dann die Gelegenheit suchen, unter einem passenden Vorwande von Dortenbach abzureisen und so sich vor einer neuen Begegnung mit Leonhard zu flüchten. Diesen wollte sie nie, nie wieder sehen. Er war verurtheilt für immer.
Sie betrat mit einigem Zagen das Wohnzimmer ihres Onkels. Sicherlich, dachte sie, werde der sensitive und feinfühlige alte Herr den Tact haben, nicht von der Adoptionsidee direct mit ihr zu beginnen, nachdem sie dieselbe nun einmal so schroff abgewiesen; auch werde er sich nicht als ihren Oheim geltend machen, nachdem es ihm durch Leonhard doch nahe genug gelegt sein mußte, daß sie davon nichts hören noch anerkennen wolle – sie hätte in der Erbitterung ihres Herzens dann um so härter und schärfer antworten müssen, je schwerer es ihr geworden wäre, ihre Fassung zu bewahren. Und dem alten Herrn wehe zu thun, davor scheute sie doch auch zurück, als sie jetzt forschend in sein Gesicht blickte – es lag ein so milder Ernst in diesen weichen Zügen, wie milder, lichtspiegelnder Thau auf einer Gegend liegt nach stürmischer schwerer Nacht.
Und in der That, er schien auch gar nicht daran zu denken, ein indiscretes Wort fallen zu lassen.
„Ich habe,“ sagte er ruhig, während Andreas die entzündete Lampe aufstellte und dem Lichtschirme des alten Herrn die rechte Höhe gab – „ich habe da ein Buch bekommen, aus dem Sie mir heute lesen sollen, Fräulein Bertram – es trägt den verheißungsvollen Titel ‚Canossagänge‘.“
„Gänge?“ fragte Regine. „Haben wir denn nicht an einem solchen Gange genug?“
„Leider giebt es ihrer mehrere in der Geschichte, und der Verfasser stellt sie zusammen, um das Grundgesetz des ‚Canossaganges‘ zu finden, die Theorie solcher Niederlagen des überzeugten Wollens und Handelns für das Allgemeine –“
„Und findet er das Gesetz?“
„Es scheint so. Wir werden ja sehen. Er scheint den Satz aufzustellen: Ueberall da, wo mit dem überzeugten Wollen nicht hoher sittlicher Ernst verbunden war, sondern die Ueberzeugung, wenn auch noch so tief und unerschütterlich, nebenbei in den Dienst persönlicher oder parteilicher Interessen und Absichten gestellt wurde, überall da ist das Ende des Endes der Gang nach Canossa.“
Regine nahm, ohne viel darauf zu hören, das Buch zur Hand. Was verschlug ihr diese Theorie; sie – soviel war gewiß – ging nicht nach Canossa – sie widerrief nicht.
Andreas hatte unterdeß die Läden vor den Fenstern zu schließen begonnen – jetzt hielt er hinausblickend inne.
„Was soll denn nun das bedeuten?!“ sagte er.
„Was hast Du, Andreas?“ fragte der alte Herr.
„Die jungen Herren machen sich da ein seltsam Stück Arbeit,“ antwortete Andreas; „da unten sind die Herren Junker mit dem Hausknechte in voller Thätigkeit, die Zugbrücke aufzuziehen – das ist ja schon seit Jahren nicht mehr geschehen und macht ihnen auch Last genug, scheint es.“
„Laß sie, wenn es ihnen Vergnügen macht!“ erwiderte der alte Herr mit einem leisen Seufzer.
Andreas schloß nach einem letzten Blicke auf die arbeitende Gruppe da draußen den Fensterladen.
„Es ist seltsam,“ sagte er dabei, „sie haben auch den Zug an der vorderen großen Brücke heute Nachmittag bearbeitet, sodaß Niemand mehr herein noch hinaus kann, wenn sie auch den aufziehen.“
„Man hat vielleicht von Diebesbanden in der Gegend gehört,“ erwiderte der alte Herr, „geh’ jetzt, Andreas!“
Andreas ging, kopfschüttelnd und verdrossen über seinen alten Herrn, welcher sich nun gar das auch wieder gefallen ließ – solches Den-Herrn-spielen in seinem eigenen Hause – solchen Uebermuth!
Es war nicht gerade Uebermuth, was Sergius und Damian dazu verführt hatte, Haus Dortenbach für die kommende Nacht von der übrigen Welt abzuschneiden, wie eine mit Belagerung bedrohte Burg. Was sie gethan, war die Ausführung einer in einem Familienrathe beschlossenen Maßregel und das Ergebniß von sehr erregten und leidenschaftlichen Debatten, die in dem großen Wohnzimmer des von der Generalin von Sander bewohnten Flügels fast den ganzen Nachmittag hindurch stattgefunden hatten, nachdem der Herr Rentmeister sich bei der Generalin hatte melden lassen, um ihr Mittheilungen der überraschendsten und erschreckendsten Art zu machen. Er war ein kluger, scharf beobachtender Mann, der Herr Rentmeister Benning; für das Beobachten kam ihm wohl ein wenig das leise Schielen zu Statten, mit dem er bald hierhin, bald dahin blickte – nur nie seinem Gegenüber gerade in’s Auge. Von seinen Geschäften erdrückt war er nicht; dafür standen seine breiten Schultern ein, obwohl sie auch noch den schweren, rothen Kopf mit dem starken Unterkinn zu tragen hatten, aber ein wenig übellaunig und menschenfeindlich hatten sie ihn gemacht, die Geschäfte, und eigensinnig dazu; der Förster Klingholt pflegte zu sagen, es wäre dem Herrn Rentmeister ergangen wie einem Hunde, der bei einem zu schwachen Herrn die Dressur verloren.
„Frau Generalin,“ hatte Benning gesagt, nachdem er sich breit und selbstbewußt der hohen Dame gegenüber gesetzt und mehrmals die heiße Stirn getrocknet, „da habe ich Ihnen etwas mitzutheilen, was das Geschäftchen, welches wir in Aussicht genommen, böse stören könnte.“
„Und was wäre das? Meine Cousine Ramsfeld denkt doch nicht etwa an einen anderen Käufer für Dortenbach als Sie, Benning? … Dann müßten Sie selber dazu thun, um …“
„Es handelt sich nicht um Frau von Ramsfeld, sondern um eine ganz andere – Cousine!“
„Cousine? Welche Cousine?“
„Die schöne Krankenpflegerin des Barons, das Fräulein Bertram … das Fräulein, das sich Regine Bertram nennt …“
„Was soll uns das? Was wollen Sie sagen, Benning? Sie könnten ein wenig rascher vorbringen, was Sie sagen wollen.“
Ein boshaftes Lächeln zuckte um seinen Mund. Es war nicht seine Art, da, wo er erst ein wenig auf die Folter spannen konnte, gleich mit den Dingen heraus zu platzen. Darum antwortete er, indem er sich auf’s Neue die Stirn mit dem Tuche wischte, nur:
„Sie hören’s früh genug, Frau Generalin; denn sehr angenehm wird Ihnen die Entdeckung nicht sein. Dieses Fräulein Bertram heißt gar nicht Bertram, sondern Regine Horstmar, und ist das wohlgerathene, legitime Töchterlein des Medicinalraths Horstmar, des Doctors, wissen Sie, der die Schwester unseres Barons, das Fräulein Sabine verführt und endlich auch richtig bekommen hat …“
„Ah – ich bitte Sie – ist das die Wahrheit?“ rief die Generalin erblassend, während ihre kleinen falschen Augen ihn mit strafendem Blicke durchbohrten.
„Wenn’s die Wahrheit nicht wäre, sagte ich’s nicht. Es ist so und nicht anders. Die Krankenpflegerschaft ist nichts als die Maske, unter der sich das liebenswürdige Fräulein an den Herrn Baron herangeschmeichelt hat …“
„Aber das ist ja schrecklich – das ist ja ein unerhörter Betrug des alten Mannes, der sicherlich von einem Fräulein Horstmar so wenig wissen will, wie wir Alle. Was will sie denn hier? Erbschleichen? Gegen uns intriguiren?“
[307] „Erbschleichen – nun ja, wenn man’s so nennen will,“ sagte, boshaft lächelnd, Benning. „Obwohl …“
„Diese Schlange!“ rief die Generalin in sittlicher Entrüstung; „diese höllische Schlange – darum hat sie damit begonnen, uns von dem Vetter zu trennen – und der Doctor, dieser Doctor Klingholt dient ihr dabei hinterlistig zum Rückhalt …“
„Richtig – der Doctor – die Herren Klingholt – da liegt eben – nicht der Hase, sondern der Förster im Pfeffer …“
„Welche Frechheit!“ eiferte die Generalin. „Sabine Dortenbach hat vor ihrer Verheirathung feierlich und gerichtlich auf alle Erbansprüche verzichtet und geschworen, nie wieder den Fuß nach Dortenbach setzen zu wollen. Darnach können wir uns nun doch ausbitten, daß diese Sorte Verwandtschaft uns aus dem Wege gehe. So etwas kann doch selbst Er nicht hier dulden wollen. Freilich, was duldet Er nicht am Ende! Aber dafür sind wir da. Es wäre ja gottlos von uns, wenn wir den kranken, schwachen Mann einer solchen Intrigue ausgesetzt sein ließen …“
Sie war, während sie sprach, in zornigster Erregung aufgesprungen und schritt nun mit einer Energie auf und ab, daß die alten Dielen sich unter ihren Füßen bogen.
„Wie haben Sie die Sache denn nur entdeckt, Benning?“ fragte sie.
„Na – wie man so etwas entdeckt, wenn man nur einmal auf den ersten Gedanken gebracht ist. Es war eine so auffallend schöne und stattliche Person, die der Doctor Klingholt da geschickt halte – als Krankenwärterin! Solche Personen, welche Sie dabei ansehen, als ob sie sagen wollten: wenn da, wo Du stehst, Luft wäre, würde ich eine angenehmere, freiere Aussicht haben, solche Damen pflegen doch keine Krankenpflegerinnen zu sein – zu meiner Zeit wenigstens waren sie das nicht. Und dann hatte sie so etwas – ich weiß nicht, worin es lag, vielleicht nur an der Art, womit sie von Zeit zu Zeit mit ihren schmalen langen Fingern langsam über ihre Brauen strich – sie hatte so etwas, was meine Gedanken wunderlicher Weise am Ende immer wieder auf unsern Hausgraben brachte, auf die nordwestliche Ecke, wissen Sie, und so – nun, um’s kurz zu machen: so dämmerte mir etwas. Schrieb also in die Stadt, wo ich einen Halbbruder habe, der mir schon länger den Gefallen gethan hat, das Fräulein Regine Horstmar ein wenig im Auge zu behalten, und so bekomme ich heute vor Mittag die Antwort, daß das Fräulein Horstmar, bei dem in letzter Zeit der Doctor Klingholt viel aus- und eingegangen ist – ihre Tante, die Clavierlehrerwittwe, soll an asthmatischen Zufällen leiden – daß also das Fräulein seit einiger Zeit verreist ist – wohin, nicht zu ermitteln; sie ist eine dunkelblonde Schönheit, schon mehr brünett, hat eine gedämpfte Hautfarbe mit zarter Röthe, große blaue Augen und einen kleinen Leberfleck links vom Kinne. Na – da hätten wir denn das Signalement – und ich denke – es paßt, Frau Generalin.“
„Und Regine heißt sie auch – das Fräulein Horstmar?“
„Regine ist sie getauft,“ nickte der Rentmeister.
„Ein Zweifel kann dann freilich nicht mehr obwalten – es handelt sich nur noch um die Frage, wie man sie am besten und am raschesten fortschickt.“
„Das ist nun freilich nicht leicht,“ antwortete, sehr nachdenklich den Kopf wiegend, der Rentmeister.
„Ich würde das ganz allein auf mich nehmen – sofort!“ rief hitzig die Generalin – „wenn ich nicht befürchten müßte, meine Cousine Ramsfeld würde es mir schwer übel nehmen, daß ich ihr nicht gegönnt habe, auch dabei zu sein, wo man sich so um den kranken Vetter verdient macht … ich muß die Cousine –“
Der Rentmeister sah sie mit einem so bitterspöttischen Lächeln an, daß sie sich unterbrach.
„Was lächeln Sie denn so dämonisch, Benning? Was wollen Sie sagen?“
„Lächle ich?“ entgegnete der Rentmeister mit einem vergnügten Augenblinzeln – „dann ist es wohl vor Vergnügen, zu sehen, wie praktisch Sie das Ding angreifen werden, gnädige Frau –“
„Nun, dafür sollten Sie mich kennen!“
„Freilich, freilich! Deshalb komme ich ja auch zuerst zu Ihnen. Jetzt möchte es sich jedoch allerdings empfehlen, auch Frau von Ramsfeld und Herrn Sergius in das Geheimniß zu ziehen – es möchte uns doch verübelt werden, wenn wir die Sache nicht einer allgemeinen Berathung unterzögen; ich habe noch einiges vorzulegen, das wohl der Mühe werth wäre, einem kleinen Familienrath vorgelegt zu werden.“
„Was haben Sie denn noch?“
„Darf ich gehen, Frau von Ramsfeld herüberzubitten?“ fragte Benning, ohne der Generalin eine Antwort zu gönnen.
„Gehen wir Beide zu ihr hinüber, meinethalb!“ versetzte sie und schritt vorauf.
Sie gelangten durch einen Corridor, der die beiden Heerlager trennte, in’s Hauptquartier des Südens. Das Zimmer der Frau von Ramsfeld, welches Fenster nach zwei Seiten hatte, die jetzt durch zugezogene Jalousien verdunkelt waren, zeichnete sich durch große Unordnung aus, durch die merkwürdige, eigensinnige Verwechselung der Möbel zum Ruhen und Sitzen mit solchen, welche zur Aufbewahrung von Wäsche und Kleidungsstücken bestimmt sind.
Dora saß am Fenster und knotete an irgend einer Häkelei, Frau von Ramsfeld aber ruhte auf einer Chaiselongue und – schlief. Sie fuhr ein wenig wild aus ihrer Siesta auf, als nach einem einmaligen raschen Anklopfen die Generalin so nachdrücklich in’s Zimmer gerauscht kam, als ob sie eine kriegerische Occupation vornehme.
„Aber ich bitt’ Sie, Frau Cousine, mich so zu überraschen! Und Sie, Benning, was wollen Sie?“
Die Generalin setzte sich auf den Sessel zu Füßen des Ruhebetts, ohne eine Entschuldigung bei der Lage der Dinge für geboten zu erachten; sie überließ dieselbe Benning, der in der Mitte des Zimmers stehen geblieben war und nun, indem er mit boshafter Betonung sprach, auch die Frau Generalin aus ihrer Haltung voll entrüsteter Würde aufschreckte.
„Sie müssen schon verzeihen, daß wir Sie stören, gnädige Frau; es geschieht nicht ohne guten Grund … wenn das Haus brennt, macht man mit dem Wecken keine Complimente … das Haus brennt nun zwar nicht, aber der Boden unter Ihren Füßen bekommt eine verdächtige Wärme, meine Gnädige! Da heißt es denn überlegen, was zu thun bei einer Sachlage von so verzweifelt gefährlicher Natur – wirklich – es ist nicht zu viel gesagt, wenn ich sage: verzweifelt.“
„Aber,“ fuhr hier die Generalin dazwischen, „was reden Sie denn da, Benning? Verzweifelt? Verzweifelt einfach ist denn doch die Geschichte, und was zu thun? Ich habe nie in meinem Leben sicherer gewußt, was zu thun ist.“
„Um was handelt es sich denn?“ fragte Frau von Ramsfeld, indem sie mit großem Eifer ihr wirrgewordenes Scheitelhaar ordnete und glatt strich.
