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Die Gartenlaube (1882)/Heft 31

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[505]

No. 31.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der Krieg um die Haube.

Von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Athemlos drängten sich die Fronen heran.

„So schön habe ich mir die Haube nicht gedacht,“ flüsterte es ringsumher.

„Gelt?“ lachte die Rotmundin. „Wohlan, wir setzen auch solche Hauben aus.“

„Das wird nimmer erlaubt vom Rath,“ seufzte Felicitas Holzschuherin.

„Das wollen wir wohl sehen,“ dräute die Rotmundin. „Hört erst, was meine Frau Bas, die Langmantelin in Augsburg, schreibt!“

Sie zog ein Papier aus der Gürteltasche und las:

„Gelobt sei Gott und die heilige Jungfrau Maria, seine Mutter, daß sie mich von der Sorge erlösten, die ich für Dich getragen habe! Bin schier bös aus Dich gewesen, liebe Rotmundin, daß Du mich durch den geheimen Boten und den ungebärdigen Brief so erschreckt hast, bis ich herausbuchstabiert habe, daß Dir nichts fehlt als eine hübsche Haube. Gleichwohl kann ich den Nürnberger Frauensbildern nicht verübeln, daß sie der unholdseligen Stürze entledigt sein möchten; denn auch wir Augsburgerinnen haben uns vordem durch dieselben hochbeschwert gefühlt, bis Kaiser Maximilian, dem Gott eine gnädige Urständ verleih, uns davon befreit hat. Nicht umsonst hat er sich den Bürgermeister von Augsburg genannt. Er ist wie ein wahrhafter Vater der Stadt seinen Töchtern zu Hülfe gekommen und hat vorgegeben beim Rath, daß wir die Scheuchen ablegen durften. Vielleicht senden Euch die Heiligen auch einen Fürsprech, wenn Ihr sie fein darum bittet. Stellet Euren Herren einmal mit Sanftmuth vor, daß es zu ihrem eignen Besten ist, wenn die Weiber und Jungfrauen anmuthig anzuschauen sind! Die Heiligen mögen nach davor behüten, daß ich die Schlangin werde, welche die Evastöchter des hochberühmten Nürnberg mit einer verbotenen Frucht versucht; jedennoch schicke ich Dir die neueste Augsburger Haube. Gehab dich wohl und schreibe mir, wenn auch die anderen Frauen aus den Geschlechtern Begehren tragen sollten nach dem anmuthigen Hauptschmuck. Meine freundlichen Dienste sind Euch allezeit zuvor!“

„Eure Frau Bas ist eine gelehrte Frau, daß sie so schreiben kann,“ meinte die alte Imhofin kopfschüttelnd. „Wenn i nur wüßt, ob es gut ist, daß die Weiber itzo statt der Spindel die Feder führen. Hätte mich auch von Euch eines Andern versehen, Frau Rotmundin.“

Aber die Rotmundin entgegnete scharf:

„Wer in der neuen Welt leben will, muß sich in die neuen Menschen schicken. Gedenkt Ihr Eure Tochter mit Spindel und Sturz auszustatten, so wählt den alten Kriegsschreiber zum Schwiegersohn, der noch immer Schuhe trägt, deren Spitzen bis an die Kniee herauf reichen! Oder sie wird sitzen bleiben wie die herbe Ursel.“

Die alte Imhoffen verstummte über den Kriegsschreiber, dem sie selbst ihrer Zeit einen Korb gegeben hatte.

Die anderen Frauen blickten unverwandt auf die neue Haube und riefen:

„Was sollen wir thun, Frau Rotmundin? Wir gehen für das wunderfeine Häublein durch’s Feuer.“

„Da wir keinen Kaiser Maxel zum Bürgermeister haben,“ erklärte die Rotmundin, „so müssen wir selbst Sturm laufen gegen einen ehrbaren Rath. Bitten müssen unsre Sturmleitern sein, Keifen unsre Feldschlangen; der heiße Wasserschwall unsrer Thränen muß sie begießen oder ein kaltes Sturzbad ihnen klar machen, daß auch wir ein Herz haben, welches sich nicht jede Freude abschneiden läßt; denn so in Lieb und Güt, wie meine Augsburger Bas denkt, wird’s nimmer abgehen. Sie kennt die harten Nürnberger Köpfe nit, meint halt, alle Männer seien wie die ihrigen, die in Welschland feine Sitte gelernt haben. Dann müssen wir eine Bittschrift an den Rath schicken, dieweil sonst die Herren die Ausflucht machen, das gemeine Wesen wisse nichts von der Sache.“

„Wer soll uns die abfassen? Die Schreiber werden sich hüten, in dieses Wespennest zu stören. Mein Herr hält sie in scharfer Zucht,“ meinte nachdenklich die Schultheißin.

„Wir sind das Wespennest, und der Rath mag sich hüten, uns zu verstören,“ verkündete, trotzig mit dem Fuße aufklappend, die Rotmundin, „und wir brauchen keine furchtsamen Schreiberlein. Hier habe ich die Bittschrift aufgesetzt; ich fürchte mich weder vor meinem Herrn noch vor dem Euren. Ihr braucht sie nur zu unterschreiben.“

Sie breitete einen Bogen, der mit kräftigen Buchstaben bemalt war, aus, und Eine nach der Andern trat heran und setzte ihren Namen darunter. Einzelne malten auch nur drei Kreuze hin, zu denen die Rotmundin die Erklärung fügte.

Elsbeth machte große erstaunte Augen zu alledem. Jetzt reichte die Rotmundin auch ihr den Gänsekiel. Aber sie barg die Hand in den Falten ihres rosinfarbenen Rockes und sprach:

„Warum soll ich mir selbst die Schmach anthun, daß ich [506] den Rath bitte, mich des Geschmucks zu berauben, den meine Mutter und Großmutter als eine Ehrenkrone hochgehalten haben?“

„Weil Ihr nit Eure Großmutter seid,“ antwortete ärgerlich die Rotmundin. „Wollt Ihr allein mit dem Scheusal auf dem Haupte dasitzen, während wir schöne Häublein tragen? Hütet Euch, daß Ihr nicht die alberne Els genannt und der herben Ursel zugesellt werdet, die auch noch schön sein könnte, wenn sie sich nicht so altfränkisch kleidete! Sie hält sich stattlich, wie die Markgräfin von Brandenburg, wenn sie von der Cadolzburg hereinreitet. Ihre Augen sind schön, und ihre Haut ist glatt, wiewohl sie sich schon dem Schwabenalter nähert. Aber sie hat doch keinen Ehegesponsen bekommen und mag leicht eine alte Jungfer werden. So wird auch vor Euch den Männern grauen, zuerst einem solchen, der gern davon erzählt, wie die Frauen in Hispania, Welschland und Frankreich meisterlich verstehen, die Männer zu berücken.“

Die alte Imhofin schlug ein Kreuz:

„Die heilige Jungfrau behüt’ uns vor solchen Teufelskünsten!“

Elsbeth’s Brauen hatten sich gesenkt. Sie schaute zum ersten Mal nicht träumerisch aus, sondern unwillig, wie Eine, die unsanft aus süßem Schlummer geweckt ward.

Die Rotmundin lächelte und bot ihr auf’s Neue die Feder. Elsbeth aber schritt stumm zur Thür.

„Wo wollt Ihr hin?“ fragte die Rotmundin.

Sie schwieg. Da rief die alte Imhofin:

„Elsbeth, maule nicht! Du bist kein Kind mehr; Du bist eine erwachsene Jungfrau.“

„Bin mir dessen wohl bewußt,“ antwortete Elsbeth. „Und darum will ich nimmer dabei sein, wenn Frauen sich verschwören gegen ihre eigene Ehre und prängisch sein wollen, gleich welschen Teufelinnen.“ Schon hielt sie den blitzenden Messinggriff der Thür in der Hand.

Da trat ihr noch einmal die Rotmundin in den Weg.

„Wollt Ihr Euch etwa zur herben Ursel begeben und ihr unsren Handel erzählen, damit sie Schultheiß und Rath in allem Götzendienst stärke, den sie mit der alten Zeit treiben, und unser armes Häublein zur Stadt hinaus hetze? Erinnert Euch, es war eine geheime Berathung heute, wenn wir Euch auch nicht erst das Wort abgenommen haben zu schweigen!“

Die Jungfrau sah sie verächtlich an.

„Ich bin die Elsbeth Imhofin,“ antwortete sie, „und keine schwatzhaftige Stadtfraubas.“

„Auch die Dummheit ist zu was gut,“ dachte die Rotmundin.

Die alte Imhofin raffte ihren schweren Rock empor und folgte der Tochter.

„Wir wollen halt gehen, Frau Rotmundin,“ seufzte sie, „daß wir einmal über den Entschluß schlafen.“ Und als sie das Gemach verlassen hatten, fuhr sie fort: „Wenn i nur wüßt, wie man’s hindern thät, daß zwischen der Rotmundin und uns aus Eintracht Zwietracht wird!“

Elsbeth richtete sich schroff auf.

„Was kümmert uns, wie die Frau von uns denkt, deren Sinn unstät ist wie ein Wandelstern?“ sprach sie. „Wir haben Recht und Gesetz auf unserer Seite; das sind die sichersten Gefreunde.“

„Laßt sie laufen!“ rief die Rotmundin, als Elsbeth die Thür hart hinter sich zugedrückt hatte. „Sie ist wie ein stätischer Gaul.“

Die Frauen wandten sich schnell wieder dem Häublein zu.

„Möchte es wohl einmal aufsetzen!“ rief die eine.

„Ich auch! Ich auch!“ erschallte es im Kreise.

Die Stürze flogen herab, und die neue Haube begann die Rundreise von Kopf zu Kopf.

„Wie muß man sie rücken? Steil auf den Scheitel?“

„Nein, ein wenig nach hinten!“

„Den Schleier vor das Gesicht?“

„Heilige Jungfrau, Ihr setzt sie verkehrt auf. Der Schleier muß über den Rücken herab fliegen. Hier ist mein Handspiegel.“

„Eia, wie wunderfein!“

„Nun ich! Nun ich!“

So summte es durch einander.

Da riß plötzlich die Gürtelmagd die Thür auf.

„Der Herr ist wieder daheim.“

Als ob der Habicht über ein Hühnervolk gekommen sei, so flüchteten die Frauen wieder unter ihre Stürze und schauten dann klagend aus dem Spalt einander an.

Die Rotmundin barg den neuen Kopfschmuck in der Lade. Dann trat sie vor dieselbe und rief:

„Die Augsburger Haube oder ein Zetergeschrei! Das ist unser Losungswort.“

Die Stürze ringsum nickten so kräftiglich, als seien sie schon dem Sturze nahe, und mit feierlichem Handschlag nahmen die Frauen Abschied.

Als sie fort waren, trat Herr Rotmund bei seiner Frau ein. Sie kam ihm lächelnd entgegen und schmiegte sich an ihn wie ein buckelndes Kätzlein.

„Hat mein Herr fleißig regiert? Gewiß könnt Ihr nun bald sagen: ‚Nürnberg vor Augsburg!‘“

„Woher weißt Du davon?“ fragte er vergnügt. „Ist es denn kein Geheimniß mehr, weshalb heute die geheime Rathssitzung war? Wenn Du’s denn schon weißt, will ich’s nur sagen: Wir bekommen auch Fürstenbesuch wie die protzigen Augsburger. Der Bruder des Kaisers Carolus, Erzherzog Ferdinand, kommt gen Nürnberg und wird unser Gast sein.“

Das rosige Antlitz der Frau Rotmundin leuchtete auf.