„Es handelt sich darum,“ sagte Benniug, „daß die Pflegerin, welche Doctor Klingholt dem alten Herrn zugeführt hat, Fräulein Horstmar, die ausschließliche legitime Erbin von Dortenbach ist, und daß, wenn sie in dieser Weise, wie sie es gethan, sich einmal hier im Hause eingeführt hat, sie auch wohl entschlossen ist, es nicht wieder zu verlassen – wozu sie denn auch freilich kein Gott zwingen kann.“
Frau von Ramsfeld starrte ihn an, beide Hände, welche plötzlich in ihrer Bewegung wie gelähmt inne gehalten hatten, noch auf dem Scheitel. Die Generalin aber sagte erstaunt: „Benning, schnappen Sie denn über? Sie sprechen ja jetzt, als ob …“
„Ich verrückt wäre? O nein ich weiß sehr gut, was ich sage, meine Gnädige.“
„Die – wie heißt sie? Horstmar?“ rief jetzt Frau von Ramsfeld dazwischen, „ist hier und will uns um die Erbschaft des Vetters bringen? Die Mutter, ehe sie mit ihrem Quacksalber durchgegangen ist, hat ja …“
„Hat ja auf Alles und Jedes verzichtet,“ fiel hier die Generalin ein.
„Allerdings, allerdings!“ rief Frau von Ramsfeld, „ich weiß ja noch von meinen seligen Eltern her, daß dieser bürgerliche Anhang uns nichts mehr angeht.“
„Ihre seligen Eltern, gnädige Frau, haben sich da im Irrthum befunden,“ erwiderte Benning, sich breit in den nächsten Lehnstuhl setzend, von welchem unterdeß Dora hastig ein auf den ersten Anblick unbestimmbares nicht mehr ganz frisches Wäschestück fortgerissen hatte. „Das Fräulein Sabine von Dortenbach hat vor ihrer Verheirathung auf ihre Erbansprüche entsagt. Allerdings! Und hätte unser Herr legitime Descendenz, so wäre ihre Nachkommenschaft ausgeschlossen. Allein da jene fehlt, ist die Tochter der Sabine von Dortenbach die einzige und ausschließliche Erbin – [308] der Verzicht ihrer Mutter ändert darin nicht das Geringste; denn diese konnte höchstens für sich, aber nicht für ihre Kinder verzichten.“
„Aber das ist ja, um Ihnen die Augen auszukratzen, Sie dummer Mensch!“ rief die Generalin zitternd vor Aufregung dazwischen, „das ist nicht möglich – wie wäre uns denn nie, niemals etwas davon gesagt …“
„Vielleicht haben Sie nie einen rechtskundigen Menschen darnach gefragt, gnädige Frau,“ antwortete Benning sarkastisch.
„Aber Sie selbst,“ sagte Frau von Ramsfeld, „Sie selbst haben doch auch …“
„Nun sehen Sie,“ unterbrach er sie mit einem Blick, von dem jede der beiden Damen annehmen konnte, daß er auf sie gerichtet sei, „man glaubt eben, was man wünscht. Ich habe mir immer die Horstmar’schen so ein wenig im Auge gehalten; der Mann war ein Demokrat und grimmiger Adelsfeind – das wußte Jedermann in der Stadt; von seinem Zusammenhang mit den Dortenbach hat ihm nie Jemand reden dürfen; in so feindseliger Gesinnung wird er auch sein Kind erzogen haben, und bei Leuten, welche so denken – was wollen Sie? bei solchen Leuten wiegt man sich in eine falsche Sicherheit, daß sie sich nicht herablassen, sich das Dementi zu geben, das, worauf sie einmal verzichtet haben, nun doch zu fordern.“
„Das wäre ja aber auch eine wahre Schmach – und noch dazu mit einer so ruchlosen, elenden Juristen-Chicane,“ sagte Frau von Ramsfeld.
Die Professoren an unseren Universitäten wie die Directoren unserer Seminare pflegen in ihren Vorlesungen über die Geschichte der Pädagogik zwar eingehende Biographien von großen Vertretern dieser Wissenschaft zu geben, auch die Geschichtsbücher der Erziehungslehre berichten über die Sterne erster Größe am pädagogischen Himmel, aber in die Welt des kleinen Lehrers, die des Wissenswerthen so vieles bietet, greift selten ein kundiger Schilderer. Und doch ist dieses Capitel höchst interessant und zugleich ein nicht unwichtiger Culturmesser. Es sei mir darum gestattet, hier Einiges über die jungen Lehrer des vorigen Jahrhunderts, die man früher allgemein „Präceptoren“ nannte, zu berichten; ich schicke sogleich voraus, daß, so sonderbar und unglaublich auch manches hier Mitgetheilte klingen mag, doch Alles, was ich schildern werde, auf Wahrheit beruht. Was ich aus der Zeit vor ziemlich hundert Jahren erzähle, ist mir von einem alten durchaus glaubwürdigen sächsischen Cantor und Lehrer, einem früheren Präceptor, mitgetheilt worden. Meine Darlegung bezieht sich somit nur auf das Königreich und die Provinz Sachsen, namentlich aber auf den Regierungsbezirk Merseburg, es ist indessen wohl anzunehmen, daß die Verhältnisse der Präceptoren damals in ganz Deutschland dieselben gewesen sind.
Noch zu Ende des vorigen und zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts gehörte in Sachsen eine große Anzahl der Dorflehrer ohne Kirchendienst dem ehrbaren Schneider-, Schuhmacher- oder Leineweberhandwerke an, und nur ein geringer Bruchtheil bestand aus Leuten, die in ihrer Jugend den Lehrerberuf erwählt hatten. Die Anforderungen, die man an sie in der Regel stellte, waren äußerst gering. Konnte ein Knabe gut lesen und schreiben, war er mit den vier Species mit unbenannten und benannten Zahlen vertraut und hatte er eine leidliche Stimme zum Singen – gut, so hieß es: „Du mußt Lehrer werden“ – und er wurde es. Das Dorf Niemegk bei Bitterfeld lieferte – nebenbei bemerkt – damals ein so bedeutendes Contingent derartiger Schulamtscandidaten, daß man es im ganzen Umkreise nur „die Präceptorhecke“ nannte.
Eine besondere Vorbereitung auf den Lehrerberuf gab es weiter nicht als die, daß der confirmirte Knabe bei dem Dorflehrer höchstens noch ein Jahr blieb und während dieser Zeit sich einige Lehrgeschicklichkeit aneignete; auch ein gewisses Alter zur Erlangung einer Präceptorstelle war nicht erforderlich, ebenso wenig eine Probelection; nur ein Tentamen bei dem Superintendenten hatte der Erwählte, richtiger der „Gemiethete“, zu bestehen, und selten erhielt ein Examinand eine Zurückweisung; denn eine solche war bei dem geringen Grade der Anforderungen kaum möglich.
Der oben erwähnte alte Cantor erzählte mir über seine Erfahrungen als Präceptor Folgendes:
„Ich war, als ich zum Präceptor im Dorfe B. angenommen, etwas über fünfzehn Jahre alt und noch recht klein von Figur. Der Tag meines Tentamens kam heran. In Schnallenschuhen, schwarzen langen Strümpfen, kurzer Hose, schwarzer Jacke und einem Strohhute von derselben Farbe präsentirte ich mich dem hochwürdigen Herrn Superintendenten. Sein erstes Wort war: ‚Du? Ei, Du wirst auch was Rechtes können! Setze Dich!‘
Nun überzeugte er sich zuerst von meiner Lesefertigkeit und dictirte mir einige Zeilen; dann begann die Ueberhörung des größten Theiles der lutherischen Hauptstücke und einer nicht geringen Anzahl von Bibelsprüchen, worauf die christlichen Fragstücke aus dem großen lutherischen Katechismus an die Reihe kamen. Er fragte, ich antwortete.
Die Prüfung war hiermit beendet. Ich hatte die Feuerprobe glücklich bestanden und wanderte nun an einem wunderschönen Herbsttage meiner neuen Heimath zu. Diese war ein ganz kleines Dörfchen mit nur sechs Drescherhäusern und einer Schäferei. Sämmtliche Häuschen hatten Lehmwände, Strohdächer und kleine Fenster. In unmittelbarer Nähe befand sich ein schöner Tannenwald, in welchem Legionen von Krähen nisteten, deren Gekrächze mein tagtägliches Concert war. Mit den besten Vorsätzen und dem freudigen Gefühle, daß meine blutarmen Eltern nun nicht mehr für mich zu sorgen hätten, kam ich hierher, traf aber nur die Kinder zu Hause; denn die Eltern waren auf dem eine halbe Stunde entfernten Rittergute auf Arbeit. Einem zwölfjährigen Mädchen stellte ich mich als den neuen Präceptor vor, und die fröhliche Kleine zeigte mir das Haus, in welchem die nächste Woche Schule gehalten werden sollte. Ich ließ mich in demselben häuslich nieder – denn nach Ortssitte war es zu meiner Wohnung bestimmt – und ging alsdann in’s Pfarrdorf, um mich dem Pastor, meinem Localschulinspector, vorzustellen.
In dem Hofe dieses geistlichen Herrn sah es aber wie in einem großen Bauerngute aus; denn er betrieb seine Oekonomie selbst. Alte und junge Hühner, Gänse und Enten wurden in diesem Augenblicke gerade von ihm in höchst eigener Person gefüttert. Er nahm mich freundlich auf, theilte mir erfreut mit, daß der Rittergutsbesitzer meinen Gehalt um jährlich zwei Thaler erhöht, sodaß ich, nicht wie mein Vorgänger sechs, sondern jährlich sogar acht Thaler Einkommen haben würde. Am Schlusse meiner Vorstellung gab er mir die Weisung, den nächsten Montag meine Schule in Gottes Namen zu beginnen und fleißig zu sein. Er werde später nachsehen, wie ich mein Amt treibe.
Es war gegen Abend, als ich in mein Dörfchen zurückkehrte. Ich hatte mit der Drescherfamilie eine gemeinsame Wohnung; nur unter dem Dache ward mir zur alleinigen Benutzung ein Schlafkämmerchen mit einem so schmalen Fenster angewiesen, daß ich den Kopf nicht herausstecken konnte. Das war nun mein neues Heim, jedoch nur auf kurze Zeit; denn es bestand hier dieselbe Einrichtung wie an anderen Orten, die einen Präceptor hatten, nämlich die: es wurde die Schule in einem Hause nur so viele Wochen gehalten, wie es schulpflichtige Kinder zählte. Dieselbe Bestimmung galt auch für die Zeitdauer meiner Wohnung und Beköstigung.
Wie mir der Herr Pfarrer befohlen, begann ich also meine Schule. Die sämmtlichen Schulkinder des Ortes, dreizehn an der Zahl, sämmtlich Barfüßler, erschienen rechtzeitig, obgleich keine allgemeine Dorfuhr die richtige Zeit meldete. Ein großer, weißer, gescheuerter Tisch mit unzähligen von Holzwürmern gebohrten Löchern bildete die Schultafel, an welcher leider nicht alle Schüler Platz fanden. Es mußten deshalb die ganz Kleinen auf Hitschen (Fußbänken) sitzen und eine lange Bank, die an den Wänden befestigt war, als Dach benutzen. Das gehörige Licht fehlte in hohem Maße; denn die äußerst kleinen Fenster wiesen drei zerbrochene Scheiben auf, welche nach altväterischer Sitte aus Sparsamkeit mit Papier verklebt waren. Die Stube selbst war ungedielt und nur der vordere Raum mit Ziegelsteinen gepflastert.
[309][310] Ein mächtiger Kachelofen mit einer ‚Höllenbank‘, die unseren Dreschersleuten als Sopha diente, mußte auch jetzt schon, trotz warmer Luft, da es eine Sommerfeuerstätte nicht gab, zum Kochen benutzt werden.
Drei Stunden dauerte die Unterrichtszeit, in welcher Religion, Lesen, Schreiben und Rechnen gelehrt wurden. Vor Allem aber mußten die Kinder den lutherischen Katechismus, eine Masse Bibelsprüche und Gesangbuchslieder auswendig lernen. Ich sage absichtlich: auswendig; denn von inwendig Lernen gab es keine Spur. Als Lesebücher dienten das ABC-Buch mit dem großen Kickerihahne auf dem Titel, der kleine lutherische Katechismus, das Evangelienbuch und bei weiter vorgeschrittenen Lesern die Bibel. Der Schreibunterricht bestand nur in dem Anstreben einer eigenen Handschrift; zu besonders glänzenden Resultaten führten diese Versuche freilich nicht – du lieber Gott! wie wäre das möglich gewesen! In so kurzer Zeit! Schriftliche Arbeiten wurden nicht verlangt, und man war zufrieden, wenn die Kinder leichte Sätze nach Dictat schreiben konnten. Die Uebungen im Rechnen bestanden immer in Berechnungen des Preises von Eiern, Butter und Käse, und Lehrmittel gab es gar nicht. Das war also unsere damalige Volksschule!
Nach der Schule erquickte ich mich an dem Dufte des Tannenwaldes und arbeitete an meiner weiteren Ausbildung, deren ich gar sehr bedurfte. Von meinem Pfarrer und dem Schulmeister im Pfarrdorfe lieh ich mir Bücher, welche ich mir größtenteils abschrieb, da ich kein Geld zum Ankaufe derselben hatte. Es war ein trauriges, lichtloses Leben. Meine gewöhnliche Kost bestand aus einer Wasser- oder Milchsuppe und aus Kartoffeln mit Quark. So frugal aber auch meine Mahlzeiten waren, so mußte ich mir doch sagen, daß sie unter bewandten Umständen nicht anders sein konnten, und ich war zufrieden, daß es wenigstens Sonntags Fleischtag war. In dieser Einsamkeit, in welche keine Kunde von den Strömungen und Fortschritten der Welt da draußen hineinklang, mußte ich zwei lange, lange Winter verleben. Ja, Winter – nicht Jahre! Denn nur während der Zeit, da der gestrenge Boreas regierte, war ich Schulmeister. Im Sommer hatten die Kinder Wichtigeres zu thun, als zu lesen und zu schreiben, und dann gab es eben keine Schule; der Präceptor wurde entlassen – und verdiente durch Handarbeit sein täglich Brod.
Nach zwei Jahren aber war mir ein besseres Loos beschieden, und das ereignete sich so: Der Präceptor in einem großen Bauerndorfe hatte die Frau des Ortsschulzen sich zur unversöhnlichen Feindin gemacht, indem er ihrem einzigen Sohne, einem verzogenen, lernfaulen und trotzigen Jungen, in der Schule einen Platz unter dem Kinde des Nachbars, mit dessen Ehefrau sie seit Jahren in Feindschaft lebte, angewiesen hatte, und nun wußte sie es in ihrem Hasse gegen den armen Präceptor bei ihrem Manne, ihren Verwandten und Gevattern im Orte durchzusetzen, daß der so rücksichtslose Lehrer am Michaelistage nicht wieder gemiethet wurde. Des Einen Unglück ist des Andern Glück: ich ward der Nachfolger des in Ungnade gefallenen Präceptors. Ich war ein glücklicher Mann; denn ich erhielt nicht allein zwölf Thaler Gehalt jährlich, sondern auch bessere Kost, Wohnung und Gesellschaft. Außerdem fand ich auch während des Sommers lohnendere Arbeit; durfte ich doch den Bauern bei der Feld- und Gartenarbeit helfen, und ward mir doch außerdem noch das Recht gewährt, vierzehn Tage in den Dörfern der ganzen Umgegend mit meinen größeren Schülern und Schülerinnen den ‚Gregorius-Umgang‘ zu halten. Es war dies ein Rest des alten fahrenden Schülerthums, zu dessen Ausübung ein Dutzend Volkslieder und Arien eingeübt wurden und welches mit der vollen Woche nach Ostern in Kraft trat. Wenn stundenweit entfernt gelegene Dörfer heimgesucht werden sollten, dann wurde schon früh gegen sieben Uhr aufgebrochen. Alle Theilnehmer waren festlich gekleidet. Die Knaben hatten Sträuße von todten bunten Blumen an die Mützen gesteckt, und in der Hand trag Jeder von ihnen einen tüchtigen Stock. Die Mädchen dagegen erschienen mit Fahnen, deren hölzerne Stäbe man gewöhnlich durch wechselweise Einschnitte und Abschälung der äußeren Rinde verzierte, wodurch man ihnen ein buntes Ansehen gab. Oben an diesen Stäben war ein bunter Bilderbogen mit allerhand Figuren als Fahne befestigt, und zur Erhöhung des Schmuckes dienten noch kleine Bänder in den verschiedensten Farben.
Eine der wichtigsten Personen des Zuges war einer der größeren Knaben, der sogenannte Eierjunge, welcher einen großen Korb an einem langen rothen um den Hals gebundenen Gurte trug, an seiner Seite aber hingen diverse Bilder, z. B. Soldaten, Reiter, Hausthiere etc.
Nachdem ich mit meinen Schülern und Schülerinnen am Ziele angekommen, begann der Besuch der Güter. In jedem Bauergute wurde eine Arie gesungen, worauf der Schülerchor sich entfernte. Ich aber blieb mit dem Eierjungen an der Thür wartend stehen, bis man mir ein Geldgeschenk, gewöhnlich einen Sechser, in die Hand drückte. Wir armen Präceptoren! Mit dieser Kleinigkeit mußten wir uns begnügen, während die Herren Schulmeister – das waren die Kirchschullehrer – laut Matrikel einen alten Groschen, das ist zwölf Pfennig, zu bekommen hatten. Nachdem ich mein Viaticum dankend empfangen, rief der Eierjunge: ‚ä baar Eier!‘ Die freundliche Hausfrau gab sie ihm, und zum Danke beschenkte er sie mit einem Bildchen für das sie begleitende Kind.
So ging’s in der Runde durch das ganze Dorf. Geizige Leute verriegelten die Hofthür, an welche dann die Jungen mit ihren Stöcken schlugen, oder sie warfen auch Steine dagegen. Besonders war das Dorf Petzen bei uns Präceptoren als geizig verrufen. Das Verschen:
‚Im Dorfe Petzen
Wird’s nicht viel setzen‘
war allgemein unter uns bekannt und fand alle Jahre seine Bestätigung. Ermüdet kehrten wir von solchen Gregorius-Umgängen nach Hause zurück, um den anderen Tag unsern Umgang, der doch nichts weiter als eine Bettelei war, fortzusetzen. So ging’s bei gutem Wetter vierzehn Tage fort. Fielen Regentage ein und mußte zu Hause geblieben werden, dann gab’s Rasttage, und die zu dem Gregorius-Umgang gestattete Zeit wurde ohne Einwand auf drei Wochen ausgedehnt. Den letzten Tag ging’s im eigenen Dorfe herum. Hier flossen die Gaben reichlicher, und der Eierjunge wurde besser bedacht; sorgten für seinen Korb doch auch die andern Knaben dadurch, daß sie die Hühnernester aufsuchten und plünderten. Viele der Hausväter und Hausmütter riefen mich nach dem Gesange hinein, und dann gab es Kuchen, Kaffee, Butterbrod und Wurst. Kinder von Verwandten oder befreundeten Nachbarn fanden ebenfalls Einlaß in die gastliche Stube und mußten am Imbiß theilnehmen, während die übrige Sängerschaar sich durch Spiel und Tanz ergötzte. Der Tag nach dem Schlusse des Gregorius-Umgangs war ein Festtag. Die Kinder empfingen Eier auf Butter mit Staudensalat und gekochten gebackenen Pflaumen, und nach dem Festmahle begann der Tanz, zu welchem zwei, höchstens drei Dorfmusikanten aufspielten. So drehte sich das muntere Völkchen im bunten Reigen, bis es dunkelte, worauf dann Abends die Erwachsenen nach derselben Musik tanzten.“
So berichtete mir mein würdiger Gewährsmann, der Ex-Präceptor, und was ich ihm schlicht und einfach im Obigen nacherzählt habe, das ist in der That ein rechtes, echtes Culturbild aus alter Zeit. So verschieden die beiden Wörter „sonst“ und „jetzt“ sind, so verschieden sind auch in Deutschland und besonders im Königreiche Sachsen die Lehrerverhältnisse von damals und von heute. Es ist besser geworden in unsern deutschen Schulen. Freilich, zu bessern bleibt immer noch vieles, und hat man früher das Lernen oft allzu sehr auf die leichte Achsel genommen – heute stehen wir leider vor dem ebenso verkehrten Extrem: wir leben in dem Zeitalter der Ueberbürdung; das macht sich wie auf anderen Gebieten, so auch besonders auf dem der Schule schmerzlich fühlbar. Wenn wieder ein Jahrhundert sich seinem Ende zuneigt, wird’s hoffentlich auch hierin besser geworden sein.
Aus der Samariterschule.
Mit welchen Erfolgen in überraschend kurzer Zeit die Bemühungen der St. John-Ambulance in England gekrönt wurden, das lebt noch in frischer Erinnerung unserer Leser (vgl. „Gartenlaube“ Nr. 14!). Auch der Ruf, welchen vor wenigen Monaten der hochverdiente Professor Esmarch zur Gründung von Samariterschulen an das deutsche Volk ergehen ließ, verhallte nicht ungehört. Er hat bereits in den großen Städten, den Centren des Verkehrs und der Bildung, gezündet, und er wird von hier aus sicher in
[311] die weitesten Schichten des Volkes dringen. Freilich wird zur Erreichung des hohen Ziels noch eine machtvolle Agitation entfaltet werden müssen; die Apostel des Samariterdienstes dürfen in ihren Belehrungen nicht erlahmen, und die Presse, die Trägerin und Verbreiterin des Fortschritts, hat die Pflicht, das Volk über die Ziele und den hohen Nutzen dieser wohlthätigen und menschenfreundlichen Gründung in der eingehendsten Weise aufzuklären.
Wir glauben nun, diese Pflicht am besten zu erfüllen, indem wir im Nachstehenden den von Professor Esmarch soeben herausgegebenen und für Aerzte, welche Samariterschulen gründen wollen, bestimmten Leitfaden[1] theilweise citiren. Mögen sich unsere Leser dadurch veranlaßt fühlen, dort, wo Samariterschulen bereits bestehen, denselben beizutreten und, wo sie bis jetzt noch fehlen, an der Agitation zur Gründung derselben den regsten Antheil zu nehmen.
Schon einmal hat die „Gartenlaube“ von den großen Fortschritten, welche die moderne Chirurgie in der Behandlung der Wunden gemacht hat, ausführlich berichtet. (Vergl. Jahrg. 1881, Nr. 12.) Wir erinnern hier nur an die Entdeckung der Ursachen, durch welche die Eiterung und die Wundfäulniß hervorgerufen werden und welche stets in der Verunreinigung der Wunde durch mikroskopische Fäulnißerreger gesucht werden müssen, und an die von dem berühmten schottischen Chirurgen Lister[WS 1] eingeführte Methode der antiseptischen, das heißt fäulnißwidrigen Wundbehandlung, durch welche die von der Luft in die Wunde etwa gelangenden Fäulnißkeime getödtet und unschädlich gemacht werden. Nach dieser Methode, welche in dem oben angeführten Artikel der „Gartenlaube“ mit vollstem Recht als eine „Großthat der Humanität“ bezeichnet wurde, muß auch der Laie verfahren, wenn er genöthigt ist, bei plötzlichen Unglücksfällen einem Verwundeten die erste Hülfe zu leisten, und er wird die Grundsätze derselben am besten kennen lernen, wenn er erfährt, wie gegenwärtig von den Aerzten behufs einer Operation eine Wunde gemacht und wie diese Wunde verbunden wird. Hören wir also, was hierüber Professor Esmarch in seiner Samariterschule vorträgt:
„Wenn die Aerzte z. B. irgendwo am Körper eine Geschwulst (eine Balg- oder Fettgeschwulst) fortnehmen müssen, so wird zunächst der Patient auf einem Tische bequem gelagert und durch Vorhalten einer mit Chloroform benetzten Gazemaske betäubt. Unterdessen waschen sich nicht blos der Operateur, sondern auch seine Assistenten und Alle, welche bei der Operation Hülfe zu leisten haben, die Hände und Arme auf das Sorgfältigste mit Seife und Bürste und spülen sie darnach gründlich mit Carbolwasser ab. Alle Instrumente, Schwämme und sonstige Utensilien, welche bei der Operation gebraucht werden, müssen vorher noch einmal gründlich gereinigt und dann in Carbolwasser eingetaucht werden. Ehe die Operation beginnt, wird mit Hülfe eines Zerstäubers (Refraicheurs, Sprühapparats) ein starker Nebel von Carbolwasser erzeugt, welcher während der ganzen Operation und bis zur Beendigung des Verbandes sich sowohl auf den Patienten, wie auch auf den Operateur und alle Umstehenden niedersenkt und sie bei langer Dauer nicht selten durchnäßt. Er tödtet die in der Luft schwebenden Keime der Fäulnißerreger, ehe sie sich auf die Wunde niedersenken. Auch der Körpertheil, an welchem die Operation vorgenommen werden soll, wird vorher durch Rasiren, durch Bürsten mit Seife und durch Waschen mit Aether und Carbollösung auf das Gründlichste gereinigt.
Nun erst wird die Operation ausgeführt, bei welcher nichts mit der Wunde in Berührung kommen kann, was vergiftend auf dieselbe wirken könnte.
Ist die Geschwulst herausgelöst und die Blutung durch Unterbindung der Adern mit carbolisirten Darmsaiten gestillt, dann wird die ganze Wunde noch einmal mit Carbolwasser ausgespült. Darauf legt man an einigen Stellen kleine Röhren (Drainröhren) ein, welche die etwa in der Tiefe sich ansammelnden Wundflüssigkeiten ableiten sollen und schließt nun die Wunde genau durch die Wundnaht.
Dann folgt der Verband. Die Wunde und die ganze Umgebung derselben wird in ein dickes Polster eingehüllt, welches aus einem der bekannten antiseptischen Verbandsstoffe besteht (aus Carbolwatte, Carbolgaze, Jodoformtorf oder dergl.); dasselbe wird durch eine carbolisirte Gazebinde festgewickelt. Darüber legt man eine elastische Gummibinde, welche den Verband so fest andrückt, daß von den Rändern her keine Luft zu der Wunde treten kann. Dieser antiseptische Verband bleibt gewöhnlich acht bis vierzehn Tage (je nach der Größe der Wunde) unberührt liegen, und wenn er dann abgenommen wird, findet man in der Regel die ganze Wunde vollständig durch erste Verklebung geschlossen, und in der Regel hat auch der Operirte während dieser ganzen Zeit keine Schmerzen empfunden, kein Wundfieber gehabt, keinen Eiter verloren und ist allen den Gefahren, welche die Eiterung mit sich bringt, glücklich entronnen.
Auch die von faulendem Eiter herrührenden üblen Gerüche, welche früher die Krankenzimmer und Hospitäler verpesteten, kommen jetzt nur noch ausnahmsweise vor, und zwar in solchen Fällen, welche nicht von Anfang an antiseptisch behandelt werden konnten.
Wenn ich Ihnen nun gezeigt habe, mit welcher Sorgfalt und Vorsicht wir Aerzte zu verhüten suchen, daß irgend welche Schädlichkeiten die frische Wunde treffen, so werden Sie mir Recht geben, wenn ich auf die Frage:
die Antwort gebe: er soll vor Allem sich den Grundsatz zu eigen machen, den auch der Arzt als den wichtigsten für sein Handeln anerkennt und welcher lautet: Nur nicht schaden!
Wie gefährlich jede Verunreinigung für die Wunden ist, habe ich Ihnen aus einander gesetzt. Man bringe daher weder Charpie, noch Heftpflaster, noch gebrauchte Schwämme, noch schmutzige Leinwand mit der Wunde in Berührung, fasse sie auch nicht mit schmutzigen Fingern an!
Ist die Wunde verunreinigt (durch Sand, Erde, Straßenkoth etc.), so soll man sie und ihre Umgebung abwaschen und abspülen, aber nur mit reinem Wasser und reiner Leinwand (Taschentuch, Handtuch, Serviette etc.).
Ganz klares Brunnenwasser, See- oder Flußwasser darf zur Noth gebraucht werden; besser ist solches Wasser, welches schon gekocht hat, weil durch Kochen die Fäulnißerreger zerstört werden.
Am besten ist es, dem Wasser eines der fäulnißwidrigen Mittel zuzusetzen, und ich spreche hiermit den Wunsch aus, daß in jeder Haushaltung ein Glas mit einer der früher genannten antiseptischen Lösungen (Carbol-, Salicyl-, Borlösung), welche in jeder Apotheke zu haben sind, vorräthig gehalten werden möge.
Wenn man dann als Verband auf die Wunde ein Stück reine Leinwand (Compresse) legt, welche in diese Flüssigkeit getaucht ist, so ist man sicher, dem Verwundeten wenigstens keinen weiteren Schaden zu thun, bis der Arzt kommt.
Ist kein Arzt in der Nähe und muß der Verwundete zu ihm hingebracht werden, so ist es nothwendig, diesen vorläufigen Verband mittelst eines Tuches oder einer Binde auf der Wunde zu befestigen und zugleich das verwundete Glied gut zu unterstützen.
Ist die Wunde mit einer Schicht von geronnenem Blute überzogen, so hüte man sich, dieselbe abzuwischen oder wegzuspülen, weil man dadurch die Blutung auf’s Neue hervorrufen könnte!“
Wir begegnen in der Regel bei den Wunden noch einer anderen Erscheinung, welche oft den Tod des Verletzten verursacht, der Blutung, deren Gefährlichkeit von der Größe und der Art der geöffneten Adern abhängt. Aber auch diese Gefahr wußte die Chirurgie in der jüngsten Zeit auf die sinn- und erfolgreichste Weise zu mildern, indem sie gegen dieselbe das einfache Mittel der elastischen Einschnürung anwandte. Wir verzichten jedoch darauf, auf dieses Capitel hier näher einzugehen, da wir zu unserer Freude von dem großen Chirurgen, welcher dieselbe erfunden und eingeführt hat, von Professor Fr. Esmarch selbst, einen speciell dieses Thema behandelnden Artikel für die „Gartenlaube“ freundlichst zugesagt erhielten.