„Der junge Erzherzog kommt?“ rief sie frohlockend.

„Mit vielen Fürsten, Bischöfen und großem Gefolge,“ antwortete zufrieden ihr Eheherr, „wohl zweihundert Helme stark. Auch seinen berühmten Hofnarren bringt er mit.“

Die Rotmundin nahm eine wichtige Miene an.

„Da wird sich der Rath den Kopf zerbrechen müssen, auf daß Nürnberg nit gegen Augsburg zurückbleibt, welches an Fürstenbesuch gewöhnt ist wie an das tägliche Brod.“

Herr Rotmund hob stolz das Haupt.

„Das macht unsrer freien Reichsstadt noch lange kein Kopfzerbrechen. Wir wollen seiner fürstlichen Durchläuchtigkeit zeigen, wie es um unsere Macht und Herrlichkeit bestellt ist. Alle Bürger werden ihm in Wehr und Waffen entgegenziehen, zur Augenweide und zum Exempel für Jedermann, der etwas wissen will. Ich habe mich schon mit einigen ehrbaren Gesellen berathen; wir wollen uns beim Einholen auf husarisch kleiden, am linken Arm das Tartschlein, den Spieß mit einem Fähnlein in der rechten Hand. Der Schneider, der mir den Rock dazu machen soll, ist schon bestellt.“

„Und wir halten einen Geschlechtertanz,“ rief Frau Rotmundin, „denn solch junges Blut, wie der Erzherzog ist, tanzt gewiß gern. Und dazu bekomme ich eine neue Haube,“ sie streichelte ihrem Eheherrn die Wange.

Herr Rotmund sah verlegen nach der andern Seite.

„Du hast Stürze in großer Anzahl, willst Du aber einen neuen haben?“

Sie zog in bedrohlicher Weise das Nastuch aus der Gürteltasche.

„Dir bestellst Du einen bunten Rock, Tartschlein und Fähnlein, und mir willst Du eine Dornenkrone aufsetzen?“

„Führe keine vermessenen Reden!“ warnte ihr Eheherr salbungsvoll. „Der Sturz ist die Auszeichnung für die Geschlechterinnen; er ist das Symbolum der Ehrbarkeit und Würde, und an der guten alten Sitte darf nicht gerüttelt werden. Sind die Zeiten doch so schwer genug. Der Stuhl des heiligen Vaters wankt unter den Angriffen des Wittenberger Mönches; die Fürsten sind uneins; der gemeine Mann ist aufstutzig. Statt die Stützen und Stäbe, welche unsre weisen Vorväter vorsorglich errichtet haben, mit eigener Hand niederzureißen, sollten wir in uns gehen und Buße thun. – Wo willst Du hin?“

„Deine gehorsame Magd will Buße thun, wie Du gesagt hast,“ entgegnete die Frau, einen grünlich schimmernden Blick ihm zuwerfend, während sie Rosenkranz und Gebetbuch aus dem Schrein nahm. „In St. Sebald hört Pater Aloysius noch Beichte. Jetzt in der Dämmerung ist’s am andächtigsten. Er hat eine sanfte Stimme; sein Haar duftet wie Zibet, und seine schöne Hand, die er uns zum Kuß reicht, schimmert weiß im braunen Beichtstuhl.“

„Laß mich aus mit dem Pater Aloysius!“ rief Rotmund, sich verzweifelnd in die Haare fahrend, daß die kleinen silbernen Spieße, mit denen seine Locken durchstochen waren, zu Berge standen. „Alles verdrehte Weibsvolk ist versessen auf ihn.“

[507] „So will ich morgen mit dem Frühesten zu dem Pater Cyprianus in die Predigerkirche gehen,“ schlug Frau Rotmundin vor. „Er sieht recht stattlich aus in seiner weißen Dominicanerkutte und wird mir gewiß Trost zusprechen, wenn ich ihm mein Leid über Herrn Rotmund klage.“

„Untersteh Dich nicht!“ drohte ihr Mann erschrocken.

„Oder zu den Barfüßern? Oder in das Schottenkloster?“ fragte sie mit unschuldigen Augen.

„Die Mönche sind insgesammt böse Würmer,“ sprach Herr Rotmund mit gepreßter Stimme.

„Armes Männlein,“ beklagte ihn sein Ehegespons und streichelte den gesträubten blonden Bart glatt, „was hast Du für morsche Stützen und Stäbe von Deinen ehrwürdigen Vorvätern ererbt! Die Stürze sind nicht mehr werth wie die Mönche.“

Herr Rotmund öffnete den Mund; sie schloß ihn mit ihrer weichen Grübchenhand.

„Sei gut, Franzel! Laß mich die neue Haube nach der Augsburger Art aufsetzen! Du bekommst auch morgen Spargel in Wein gesotten mit Butter und Essig. Von unserer Meierei draußen in Gostenhof hat der Gärtner einen Kober voll geschickt.“

Er seufzte tief.

„Und wenn ich Dir auch die Erlaubniß geben wollte, es ist ja gar kein solcher leichtfertiger Tand allhier zu haben.“

„Was das betrifft,“ lachte Frau Rotmundin und lief nach der Fensterlade, „ein Häuble hab' ich schon.“

Triumphirend schwenkte sie den flimmernden flatternden Hauptschmuck ihrem Eheherrn unter der Nase.

Herr Rotmund starrte entsetzt darauf hin.

„Thue sofort das schamlose Ding von Dir!“ sagte er zornroth und suchte ihr den Putz aus den Händen zu nehmen.

Aber tapfer, wie der Fähnrich seine Fahne, vertheidigte die Frau ihre Haube. Sie warf ihr Gebände ab, drückte sich das schimmernde Spitzdächlein über die lichtbraunen Locken, faßte zierlich den Schleier und zog ihn in anmuthigem Bogen über die Schulter unter das Kinn. Dann trat sie vor ihren Herrn und lächelte ihn mit ihren Schelmengrübchen an.

„Bin ich nit hübsch?“ fragte sie.

Herrn Rotmund gelang es nur mit großer Gewalt die Augen von ihr zu wenden.

„Und wenn ich auch wollte, nur der gesammte Rath hat darüber zu entscheiden,“ stammelte er.

„So versprich mir, daß Du helfen willst, unsere Sache durchführen!“ bat sie.

Herr Rotmund sah verstört umher.

„Da ist der Schreyer und der Pfinzing und der Holzschuher –“

„Die werden schon mürbe werden.“ tröstete sie.

„Aber was wird die herbe Ursel sagen?“ murmelte er.

„Ist Dir die böse Haut lieber als Dein armes Weib?“ fragte sie wehmüthig.

„Nein – ja – nein; es geht nicht,“ stöhnte Herr Rotmund in Verzweiflung.

Ein lauter Schrei antwortete ihm; die Rotmundin schwankte. Ihr Eheherr wollte ihr zu Hülfe kommen; aber sie spreizte die Finger gegen ihn, als kämen Krällchen aus den weichen Sammethändchen hervor.

Die Gürtelmagd stürzte herein, und nun sank die Rotmundin weinend zusammen.

„Es ist mein Tod. Bringe mich zu Bett. Nein, aufstehen kann ich nit. Nein, Herr Rotmund soll mich nit anfassen, nimmer, nimmer! Ruf’ die Barbaraköchin!“

Die beiden Mägde trugen sie in die Schlafkammer, die kleine Leiter hinauf, welche an die mit Pfühlen hochgefüllte Bettstatt gelehnt war, und legten sie auf ihr Lager.

„Zieht die Vorhänge zu!“ wimmerte sie. „Ich kann den Rotmund nimmer sehen.“

Der arme Ehemann lief um das schwarz und roth bemalte, reich vergoldete Bettgehäuse herum, das die Gürtelmagd mit den bunt gewirkten Vorhängen an beiden Seiten schloß. Auch sie schob die Unterlippe vorwurfsvoll bis unter das Stumpfnäschen.

Rotmund versuchte zwar durch die gothischen Fensterchen zu spähen, welche am Kopfende in der Holzwand der Bettstatt angebracht waren, aber drinnen war es so dunkel wie in seiner Seele.

„O weh mir armen Weibe!“ jammerte es heraus. „Da gehen die steinherzigen Scharhanse hin und bestellen sich güldne und scharlachne Kleider, und wir sollen sitzen wie der Kauz im Fröschthurm. Ach, ich Aermste! Warum hab’ ich nit auf den Herrn Haller gewartet, bis er von Venezia heim kam? Der hätt’ mich gewiß gern gefreit, und da dürft’ ich auch ein Geschmuck auf dem Kopfe tragen und fröhlich sein.“

Bei den letzten Worten stand Herr Rotmund wie vom Donner gerührt. Dann stürmte er hinaus und warf die Thür krachend zu, daß das ganze Gemach erbebte, und die kostbaren Emailschalen, die in Gold gefaßten Krystallbecher auf dem Kandelbrett in’s Wanken kamen.

Als die Schaustücke und auch die erschrockne Gürtelmagd ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatten, öffneten sich die Bettvorhänge, und der Lockenkopf der Rotmundin lugte heraus.

„Nun geh gleich in die Apotheke, hole Baldrian und laß von der Barbaraköchin ein Tränkle daraus bereiten! Untersteh Dich aber nit, den Sud hereinzubringen! Meine Nase kann ihn nicht ertragen. Wenn’s nur im Hans recht darnach riecht!“

Als nach kurzer Weile die treue Dienerin wiederkam, erzählte sie, in der Apotheke sei ein Gedränge gewesen von den Gürtelmägden aus allen Geschlechterhäusern, die nach Cardobenedictenwasser, Theriak und ähnlichen hochangesehenen Mitteln gerufen hätten, und wären alle in großer Bestürzung gewesen, als sei ein Sterbslauf ausgebrochen. Und da sie sich klagend heimbegeben hätten, sei noch von der Burg ein Knecht gestürzt gekommen, um den Bader zu rufen, daß er dem Schultheiß die Ader schlage.

„Das geschieht den steifen Wockenstöcken schon recht,“ lachte die Rotmundin. „Wohlan, Ihr Herren! Die Fehde hat begonnen. Leib und Leben setze ich ein für unser Panier, die herzallerliebste Haube. – Nimm das Schriftstück aus dem Tischkasten im Chörlein und trage es morgen mit dem Frühesten auf das Rathhaus. Es soll unter den wohlweisen Rath fahren, wie der Schuß der scharfen Metz von Nürnberg unter verschlafene Söldner. – Dem Wilhalm Haller aber will ich die allererlesenste Gunst erweisen, daß der Elsbeth und dem Rotmund vor mir grauen soll. Nun, gute Nacht! Ich habe eine sanfte Ruh wohl verdient.“

Sie legte sich auf ihr rosiges Ohr und schlief flugs und fröhlich ein. – – –

Als sich am andern Morgen der Rath versammelte, gab es unter den Stadtknechten verwundertes Kopfschütteln. Es waren doch nur festliche Anordnungen heute zu treffen für den Besuch des Erzherzogs, und nur hoher Gnadenbezeigungen des fürstlichen Gastes durfte die Stadt sich gewärtigen, und doch kamen die hochmögenden Herren mit eitel verstörten Gesichtern, drückten sich die Hände so bekümmert und theilnahmsvoll, wie es sonst nur bei Leichenbegängnissen üblich war, und selbst der Schultheiß, der Herr Ritter von Obernitz, seufzte tief auf, während er seinen Degen im Vorzimmer ablegte.

Einzig Herr Wilhalm Haller, der Junggesell, sah ruhig aus, so man den hoffärtigen und unzufriedenen Zug nicht rechnete, der seit seiner Reife über seinen dunklen Augenbrauen brütete.

Als sich die Herren um die grün behangene Tafel reihten, blieben alle Blicke an einem Schreiben hängen, welches auf derselben niedergelegt war. Mit Schrecken erkannte Herr Rotmund auf demselben die dicken Striche und Haken, welche seine Frau Eheliebste dem Papier einzuverleiben pflegte.

Auf einen Wink des Schultheißen erbrach und las Wilhalm Haller die Bitschrift, und in seiner Stimme klang derselbe Trotz und Groll wie aus dem Gesuch der Frauen, in welchem sie um Entledigung der Stürze und um die Erlaubniß baten, die Augsburger Haube tragen zu dürfen. Gleich Steinbildern saßen die Väter der Stadt um den Tisch. Aber als der junge Rathsherr an die Unterschriften kam, gab es verlegenes Rücken und Räuspern. Da fehlte kaum eine Ehehälfte, kaum ein naseweises Töchterlein der ehrenfesten Männer; da war keiner, der nicht wenigstens ein artiges Bäschen unter den Bittstellerinnen hatte. Wilhalm Haller aber rief jeden Namen so nachdrücklich und laut aus, als verkünde er die Sieger beim Ringleinstechen.

„So scheint doch den Nürnberger Frauen endlich ein Licht aufzugehen,“ sprach er, als er zu Ende war.

„Werfet nit Alle in einen Topf!“ knurrte Imhof. Meine Eheliebste hat sich nit unterschrieben und meine Tochter das Haus verlassen, in dem ihr solche Zumuthung gestellt worden ist.“ [508] Wilhalm’s Augenbrauen zogen sich zusammen. Er bemerkte das Beifallsgemurmel nicht, das dieses kräftige Wort an der Rathsherrentafel hervorrief; denn während er das Schreiben zusammen faltete, dachte er nur daran, wie er die Elsbeth ihren Trotz bezahlen lassen wollte.

„In Augsburg und andern großen Städten,“ entgegnete er, „tragen die Frauensbilder schon lange keine Stürze mehr.“

„Unsre Frauen sind keine hoffärtigen Augsburgerinnen,“ widersprach gereizt Herr Imhof.

„Ihr würdet nicht also reden, wenn Ihr sie kenntet,“ antwortete Wilhalm von oben herab. „Sie sind mit Gebärden so wohl abgerichtet, daß ihre Hoffart wie Demuth erscheint.“

Die beiden Männer schauten sich feindselig an.

Auch der Rotmund warf dem Haller einen grollenden Blick zu.

„Wenn doch Schwefel und Pech auf das prängische Augsburg regnete!“ rief er. „Es ist ganz vom Hoffartsteufel besessen, und der scheint seine Krallen jetzt auch nach unsrem ehrenfesten Nürnberg auszustrecken. Wollt Ihr sein Fürsprecher sein? Habt Ihr etwa die verwünschte Haube mitgebracht, mit der mich mein Weib seit gestern Abend quält? Ist hoch wie der Perlachthurm in der Maximilianstraße zu Augsburg, und ein Schleier hängt daran wie ein Wimpel.“

„Mitgebracht hab’ ich sie nicht,“ antwortete Wilhalm, „aber so wie Ihr sie beschreibt, sieht die neueste Augsburger Haube aus. Ja, die Frau Rotmundin ist immer den Leuten hier voraus gewesen.“

Dem Rotmund gebrach das Wort vor innerer Wuth.

Die anderen Herren riefen:

„Das ist die Haube, von der auch wir seit gestern so viel zu leiden haben.“

„Mein Weib liegt darob im Fieber.“

„Das meine weint unaufhörlich.“

„Sie sind versessen darauf und weder mit Güte nach mit Strenge davon abzubringen.“

So klang es durch einander, und Jeder seufzte endlich tief auf.

Da rief Wilhalm:

„Dem ist leicht abzuhelfen, Ihr Herren. Faßt einen günstigen Bescheid.“

Aber der Schultheiß richtete sein Haupt auf und kreuzte die Füße, wie es üblich für einen Herrn war, der zu Gericht saß.

„Nein,“ sagte er, „und wenn es uns auch das Herz abdrücken möchte, Ehre und Zucht wollen wir nicht sinken lassen. Fällt eine Schranke, so werden bald alle zertrümmert sein. Mit der Kleiderordnung würde die Ordnung der Stände aufhören. Wie sollte ein Gemeinwesen bestehen, in welchem man den Juden nicht mehr am gelben Ringkragen, die leichtfertige Dirne am grünen Schleiersaum erkennt, in welchem das Schellengeklingel des Narren Euch nicht vor seiner Pritsche warnt und der Sturz dem gemeinen Volk nicht anzeigt, daß eine Patricierin naht, der es gebührlich den Weg zu räumen hat? Möchtet Ihr in einer solchen Welt leben?“

„Nein,“ murmelten die Rathsherren.

(Fortsetzung folgt.)




Das historische Festspiel in Rothenburg ob der Tauber.

Von Karl Braun-Wiesbaden.
2.0Festspiel des Volkes.

Vor dem Festspiele, das um zehn Uhr beginnt, nahmen wir einen Frühschoppen rothen Tauberweines im „Rothen Hahnen“, der neben dem Haus liegt, in welchem der Altbürgermeister Nusch, der Meistertrinker des Meistertrunkes, das Licht der Welt erblickt hat.

Als man uns meldete, soeben sei der Wagen vorüber gefahren mit den Damen, die in dem Stücke auftreten, eilten auch wir hinauf nach dem Marktplatze, der von schönen alten Giebelhäusern umgeben ist. Fast in jedem dieser Häuser hat sich irgend eine merkwürdige Begebenheit zugetragen. Eine stattliche Reihe deutscher Kaiser ist über diesen Platz nach dem Rathhause gezogen, um hier von der Stadt den Ehrentrunk entgegenzunehmen. Denn ohne einen solchen ging es damals nicht. Die Hohenstaufen waren in Rothenburg. Dann der glückliche Rudolph von Habsburg und der unglückliche Adolf von Nassau, Albrecht der Erste und Ludwig der Baier, Karl der Vierte, Wenzel von Böhmen und Ruprecht von der Pfalz. Einige davon kehrten zum dritten und vierten Male wieder. Es scheint ihnen gefallen zu haben.

Das Rathhaus besteht, wie man auf den ersten Blick sieht, aus drei Theilen. Der hintere Theil ist der älteste; er ist gothisch und hat einen hohen schlanken Thurm, an den sich allerlei Sagen knüpfen. Der vordere Theil ist Renaissance voll Zierlichkeit und Reinheit des Stiles, mit schönen Portalen und einem noch schöneren dreistöckigen Erker; der dicke und kurze achteckige Thurm dient als Treppenhaus; dieser Bau entstand um 1577, jener um 1250. Noch jünger als beide ist die Colonnade, die sich vor dem neueren vorderen Bau hinzieht. Man steigt auf einer hohen Freitreppe zu ihr empor. Sie ist in einem wuchtigen Rusticastile gehalten.

Auf unserem Wege aus dem „Rothen Hahn“ zum Rathhaussaale, wo das Festspiel stattfindet, befinden wir uns schon mitten im Dreißigjährigen Kriege. Ueberall stoßen wir auf die Züge und die Wachen der städtischen Milizen, mit ihren großen Helmen, ihren Lederkollern und ihren stattlichen Hellebarden. Das macht schon Stimmung und paßt zu der Architektur.

Wir treten in den Saal. Links geht es in den Zuschauerraum, rechts nach der Bühne. Es ist nur ein Eingang da. Die Fenster befinden sich ihm gegenüber: zierliche Rundscheiben, im Glasofen geformt und durch Bleizüge mit einander verbunden. Sie reichen nicht ganz aus zur Erhellung. Allein es ist schwer, bei ganz hellem lichtem Tage Komödie zu spielen. Diese ein wenig mittelalterlich-spärliche Beleuchtung ist besser, und wenn zuweilen wieder einmal so ein recht intensives Sonnenlicht durchbricht, dann kann dies die Wirkung nur erhöhen.

Von dieser einzigen Eingangsthür rechts nach der vollkommen schmucklosen Bühne führt ein breiter Steg empor, eine schiefe Ebene, deren Zweck mir noch nicht recht klar ist. Ich frage darnach. Man legt den Finger auf den Mund und sagt:

„Pst! Der Hühnersteig! Sie werden ja sehen. Nur Geduld, nur abwarten!“

„Meinetwegen!“ sage ich, und suche meinen Platz auf, für den mir Magistratsrath Conrad Kraus mit vorsorglicher Liebenswürdigkeit gesorgt hatte. Der Andrang war groß. Es konnte keine Stecknadel zur Erde fallen. Es herrscht eine lautlose Stille. Das Stück beginnt. Es spielt in demselben Rathhaussaale, in dem wir uns befinden.

Da stehen die Sessel der Senatoren, gruppirt um den Rathstisch. Nur Johann Bezold, der regierende Bürgermeister von Rothenburg ob der Tauber, befindet sich auf der Bühne. Es ist Morgens früh. Er hat die Nacht über gesorgt und gewacht. Denn der Feind ist vor den Thoren der Stadt erschienen. Es sind Kaiserliche, welche die Stadt berennen, weil sie sich Gustav Adolf von Schweden zugewandt und dem Leipziger Convente (vom 20. Februar 1631) beigetreten war. Die freie Reichsstadt Rothenburg, obgleich sie nur sechstausend Einwohner hat und eine kleine schwedische Besatzung – ein Fähnlein von sechszig Reitern unter dem Befehle des Rittmeisters Rinkenberg – ist entschlossen, sich bis zum letzten Hauche zu wehren, um nicht das Schicksal Magdeburgs zu erleiden. Rothenburg weiß, daß Tilly am 17. September (1631) bei Breitenfeld durch den Schwedenkönig eine schwere Niederlage erlitten. Man hofft, die Truppen, welche Rothenburg berennen, sind nur ein Streifcorps der bei Breitenfeld zersprengten Tilly’schen Armada, und wenn es auch Tilly selber wäre, dann ist ihm doch gewiß der Schwedenkönig auf den Fersen. Indessen ist man von dem Letzteren ohne alle Nachricht, und die Schaaren des Feindes sind in beständigem Wachsen. Die Sache fängt an unheimlich zu werden.

Bürgermeister Bezold ergeht sich in einem Monolog, der uns zuweilen an das realistische Pathos Schiller’s erinnert. Seine

[509]

Aus dem historischen Festspiel in Rothenburg ob der Tauber: Der Festzug.
Originalzeichnung von Christian Bär in Nürnberg.

[510] Sorge ist schwer. Die Befestigungen der Stadt sind sehr ausgedehnt, und die Zahl der Mannschaft, die solche vertheidigen soll, schier ungenügend.

Mit bangem Herzen erwägt der Bürgermeister, ob die Belagerer nur ein versprengtes Streifcorps sind, oder die Vorhut der von Tilly befehligten Kaiserlichen und Ligisten, und ob, wenn letzteres der Fall, wenn Tilly mit seiner ganzen Streitmacht sich wider die Stadt wenden sollte, sie im Stande sei, erfolgreich Widerstand zu leisten.

Daß Tilly (nachdem Gustav Adolf, statt ihn zu verfolgen, sich mainabwärts nach dem Rhein gewendet) seine zersprengten Schaaren wieder gesammelt und mit dem Grafen Aldringer und dessen Italienern, sowie mit dem Charles Duc de Lorraine und dessen Lothringern vereinigt hat, und daß Hülfe von Gustav Adolf, auf die man auf gegebene Zusage rechnet, durchaus nicht zu erwarten – von Alledem weiß man in der cernirten Stadt noch gar nichts.