Es sei uns noch gestattet, auf die Verhütung und Behandlung einer Verletzung einzugehen, welche in Folge von Unvorsichtigkeiten leider so oft in den Familien vorkommt und von den schmerzlichsten und gefährlichsten Folgen begleitet sein kann. Es ist dies die durch Einwirkung starker Hitze, des Feuers, der Flamme oder geschmolzener Metalle auf die Haut und die darunter liegenden Theile entstehende Verbrennung, oder die durch heißes Wasser oder [312] Dampf verursachte Verbrühung. Die ermahnenden Worte, welche Professor Esmarch diesem Capitel seiner Samaritervorträge vorausgehen läßt, verdienen wahrlich tausend- und aber tausendmal gedruckt und wiederholt zu werden. Den Hausvätern und Hausmüttern möchten wir sie vor Allem an’s Herz legen.
„Außer den Theaterbränden, welche so massenhafte Opfer fordern,“ sagt unser Gewährsmann, „sind es die Gasexplosionen, welche meist vom gedankenlosen Offenlassen der Gashähne herrühren, sind es die Petroleumbrände, welche durch leichtsinnigen Gebrauch des Petroleums zum Anheizen oder durch sorglose Behandlung der Petroleumlampen verursacht werden.
Im Allgemeinen scheint das weibliche Geschlecht in dieser Beziehung unvorsichtiger zu sein als das männliche. Wie häufig gerathen nicht die leichten Kleider der Damen in Brand dadurch, daß sie mit Kerzen oder Spirituslampen, mit Benzin und Petroleum sorglos umgehen!
Wie viele Feuersbrünste dadurch entstehen, daß man Kinder mit Zündhölzchen spielen läßt, darüber berichten ja fast täglich die Zeitungen, und wie oft es vorkommt, daß gedankenlose Mütter oder Kindermägde Gefäße mit kochend heißer Milch oder Suppe so hinstellen, daß kleine Kinder sich dieselben über Gesicht und Hals, Brust und Arme reißen, das müssen wir leider nur zu oft in der Klinik erfahren, wo wir die nach solchen Verbrennungen zurückbleibenden entdeckenden Narben auf operativem Wege zu beseitigen haben. Wie viele Unglücksfälle der Art aber könnten verhütet werden, wenn Jedermann es für seine Pflicht hielte, recht eindringlich zur Vorsicht aufzufordern, so oft er Zeuge solcher Unvorsichtigkeit sein muß. Aber Viele schweigen und gehen ihres Weges, wie der Priester und der Levit, und entschuldigen sich selbst mit dem Worte: ‚Was geht es mich an! Laß doch Jeden für sich selbst sorgen!‘ Wer aber ein Samariter sein will, der übernimmt nach meiner Auffassung von unserem Werke auch die ernste Verpflichtung, in allen solchen Fällen energisch seine Stimme zu erheben und zur Vorsicht zu ermahnen, selbst wenn es als unberufene Einmischung in anderer Leute Angelegenheiten erscheint.
Dulde doch Niemand von uns in seinem Hause, daß die Petroleumkanne nach Sonnenuntergang geöffnet werde und wo ein Licht oder ein Feuer in der Nähe ist, oder daß die Dienstboten Morgens in der Küche mit Petroleum das Feuer anlegen oder daß Abends bei Licht noch mit Benzin die Flecken aus den Kleidern beseitigt werden. Sorge doch Jeder, daß nicht Zündhölzer oder Gefäße mit heißen Flüssigkeiten sich im Bereiche seiner Kinder befinden! Und wer seiner Frau oder seinen Töchtern leichte Stoffe zu Ballkleidern oder Vorhängen schenken will, der lasse sie doch vorher unverbrennlich machen!
Das Verfahren ist so einfach und so billig, und die Farben der Stoffe werden dadurch nicht verdorben. Es sollte allgemein bekannt sein, daß es genügt, solche Stoffe in eine Lösung von schwefelsaurem Ammoniak zu tauchen und sie darnach wieder zu trocknen und zu bügeln. Kommen sie dann mit einer Flamme in Berührung, so lodern sie nicht auf, sondern verkohlen langsam wie Zunder.
Wie kann man aber helfen, wenn z. B. die Kleider einer Frau in Brand gerathen sind? Wie geht es gewöhnlich dabei zu? Flammen hüllen die Unglückliche ein, versengen ihre Arme und Hände, ihren Hals und ihr Gesicht; Haare und Mütze lodern hell auf. Am besten würde es sein, wenn sie sich gleich zu Boden würfe und sich herumrollte und so die Flammen durch Druck erstickte. Aber dazu fehlt gewöhnlich die Geistesgegenwart; laut schreiend stürzt sie fort; der Zug verstärkt die Flammen, und wie eine wandernde Feuersäule rast die Unglückliche von dannen.
Was ist da zu thun? Man laufe nicht fort, um Wasser zu holen, sondern ergreife die erste beste Decke oder ziehe rasch den eigenen Rock aus, umwickle damit die Brennende, werfe sie nieder auf den Boden und rolle sie, bis die Flammen erstickt sind. Dann erst hole man Wasser, viel Wasser, begieße, durchnässe sie gründlich von oben bis unten; denn die heißen, verkohlten Kleider brennen noch weiter in’s Fleisch hinein. Ebenso kühlt man bei Verbrühungen durch heißes Wasser oder Dampf (Kesselexplosionen) zunächst durch reichliches Uebergießen mit kaltem Wasser Körper und Kleider ab.
Darnach trage man die Verbrannte behutsam in ein warmes Zimmer, lege sie auf den Boden auf einen Teppich, oder auf einen Tisch, nicht in ein Bett, weil man in einem solchen nicht gut weiter hantiren kann, und schicke sofort zum Arzte. Klagt die Verbrannte über Durst, so gebe man einen warmen, erregenden Trank (Thee, Grog), weil nach stärkeren Verbrennungen die Temperatur des Körpers alsbald zu sinken beginnt.
Dann müssen zunächst die Kleider entfernt werden, wobei man mit der größten Vorsicht und Sorgfalt verfahren muß. Dazu nehme man womöglich zwei Personen zu Hülfe, von denen eine sich auf die andere Seite des Verbrannten stellt, die zweite das Nöthige zureicht.
Man nehme darauf eine gute große Scheere oder ein scharfes Messer und schneide vorsichtig alle Kleidungsstücke so durch, daß sie von selbst abfallen. Nichts darf durch Ziehen oder Reißen entfernt werden, weil man sonst die Blasen zerreißt. Man versuche nur nicht, aus unzeitiger Sparsamkeit, etwas von der Kleidung erhalten zu wollen. Ist etwas an der Haut festgeklebt, so lasse man es daran sitzen und umschneide es mit scharfem Messer oder Scheere. Langsames Durchsägen mit stumpfen Messern macht unsägliche Schmerzen. Nur muß man keine Blasen abreißen; denn die Oberhaut bildet den besten Schutz für die sonst entblößte Unterhaut. Höchstens darf man sie, wenn sie recht gespannt sind, mit einer Nadel aufstechen, damit das Wasser ausfließt.
Ist immer noch kein Arzt zur Stelle, so ist die nächste Aufgabe, die verbrannten Hautstellen vor dem Einflusse der Luft zu schützen. Dabei ist zu beachten, daß Umschläge von kaltem Wasser gewöhnlich die Schmerzen vermehren. Viel wohlthuender ist es, der Haut einen Ueberzug von Fett, Oel oder einer trockenen Substanz zu geben, unter welcher sich gewöhnlich bald die Schmerzen vermindern.
Man begieße also die verbrannten Stellen reichlich mit Oel (Lampenöl, Salatöl, Ricinusöl, oder was gerade zur Hand ist) oder bestreiche sie mit Fett, Schmalz, Butter, Gummischleim oder flüssigem Leim oder bepulvere sie mit Mehl, Stärke, Kohlenpulver, doppeltkohlensaurem Natron (Bullrich’s Salz) oder hülle sie sorgfältig ein in reine lockere Watte, von der man zuvor den glänzenden Ueberzug abgezogen hat. Ist eine Apotheke in der Nähe, so schicke man nach Brandsalbe, einer Mischung von Leinöl und Kalkwasser, mit der man die verbrannten Stellen beträufelt; darüber legt man Watte oder kleine Läppchen von feiner Leinwand.
Aber auch das antiseptische (fäulnißwidrige) Verfahren, welches ich bei der Wundbehandlung schilderte, ist in neuerer Zeit bei Verbrennungen mit dem besten Erfolge angewendet worden.
Der Eiter, den die Brandwunden[WS 2] in großer Menge absondern, nimmt sehr bald durch Fäulniß einen sehr üblen Geruch an, was die Kranken nicht nur auf das Aeußerste quält, sondern sie auch allen früher geschilderten Gefahren der Eiterung aussetzt. Es ist deshalb nothwendig, die angewendeten Mittel mit irgend einer antiseptischen Substanz zu vermischen, z. B. Carbolsäure oder Thymol dem Oel zuzusetzen, oder dasselbe nachträglich aufzulegen, wenn es anfangs nicht zur Hand war. Dies kann immer noch geschehen, wenn erst der Arzt da ist. Diese antiseptischen Mittel, namentlich das Thymol, verhüten nicht nur den üblen Geruch des Eiters, sondern pflegen auch die Schmerzen wesentlich zu lindern. Es ist deshalb zu wünschen, daß die Apotheker stets Brandsalbe vorräthig halten, welche mit (1 0/0) Thymol vermischt ist.“
Wir beschließen hiermit unsere Auszüge aus den Vorträgen der Samariterschule; denn es kann nicht unsere Aufgabe sein, durch eine Reihe von Artikeln die Leser zur richtigen Leistung der ersten Hülfe in der Noth auszubilden. Dazu ist der lebendige Vortrag eines erfahrenen Arztes nothwendig, der außerdem seinen Schülern Vieles durch Abbildungen verständlich macht; dazu sind vor Allem praktische Uebungen nöthig, welche unter seiner Leitung auszuführen sind. Glaube daher Niemand, wer solche Aufsätze oder Bücher gelesen, er sei nunmehr ein fertiger Samariter und wisse schon das Nöthige! Nein, wer das Herz hat, seinem Nächsten in der Noth beizuspringen, der strebe zunächst mit aller Kraft danach, daß in seiner Heimath eine Samariterschule gegründet werde, und besuche sie dann fleißig! Er lege nicht die Hände in den Schooß und denke kleinmüthig, daß unsere Zeit abgestorben sei für die edlen Werke der Nächstenliebe! Wahrlich, das Jahrhundert, in welchem das rothe Kreuz überall zu Ehren gelangt ist, in welchem die menschenfreundliche Vorsorge für die Arbeiterclassen ihre Triumphe feiert, in welchem Kindergärten, Kinderheilstätten und Feriencolonien zur Blüthe gedeihen, es wird auch die Samariterschulen fördern und unterstützen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Joseph Lister (1827-1912)
- ↑ Vorlage: Bandwunden
Als die Königin Luise mit ihrem Gemahl einst ein Potsdamer Garderegiment besichtigte, fielen ihr darin mehrere hohe breitschulterige Gestalten auf. Sie fragte den Flügelmann nach Namen und Heimath und erhielt die Antwort: „Hansjochen (Hans Joachim) Pollehn aus Bonese bei Salzwedel.“ Des Zweiten Antwort auf dieselbe Frage lautete: „Hansjochen Giffey aus Rustenbeck bei Salzwedel,“ des Dritten: „Hansjochen Meyer aus Schmölau bei Salzwedel,“ und so ging es fort. Wohl ein Dutzend dieser vierschrötigen „unflämschen Kerle“[2] hörten auf den Rufnamen „Hansjochen“. Da konnte die hohe Frau die scherzende Bemerkung nicht unterdrücken:
„Das muß dort um Salzwedel herum ja der wahre Hansjochenwinkel sein.“
Weil nun zufällig alle diese Garde-Hansjochen westlich von Salzwedel daheim waren, so weiß seit jenem Tage jeder Altmärker, wo er den Hansjochenwinkel zu suchen hat.
Eine andere Lesart über den historischen Hintergrund der Bezeichnung „Hansjochenwinkel“ will allerdings von dieser „Faogel-Geschicht“ (Fabel, Sage) nichts wissen. Sie berichtet, in Salzwedel habe zu Ende des vorigen Jahrhunderts ein Zimmerpolier Namens Hans Joachim Winkelmann gelebt. Dieser nun habe auf den Dörfern bei Salzwedel damals die meisten Häuser gebaut und, der niedersächsischen Sitte gemäß, unter den in die Querbalken an der Front des Hauses eingeschnitzten Gesangbuchvers neben dem Namen des „Bauherrn“ und der „Baufrau“ auch seinen Namen verewigt. Weil aber für diesen immer nur wenig Platz blieb, so mußte er sich meistens die verstümmelte Abkürzung „Hans Jochen Winkel“ gefallen lassen und dieses „Hans Jochen Winkel“ habe der Gegend den Namen gegeben.
Mag das auch noch so einleuchtend klingen, ich für meinen Theil halte es schon aus purem Localpatriotismus mit der ersten Lesart, zumal mein glaubwürdiger Freund Wilhelm Quickenstedt in Bonese mir dieselbe aus seiner Familienchronik des öfteren als verbürgt bewiesen hat, während ich mit seinem trefflichen Lampe’schen Braunbier meine auf Fußtouren im altmärkischen Sande ausgedörrte Kehle anfeuchtete.
Hätte ich nicht Namen von Dörfern genannt, ich wäre gewiß, keiner der Leser würde den Hansjochenwinkel zu finden im Stande sein, und wenn er auch wie nach einer verlorenen Stecknadel westlich von Salzwedel darnach suchte. Atlanten und geographische Handbücher wissen nichts vom Hansjochenwinkel, und bei den Leuten in diesem selber würden Fragen nach ihm im günstigsten Falle gar keine, wenn nicht gar eine grobe Antwort zur Folge haben. So könnte es schon passiren, daß Einer mitten im Hansjochenwinkel nach dem Hansjochenwinkel suchte, ohne zu finden, was er sucht; da „Hansjochen“ in altmärkischem Volksmunde die Begriffe: Tolpatsch und Dummkopf zusammenfaßt, so ist’s erklärlich, daß Keiner schon durch seinen Geburtsort einen Antheilschein an landläufiger Dummheit auf die Welt gebracht haben mag. Als ich in scholarischem Uebermuthe einmal an meinen Vater, einen biedern Bauern, einen „Brandbrief“ um neue „Moneten“ mit dem Vermerke „Markau im Hansjochenwinkel“ adressirte, erhielt ich kurzer Hand die Antwort: „Hansjochen haben kein Geld für dumme Schülerjungen“ und mußte alten Pump mit neuem mehren, bis ein Brief nach „Markau bei Dähre in der Altmark“ eine rettende That erzeugte.
Die Gegend, welche der Volksmund weit und breit als Hansjochenwinkel benamst, ist etwa zwei bis drei Meilen lang und ein bis zwei Meilen breit. Zwei Dörfern drängt man in gutmüthigem Eifer abwechselnd die strittige Ehre auf, Hauptstadt desselben zu sein, Diesdorf und Beetzendorf. Bescheiden lehnt aber jeder Ort das ihm zugedachte Prädicat ab.
Die Bewohner des Hansjochenwinkels sind ein stämmiges, kräftiges Bauernvolk, jedenfalls wendischer Abstammung. Von der sogenannten Cultur noch wenig beleckt, führen sie ein höchst arbeitsames Leben. Der sandigen Scholle gewinnt ihre schwielige Hand nicht nur Roggen, Gerste, Hafer, Buchweizen, Kartoffeln, Rüben, Flachs, Lupinen und andere Futterkräuter ab, sondern selbst trefflichen Weizen wissen sie auf ihm zu erzeugen.
Die Winterabende sind den Spinnstuben gewidmet. Die Jugend des Dorfes sitzt da eingepfercht in eine niedrige, dumpfe Bauernstube und dreht um die schnurrende „Spudel“ Hede- und Flachsgarn. Alles spinnt, Magd und Knecht, Bäuerin und Bauer. Während das männliche Geschlecht das gröbere Gespinnst mit einer Hand erzeugt, schafft das weibliche das feinere mit beiden [314] Händen zu gleicher Zeit auf zwei verschiedene Spindeln. – Die Spinnstuben sind so recht die Heimstätten des gemüthlichen Stilllebens dieser harmlosen Dörfler. Gesang von Volksliedern, die in keinem Liederbuche stehen, Räthselfragen oft recht unzweideutiger Art, Erzählen von Märchen und Schauerhistorien wechseln mit einander in bunter Reihe ab. Wer’s Gruseln gründlich lernen will, muß namentlich letztere mit anhören. Mir läuft noch heute eine Gänsehaut über den Rücken, gedenke ich der Stunden, in denen ich als Knabe denselben athemlos lauschte. Wem sollt’s auch nicht gruselig werden, wenn er von einem, dessen Großvater es selbst erlebt hat, berichten hört über den Bauern, auf dessen Tenne jede Nacht sechs gräuliche Mannsbilder draschen, die jedesmal, wenn ein menschliches Wesen zuschauen wollte, gemüthlich ihren Kopf von der Schulter nahmen und ihn dem Neugierigen an den seinen warfen – oder vom Freimaurer M. in N., der in seiner Stube so plötzlich starb, weil sie drinnen in der Stadt in der Loge mit einer Stecknadel mitten in das Herz seines dort aufgehängten Bildes stachen, da er kein Geld mehr hatte, um einen Stellvertreter bei Freund Klapperbein stellen zu können – oder von Schön-Lenchen aus Bonese, das den reichen Markauer Schulzensohn durchaus nicht heirathen wollte, weil es sich heimlich mit Nachbars Knecht versprochen hatte, und nun auf der Hochzeitsfahrt an der Markauer Feldmarkgrenze auf die Frage, ob sie über diese wolle, mit dem Rufe: „Nein, nein und abermals nein, lieber will ich auf der Stelle zu einem Stein werden!“ vom Wagen sprang und zu einem mächtigen Stein wurde, der noch heute zwischen Markau und Rustenbeck auf einer von Fichtengestrüpp bewachsenen Ebene steht, und an dem man zwischen elf und zwölf Uhr in mondscheinhellen Nächten die Brautperlen am Halse glänzen sehen kann.
Wirklich verbürgt ist aber manches witzige Histörchen, das im Volke cursirt, so die Geschichte von den beiden Besenbindern in Wallstawe, die in Salzwedel ihre Besen, die sie auf Schiebekarren dahin gebracht, gut verkaufen, dann gut trinken und – in Extrapost nach Hause fahren, wofür sie anderen Tags circa zwei Meilen zu Fuß zurück müssen in die Stadt, um vor Tagesanbruch die Schiebekarren abzuholen.
Wie schlagend der Hansjochen sich auszudrücken vermag, mögen einige sprichwörtliche Redensarten illustriren.
„Tröste Gott, wer bei dem Winde im Freien ist, sagte der Fuchs, da duckte er sich hinter einen Grashalm.“ – „Sieh’ Dich vor! sagte der Hahn zum Pferde, sonst trete ich Dir auf den Fuß.“ – „Wer den Mund verborgt, muß durch die Rippen essen.“ – „Der Mann kann mit vier Pferden nicht soviel vorn auf den Hof fahren, als die Frau mit der Schürze hinten hinunter zu tragen vermag.“ – „Wenn's Abend ist, bekommt Schweinigel (das ist der Igel) Füße“ etc.
Das Familienleben ist im Hansjochenwinkel meistens ein musterhaftes. Das Gesinde nennt Hausherrn und Hausfrau Vater und Mutter, welcher Bezeichnung diese auch die möglichste Ehre machen. Bauer, Bäuerin, Sohn, Tochter, Knecht, Magd, Schäferjunge, kurz Alle, die zum Hausstande gehören, essen am gemeinsamen Tische. Die Mahlzeilen sind immer frugal, ausgenommen, wenn Predigt im Dorfe ist, oder wenn getanzt wird. Dann will der Tisch schier brechen unter der Last leckerer Gerichte, die ein verwöhnter Gaumen allerdings oftmals kaum als solche bezeichnen würde. An gewöhnlichen Tagen giebt’s meistens Kartoffelsuppe, dünne Milchsuppe oder vom Sonntag her aufgewärmtes Fleisch und Abends entweder eine für die ganze Woche im Voraus gekochte Kohl- oder Bratbirnen- (Backobst-) Suppe. Das Nationalgericht ist in einem Theile der Gegend dicke Buchweizengrütze oder saure Milch. Im Trinken ist man mäßig, ja einige Dörfer haben nicht einmal einen Krug (eine Schenkwirthschaft), was allerdings nicht allzu viel besagen will, da die Einwohnerzahl derselben oft hundert nicht voll macht und die Dörfer meistens nur in viertelstündiger Entfernung von einander liegen. Das Nationalgetränk ist Braunbier einer nur dort gebrauten Gattung, und für zehn Pfennig Bier, das in Steinkrügen verabreicht wird, und für drei Pfennig „Schluck“ (Branntwein) ist der gewöhnliche Trinksatz der Wirthshausbesucher.
Vom großen Weltverkehre ist der Hansjochenwinkel völlig abgeschnitten; denn die Eisenbahn geht erst neuerdings durch einen Zipfel desselben. Es klingt gar so unglaublich nicht, was alte Mütterlein erzählen: Bei einer Sonntagsnachmittags-Zusammenkunft verfiel man auf die Idee, einmal zu probiren, wie das Aufhängen denn eigentlich ginge. Ein Knecht läßt sich in der Stube aufknüpfen. In demselben Augenblicke kommt eine Kutsche am Fenster vorbeigefahren. Eine Kutsche? Wunderbar! Alles läuft, um das Gefährt zu sehen. Und als man nach dem Gehängten sich umschaut, ist er eine Leiche.
Gastfreundschaft übt der Hansjochenwinkler wie kaum ein anderer Volksstamm. Ob fahrender Scholar oder Handwerksbursche, ob besser situirter Reisender oder Bettler – Jeder findet beim dortigen Bauer ein unentgeltliches Nachtquartier nebst Speise und Trank, wenn er um solches irgendwo anspricht. Dafür aber muß sich auch Jeder mit „Du“ anreden lassen. Selbst Lorgnette und Ziegenhainer gewähren davor nicht Schutz. „Ji (Ihr)“ wird nur ganz alten Leuten als Anrede gegeben.
Die so viel gerühmte alte deutsche Sitte, den Fremden nicht nach Namen, Ziel und Zweck seiner Reise zu fragen, macht der Hansjochenwinkler allerdings zu Schanden. „Wo wut Diü henn? Wo kümmst Diü heä? Wat wut Diü dao?“ (Wohin willst Du? Woher kommst Du? Was willst Du dort?) sind seine ersten Fragen an jeden Fremden, welcher sich mit ihm in ein Gespräch einläßt.
Der Dialekt, den die Leute im Hansjochenwinkel sprechen, ist ein breit- und langgezogenes niedersächsisches Platt, das dem Mecklenburgischen ähnelt.
Ihre Tracht ist, wie auch unsere heutige Abbildung zeigt, der bekannten wendischen nicht unähnlich.
An landschaftlichem Reize bietet die Gegend herzlich wenig. Nur die ausgedehnten Nadel- und Laubwälder und die vielen vereinzelt im Felde stehenden Eichen verleihen ihr einigen Reiz, und die dicht an einander gedrängt, meistens in Hufeisenform nach wendischer Sitte erbauten Dörflein inmitten grünender Obstgärten schauen anheimelnd drein.
Wie in der ganzen Welt, so werden auch im Hansjochenwinkel Taufe, Hochzeit und Begräbniß in besonderer, eigenartiger Weise gefeiert. Stets aber spielt der Aberglaube dabei eine große Rolle. So darf der Küster das Taufwasser nach Gebrauch nicht auf von der Sonne beschienene Stellen schütten, damit der Täufling keine Sommersprossen bekommt; die Mutter muß während des Taufactes zu Hause emsig kehren und aufräumen, damit das Kind ordnungsliebend wird etc.
Die Bauernhochzeiten im Hansjochenwinkel bieten in jeder Hinsicht Interessantes. Obgleich der „Freiwerber“ meistens die Brautleute zusammenbringt und bei Heirathen zwischen den betheiligten Parteien um die Mitgift und Aussteuer förmlich gefeilscht wird, sind die Ehen doch fast immer glückliche.
Mit „großartigem Pomp“ wird die Hochzeit gefeiert. Am Sonntag wird die Braut auf dem Brautwagen zum Bräutigam gebracht; vor diesem reiten buntbebänderte Bauernburschen und Musiker; hinter ihm folgen die „Kistenwagen“ mit der Ausstattung vom Glasschrank bis zu Spinnrad und Besen herab. Auch die Wiege fehlt nicht. Ganz hinten auf dem Wagen sitzen zwei „Mutters“ und werfen gebackenes Obst und Weißbrodschnitte, mitunter auch Kupfermünze, nach allen Seiten hin aus, welch Alles von der nacheilenden Kinderschaar emsig aufgelesen wird. Selbst Kuh und Schwein bringt die Braut mit in das neue Heim.
Die Hochzeit beginnt bei erstmaligem Heirathen am Dienstag, bei zweitmaligem am Freitag und dauert für Gäste von außerhalb drei, für einheimische vier Tage. Musik und Tanz, namentlich aber der Hochzeitsschmaus erhöhen die Feier. Für jede der Mahlzeiten an den verschiedenen Hochzeitstagen sind bestimmte Gerichte festgesetzt. Am ersten Hochzeitstage muß auch die Mitgift in blanker Münze unter Beisein der näheren Anverwandten ausgezahlt werden. – Beim Abschiede drückt jeder Gast dem Bräutigam sein Hochzeitsgeschenk in Form von mehreren harten Thalern oder Markstücken in die Hand. – Der Bauernhof wird stets auf den ältesten Sohn vererbt. Die andern Geschwister werden mit geringerer Summe abgefunden und sind später dann oft Tagelöhner bei ihrem „Bruder Bauer“.
Zum Schluß ein Wort über den Leichenschmaus! Da sitzen die Gäste an den aus einfachen Brettern improvisirten Tischen und rauchen ihre „Piep Tauback“ (Pfeife Tabak), welch letzterer in irdenen Schüsseln vor ihnen steht. Des Verstorbenen Leben wird lang und breit in pietätvoller Weise besprochen; jedes Erlebniß, das einer der Anwesenden mit ihm gemeinsam hatte, erzählt und dann zum Schlusse dem Wunsche Ausdruck gegeben. „Wenn häi [315] nüi man nich teät!“ („wenn er nun [der Verstorbene] nur nicht zehrt!“), soll heißen: Mitglieder seiner Familie mit in’s Grab zieht, was sehr leicht geschehen kann, wenn man ihm kein Geldstück in den Mund gegeben oder die Tücher nicht weit genug von seinem Munde entfernt hat, sodaß er jetzt noch mit den Lippen an sie zu rühren vermag.
So lebt denn der Hansjochenwinkler in seiner Abgeschlossenheit ein Leben voller zum Theil eigenthümlicher Gebräuche. Ihn kümmert nicht der politische Parteihader, so sehr ihn auch der „Herr Paster“ für conservative Wahlen zu begeistern sucht; ihn interessiren nicht die großartigsten Erfindungen der Jetztzeit, bis diese so riesige Fortschritte gemacht haben werden, daß sie ihn über Nacht aus seinem idyllischen Dasein aufstören.
Charles Darwin.
Am Nachmittage des 19. April hat ein Fürst im Reiche des Geistes, wie die Welt deren nicht allzu viele gesehen hat, sein Scepter niedergelegt, ohne damit aufzuhören, die Geister zu beherrschen. Selbst die Vielen, welche niemals eine Zeile von ihm gelesen, noch eine klare Einsicht in die Tragweite seiner Gedanken genommen haben, fühlen instinctiv aus der Art, wie man über ihn schreibt und spricht, die Größe des Verlustes heraus, der natürlich in den wissenschaftlichen Kreisen aller Länder am tiefsten empfunden wird. Demselben allgemeinen Gefühle ist auch England gefolgt, indem es allen bigotten Einwendungen, die sich etwa hätten regen können, zum Trotze die sterblichen Ueberreste Darwin’s dorthin zur letzten Ruhe gebettet hat, wo sie hingehören, an die Seite Herschel’s und Newton’s, in die Westminster-Abtei.
Fragt man, was diesen Mann, der sein Leben lang ohne Aemter und öffentliche Thätigkeit geblieben ist, die ihm einen äußeren Glanz und seiner Thätigkeit einen schimmernden Hintergrund hätten geben können, der, anstatt die wissenschaftlichen Versammlungen aller Länder zu besuchen und dort durch wohlausgearbeitete Reden Beifall zu erringen, so unverbrüchlich an seiner freiwilligen Verbannung nach einem kleinen Dorfe der Grafschaft Kent festgehalten hat, daß man ihn darnach den „Einsiedler von Down“ nannte, der auch keine Erfindungen gemacht hat, welche das materielle Wohl der Menschen unmittelbar verbessern könnten, was diesen Mann dennoch in den Augen Derer, die ein Urtheil in solchen Sachen haben, so hoch erhoben hat, so lautet die Antwort: Er hat den Menschen eine neue Weltanschauung gegeben, welche sie von der drückenden Sclaverei der Dogmen nicht nur des Buchstabenglaubens, sondern auch von den noch weit schlimmeren einer verknöcherten Wissenschaft befreit hat. Einen Befreier nicht einzelner Völker, sondern der ganzen Menschheit, nicht aus den Banden des Leibes, sondern aus der Knechtschaft des Geistes haben wir in ihm zu betrauern und zu ehren.
Seinen einfachen Lebensgang haben wir bei Gelegenheit seiner siebenzigsten Geburtstagsfeier den Lesern der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1879, Nr. 7) geschildert und wollen deshalb heute nur von der Bedeutung seiner geistigen Thaten und von den seltenen Charakterfähigkeiten sprechen, die ihn in den Stand setzten, diese Thaten zu vollbringen; denn nicht allein durch Scharfsinn hat er die ihm anfangs stark widerstrebenden Geister überwältigt und zu sich herübergezogen, sondern fast noch mehr durch das Gewicht seiner überwältigenden Persönlichkeit, durch seine nie ruhende Arbeitslust, durch seine Vorsicht im Schließen bei aller Kühnheit und Unerschrockenheit im Folgern, durch seine Milde und Herzensgüte im Urtheilen und Handeln, durch seine seltene Einfachheit und Bescheidenheit im Umgange und Verkehr, und dies hervortreten zu lassen, wird der eigentliche Zweck dieser Zeilen sein.