Der Bürgermeister beschließt, den Rath zu berufen. Wir hören die Glocke, die im Rathhause hängt und die man schon 1631 zu diesem Zwecke geläutet.

Die Senatoren kommen: stattliche Herren in schwarzen Talaren mit weiten Aermeln und großen breiten, weißen Kragen, von welchen zwei weiße Quasten herabhängen und unter welchen die goldene Ehrenkette hervorschaut. An der Linken tragen sie den spanischen Degen, auf dem Haupte den hohen, spitzen, schwarzen Hut mit breiter Krämpe. Man beschließt, Scheiblein, den Waffenmeister der Stadt, und Rinkenberg, den Commandanten des schwedischen Reiterfähnleins, zu hören. Beide rathen zum entschlossenen Widerstand, und dieser wird denn auch beschlossen.

Die jüngste Schaar der bewaffneten Bürger kommt, um die Weisungen und den Segen des Raths entgegenzunehmen. Es folgt eine rührende Scene. Während die jungen Bürger ein „Kriegerlied“ singen, nehmen die Alten von ihnen Abschied. Hans Staudt ist der Führer des Fähnleins. Sein Vater, Johann Staudt, ist Senator. Der Erstere mahnt den Letzteren, und dieser ist bereit, sein Blut für die Sache der Stadt und der Freiheit zu vergießen. Während die letzte Strophe gesungen wird, marschirt die junge Schaar ab, und zwar auf demselben Wege, auf welchem sie aufmarschirt ist, nämlich über den sogenannten „Hühnersteig“, dessen Zweck uns nun klar ist und den ich für eine außerordentlich sinnreiche Erfindung halte. Da er nicht horizontal ist, sondern aufsteigt, so gruppiren sich auf ihm die Züge mit malerischer Schönheit und Uebersichtlichkeit.

Während die jungen Krieger abmarschiren, dröhnen draußen auf den Wällen die Kanonen. Das sind aber keine Theaterknalleffecte, sondern es sind wirkliche Schüsse, Schüsse aus den echten alten Kanonen, welche der Stadt von 1631 noch übrig geblieben – Kanonen, welche wirklich draußen auf dem nämlichen Walle stehen, auf dem sie im Herbste 1631 gestanden haben.

Nun erscheint Georg Zierlein, der oberste protestantische Prediger der Stadt – und auch er ist eine historische Figur; denn er ist wirklich von 1621 bis 1661 „Superintendent“ dieser guten und tapferen freien Reichsstadt gewesen – und mahnt, den Beistand des Höchsten anzurufen, die Wehrbaren gehören auf die Wälle, aber die Kampfunfähigen möchten mit ihm sich in der Jacobi-Kirche vereinen.

Der alte Nusch, der eigentliche Held des Dramas, der Senator und Altbürgermeister, geht mit dem Superintendenten nach der Kirche. Man hört das Lied: „O bleib’ mit deiner Gnade“ mit Orgelbegleitung. Es ist die Orgel der benachbarten Jacobi-Kirche, welche gespielt wird. Es ist die große Glocke von Sanct Jacobi, welche läutet. Und der Gesang wird wirklich in dieser Kirche gesungen. Wollt ihr noch mehr Realismus? Während der Choral, die Orgel und die Glocken ertönen, verharrt Bürgermeister und Rath in stillem Gebet. Das ist die Exposition, die Einführung in das Stück. Nun folgt das eigentliche Drama.

Während der Senat noch versammelt ist, kommen Boten auf Boten. Sie erinnern uns an das altgriechische Drama, z. B. an den „König Oedipus“ von Sophokles. Der erste Bote bringt dem hohen Rathe hocherfreuliche Botschaft:

„Von Würzburg her nahen sich lange Colonnen. Das sind die Schweden. Das ist Gustav Adolf. Nur noch eine kurze Frist – dann muß sich Alles wenden.“

Der zweite Bote meldet, daß auf der ganzen Linie der Muth wieder auflebt; der Dritte, daß die jungen Krieger den andringenden Feind geworfen haben und Wunder der Tapferkeit aus den Wällen verrichten.

Dieser Stufenleiter von Aufmunterung folgt in einem außerordentlich wirksamen Gegensatz eine andere: wie die Freudenbotschaften sich steigerten, so überstürzen einander nun die Hiobsbotschaften. Der vierte Bote ist selber verwundet. Er meldet:

Die vermeintlichen Schweden, die von Würzburg her in langen Colonnen anrücken, sind in Wirklichkeit alle Kaiserliche, und – wo Gott vor sei – der alte Teufel, der Tilly, soll selber dabei sein. Ist das der Fall, ist es wirklich die ganze vereinigte Armada der Kaiserlichen und der Liga, dann gnade uns Gott – dann sind wir verloren!

Der fünfte Bote aber macht jedem Zweifel ein Ende. Er meldet: Tilly ist da mit seiner ganzen Armee. Sein Herold ist vor dem Thore. Er verlangt Uebergabe der Stadt auf Gnade und Ungnade und Erklärung binnen kürzester Frist.

Der Donner der schweren und leichten Geschütze, das Gedröhne des Kampfes begleitet diese Meldung, welche von dem versammelten hohen Rath mit Entsetzen aufgenommen wird. Und dennoch lassen die würdigen Väter der Stadt den Muth noch immer nicht sinken. Sie klammern sich an den Strohhalm einer äußersten höchst problematischen Hoffnung.

„Ist Tilly da,“ sagen sie, „dann ist auch der Schwedenkönig auf seinen Fersen. Nur Muth! Kämpfen wir weiter!“

Da kommt der sechste Bote, um zu melden, daß das Galgenthor (jetzt das Würzburger Thor genannt) bereits dem Tilly in die Hände gefallen.

Ihm folgt der Altbürgermeister Nusch auf dem Fuße. Er erzählt, wie er in der Jacobi-Kirche um Errettung der Stadt zu Gott gebetet; dann will er hinaus auf den Wall. Dort ist der stärkste Thurm, genannt der „Ganser“ in die Luft geflogen, sammt Allem, was darauf und darin war, und die junge Schaar ist vernichtet. Nusch schließt mit den Worten:

„Ich hab’ die weiße Fahne ausgehängt,
Am Galgenthurm. Nehmt mir den Degen ab,
Wenn ich’s verdiene!“

Der siebente Bote meldet, daß Scheiblein, der städtische Waffenmeister, gefangen und daß den Schweden freier Abzug gewährt ist, Tilly aber jede Vereinbarung mit der Stadt verworfen und nur Unterwerfung auf Leben und Tod angenommen hat.

Und nun erfolgt der Aufmarsch Tilly’s und seines Gefolges, und zwar ebenfalls über jene breite schiefe Ebene, welche man scherzweise den „Hühnersteig“ genannt hat. Mit Tilly kommt der Herzog Karl von Lothringen, der Prinz Louis von Pfalzburg, der Aldringer, der Oberst von Ossa und des Feldherrn Leibdominicaner, ein freches und fanatisches Pfäfflein, das am liebsten alle diese protestantischen freien Reichsstädte mit Feuer und Schwert von dem Erdboden weggefegt sehen möchte.

Tilly selbst und die Generale sind in großer spanischer Tracht, Alles geziert mit Schwarz-gelb, den Farben des Kaisers, Einige auch im Harnisch. Dann folgt ein Fähnlein Tilly’scher Landsknechte mit der schwarz-gelben Fahne. Sie singen während des Aufmarsches das „Tilly-Lied“.

Draußen aber schmettern die Fanfaren des Siegers, der Victoria schießen läßt.

Der Aufzug der Kaiserlichen zur Bühne hinauf macht einen außerordentlich malerischen Eindruck. Man kann den Zug, während er zur Bühne hinaufsteigt, sehr schön übersehen. Droben ordnet sich das Ganze zu zwei großen Gruppe: links Tilly mit Generalen und Dominicaner, rechts Bürgermeister Bezold und die Senatoren, dahinter die Landsknechte.

Bezold will sich als der allein Schuldige dem Zorne Tilly’s preisgeben. Tilly aber heißt ihn schweigen: Sechshundert Tapfere habe er an dieser einen Belagerung verloren, so viel sei die ganze Stadt nicht werth:

„– dies Bürgerpack,
In offnem Aufruhr gegen Reich und Kaiser.“

Der Bürgermeister beruft sich auf die großen Leistungen der Stadt, für die nie eine Zahlung erfolgt, sowie auf die Privilegien und Freibriefe derselben, namentlich auf die neuesten:

„Vom Friedland einer, zwei vom Kaiser selbst.“

Tilly weist jede Berufung auf Vertrag, Brief und Siegel mit den Worten zurück:

[511]

„Ihr habt mit unsern Feinden conspirirt;
Und Renegaten hält man kein Versprechen.“

Die Fürsten und Generale stimmen eifrig zu. Desgleichen der Dominicaner. Jene wollen das Reich, dieser will den Glauben retten, und deshalb stimmen sie für Plündern, Brennen, Hängen und Köpfen.

Da erscheint der alte Senator Nusch im Vordergrund, mit einem Kissen, worauf die Stadtschlüssel liegen – die wirklichen echten alten Schlüssel zu den jetzt noch vorhandenen echten alten Thoren der Stadt. Er überreicht sie dem Sieger und bittet um Gnade, bedient sich aber dabei der unvorsichtigen Wendung:

„Wer weiß, ob Magdeburg –“

Der erzürnte Tilly unterbricht ihn sofort, indem er ihn anherrscht:

„Schweig, Unglücksmensch!
Ihr geht den gleichen Weg, und Euer Loos
Wird wohl das gleiche sein. Es bleibt dabei“,

nämlich bei dem Blutgericht gegen Bürgermeister und Rath, das dem Aldringer aufgetragen wurde.

Resignirt sagt Bezold:

„Laßt nun denn sterben, aber laßt die Stadt
Nicht büßen das, was wir allein verschuldet!“

die Stadt habe nicht rebellirt wider Kaiser und Reich, sie habe aber bei ihrem Glauben verbleiben wollen, worauf sie ein verbrieftes Recht habe, nur deshalb sei sie dem Leipziger Convent beigetreten.

Dazwischen schreit der junge Hetz-Dominicaner:

„Wo Unterthanen-Afterweisheit sich
Mit dummem Bürgerstolze so vereint,
Da giebt es Christen, schlimmer als die Heiden!“

Tilly dictirt endlich als Sieger: Vierstündige Plünderung; 30,000 Thaler Contribution; Lieferung von 6000 Ellen Tuch und 3000 Paar Schuhe. Oberst Ossa wird beauftragt, das alles zu executiren. Und nun wendet sich der Eroberer Magdeburgs wieder an den Bürgermeister und Rath mit den Worten:

 „— Und nun zu Euch,
Die Ihr hier Recht spracht über Gut und Blut!
Heut fordre ich Euch Richter vor Gericht.
Wer Aufruhr stiftet, ist dem Tod verfallen.
Wählt oder loost! Vier Häupter müssen fallen
Durch’s Henkerbeil. Dies ist mein letztes Wort.“

Die vom Rath aber weisen diese Art Gnade zurück und antworten wie aus einem Munde:

„Wir loosen nicht. Wie Einer stand für Alle,
So gehn auch All’ für Einen in den Tod.
Für Alle Gnade — oder Tod für Alle!“,

und Tilly antwortet:

„Dann sollt Ihr All’ in Eurem Hochmuth sterben.“

Der Dominicaner freut sich dessen.