Zuvor müssen wir jedoch einen flüchtigen Blick auf die Weltanschauung vor dem Auftreten Darwin’s werfen. Seit dem Aufdämmern der Philosophie in Indien und Griechenland hatte der menschliche Geist darnach gerungen, eine Weltanschauung zu gewinnen, die der Größe der Natur, die vor Allem seiner selbst würdig wäre und seine höchsten Empfindungen von jenen Vermenschlichungen befreite, die ein naiver Sinn auf der Kindheitsstufe stehender Völker sich ausgesonnen hatte. Wie eine Schachtel mit lebendigem Spielzeug, starr für immer, unverbesserlich, keiner Entwickelung zum Vollkommneren fähig, sollte die Welt mit ihren Bewohnern, ein für alle Mal, fertig hingestellt worden sein.
Wir brauchen nicht des Nähern an die Spitzfindigkeiten zu erinnern, die erfunden werden mußten, um den Ursprung des Bösen und des Uebels in dieser „besten Welt“ zu erklären und ihre Mängel und Risse zu verkleistern. Fortgeschrittenen, klareren und feiner organisirten Geistern hat diese trostlose, „von außen gestoßene“ Welt niemals Befriedigung geboten, aber ihr Sehnen nach einer bessern Welt, ihr Ruf nach „mehr Licht“ war unstillbar und ohne Antwort geblieben.
Je mehr sich nun die Naturforschung in den letzten Jahrhunderten erhob, je weiter die Kenntniß des Weltgebäudes, wie der Erde und ihrer Bewohner fortschritt, um so unheilbarer wurde der Bruch zwischen der Vernunft und den mythologischen Ueberlieferungen des Alterthums. Zumal die Untersuchung des Erdinnern lieferte von Tag zu Tag neue Beweise, daß andere Wesen als die jetzt lebenden die Erde früher bewohnt haben, zum Theil ungeheuerliche Formen von fabelhafter Bildung und Größe, die kein auch nur entferntes Ebenbild auf der Erde zurückgelassen haben. Jahrhunderte lang hatte man sich begnügt, in diesen Knochen und Versteinerungen „Naturspiele“ oder Reste einer gewaltigen Fluth zu sehen, und noch im Beginne unseres Jahrhunderts haben theologisirende Geologen den „Sündfluthgeruch“ der Fossilien mit ihren feinen Nasen wahrnehmen wollen.
Aber der genaueren Untersuchung der Erdschichten reichte bald eine Sündfluth nicht mehr zur Erklärung des Befundes aus; die Annahme einer ganzen Reihe nach einander erfolgter Austilgungen und Neuschöpfungen wurde nöthig erachtet; denn jede genauer untersuchte Schichtenfolge enthielt organische Ueberreste, die weder mit denen der darunter, noch mit denen der darüber liegenden Schichten Uebereinstimmung zeigten, und man erfand demnach die sogenannte Katastrophenlehre, welche fünf bis sechs auf einander gefolgte große Erdrevolutionen annahm, bei denen Alles drunter und drüber gegangen sei, sodaß alle Lebewesen vertilgt und nachher neu erschaffen werden mußten, etwa wie man einen im Kriege verwüsteten botanischen oder zoologischen Garten nach dem Friedensschlusse mit neuen Pflanzen und Thieren bevölkert.
Alle tiefer empfindenden Geister empörten sich gegen die barbarischen Zumuthungen dieser „Möblirungstheorie“, deren Geschöpfe die unwürdige Vorstellung von Modellen erweckten, die jedesmal ihrer Unvollkommenheit wegen vernichtet und in verbesserter Auflage neu erschffen werden mußten, und namentlich konnte Goethe sich niemals mit „dieser vermaledeiten Polterkammer der neuen Schöpfungen“ befreunden. Er selbst hatte schon am Ende des vorigen Jahrhunderts, gleichzeitig mit dem Großvater Darwin’s in England, die Ansicht von einer ununterbrochenen Entwickelung der Welt und der lebenden Bewohner derselben aufgestellt, und der Letztere hatte seiner sehr ausführlichen Begründung dieser „Entwickelungstheorie“ die Bemerkung hinzugefügt, daß sie ihm als die erhabenste und dem religiösen Gefühle am meisten entsprechende Auffassung des Schöpfungswerkes erscheinen wolle. Diese in ihren Grundzügen vollkommen ausgeführte „Descendenztheorie“ Erasmus Darwin’s hat dann Jean Lamarck im Beginn unseres Jahrhunderts mit großer Ausdauer und Kenntniß der lebenden Wesen weiter aufgebaut, ohne damit einen erheblichen Eindruck bei den Naturforschern seiner Zeit hervorzubringen.
Selbst als Charles Lyell im Jahre 1830 seine Grundzüge der Geologie veröffentlicht und überzeugend nachgewiesen hatte, daß die Erdentwickelung immer nach denselben Grundgesetzen vor sich gegangen sei, die wir noch heute in Wirksamkeit sehen, und daß die Verschiedenheit der einzelnen Erdschichten nur dadurch den Anschein plötzlicher und gewaltsamer Umwälzungen annähme, weil sich in ihnen die langsame Wirkung unendlicher Zeiträume in einen einzigen Anblick zusammendränge, wurde die Katastrophenlehre, so weit sie die Lebewesen anging, nicht aufgegeben. Die in diese Periode fallende Parteinahme der sogenannten „naturphilosophischen Schule“ (Hauptvertreter: Oken in Deutschland und [316] Etienne Geoffroy de Saint Hilaire in Frankreich) für die Entwickelung der Lebewesen aus einander hatte ihr durch die Unklarheit ihrer Ideen mehr geschadet als genützt. Die größten Zoologen und Botaniker der Zeit, Allen voran Cuvier, Decandolle und der alle Naturwissenschaften in seinem universellen Geiste zusammenfassende Humboldt, gehörten zu ihren entschiedensten Gegnern. Sie bekannten sich trotz aller dagegen laut gewordenen Einwürfe unverbrüchlich zu dem Dogma von der Beständigkeit der Arten, die sich seit ihrer ersten Entstehung nicht verändert hätten und daher auch niemals aus einander hervorgegangen sein könnten.
So war der Stand der Wissenschaft, als Darwin, reich an neugewonnenen Anschauungen, im Herbst 1836 von seiner Reise um die Welt zurückgekehrt war. Mit aufmerksamem Auge hatte er verfolgt, wie die von ihm in Südamerika ausgegrabenen vorweltlichen Thiere nur in demselben Welttheile lebende und ihnen nahestehende Vertreter besaßen, und konnte den Gedanken einer Verkettung zwischen ihnen nicht mehr los werden; er hatte ferner beobachtet, wie jede isolirte Insel ihre besonderen, nur ihr eigenthümlichen Thier- und Pflanzenarten aufwies, und er beschloß, näher zu untersuchen, ob die Lebensformen in Wahrheit so unwandelbar seien, wie man behauptete, oder ob sie eine Neigung, sich nach äußeren Verhältnissen zu wandeln, zeigten, wie Goethe und Lamarck behaupteten, und ob demnach ein Hervorgehen der einen aus der andern Art überhaupt denkbar sei.
Glücklicher Weise erlaubte ihm der Stand seines Vermögens, diesen Plan auf seinem Landgute zu Down in größtem Maßstabe auszuführen und den Rath zu befolgen, welchen ihm Lyell bald nach seiner Rückkehr (December 1836) gegeben: keine Anstellung zu suchen, keine Präsidentschaften und Ehrenämter zu übernehmen, zu denen sich genug passende Leute fänden, „die nichts zu versäumen hätten“. Schon wenige Jahre darauf war seine Vermuthung, daß die organischen Wesen veränderlicher seien, als man zugeben wollte, durch seine eingehenden Studien an Hausthieren und Culturpflanzen zu einer vollkommenen Ueberzeugung geworden, und durch die Beschäftigung mit einem Werke des Nationalökonomen Malthus war er zu der Erkenntniß gelangt, daß in dem nie ruhenden Kampfe um das Dasein eine Ursache gegeben sei, die zufälligen Abänderungen der Lebewesen in eine bestimmte Bahn zu leiten, indem nur solche Abänderungen Aussicht hätten sich zu befestigen, die als zweckmäßig für den besonderen Fall sich bewährten.
Wir können und wollen hier nicht Darwin’s gesammte Theorie aus einander setzen, sondern nur bei dem eigenthümlichen Charakterzug der wissenschaftlichen Vorsicht verweilen, die ihn veranlaßte, diese Ahnungen einer höheren Auffassung des Lebens nicht zu veröffentlichen, sondern sie nur seinen vertrautesten Freunden mitzutheilen, im Uebrigen aber noch anderthalb Jahrzehnte (!) weiter zu beobachten und Thatsachen zu sammeln, um jene Ansichten entweder festgestützt zu sehen oder sie aufzugeben.
Es ist bekannt, wie erst eine äußere Veranlassung, die Entdeckung derselben Grundsätze durch den englischen Naturforscher und Reisenden A. R. Wallace, und das heftige Drängen seiner Freunde Hooker und Lyell ihn veranlassen konnten, eine kleine, diesen Naturforschern seit langen Jahren im Manuscript bekannte Abhandlung am 1. Juli 1858, gleichzeitig mit der Wallace’schen, der Oeffentlichkeit zu übergeben. Er scheint völlig geneigt gewesen zu sein, Wallace die Priorität der weltbewegenden Entdeckung zu überlassen.
In der vor wenigen Monaten erschienenen zweibändigen Biographie Lyell’s findet sich ein launiger Brief desselben an Darwin, aus welchem hervorgeht, welches Drängen dazu gehört haben muß, ihm sein Werk über die „Entstehung der Arten“ abzulocken. Seine Beobachtungen seien noch lange nicht abgeschlossen, noch nicht hinreichend geprüft und geordnet, hatte er eingewandt. „Und wenn Sie hundert Jahre alt werden sollten, würden Sie doch mit Ihren Beobachtungen und Bedenken noch nicht ganz fertig sein, und ich bin von Herzen froh, daß ich Sie im Bunde mit Hooker dazu gebracht habe, das Buch zu veröffentlichen, ohne auf eine Zeit zu warten, die niemals gekommen wäre“, so ungefähr erwidert ihm Lyell auf die, wie es scheint, immer noch ängstliche Zusendung seines Buches und fügt den Rath bei, nur einige der klarsten und lehrreichsten Fälle zur Erläuterung des Textes beizufügen, die ganze Fülle der Beweise und Beobachtungen aber späteren Werken vorzubehalten. So geschah es und so war es offenbar am besten. Man kann nur mit Freuden daran denken, daß es ihm und nicht Wallace vorbehalten gewesen ist, der Vorkämpfer der neuen Weltanschauung zu werden. Wallace ist ohne Zweifel ein höchst kenntnißreicher und scharfsinniger Mann, der, wie Darwin sich einmal ausdrückte, eine natürliche Gabe besitzt, Schwierigkeiten aller Art spielend aufzulösen, aber er vereinigt die größten Gegensätze in seinem Geiste, Gegensätze, die ihn wenig dazu geeignet erscheinen lassen, die Welt zu seinen Ansichten zu bekehren. Er ist Bibelgläubiger und Spiritist, und nimmt den Menschen ausdrücklich von den Gesetzen aus, welchen die übrigen Lebewesen gehorchen; auch besitzt er weder die Ruhe und Ausdauer, noch die strenge Selbstkritik, durch die sich Darwin’s Arbeiten so sehr auszeichnen. Den Letzteren sehen wir jedesmal seinen neuen Aufstellungen gegenüber sich selbst alle jene Einwürfe machen, die irgend dagegen in’s Feld geführt werden können, und darum hat man ihm trotz der Kühnheit vieler seiner Ideen so wenig Mißverständnisse nachweisen können.
Nichtsdestoweniger waren die Angriffe, die man gegen sein im October 1859 erschienenes Werk über die „Entstehung der Arten“ schleuderte, anfangs sehr heftiger Art, und man hätte allen Grund gehabt, selbst für die richtigen Gedanken eines solchen Werkes Befürchtungen zu hegen, wenn die Darstellung weniger kritisch durchdacht und überlegt gewesen wäre. Die Orthodoxen, welche in seinem Auftreten einen Angriff auf die Grundlagen der Gesellschaft fanden, verbündeten sich mit den conservativen Naturforschern, die sich in dem althergebrachten Schlendrian ihrer Gedankencirkel gestört sahen, und es gab einen Guerillakrieg, wie ihn die Welt auf naturwissenschaftlichem Gebiete noch nicht erlebt hatte. Diesen aus allen Winkeln und Weltecken erfolgenden Angriffen gegenüber war Darwin’s Verhalten geradezu bewunderungswürdig. Mochte man seine Ansichten als „Träume eines Nachmittagsschläfchens“ oder als „ein Chaos von Unglaublichkeiten und Dummdreistigkeiten“ oder als „die kurzsichtigste, niedrigstdummste und brutalste Lehre“ (die in Gänsefüßchen gefaßten Musterstücke sind wirkliche Leistungen dreier hervorragender deutscher Gelehrten!) oder wie noch sonst ausschelten, – er antwortete nicht darauf, und als ihm in den letzten beiden Jahren (1880, 1881) von einem jungen Scribenten, der sich dadurch Ruf verschaffen wollte, immer und immer von Neuem in den englischen Zeitungen eine „literarische Fälschung“ vorgeworfen wurde, wollte er anfangs nicht einmal zugeben, daß der Verfasser dieses Artikels, welcher die Grundlosigkeit des abgeschmackten Vorwurfs am klarsten darlegen konnte, dies vollführte. Den wenigen Gegnern, die ihm mit sachlichen Einwendungen entgegengetreten sind, antwortete er mit ungewöhnlicher Liebenswürdigkeit, und Solche, die nur im Allgemeinen gegen ihn polemisirten, wie z. B. Moritz Wagner oder Ernst von Baer, pflegte er in seinen Werken mit desto größerer Auszeichnung zu erwähnen.
So hat er in der That bald die meisten seiner Gegner entwaffnet; die Formen der Polemik wurden immer höflicher, und es blieb schließlich nur noch eine Art Sport der Gegenpartei, ihm einen unschädlichen Gegenpapst zu wählen, der nach einander bald Wallace, A. de Quatrefages, Ernst von Baer, sogar Nathusius und Max Müller geheißen hat, um diese Führer zu größeren Leistungen durch die Huldigungen ihres Heerbannes anzuspornen. Wir dürfen billig bezweifeln, ob es einem andern Forscher und mit andern Mitteln möglich gewesen wäre, eine solche wilde Opposition so schnell zum Schweigen zu bringen, und bis zu einem solchen Grade eine Umwandlung der Gesinnungen hervorzurufen, daß selbst die Blätter der Gegenparteien in London für sein Begräbniß in dem englischen Ruhmesdome eingetreten sind. Dazu muß man bedenken, daß seine Stellung im Anfange eine schwache war; denn die Thatsachen der Erblichkeit, Veränderlichkeit, Anpassung etc. lassen sich dem nicht unmittelbar beweisen, der sie bezweifeln will, und die Vorwesenkunde oder Paläontologie, welche allein greifbare Beweise für den allseitigen Zusammenhang der Lebensformen, für die Entwickelung derselben aus einander liefern kann, war damals noch sehr lückenhaft; die trennenden Zwischenräume zwischen den einzelnen Gruppen waren augenfälliger als die zusammenhängenden Formenreihen.
Die Vögel, um nur eins der auffallendsten Beispiele zu nennen, standen ganz isolirt im System, und kein greifbarer Nachweis war vorhanden, auf welchem Wege sie sich von den andern Wirbelthieren abgezweigt haben könnten, und ebenso vollständig fehlte eine Brücke von den Wirbellosen zu den Wirbelthieren. Als Darwin aussprach, daß früher sicherlich ausgestorbene, aber vielleicht vollkommen verloren gegangene Zwischenformen zwischen den Vögeln und andern Wirbelthieren existirt haben müßten, da konnte man
[317][318] ihm bequem vorwerfen – und man hat es natürlich auch gethan – daß sein Gebäude sich weniger auf den Thatsachen der Erdfunde als auf den Lücken derselben aufbaue. Diese von ihm vor zwanzig Jahren verkündeten Zwischenformen sind seitdem in großer Reichhaltigkeit und überzeugender Vollständigkeit gefunden worden. Nicht nur von den reptilienartigen Urvögeln, sondern auch von den Ahnenformen unserer Raubthiere, Pferde, Schweine, Wiederkäuer etc. hat man seitdem ganze Entwickelungsreihen in der alten, wie namentlich in der neuen Welt ausgegraben, und beinahe jeder neue Fund auf paläontologischem Gebiete war ein Beweis für Darwin.
Die andere obenerwähnte große Lücke hat das Studium der Entwickelungsgeschichte, welches erst durch Darwin einen wahren Inhalt und Aufschwung erhalten hat, soweit ausgefüllt, daß die Ableitung der Wirbelthiere von den Wirbellosen nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen werden kann. Hier haben namentlich deutsche Forscher, Fritz Müller, Häckel, O. Schmidt, Weismann und Andere das Werk Darwin’s fortgeführt, und in der Entwickelungsgeschichte des Einzelwesens die oft wunderbar getreue, oft auch stark getrübte Wiederholung seiner Stammesgeschichte nachgewiesen. Man hat dem Urheber der neuen Weltanschauung vorgeworfen, er sei nicht ganz consequent vorgegangen und habe ursprünglich den Menschen von der allgemeinen Entwickelung des Thierreiches ausgeschlossen. Allein dies ist ein Irrthum, der nur dadurch möglich war, daß der erste Uebersetzer der „Entstehung der Arten“, Professor Bronn, eine den Menschen betreffende Stelle dieses Werkes weggelassen hatte, um dem Verfasser Anfechtungen nach dieser Richtung zu ersparen. Allerdings hatte Darwin die Folgerungen für die Stellung des Menschen in der Natur nicht gleich anfangs so stark betont, wie es von manchen seiner Anhänger gewünscht worden wäre, aber wie recht er daran gethan, zeigte der neue Sturm, der sich gegen ihn erhob, als er in seinen späteren Werken auf das betreffende Verhältniß näher einging.
Auch dieser Sturm hat sich inzwischen gelegt, und mit der Wissenschaft vom Menschen sind auch alle Geisteswissenschaften, die Philosophie, Psychologie, Ethik etc. in die gewaltige Bewegung eingetreten; der Gedanke, daß Alles, was ist, aus unvollkommenen Anfängen emporgewachsen ist, bildet gegenwärtig das fruchtbarste Ferment aller Wissenschaften. Nach allen Richtungen hin haben Darwin’s Arbeiten die wirksamsten Anregungen gegeben: die Geschichtswissenschaften wurden durch die „Vorgeschichte“ des Menschen ergänzt; in den Gesellschaftswissenschaften richtete sich der Blick auf die primitiven Zustände der wilden Völker; für die Aesthetik wurde eine Grundlage in dem Schönheitsgefühl der Thiere, z. B. der Bevorzugung schöner Blumen durch honigsuchende Insecten gefunden. So wurde der Darwinismus zu jener Schraube und jenem Hebel des Archimedes, um die alte Weltanschauung aus ihren Angeln zu heben.
Wir können hier nicht auf die späteren ausführenden Werke Darwin’s näher eingehen, sondern wollen nur auf die beispiellose Arbeitssumme hinweisen, die in diesen Werken und in dem sich an sie knüpfenden, über den ganzen Erdball ausgedehnten Briefwechsel aufgespeichert liegt. Welcher Sclave oder Frohnarbeiter – so möchte man hier fragen – hat wohl in seinem Leben so eifrig, so unablässig gearbeitet, wie dieser Mann, den kein materielles Bedürfniß dazu trieb? Man kann von ihm sagen, er sei auf dem Schlachtfelde gestorben; denn sein Arbeitszimmer war ein solches in geistiger Beziehung, ein Feldherrngemach, von dem aus eine Welt von Vorurtheilen besiegt werden mußte. Aber obwohl er das für Reformatoren seltene Glück erlebt hat, den vollständigen Sieg seiner Ansichten zu erleben, ruhte er doch nicht auf seinen wohlverdienten Lorbeeren, sondern überraschte noch in seinem hohen Alter alljährlich die Welt mit einem neuen werthvollen Werke und gedachte noch lange nicht die Hände in den Schooß zu legen. Nach welcher Richtung hin man auch Rath holend bei ihm anfragte, überall hatte er noch „Stöße von Notizen“ liegen, die der Verarbeitung harrten, und so ist er bis in die letzten Wochen seines Lebens hinein im Dienste der Menschheit thätig gewesen, ein unvergleichlicher, unermüdlicher Arbeiter, der nichts für sich beanspruchte, nicht einmal die Anerkennung der Welt. Wenn irgendwo, so dürften hier die Worte Hamlet’s an ihrem Platze sein:
„Er war ein Mann – nehmt Alles nur in Allem! –
Wir werden nimmer seines Gleichen sehn.“
Wenige Augenblicke später stand Abd-er-Raschid vor seinem Vater, der im Erker eines Gartensaales auf weichen Kissen ruhte. Durch die geöffneten Fenster drang das Mondlicht herein, den ganzen Erker mit strahlendem Licht übergießend.
„Im Dunklen, Vater?“ fragte Abd-er-Raschid.
„Wo Oel und Mond zugleich leuchten, geht das Haus zu Grunde,“[3] erwiderte Ibrahim Bey. „Du willst mit Deinem Vater sprechen?“ fuhr er dann fort, ohne den Jüngling zum Niedersitzen aufzufordern.
„Nicht mit meinem Vater, sondern mit dem Onkel Nefiseh-Hanem’s. Gieb sie …“
„Auch ich habe mit Dir zu sprechen,“ unterbrach ihn Ibrahim, „– und zwar als Vater. Abd-er-Raschid, es ist nun an der Zeit, daß Du ein Weib nimmst. Meine Mutter hat, wie Du weißt, bereits Brautschau für Dich gehalten und nach reiflicher Ueberlegung haben wir beschlossen, daß Du die Tochter Hassan-Pascha’s zum Weibe nimmst.“
„Die Brautschau der Großmutter galt nicht mir,“ gab Abd-er-Raschid trotzig zurück.
Ibrahim sah seinem Sohne fest in’s Auge. „Wem denn sonst?“ fragte er gedehnt.
„Keinem Anderen als – Dir, Vater.“
„Du irrst, mein Sohn,“ sagte Ibrahim in sanftmüthigem Tone, einem Ton, den er nur anschlug, wenn ein Zornausbruch im Anzuge war. „Es wäre sehr tactlos von mir, wenn ich eine zweite Gemahlin nähme, ehe mein mündiger Sohn seine erste genommen.“
„So gieb mir Nefiseh-Hanem!“ kam es leidenschaftlich von des Jünglings Lippen. „Diese will ich oder – keine.“
„Du willst? Du hast gar nichts zu wollen,“ fiel ihm Ibrahim mit bebender Stimme in’s Wort.
„Vater, gieb mir Nefiseh!“ bat Abd-er-Raschid mit veränderter Stimme, fast im Tone eines Flehenden.
Ibrahim machte eine abwehrende Bewegung und begann den Saal mit hallenden Schritten zu durchmessen, und erst nach einer längeren Pause peinlichen Schweigens wagte der Jüngling zu fragen:
„O, mein Vater, warum wünschest Du diese Verbindung nicht?“
„Warum? Warum? Weil Nefiseh Dich nicht liebt.“
Und indem er das sagte, setzte er sich wieder auf den Divan im Erker, stützte den Kopf mit der Hand und sah seinen Sohn mit einer Art triumphirenden Hohnes unverwandt an.
In Abd-er-Raschid’s Brust stieg ein böser Verdacht auf – der fuhr kalt und schneidend in sein Herz. Das Mondlicht, welches das Haupt Ibrahim’s beschien, zeigte jeden Zug seines Gesichts, und jeder Zug verrieth den glücklichen Liebhaber.
Secundenlang starrte Abd-er-Raschid seinen Vater an.
„Sie liebt mich nicht?“ fragte er alsdann.
„Nein, nicht Dich!“
„Einen … Anderen also?“
„Das darf ich Dir heute nicht verrathen. Wozu brauchst Du es auch zu wissen? Du vermählst Dich mit der Tochter Hassan-Pascha’s. Das ist mein letztes Wort.“
Dabei winkte Ibrahim mit der Hand zum Zeichen, daß der Sohn entlassen sei. Dieser verneigte sich nach orientalischer Sitte und verließ, ohne ein Wort zu sprechen, den Saal.
Draußen aber ballte er die Hände, lief wie ein Rasender den Corridor hinab und warf sich, einen unarticulirten Schmerzensschrei [319] ausstoßend, mit dem Gesichte auf den Divan, der hier in einer Fensternische stand.
Da berührte eine weiche Hand sein Haupt; er erhob es und blickte in die guten grauen Augen seiner Großmutter, die, sich niederbeugend, ihn liebevoll ansah.
Die alte Frau hatte ihn davonstürmen sehen, nachdem Ibrahim und Nefiseh den Kahn bestiegen. In banger Sorge um ihren Liebling, für den sie bei dem apathischen Wesen ihrer Tochter seit Jahren die mütterliche Pflege übernommen hatte und dessen schmerzliche Empfindungen sie errieth und mitfühlte, waren der Greisin die letzten Stunden verstrichen, und als ihr der Hufschlag des Pferdes endlich die Rückkehr des ängstlich Erwarteten verkündet hatte, da war sie in den Gang hinaus getreten, der die Gemächer des Harems von dem Gartensaale trennte, und hatte von dem alten Diener erfahren, daß Abd-er-Raschid seinen Vater zu sprechen begehre. Das von zärtlichster Liebe für den Enkel erfüllte ahnungsvolle Herz hatte ihr gesagt, daß eine schwere, folgenreiche Stunde geschlagen habe. Koranverse murmelnd, hatte sie an der Thür des Saales gestanden, in welchem sich Vater und Sohn befanden, und war Abd-er-Raschid gefolgt, als dieser in höchster Aufregung den Corridor hinabstürzte.
Und kaum waren nun seine Augen denen der Großmutter begegnet, als der feindselige Ausdruck aus denselben wich.
„O, laß mich allein, laß mich sterben!“ bat er weich.
Mit sanfter Stimme suchte die gute Alte den Verzweifelnden zu beschwichtigen; sie ergriff zärtlich seine Hand, hielt ihn innig in ihrem zitternden Arm und zog ihn mit sich fort in ihr Gemach.
Hier ließ sie sich auf eine Ottomane nieder und bat den Jüngling, ihr Alles zu erzählen. Stürmisch vor der Lauschenden auf- und abgehend, schüttete er ihr sein ganzes Herz aus, dann aber sank er erschöpft auf die Ottomane und barg sein glühendes Gesicht in den Schooß der Guten, die ihn schon so oft getröstet und beruhigt.
„Fasse Muth, mein Kind!“ sagte die Greisin mild und küßte sein Lockenhaupt. „Sei ruhig, mein Sohn!“ Und nun begann sie die erste Sure des Korans zu beten.
„Nur das nicht!“ rief er heftig. „Diese erste Sure hoffte ich in gesegneter Stunde zu beten, mit ihr zu beten, Großmutter, ehe ich den Schleier von ihrem Antlitz hob. Diese Sure will ich nimmer hören, will sie nimmer beten. Alle sind sie falsch, die Deines Geschlechtes sind – nur Du nicht, Alle, auch Nefiseh.“
„Auch Nefiseh?“ fragte verwundert die Greisin.
„Ja, so ist’s! Sie ist lieblich anzuschauen, doch innen voll Giftes, wie die verführerischen Beeren des Gundschastrauches.“
„O Abd-er-Raschid, die Eifersucht verblendet Dich. Ich habe es tausendmal in ihren Augen gelesen, daß sie Dich liebt, und sie hat es mir tausendmal gesagt.“
„Hat sie das, hat sie das wirklich?“ rief er mit Feuer. „Und tausendmal?“
„Tausend- und einmal,“ lächelte die Alte, während ihre Augen vor Rührung über die Wandlung, die mit dem Enkel vorgegangen, sich feuchteten. „Mein Sohn, Eines thut noth vor Allem: Du mußt dem Zorn des Vaters aus dem Wege gehen; Du mußt dieses Haus verlassen – schon morgen mit dem Frühesten.“
Er zuckte zusammen und entzog ihr seine Hand. Sie aber ergriff dieselbe von Neuem.
„Es ist besser so,“ fuhr sie fort, „und Du magst es getrost thun. Du brauchst nichts zu fürchten. Bedenke, daß Nefiseh Deinem Vater unerreichbar ist – ewig unerreichbar. Er ist nicht der Mann, wider das Gesetz zu handeln. Und wäre er solch ein Mann, so ist Nefiseh dessen nicht fähig – auch dann nicht – wenn sie Deinen Vater liebte.“
„Er wird die Schüchterne, Zaghafte bereden –“
„Still, mein Sohn, sprich diesen Gedanken nicht aus! Du schmähest damit Deinen Vater, Deine Braut, Dich selbst. Sündhaft der Sohn, welcher von seinem Vater Uebles denkt!“
„Wenn dieser Vater nun aber nicht väterlich an seinem Sohne handelt?“
„Ein Muslime handelt stets väterlich an seinem Kinde,“ erklärte feierlich die Greisin. „Das wird auch Dein Vater thun.“
„Allah möge es geben!“ seufzte Abd-er-Raschid. „Du bist klug, und ich will Dir gehorchen. Wohlan, ich werde das väterliche Dach meiden.“
So ward denn beschlossen, daß Abd-er-Raschid unverzüglich das Haus verlasse und zwar verstohlener Weise, um in einer bei Tantah gelegenen Villa der Großmutter einige Wochen zu verbringen. Niemand sollte ahnen, wohin er sich gewandt habe, und nur den Haremsmitgliedern, vor Allem der Mutter und Nefiseh, wollte die Greisin zur Beruhigung anvertrauen, daß Abd-er-Raschid nicht lange verschollen bleiben werde.
Der Kriegsrath, den die Beiden gehalten, hatte lange gewährt, und als Abd-er-Raschid von der Greisin Abschied nahm, sein Kleinod, Nefiseh, unter den mächtigen Schutz des mohammedanischen Familienhauptes stellend, da graute schon der Morgen.