Dann dringt Frau Magdalene Hirsching ein, die Nichte des Bürgermeisters, mit ihren Kindern, halb gegen den Willen Tilly’s, des Weiberfeindes, der sie abwehrt mit den Worten:

 „– Wißt Ihr nicht,
Daß ihr Gewinsel mir bis in den Tod
Zuwider ist und mir die Galle weckt?“

Allein die muthige Frau läßt sich nicht zurückweisen. Als die Landsknechte sie hinauswerfen wollen, beschwört sie Tilly bei dem Andenken seiner Mutter, bei seinem Glauben, welcher doch auch nicht wolle, daß Eigenthum, Ehre und Ehe verletzt werde, wie dies im Augenblicke in dieser freien Reichsstadt geschehe.

Tilly ruft zwar einmal dazwischen:

„Schafft mir dies Weib hinaus! Sie ist wie toll!“

Aber er kann sich doch nicht ganz dem Eindruck entziehen, welchen ihre beredten Worte auf ihn machen.

Der Dominicaner ruft ihm zu:

„Laß Dich von Weiberthränen nicht bethören.“

Auch ihren Glauben vertheidigt die stolze und starke Frau. Da poltert der Dominicaner:

„Was faselt auch vom Glauben noch das Weib?“

Auch Tilly wird wieder grimmig. Der Bürgermeister schlägt sich in’s Mittel mit den Worten:

„Geht, Kinder, geht! Des Mannes Herz ist Stein.“

Und Magdalene geht. Jetzt treten zwei andere Personen in den Vordergrund. Während alle übrigen Gestalten des Stückes historisch verbürgt sind, scheinen diese ein Product der Phantasie des Dichters zu sein.

Es ist der rothbärtige Rathhausdiener und Kellermeister Balthasar Reimer und Anna, sein kluges und holdseliges Töchterlein, auf das die Dichterworte paßten: „Sie ist so sitt- und tugendreich und etwas schnippisch doch zugleich.“

Zuvor befiehlt der Graf Aldringer, den Tilly mit Hegung des Blutgerichtes betraut hat, dem Bürgermeister, selbst den städtischen Meister Hämmerlein, den Henker, zur Stelle zu schaffen. Er giebt ihm eine Wache bei mit den Worten:

„Mit Eurem Leben stehet Ihr für Beide,
Den Freiknecht und den Bürgermeister, ein.“

Magdalene flucht Tilly und den Seinen.

Das kluge Kellermeisters-Töchterlein begleitet ihren stolzen Abgang mit den bewundernden Worten:

„Da geht sie hin, wie eine Königin.“

Dann aber spricht sie für sich:

„Versuchen wir’s mit einer andern Macht,
Die andre Helden ebenfalls bezwungen!“

Sie versucht es, dem alten Tilly nach dem heißen Tag einen kühlen Trunk anzubieten. Aber Tilly nimmt nichts aus Weiberhänden.

Da kommt denn der Papa Kellermeister selber.

„Wer bist Du?“

Und Reimer, der oben Rathsdiener und unten Kellermeister ist, antwortet:

„Hier oben bin ich Diener,
Doch drunten bin ich Herr.
Ich heiße Balzer Reimer,
Bin Castellan – nicht mehr.

Doch drunten in dem Keller,
Da bin auch ich Tyrann
Und sperre edle Geister
Wohl Jahre lang in Bann.

Je wilder die Gesellen
In ihrer Jugendzeit,
Je länger ich sie banne,
Je größer meine Freud’.

Herr Graf, ich hüte Einen
Nun viele Jahre schon,
Aus unsrer besten Lage,
’Nen wahren Sonnen-Sohn.

Erlaubt, daß ich ihm heute
An unserm Todestag,
Ein würdig Todten-Opfer,
Die Freiheit geben mag!

Daß es sich in die Herzen
Wie Himmelstrost ergießt,
Und Jeder ohne Schmerzen
Des Lebens Traum beschließt!“

Dieser poetische Hauch beginnt das Eis Tilly’s etwas zu schmelzen. Er wird sogar ein ganz klein wenig gnädig, soviel es seine grimmig-ernste Natur erlaubt. „Ei, ei,“ spricht er,

„Ei, ei, mir scheint, daß Du Dein zweites Amt
Als Kellerwart verständnißreich verwaltest.
Der Wunsch sei Euch gewährt! Drum trinket nur
Von Euerm Besten! Ihr braucht Muth zum Sterben.“

Reimer erlaubt sich die Bemerkung, daß es doch sehr schön wäre, wenn Tilly und die andern hohen Herrschaften mittrinken wollten. Dann tritt der stattliche Senator Winterbach auf mit dem historisch echten Pokal, gefüllt mit sechs Liter (oder dreizehn baierische „Halbi“) Tauberwein. „Verzeih!“ sagt er zu Tilly,

„Wir haben in der Seelenangst vergessen,
Den Willkommtrunk zu reichen unserm Gast.“

Tilly antwortet:

„Ich trinke keinen Wein. Trinkt Ihr nur selbst!“

Senator Rückert bittet:

O, thut Bescheid, erweist uns diese Gnade!
Hier trinkt der Herr zuerst und dann die Andern.“

[512] Tilly nimmt und trinkt auf das Wohl des Hauses Lothringen. Der Duc de Lorraine trinkt Pappenheim zu. Dieser dem Aldringer etc. Der Lothringer trinkt zum zweiten Male:

„Es ist bei Gott ein höllisch feiner Tropfen,
Und wenn man doppelt näht, dann hält es besser.“

Oberst Ossa aber warnt:

„Doch thut
Des Guten nicht zu viel. ’S ist Tauberwein
Und nicht das leichte Töchterlein der Mosel.“

Der Dominicaner aber, gierig und neidisch, ruft:

„So bleibt doch über Nacht nicht in dem Humpen!“

Er erhält ihn dann auch und trinkt mehr als die Soldaten.

Der Pokal geht an Tilly zurück. Er bewundert das Kunstwerk, auf welchem der Kaiser und die sieben Kurfürsten dargestellt sind.

Der Senator Winterbach erklärt ihm die Entstehung desselben:

„Kaiser Matthias war’s, für den gemacht
Zum Willkomm wurde der Pokal. Er kam nicht.
Darum seid Ihr es, der die erste Weihe
Ihm gabt durch Euer karges Nippen.“

Das geht denn doch dem Tilly an sein gut kaiserlich Herz. Er trinkt zum zweiten Mal und etwas mehr.

Dann kommen die unglücklichen Todescandidaten – Bürgermeister und Rath. Sie haben keine rechte Freude mehr am Trunk und Tilly scherzt – natürlich ein wenig grausam:

„Und noch halb voll? Ist denn der ganze Rath
Nicht mehr im Stande, den Pokal zu leeren?“

Der alte Nusch sagt:

„Nicht, wenn uns Todesangst den Hals zuschnürt.“

Und Tilly, dem Kaiser, der auf dem Pokal bildlich dargestellt ist, zu Ehren, trinkt wieder:

„Ich habe Jahre lang des Weines Gift
Gemieden. Heut’ trink’ ich zum dritten Mal.“

Der rothbärtige Kellermeister benutzt in kluger Weise diese Stimmung zu einigen Scherzen.

Tilly schweigt. Er sinnt nach. Dann befiehlt er, den Pokal auf’s Neue zu füllen, und spricht zum Rathe:

„Schlecht Euer Rath! Schlecht Euer Waffenglück!
Vielleicht, daß ihr mit Euern weiten Kehlen
Beweisen könnt ein besseres Geschick.“

Der Kellermeister kommt mit dem frisch gefüllten Pokale. Tilly nimmt ihn und sagt:

„Der Humpen hier ist voll zum Rand gefüllt.
Ist wer von Euch im Stande, ihn zu leeren
Mit einem Zug – dann soll Euch Gnade sein.“

Nach einer bangen Pause tritt der alte Senator Nusch vor mit den Worten:

„In Gottes Namen, Feldherr, will ich’s wagen.“

Er spricht sein Glaubensbekenntniß, nimmt den riesigen Pokal in beide Hände und beginnt zu trinken.

Er trinkt langsam und mit Berechnung. Er braucht viele Minuten, und während dieser ganzen Zeit herrscht in dem Publicum eine athemlose Stille, sodaß man hätte eine Stecknadel zur Erde fallen hören. Von dem Gange des Stückes im Allgemeinen unterrichtet, hielt ich diesen Moment für den Augenblick höchster Gefahr. Der Hergang konnte erhebend, aber er konnte auch lächerlich wirken; denn das Trinken an und für sich ist kein heroischer Act, sondern muß erst durch die Umstände dazu werden. Aber es wurde in der That dazu: der Hergang wirkte erhaben und erhebend.

Der alte Senator, der sich opfert für seine Freunde im Rath — die Anstrengung, die es ihn kostet – die Spannung, mit der Alle, die sich auf der Bühne befinden, dem peinlichen Wagnisse folgen, die Einen mit Schadenfreude und Neugier, die Anderen zwischen Furcht und Hoffnung hin- und hergeworfen — der lebhafte Ausdruck, welchen diese wechselnden Gefühle bei den verschiedenen Darstellungen finden — die Theilnahme des Publicums für das Schicksal der Stadt und ihrer Vertreter — Alles das mag gleichmäßig dazu beigetragen haben, diese mächtige Wirkung zu erzielen. Es fiel uns ein Stein von dem Herzen, als der alte Nusch seine Herculesarbeit endlich bezwungen. Er sinkt in einen Sessel, aber er hält sich da aufrecht, während man ihn beglückwünscht, und Tilly spricht:

„Ich gab mein Wort. Ich werd’ es redlich halten;
Es wäre doch wahrhaftig jammerschad’,
Die Welt solch edler Recken zu berauben;
Der Trunk gilt mir für eine Heldenthat.“

Der Bürgermeister und der Henker, welche von der Wache vorgeführt werden, während der Letztere auf das Lebhafteste versichert, er werde nie Hand anlegen an seine hohe städtische Obrigkeit, werden in Gnaden entlassen.

Tilly appellirt an die Nachwelt, welche ihn hoffentlich glimpflicher beurtheilen werde, ihn

„Den rauhen Sprößling einer rauhen Zeit.“

Und dann folgt zum Schluß noch ein ergreifendes Lied, das die Rothenburger unter Glockengeläute und Orgelspiel (der Jacobi-Kirche) singen.

Der Eindruck der Festvorstellung war auf Alle ein tiefer. Einige wollten etwas allzu viel städtischen Localpatriotismus in dem Stücke finden. Andere sprachen von Reminiscenzen an Schiller, und namentlich an Wallenstein. Aber schließlich einigte man sich dahin, den idealen Schwung zu bewundern, der jedoch die getreue Localfarbe nicht ausschließt, die durch Dialektanklänge sehr glücklich erhöht und belebt wird — und dann sich die Moral aus dem Stück zu entnehmen: Aufrichtiger Patriotismus für Kaiser, Reich und Vaterstadt, aber auch treues Festhalten an bürgerlicher, politischer und religiöser Freiheit, vor Allem aber keine Religionsfeindseligkeiten mehr, keine Hetzdominicaner, keinen Dreißigjährigen Krieg, sondern Frieden und Freiheit! Das waren die Gefühle und die Gedanken, die in dem Ganzen nachklangen, als wir gegen ein Uhr den Rathhaussaal verließen.

Dem Festspiel des Vormittags folgten am Nachmittage der Festzug und das Volksfest.

Der Zug, welcher die Stadt von einem Ende bis zum andern durchzog und den unser Hauptbild veranschaulicht, bestand aus drei Gruppen. Erstens die Rothenburger. Zweitens die Kaiserlichen. Drittens der Troß und das Volk.

Das Hauptschaustück war der prachtvoll decorirte, von vier auserwählten Pferden gezogene Festwagen, auf welchem stehend die Rothenburga thronte, eine majestätische Schönheit, die städtische Mauerkrone auf dem Haupte. Neben ihr saßen die Bürgermeisterin und Magdalena mit den beiden Kindern. Dann folgte der hohe Rath nebst seinem Kellermeister und seinem Scharfrichter. Den Schluß machten die Schweden und die Rothenburger Bürger in Waffen. Die am Morgen Gefallenen sind wieder am Leben. Das war die erste Gruppe.

An der Spitze der zweiten sehen wir Tilly mit seinen Fürsten und Generalen; auch der Dominicaner fehlte nicht. Er war, wenn wir nicht irren, zu Esel. Dann folgten Pfeifer und Trommler, eiserne Reiter und Landsknechte. Den Schluß machten die drei Geschütze, darunter eines gesprungen. Auch Alles wirkliche Geschütze von 1631.

Die ganze Pracht des mit bewundernswerther historischer Treue costümirten Zugs konnte sich natürlich auf der Straße weit besser entfalten als auf der engen Bühne.

Und daß auch der Humor, der bei einem Volksfeste nicht fehlen darf, nicht zu kurz kam, dafür sorgte die dritte Abtheilung: Der Marketenderwagen, der Wagen der Marodeure, der Feldscheer und der Bader; Alles das riß die Zuschauer zu ausgelassener Heiterkeit hin.

Draußen auf dem Walle aber, an jener Stelle, welche „die Katze“ genannt wird, beim Kummer-Eck-Thurm und an dem 1631 gesprengten „Ganser“ lagerten wir uns, sowohl die Mitglieder des Festzugs, wie auch die Anderen, das Publicum, das ihm das Geleit gab. Es waren Scenen wie in „Wallenstein’s Lager“. Die Feldherren hatten ihr Zelt. Desgleichen die Damen und die Männer des Rathes. Auch wir profanen Gäste wurden mit der größten Liebenswürdigkeit zugelassen. Musik und Gesang lösten einander ab, und die riesigen steinernen Maßkrüge kreisten so fröhlich. Die Feindschaft hatte ausgespielt. Tilly trank vergnügt mit Nusch und, wie man bemerkt haben will, war er ihm im Trinken sogar über. Die Männer, welche sich am Morgen wollten köpfen lassen, fraternisirten mit einander, und selbst der roth gekleidete Henker nahm Theil an dem allgemeinen Behagen und legte nicht einmal sein blitzendes Beil weg, als ich mit ihm anstieß. Es war freilich von Pappe.



[513]

Kolbachthal
bei Bad Liebenzell im württembergischen Schwarzwald, Sommer 1881.


      Wie freust du dich, Erde,
Daß im Lichte du wandelst
Jenes kurze Weilchen,
Welches Jahrtausende,
Welches Millionen Jahre wir nennen,
Daß du jetzo wandelst
Den Augenblick lang
In jenem goldnen
Himmelsstriche des Raums, der Zeiten,
Der auf deine Flächen
Grüne Gefilde und Silbergewässer,
Herrliche Völker und Thaten zeichnet,
Leben und Kunst.

      Wie freust du dich, Erde,
Deines grünenden Wandels!
Ich freue mich auch
Und wandle mit dir, mein Kind, an der Hand,
Und es führt uns der Freund,
Der kunstreich schauende,
Kunstreich bildende, sinnende Freund[1]
So wandeln wir,
Zeitaltern vergleichbar,
Wir einzelnen Jungen und Alten zusammen,
In einem der tiefen,
Leuchtenden Gründe des herrlichen Schwarzwalds,
Wandeln am Bache
Aufwärts, aufwärts, den Quell zu finden.

      Gegen einander, drückend und stützend,
Aber unendlich erfind’risch an Formen
Sind sie gelagert, die schweigenden Felsen,
Von Rankenschnüren und mächtigen Farnen
Gleich wehenden Haaren überhangen.
Thurmhoch ragen,
Den Himmel zu fassen, die Stämme der Tannen;
Den Abgrund packen
Der Riesenwurzeln klammernde Fänge,
Doch im Moose streifen
Des Sonnenlichtes spielende Finger,
Und dazwischen plätschert des Baches Gerede
Jedem Steine sein rieselndes Lied.

[514]

      Aber mit einmal
Faß’ ich den Freund, faßt er mich am Arme:
„Sieh dorthin, dorthin!“
„Tritt hierher, hierher!
So siehst du satter das Wundergebilde.“

     Eines Felsens gehöhltes Halbrund, wie eine
Urne, umhemmte den drängenden Quell,
Und den Fels umstanden die ragenden Stämme,
Die Säulen im Chor den Altar umsteh’n.
Doch die Urne füllte das ruhlose Wasser,
Und in lichten Strängen,
Dreifach getheilten, dann wieder vereinten,
Floß es vom Rand
In krystallenem Falle zur Tiefe weiter.
Von oben aber malte der Aether
Im Wasserspiele die Wipfel der Bäume,
Wie wenn vom Jenseits aus ewigen Tiefen
Himmlische Maien herüberwehten.

     Aber mein Kind an Armen und Händen
Fester hielt ich und sprach zu ihm:
„Sieh, heute so sonnig,
Doch andere Male
Bei Sturm und Donner wandelt die Welle,
Wandelt bei immer wechselnden Lichtern,
Und so wandeln, mein Kind, wir selber,
Wandelt die ganze fluthende Zeit,
Ein junger Zustrom,
Ein kleiner Aufhalt,
Ein kurzer Fall.

     Doch das Auge der Welt schaut zu, schaut zu,
Und vom Auge der Welt sind wir auch ein Theil,
Ich und du, mein Kind,
Und der Freund, der uns führt,
Und wir sehen verwundert,
Wie das Wasser kommt,
Wie das Wasser geht,
Und wir auch dazu.“

     Doch der Freund, der Meister des Pinsels, zaubert
In Farben das Bild, zu erfreuen die Herzen,
Und ich versuch’ es
In unzulänglich tastenden Worten.

J. G. Fischer.




Bob Zellina.
Novelle von Karl Theodor Schultz.
(Fortsetzung.)

„Sie werden,“ begann Bob das Gespräch, „wenn Sie mich angehört haben, hoffentlich vergeben, daß ich Sie bis auf Ihren Spaziergang verfolgte.“

„Ich bitte gehorsamst.“

„Wäre es Ihnen genehm,“ setzte Bob hinzu, „so dächte ich, wir gingen noch ein Stück weiter am Meere hin.“

„Befehlen Sie ganz über mich!“ unterbrach Hollfeld und schloß sich Bob, der bereits wieder vorwärts schritt, an.

„Nicht wahr,“ fuhr dieser fort, „Sie gestatten mir so zu sprechen, wie es der Augenblick mir eingiebt? Vielleicht manchmal formlos – sogar mit Gedankenstrichen? Es würde mir schwer fallen, müßte ich die Worte wägen.“

„Ich kann nur wiederholen,“ versicherte der Officier mit höflicher Wärme, „daß Sie über mich verfügen dürfen, Herr Zellina. Durch welcherlei Vertrauen Sie mich ehren wollen – ich stelle das Was und das Wie völlig in Ihr Ermessen.“

„Besten Dank!“ antwortete Bob, indem er leicht den Kopf neigte. „Und so denn ohne weitere Einleitung! – Ich habe nie gewußt, Herr Baron, daß meiner Heirath eine Herzensgeschichte vorangegangen; diese Vermuthung lag mir ganz fern, da der Widerstand, den Alma meiner Werbung entgegensetzte, zu gering blieb, um irgend ein Mißtrauen zu erwecken; er fand auch in ihrem Verhältniß zum Vater eine ausreichende Erklärung – wenigstens für mich, dessen – erste Liebe Alma war! Solche erste Liebe, wissen wir ja, ist nicht besonders hellsehend. So ging ich mit dem Gefühl in die Ehe, zwar keine heiß Liebende mein zu nennen, doch mindestens ein Herz, welches sich noch zu verschenken hätte. Ich hoffte ja damals noch von Tag zu Tage, nun müsse sich mir der Kelch erschließen, und das wurde mir anfangs nur ein Reiz mehr; später steckte ich schon weitere Grenzen, immer weitere – und endlich – doch was soll ich Ihnen mit Einzelheiten lästig fallen? – endlich sah ich ein, daß mein Ringen umsonst. Aber da eile ich doch zu sehr. Bevor Sie kamen, hoffte ich wohl immer noch – leise, schwach.“

Die Weise seines Sprechens hatte etwas Monotones, aber ihre Wirkung war darum nur um so eindringlicher.

„Bevor ich kam?“ fragte Hollfeld erregt. „Ich habe Ihre Frau Gemahlin jetzt ein einziges Mal längere Zeit, das heißt ein paar Minuten allein gesprochen, sonst blos Worte mit ihr gewechselt, wie das eine allgemeine Unterhaltung mit sich bringt. Und selbst in jenen Minuten des Alleinseins! – sie hatte nach meinem Leben in Berlin gefragt, ich schilderte ihr das – –“

,O Herr Baron,“ fiel Bob ein, „ich bin überzeugt, daß weder von Ihrer noch von Alma’s Seite das Geringste begangen werden könnte, was meiner Ehre zu nahe träte. Mit meinem Ausdruck – ,bevor Sie kamen!‘ wollte ich auch nicht anklagen: ich mußte ihn brauchen, da er mir zum Ausgangspunkte für Neues geworden ist, für etwas Neues, von dem ich herzlich hoffe, daß Sie es hinnehmen werden — nicht blos als Nothwendiges, auch als das einzig Rechte und darum Gute. – Bevor ich davon spreche, muß ich aber Wahrheit gegen Wahrheit fordern. Ich will nichts von Schonung. Ich bedarf deren nicht mehr: Sie mögen das im Augenblick noch nicht so begreifen – ich stehe nun aber darüber, und Alles ist für mich wie ein Fremdes.“

Bob war stehen geblieben und hatte unverwandt in die Ferne gesehen, hinüber nach der zarten Linie, in der sich das Meer vom Himmel schied.

„So weit ich verstanden, wollten Sie eine Frage thun?“ begann Hollfeld die Unterhaltung von Neuem.