Um diese Zeit, wo der Muezzin auf dem Moscheethürmlein den Muslimen an seine Pflicht mahnt, ein Morgengebet zu verrichten, pflegte Ibrahim Bey sonst Koranverse zu murmeln, heute aber lag er noch in tiefem Schlaf, den er während der Nacht lange vergebens herbeigewünscht hatte. Eine quälende Unruhe hatte ihn nach der Unterredung mit seinem Sohne erfaßt. In dieser Stimmung wagte er zum ersten Mal, sich zu fragen, was er denn hoffe und wünsche. Bis zu dieser Stunde hatte er sich zu bezwingen, hatte er der Geliebten gegenüber zu schweigen gewußt, weil er noch nicht ergründet, ob seine Liebe in Nefiseh’s Herzen Erwiderung finde. Wenn dies der Fall – und daß es so war, davon war der etwas eitle Mann überzeugt, der als herrische Natur immer vermeinte, es könne nur das geschehen, was er wünsche – ja, wenn es der Fall war – – Er malte sich die Lage aus, in die ein Einverständniß zwischen ihm und Nefiseh ihn, die Geliebte, seinen Sohn, sein Haus versetzen müsse. O, er kannte sich wohl: Er würde seiner Leidenschaft nicht Herr sein. Die Folgen wären unberechenbar. Nur das Eine war klar: das Haus Ibrahim’s würde ein Haus des Kampfes und der Zwietracht werden.
Und nun trat das Bild seines Sohnes ihm lebhaft vor die Seele, das Bild dieses schönen, kraftvollen und edlen Jünglings. Ibrahim Bey war ein ehrsüchtiger Mann, der für das Lob der Welt nicht taub war. Etwas wie Stolz beschlich ihn bei dem Gedanken, daß er, während alle Welt den jungen Abd-er-Raschid bewunderte, an seine Brust schlagen und rufen dürfe: er ist mein, mein eigener Sohn. Und Ibrahim Bey war auch ein weichherziger Mann – trotz seiner kalten, schroffen Außenseite; er hatte seinen Sohn von Herzen lieb. Hatte er ihn nicht mit liebender Vatersorge erzogen, hatte er von ihm nicht Liebe für Liebe, Dank für all seine Sorge geerntet? – gewiß, o, gewiß!
Und nun? Nun sollte er diesen braven Sohn, seinen Stolz und seine Liebe, um die Geliebte seines jugendlich heißen Herzens bringen und an die Stelle der Kindesliebe Haß pflanzen, Haß gegen sich, gegen Ibrahim Bey, den die Welt einen schlechten Vater nennen werde? Die Welt – –! Das durfte die Welt nicht sagen. Einen schlechten Vater? O, er liebte seinen Sohn doch so innig! Aber wenn er ihn liebte, mußte er dann nicht sein eigenes Herz bezwingen? Seine Liebe zu Nefiseh war sündig – das fühlte er – doppelt sündig: das Vaterherz und der Koran verboten sie. Und dann: war er nicht nahezu ein alter Mann? Nefiseh so jung – Jugend gehört zu Jugend.
Diese und ähnliche Gedanken verscheuchten von Ibrahim’s Lidern den Schlaf – das Gewissen war zu Wort gekommen – und erst nachdem er mehrere Haschischcigaretten geraucht, fiel er in einen sanften Schlummer.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als er erwachte. Er schlug mit der rechten in die linke Hand, und auf dieses Zeichen, mit welchem man im Orient, wo in keinem Hause Glocken vorhanden sind, die dienenden Geister herbeiruft, erschien der Kammerdiener des Beys.
Die Morgentoilette dauerte lange. Ibrahim hatte heute in seinem Schnurrbart ein weißes Haar entdeckt; auch in dem Kopfhaar glitzerte es an manchen Stellen ganz verdächtig. Bei dieser Wahrnehmung fielen dem Bey unwillkürlich das rabenschwarze Bart- und Haupthaar seines bildschönen Sohnes ein, und die ganze lange Gedankenreihe von Vaterliebe und Entsagung, die ihm gestern Abend den Schlaf geraubt, wurde wieder in ihm wach. Aber die leichtsinnige Natur des Lebemannes gewann doch in ihm die Oberhand. Wir Menschen verleugnen niemals auf die Dauer unser eigenstes Naturell.
„Bah!“ sagte er zu sich selbst, „was kümmern mich die Liebesangelegenheiten meines Sohnes? Mein Herz hat auch sein Recht.“
Und nun kleidete er sich mit doppelter Sorgfalt an. Wenn der Tarbusch sein Haupt bedeckte – ohne denselben läßt sich ein [320] Muslime in Gesellschaft niemals sehen – bemerkte man seine grauen Haare nicht, und in der That: wenn er die kleidsame ägyptische Uniform trug, mußte seine herculische Gestalt neben der geschmeidigen, eleganten, aber doch etwas hageren Figur Abd-er-Raschid’s eine sehr günstige Wirkung thun.
Aber er sollte erfahren, daß die reife Kraft des absteigenden Mannesalters, wenn ihr andere Reize fehlen, im Kampfe mit dem Zauber männlicher Schönheit und Jugend nicht immer den Sieg davon trägt, daß die etwas zaghafte, naive erste Liebe eines schönen Jünglings stets reizvoller, mächtiger ist, als die vollbewußte, sogenannte letzte des schon alternden Mannes.
Als seine Toilette beendet war, verfügte sich der Bey in den Speisesaal, wo der ganze Harem versammelt war. Zu seiner Ueberraschung fand er auch Nefiseh dort; denn diese speiste sonst mit ihren Frauen in ihren Gemächern, weil Abd-er-Raschid sie nicht unverschleiert sehen durfte.
„Nefiseh hier und unverschleiert,“ dachte Ibrahim bei sich. „Die Damen wissen also, daß mein Sohn nicht erscheinen wird.“ Er hütete sich zu fragen, wo Abd-er-Raschid sei, da er wohl merkte, daß die Frauen eine solche Frage von ihm erwarteten und eine verfängliche Antwort darauf in Bereitschaft hatten. Man plauderte während der Mahlzeit freundlich und unbefangen mit einander. Wenn Ibrahim aber das Wort an die Frauen richtete, veränderten sie den Ton ihrer Stimmen, spitzten die Lippen und theilten knappe Antworten und lange, vorwurfsvolle Blicke aus. Ibrahim that, als merke er von alledem nichts, nicht die Abwesenheit seines Sohnes, nicht die mißbilligenden Blicke der Haremsfrauen und der alten, treuen Diener, nicht die bleichen Wangen und die müden Augen Nefiseh’s. – –
Mehrere Tage vergingen. Die Blicke der Frauen wurden immer vorwurfsvoller, ihre Antworten immer knapper, ihr Benehmen immer kühler. Frauen wissen genau, daß ein Mann vor einer solchen Taktik über kurz oder lang die Waffen streckt. Das that schließlich auch Ibrahim Bey.
Er mochte eingesehen haben, daß die bleiche Nefiseh sich nach dem fernen Geliebten sehne, daß seine, des Onkels, Nähe sie bedrücke, verstimme, schmerze; er mochte diese Entdeckung um so leichter gemacht haben, als Nefiseh von dem Augenblicke an ihn mit erfrierender Kälte behandelte, wo sie erkannt hatte, daß ihr Schmeicheln ihn nicht dazu bewog, ihr Abd-er-Raschid zum Manne zu geben. Von Tag zu Tage verhielt sie sich immer ablehnender gegen Ibrahim Bey. Die zürnenden Blicke, die sie ihm zuwarf, und die tiefe Trauer, welche Nefiseh um den Verschollenen sichtlich empfand, mochten ihn gerührt haben; immer und immer wieder, und zwar mit stetig wachsender Kraft, traten die verklagenden Gedanken an ihn heran, die ihm in jener unruhvollen Nacht nach der Unterredung mit seinem Sohne den Schlaf geraubt hatten; immer klarer sah er sein Unrecht ein; mit immer bangerem Zagen erfüllte ihn Abd-er-Raschid’s Schicksal und seine eigene Schuld. Wie, wenn er niemals wiederkehren würde, der geliebte Sohn? Wie schwer würde die Welt den grausamen Vater verurtheilen! Wie schmerzlich würde sein Vaterherz den Verlust des Stammhalters beklagen! Diese Erwägungen machten den gutherzigen Mann endlich wankend. Vielleicht auch hatte der stete, wenn auch stumme, doch hartnäckige Krieg des ganzen Harems die Widerstandskraft Ibrahim’s gebrochen, dem, als Orientalen, ein gemächliches Leben über Alles ging; kurz, nach etwa drei Wochen des Hauskrieges trat er in das Zimmer seiner Mutter.
„Mutter, ruft mir den trotzigen Knaben zurück!“ sagte er, nachdem er die alte Dame ehrerbietig begrüßt; „denn Ihr kennt gewiß den Weltwinkel, in dem er sich verbirgt.“
Ein leises Lächeln glitt über die freundlichen Züge der Alten; doch klang ihre Stimme streng, als sie erwiderte:
„Und Nefiseh?“
„Sie mag des Jungen Weib werden,“ sagte der Bey, nicht ohne die peinliche Verlegenheit des Besiegten.
„Aber Du selbst, Ibrahim?“ fragte ernst die Mutter.
„Ich?“ Er lachte bitter auf und sagte: „Ich werde mich an dem Glücke der Neuvermählten freuen, Mutter.“
„Ibrahim,“ rief die Greisin vorwurfsvoll und fixirte ihn ängstlich; „sieh mir in die Augen!“
Er aber verharrte mit gesenktem Blicke, und nun trat die gute, alte Frau leise zu ihm und flüsterte ihm etwas in’s Ohr. Ibrahim fuhr auf und machte mit den Armen leidenschaftliche Geberden, als wolle er etwas von sich wehren:
„Nein, ich liebe sie nicht mehr!“ rief er heftig.
„Gieb mir eine Bürgschaft!“ sagte die Greisin mit feierlichem Ernst; „sonst kehrt Dein Sohn nie und nimmer mehr in’s Vaterhaus zurück.“
Ibrahim machte einige Schritte durch’s Zimmer.
„Die Tochter Hassan-Pascha’s, die Braut Abd-er-Raschid’s,“ sagte er schnell entschlossen, „wird das Weib … Ibrahim Bey’s.“
Ein warmer Mutterkuß belohnte dieses Wort. – – –
Wochen waren in’s Land gegangen.
Im Hause Ibrahim’s schmetterten die Trompeten, erschallte Trommel- und Paukenschlag, klingelten die Goldmünzen an den luftigen Gewändern der sich verführerisch hin und her wiegenden Tänzerinnen. Hier sagten einige Fiki mit näselnden Stimmen Koranverse her; dort sangen im Garten, wo bunte Lampenguirlanden sich von Baum zu Baum schwangen, dunkle Lautenschlägerinnen verliebte Weisen; in der Mitte des Saales aber warfen schöne Mädchenhände Gold, Gerste und Salz[4] in die Höhe, und draußen vor dem Hause wurden Brod, Wasser und Datteln an die Armen vertheilt. Ueberall Hochzeitsjubel, überall frohes Lachen von Groß und Klein, von Reich und Arm. – Die reizende Nefiseh und der schöne Abd-er-Raschid schlossen heute den feierlichen Bund für’s Leben.
Unter lautem Jubel, wie der Landesbrauch es wollte, führten die Freunde am Schlusse des Festes den glücklichen Jüngling zur Thür der Brautkammer.
Innen, beim Dämmerscheine einer verhüllten, traulichen Lampe harrt seiner die Braut, harren seiner Großmutter und Mutter … Zögernd steht er vor der Thür, bis er, wie es die Sitte heischt, von Freundeshand in das bräutliche Gemach geschoben wird.
Nun tritt er vor die Verschleierte hin … Segenssprüche murmelnd, entfernen sich Mutter und Großmutter, und mit zitternder Hand hebt Abd-er-Raschid den golddurchwirkten Schleier seiner Schönen, wirft sich ihr zu Füßen und flüstert, das Antlitz in ihrem Gewande verhüllend, die erste Sure des Korans: „Lob und Preis Gott, dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrschet am Tage des Gerichts! Dir wollen wir dienen und zu dir wollen wir stehen, auf daß du uns führest den rechten Weg, den Weg Derer, die deiner Gnade sich freuen, und nicht den Weg Derer, über welche du zürnest.“
Der Letzte vom Regiment. (Illustration S. 317.) Zum dritten Male führen wir unsere Leser vor ein Bild des schwedischen Genremalers Bengt Nordenberg in Düsseldorf. Die beiden früheren Holzschnitte nach seinen Oelgemälden waren: im Jahrgang 1870, Nr. 23, die figurenreiche Gruppe vor der Orgel „In einer schwedischen Dorfkirche“ und im Jahrgang 1871, Nr. 42 „Die letzte Reise“, ein winterlicher Begräbniszug. Heute läßt der Künstler uns in eine schwedische Familienstube blicken, in welcher ein alter Soldat das letzte Abendmahl empfangen hat und den Trostworten des jungen Predigers zuhört, indeß die Enkelin ihm mit dem Kopfkissen den Rücken stützt. Zwischen blühender Jugend der sterbende Greis! Damit der Gedanke an den Tod uns auch in der Umgebung nicht festhalte, zieht der hereinbrechende Sonnenstrahl unser Auge an und lenkt den Blick auf ein neues Bild frischerwachten Lebens, auf den Korb, in welchem junge Kätzchen ihr Spiel treiben. So zeigt sich hier schon der Charakter des „Soldatenleichenzugs“, der bekanntlich mit gedämpften Trommeln zum Grabe zieht, aber mit heiterem Spiele wieder heimkehrt.
A. M. in R. Von Max Wirth’s „Grundzügen der Nationalökonomie“ ist die fünfte Auflage des 1. Bandes kürzlich erschienen; die vierte Auflage des 2. Bandes befindet sich unter der Presse. Ferner werden die dritte Auflage der „Geschichte der Handelskrisen“ und eine schwedische Uebersetzung der „Krisis in der Landwirthschaft“ desselben Verfassers demnächst zur Versendung kommen.
A. K. in O. Der Fall braucht nicht so schlimm zu sein. Wenden Sie sich an einen Gynäkologen in der Ihnen nächstliegenden Universitätsstadt!
B. L. M. Zur Beurtheilung von Gedichten fehlt uns alle Zeit. Dank für geschenktes Vertrauen!
C. F. K. Wir bedauern, von Ihrer freundlichen Offerte keinen Gebrauch machen zu können.
Ein alter Abonnent. Die Artikel „Aus deutschen Spielhöllen“ finden Sie im Jahrgang 1862[WS 1], Seite 217, 233, 253 und 1864, Seite 41 (Die Spielhöllen in Wiesbaden), 712 (Die Spielhölle in Wiesbaden).[WS 2]
- ↑ „Die erste Hülfe bei plötzlichen Unglücksfällen“ von Dr. Friedrich Esmarch. (Leipzig, F. C. W. Vogel. Preis 1,50 Mark.)
- ↑ „Unflämsche Kerle“: starke, kräftig gebaute Männer. „Unflämsch“ von Flamländer, die durch brandenburgische und preußische Fürsten nach Preußen gezogen wurden. Bei Nordhausen versteht man unter der richtigeren Ausdrucksweise „flämsch“ dasselbe.
- ↑ Arabisches Sprüchwort.
- ↑ Gold bringt nach dem mohammedanischen Glauben Glück, Gerste Fruchtbarkeit, und Salz wendet das böse Auge ab.