Bob wandte sich langsam um und sagte:

„Gewiß – eine Frage, auf welche die Antwort so selbstverständlich ist. – Was Sie damals für Alma empfanden – es ist nicht anders geworden?“

„Herr Zellina!“

„Ich kann es Ihnen noch leichter machen: es braucht nur einer Antwort, wenn ich im Irrthum sein sollte. Dann hätten Sie also vergessen, und das wäre jetzt ein Unglück, Herr von Hollfeld.“

„Ich fasse Sie nicht.“

„Sie werden es sogleich; denn ich darf ja nun annehmen, daß Alma uns noch Beiden so lieb ist – wie sie es freilich nur um Sie verdient hat.“

„Um mich?“ fragte Hollfeld finster. „Wenn Sie wüßten! – Aber unser Gespräch ist so seltsam – auf Alles wäre ich eher vorbereitet gewesen, als darauf. Ja wie Sie eben kamen, fragte ich mich, ob irgend ein Zufall Ihnen eine Veranlassung gegeben haben könnte, mich zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Und nun?“

„Nun,“ rief Bob schmerzlich lächelnd, „stehen sich zwei Männer gegenüber, einander gleichwerthig, gleich liebend – vielleicht sogar ebenso glücklich. Wir müssen dieses Glück nur tief genug fassen. Ihnen soll jene blaue Blume erst jetzt erblühen – für mich hat das große Welken schon begonnen, dem Keiner von uns entgeht, und wenigstens das Alterthum pries auch Den, der bereits überwunden hatte. Ja, Hollfeld!“ – er reichte ihm die Hand, in welche dieser einen Augenblick die seinige legte – „fort mit allem Aeußeren, Fremden! Lassen Sie uns thun, als ob wir Freunde wären! Schon seit Tagen habe ich nicht anders an Sie gedacht, nur als solcher zu Ihnen gesprochen – in Gedanken! Jetzt also in Worten. Und dem Freunde muß es ja leicht werden, bis in das Herz des Freundes zu sehen und nach dieses Herzens Wunsch zu thun. – Ich werde mich auch äußerlich von Alma trennen –“

„Um nichts –“

„Lassen Sie mich aussprechen!“ unterbrach Bob bittend. „Was nichts war und nie etwas werden kann, hat nirgends ein Recht, zu bestehen. Ich bin gewiß nicht für leichtgesinntes Scheiden: die Ehe ist vielleicht das Höchste, Unirdischste, was wir erringen [515] können – es sollte Niemand daran rütteln, schon um der Schwächeren willen – Niemand, der nicht muß. Das muß aber, wer vor sich selbst, diesem höchsten Richter, fühlt und weiß, daß seine Ehe ein Hohn auf diesen großen Gedanken ist. Und ein solcher Hohn wurde die meinige – ich muß es wiederholen – in dem Augenblicke als Sie kamen. Nein, sie ist es ja von jeher gewesen; ich hatte es nur nicht gewußt oder mich betäubt – was geht uns das heute noch an? Seit ich aber wissend geworden, da mußte der Kampf beginnen, der Sieg jedoch war mir von Anfang an sicher.“

„In diesen wenigen Tagen!“ warf Hollfeld bestürzt ein. „Es scheint uns da wohl Manches errungen, was die Zeit wieder ändert oder doch mildert.“

„Nicht bei mir!“ versetzte Bob heftiger. „Ich habe es Ihnen schon gestanden, es zum wenigsten angedeutet – muß ich mich noch mehr demüthigen? Es giebt ja Leichtsinnige unter uns, die dergleichen tragen, auch Glückliche, die solche Liebe ihres Weibes bezwingen, denen die Kraft – die Willensherbigkeit zu eigen, sich ihr Weib zu Füßen zu werfen, daß es nichts mehr weiß und sieht, als diese Gewalt über sich, über all sein Empfinden – und darum vergessen lernt, was gewesen! Mir ist solche Kraft nicht gegeben: für mich blieb Alma stets die geschlossene Blüthe, die ihren Duft, ihr süßestes Sein – wie aus Instinct, möchte ich sagen – wahrte, liebend wahrte für den Einen, den sie sich erwählt hatte. Und könnten wir sie darum gering achten? Könnten Sie es – Sie, der dieser Eine ist? Aber auch ich bin meiner so weit Herr geworden, daß ich Alma wie Ihnen gönne, was mir nicht beschieden war.“

„Wo hinaus wollen Sie?“ erwiderte Hollfeld gepreßt. „Möchten Sie mich mitstraucheln machen, daß Sie mir Bilder wachrufen, das Herz fiebern lassen um Unmögliches?“

„Diese kurze Unmöglichkeit! – Ein Jahr! So will es das Gesetz – und warum sollten Sie gesetzlicher sein als das Gesetz?“

„Auch Alma weiß darum?“

„Noch nicht!“

„Nun, ebenso wenig wie ich,“ rief Hollfeld etwas erlöst, „könnte sie darein willigen –“

„Meinen Sie?“ fragte Bob, indem er nun umkehrte, mit dunkler Stimme. „Und sie ist Ihnen doch keine Fremde? Ich weiß zufällig durch einen Brief ihres Vaters, der sich nach seiner Art damit rein zu waschen suchte, was sie Ihnen damals angethan hat: das ist einmal ihrem Charakter gemäß, muß also getragen werden. Und so wird sie auch jetzt vielleicht Thränen finden, sich wieder gezwungen dünken, doch schließlich thun, was wir nun Beide wünschen müssen. Dabei mag es ihr noch zu einer gewissen Erleichterung werden, daß ich durch eine Schuld meinerseits momentan mit ihr gespannt stehe. Aber noch einmal: richten dürfen wir da nicht. Sie ist ein holdes, schwaches Weib – nichts weiter – ein echtes Weib in ihrem Denken, Fühlen und Handeln, so scheu wie lenkbar und sanft im Dulden. Nur ihr eigenstes Selbst – wie ich ja schon sagte – das wußte sie zu schützen, zu behüten. Darum gepriesen der, der diesen Schleier heben darf!“

„Wohl! Gepriesen der! Und dennoch – es kann ja nicht sein –“

„Wollen Sie mir sagen, warum nicht?“ fuhr Bob in weichem Tone fort. „Sie lieben Alma noch; daß sie nicht weniger für Sie fühlt, weiß ich seit dem Tage, wo ich Sie zusammen gesehen – und aus jener Schuld, einer traurigen Probe, zu der ich mich hinreißen ließ, von der sie Ihnen wohl einmal sprechen wird. Beurtheilen Sie mich dann nicht zu streng! Auch unserer Scheidung können wenig Hindernisse in den Weg gelegt werden: keine Kinder fordern eine Mutter; Alma mag es leicht erscheinen, ihrer Abneigung Worte zu leihen. Mir? Was bedeute ich noch? – Vermögensfragen dürften ebenso wenig Schwierigkeiten –“

„Wenn auch nicht bei Ihrer Scheidung,“ unterbrach Hollfeld hastig, „so würden doch gerade diese, selbst wenn sonst an meine Vereinigung mit Alma zu denken wäre, dieselbe unmöglich machen. Ich bin arm – noch Jahre –“

„Auch das habe ich reiflich bedacht,“ fiel Bob in derselben gelassenen Weise ein. „Ich kenne ja die Vorurtheile, die Alle, welche zur Gesellschaft gehören, dem armseligen Gelde entgegenbringen: man nimmt wohl, ohne sehr hinzusehen, des Anderen Leben an, zertritt meinetwegen sein Herz – verfügt aber bei Leibe nicht über dieses so Unnütze, wenn das Uebrige fehlt. – Darum werde ich auch Alma nur die Summe übergeben, deren Zinsen ihr schon bisher als Nadelgeld gehörten. Und ich würde so unendlich gern reicher geben, da ja Niemand auf der Welt darum verkürzt würde. Sie ist immer meine Frau – meine liebe, getreue Frau gewesen. Ich wage es aber nicht, um bei Ihnen keine Scrupel zu erwecken; denn dieses Wenige werden Sie ihr doch gönnen? Sie könnten nicht verlangen, daß meine Frau entbehre. Schon das Gesetz würde das fordern, über Nothwendiges hinaus aber biete ich nicht. Sie schweigen?“

„Mann – Freund!“ rief Hollfeld. „Sie kehren mir das Herz um und um – ich begreife ja Ihren Edelmuth, die ganze Größe Ihres Wollens – und trotzdem, ich kann nicht. Denken Sie auch an mich! Bis jetzt hatte ich Sie kaum gekannt, wenn mich aber etwas an Sie erinnerte – daß dann nicht gerade freundliche Gefühle in mir wach wurden, vermöchten Sie mich deshalb anzuklagen? Und von Ihnen soll ich die Gattin, Ihre Gattin – und noch Vermögen dazu nehmen! Wäre das möglich ohne Einbuße an Selbstachtung – an Ehre?“

„Wer von uns,“ versetzte Bob langsam, „ist wohl stets so rein geblieben, daß Nichts – Nichts in seiner Vergangenheit wäre, über das er nicht erröthen würde, wenn er es sich recht zurückriefe? Und doch muß man es tragen und trägt es, weil wir dunkel fühlen, das sei einmal Menschenart, Menschenloos. So gebe ich Ihnen zu – ein gewisser Vorwurf möchte bleiben; es wäre gütiger vom Geschick gewesen, wäre es ohne diesen Vorwurf gegangen, aber fragen wir uns, was hier auf dem Spiele steht! Hollfeld, nicht blos Ihr Glück – das unserer Alma vor Allem, verlangt diese winzige Demüthigung von Ihnen – in Wahrheit winzig, wenn Sie denken – was Anderen aufgegeben wird. Zudem sehen Sie mich wohl nie wieder – von dem Ganzen erfährt Niemand etwas Bestimmtes. Sie gehen nach Berlin zurück – bald hat alle Welt uns wieder vergessen; sie hat viel mehr zu thun, als an uns zu denken. Worin also läge das, was Ihrer Selbstachtung zu nahe treten sollte?“

„So rasch faßt das mein Gewissen nicht,“ erwiderte Hollfeld ausweichend. „Sie mögen auch in Vielem Recht haben, doch mein Gefühl hat nicht minder Recht.“

„An meiner Wittwe würde Ihr Gefühl aber nichts auszusetzen wissen?“ fragte Bob in finsterem Ernst.

Hollfeld preßte die Hand auf’s Herz und sah ihn an, als ob er ihn nicht verstanden hätte.

„Ich bin darauf nicht gekommen,“ fuhr Bob eintönig fort. „Vielleicht nur aus Schätzung Ihrer Person. Erst hier am Meere fiel auch das mir ein. So lasse ich Ihnen die Wahl: Tiraden darüber widerstehen mir – Sie dürften aber auf mich bauen. Wählen Sie frei – das oder das! Ein Drittes gäbe es nicht.“

„Sie sind furchtbar, Zellina!“ rief Hollfeld, indem er einen Schritt zurücktrat. „Ich lese in Ihren Augen –“

„Daß ich sterben kann,“ fiel Bob mit wehmütigem Lächeln ein. „Wer kann das nicht, wenn sein Abend gekommen? Und der meine ist da! Ueberlegen Sie nun! Ich will schweigend neben Ihnen hingehen, doch lassen Sie es uns jetzt zu Ende bringen! Ich bin tief erschöpft und bedarf des Friedens.“

Nach einer Strecke stummen Dahinwanderns sagte Bob, der auf Hollfeld gesehen hatte: „Nennen Sie es vor Allem keinen Zwang oder doch nur einen, wie ihn der Arzt anwenden muß! Wäre ich früher darauf gekommen, hätte ich Ihnen die Wahl erspart. Jetzt geht es wohl nicht mehr – jetzt würde, wie ich Sie nun zu kennen glaube, ein solcher Todter noch viel mehr im Wege stehen als der Lebende.“

„Viel mehr!“ versetzte Hollfeld schaudernd. „Dann wäre es ganz undenkbar.“

„O, so geben Sie mir die Hand!“ bat Bob ungestüm. „Jetzt höre ich es schon wie fernherüber, wenn Sie Alma sagen werden: ‚Endlich mein!‘ Und nehmen Sie immer an, Freund, daß auch ich nicht unglücklich sei: ich dachte bisher nur zu viel an mich selbst und gab so den Uebrigen nicht, was ihnen gebührte. Das soll nun anders werden. – Sie nannten vorher mein Wollen groß: ich las oder hörte aber einmal, das Große thue nur, wer nicht anders könne. Das ist es. Nicht einmal des Dankes also bedarf es, weil ich einfach so thun mußte. Und Sie müssen nun auch – nicht wahr? Fort mit allem Kleinen! Blicken wir auf’s [516] Meer, in den Himmel – da sind auch Wolken wie Untiefen, und doch sind sie groß – Himmel wie Meer. So bedeutete auch das Wölkchen auf Ihrer Ehre nichts.“

„Bleibt es dennoch ein Zwang –“ rief Hollfeld, „so ist es ein Zwang, wie vielleicht noch nie einer geübt wurde. Und, Zellina, gegen Sie bin ich doch der Kleinere.“

Bob verneinte heftig.

„Sicherlich!“ fuhr Hollfeld in tiefster Bewegung fort. „Muß ich also von einem Menschen nehmen, so meint es mein Geschick wohl noch gütig, daß Sie es sind.“

Mit einem erstickten Ausruf schlossen sich die Männer fest in die Arme; dann schritt Hollfeld dem Wäldchen zu, das bereits vor ihnen lag. Bob sah ihm still nach, bis er verschwunden war. Als er sich dann dem Meer zuwandte, rollte es ihm in leisem Schluchzen eine goldene Welle vor die Füße.

(Schluß folgt.)




Zum Verständniß der Ereignisse in Aegypten.

Von Adolf Ebeling.

Die eisernen Würfel sind gefallen, und die Macht der Mächtigen hat sich wieder einmal schreckliche Geltung verschafft: Alexandria liegt zum großen Theil in Schutt und Trümmern, und über den verschont gebliebenen Theil, soweit derselbe der Plünderung und Zerstörung entgangen ist, lagern die düstern Wolken einer bangen Zukunft. Ganz Aegypten ist mehr oder weniger der Anarchie anheimgefallen; denn die Militärherrschaft Arabi’s, die überdies auf äußerst schwachen Füßen steht, verdient kaum einen anderen Namen, und Niemand weiß, wer zur Zeit der eigentliche Herr im Lande ist, ob der Khedive oder der Sultan oder gar jetzt der Engländer, der verhaßte „Inglesi“, der gar nicht gesonnen zu sein scheint, die über Nacht errungenen Vortheile so leichten Kaufs wieder aus der Hand zu geben.

Preisgekrönter Entwurf zum Reichstagsgebäude von Professor Thiersch in München.

Man fragt sich wohl, wie es überhaupt möglich gewesen, daß es dahin gekommen ist, und steht in mehr als einer Beziehung einem Räthsel gegenüber, welches die Zeitungen sehr unvollkommen lösen – trotz ihrer Unzahl von Artikeln, die sich fast durchweg nur mit den Ereignissen der Gegenwart, nicht aber mit der Entwickelung dessen beschäftigen, was heute im Nillande geschieht. Etwas zur Lösung dieses Räthsels beizutragen, ist der Zweck dieser Artikel.

I.

Die ganze ägyptische Frage ist im Grunde nur eine Geldfrage; aber in höchster Potenz; denn es handelt sich um viele tausend Millionen Franken, und der eigentliche Schuldige (richtiger wäre wohl der Schuldner) sitzt auf seinem Lustschlosse Favorita bei Neapel mit seinen glücklich auf die Seite gebrachten Millionen, seinen Diamanten und seinem Harem, wobei ihm, wie man behauptet, der letztere die meisten Sorgen machen soll – nämlich der Ex-Khedive Ismaïl Pascha. Dieser trägt völlig und ganz die Verantwortlichkeit für die augenblickliche verzweifelte Lage Aegyptens, und an seinem armen gutwilligen, aber schwachherzigen Sohne Tewfik, dem jetzigen Khedive (wenn er es überhaupt noch ist), erfüllt sich wieder einmal das ernste Wort von den Sünden der Väter, die heimgesucht werden an den Kindern.

Die ägyptische Finanzmisere, die später so kolossale Dimensionen annahm, datirt schon vom Jahre 1869, dem „großen Jahr“ der Regierung Ismaïl’s, wie die bezahlten Federn damals in alle Welt hinausschrieben; es war das Jahr der Eröffnung des Suezcanals. Ein solches Schauspiel hatte die Menschheit noch nicht gesehen, und der Vicekönig genoß den Triumph, der generöseste und geldmächtigste Fürst der Welt genannt zu werden. Die moderne Kleopatra, die Kaiserin Eugenie, spielte dabei die Hauptfigur; man hatte eine große eiserne Brücke schlagen lassen, und gegen 20,000 Fellachen hatten in dreimonatlichem Frohndienst einen mehrere Kilometer langen Erdwall aufwerfen müssen, blos damit die hohe Dame directen Weges nach den Pyramiden fahren konnte. Dieser Triumph, der überdies nur eine kurze Woche dauerte, kostete dem Khedive Alles in Allem hundert Millionen Franken, und auch das war schon fremdes, gegen Wucherzinsen geliehenes Geld, wobei die vermittelnden jüdischen Banquiers von Kairo und Alexandria etwa 20 Procent und mehr in die Tasche steckten. In jene Summe ist freilich eine halbe oder gar eine ganze Million Pfund Sterling mit einbegriffen, die der stets geldbedürftige Sultan erhielt, um über das prätentiöse und allzu eigenmächtige Gebahren seines „Vasallen“, der völlig als Souverain auftrat, ein Auge zuzudrücken.

Von da an ging es lawinenartig immer mehr bergab, dem Abgrunde zu. Der damalige Finanzminister, der berüchtigte Muffetisch, das andere Ich des Khedive und der eigentliche Machthaber im Lande, sann Tag und Nacht auf neue Hülfsquellen, [517] um die leeren Cassen wieder zu füllen, und verfiel dabei auf alle nur erdenklichen Mittel. Die Steuerschraube wurde noch fester eingesetzt, obwohl das arme Volk schon bis auf’s Blut ausgesogen war, was wörtlich zu nehmen ist; denn die Abgaben gingen nur noch mit Beihülfe der Bastonnade ein, die im ganzen Lande in ununterbrochenem Flor stand und nur zum Schein in den beiden Hauptstädten aus Furcht vor den Generalconsuln unterdrückt war.

Auch die Vorauszahlung der Steuern auf ein halbes, dann auf ein ganzes Jahr war beliebt worden; sie sollte aber erst nach fünf Jahren rechtsgültig werden, sodaß durch dieses Manöver eigentlich doppelte Steuern gezahlt wurden. Auch eine sogenannte freiwillige Anleihe für alle Besitzenden wurde im Lande ausgeschrieben, und wer zögerte, nicht gutwillig gab und sich dadurch als ungefügiger Unterthan erwies, für den hatte man nach orientalischer Manier allerlei Mittel und Wege, ihm das Leben so sauer wie möglich zu machen. Die Anleihe sollte unkündbar sein, aber mit acht Procent verzinst werden; man hätte leicht das Doppelte versprechen können, da man doch nicht die Absicht hatte, die Zinsen zu zahlen, was sich auch bald genug herausstellte. Dabei wurden an den Börsen von Paris und London verschiedene neue ägyptische Anleihen angelegt, aber die dortige hohe Finanzwelt war schwierig geworden, witterte Unheil und ließ sich ihre Bereitwilligkeit horrend bezahlen.

Im Hintergrunde dieser abenteuerlichen Jagd nach dem Mammon stand inzwischen nach wie vor der nimmersatte Großherr in Stambul, der den gesetzlichen Jahrestribut von 160,000 Beuteln (gegen 20 Millionen Franken) schon wie gewöhnlich vorweg erhalten hatte und unter allerlei Vorwänden immer neue Summen verlangte; je mehr er bekam, desto mehr verlangte er. Die hohen Zinsen für die Staatsschuld, die schon damals über 2 Milliarden Franken betrug, absorbirten den größten Theil der gesammten Staatseinnahmen, und die Bekämpfung der furchtbaren Nilschwelle vom Jahre 1874, welche Mißwachs, Viehsterben und Pferdeseuche im Gefolge hatte, verschlang neue Summen.

Preisgekrönter Entwurf zum Reichstagsgebäude von Paul Wallot in Frankfurt am Main.

Und trotzdem wäre es bei der außerordentlichen Ertragsfähigkeit des Landes und unter Hinzunahme des unermeßlichen Privatvermögens des Khedive, das, gering angeschlagen, 8 bis 10 Millionen Pfund Sterling betragen soll, doch vielleicht noch möglich gewesen, das Schlimmste abzuwenden und eine einigermaßen befriedigende Bilanz des Budgets herzustellen, wenn nur der Khedive seinen verschwenderischen Hofhalt und seine unsinnigen Anlagen und Bauten beschränkt und vor Allem das Brandschatzungssystem in den einzelnen Provinzen von Seiten der Gouverneure unterdrückt hätte. Aber das Erstere erlaubte ihm seine Eitelkeit und Prachtliebe nicht, und zu dem Letzteren fehlte ihm die persönliche Energie und die Unterstützung uneigennütziger Vaterlandsfreunde.

Die Vicekönigin-Mutter (um nur einige „Kleinigkeiten“ im Vorübergehen zu erwähnen) bezog nach wie vor monatlich ihre 100,000 Franken; die an Mansur-Pascha verheirathete Lieblingsschwester des Gewaltigen erhielt eine gleiche Summe, und der Unterhalt seiner eigenen Harems verschlang monatlich mehr als das Zehnfache jener Summe; denn er hatte vier legitime Gemahlinnen, was bekanntlich der Koran gestattet, und mithin vier besondere Hofhaltungen, da jede Gemahlin einen besonderen Palast bewohnte und zwar jede mit einer hohen und niederen Dienerschaft von wenigstens zweihundert Personen an Frauen, Sclaven, Sclavinnen, Eunuchen etc. Und dabei kamen noch immer in Alexandria zur Ausstattung der neuen, wenn auch erst halbfertigen Paläste, ganze Schiffsladungen von Pariser Luxusmöbeln, von Lyoner Sammet- und Seidenstoffen an, Porcellan- und Krystallservice, goldene und silberne Tafelgeräthe u. dergl. m., und Alles zu dreifach höheren Preisen. Eine einzige solcher „Commissionen“ hat damals manchen Agenten zu einem vermögenden Manne gemacht.

Aber auch am Nil geht der Krug nur so lange zum Wasser, bis er bricht, und der erste Krach geschah am 9. April 1876, wo ein vicekönigliches Decret die Zinsen der Staatsschuld eigenmächtig auf fünf Procent herabsetzte und außerdem die Zahlung der fälligen Coupons um sechs Monate hinausschob. Das war, wie Talleyrand vom russischen Feldzuge prophezeite, le commencement de la fin, der Anfang des Endes. Jetzt gingen auch dem Einfältigsten die Augen auf, und die Optimisten, die bis dahin die schreienden Mißbräuche der Finanzverwaltung, zumeist wohl nur, um dabei im Trüben zu fischen, bemäntelt hatten, verschwanden von der Bildfläche. Jenes Decret sprach auch von einer speciellen Commission zur Reorganisation der Staatsfinanzen, zu welcher auch europäische Finanzcapacitäten hinzugezogen werden sollten, und zwar speciell englische und französische. Was damals dem großen Publicum als ein freier Entschluß des Landesherrn zu einer endlichen Reform erschien, war es schon nicht mehr; die Engländer und Franzosen, als Hauptgläubiger Aegyptens, hatten sie dem Khedive einfach octroyirt: willst Du nicht gutwillig, um den Schein Deines Hoheitsrechtes zu wahren, so kommen wir, ohne Dich weiter zu fragen.

Hier ist es nöthig, auf die von jeher in Aegypten herrschende Rivalität zwischen den Franzosen und Engländern hinzuweisen, die von Jahr zu Jahr, wo die Frucht reifer und reifer wurde, immer mehr hervortrat; denn Jeder hätte sie gar zu gern für sich allein gepflückt. Beim Khedive selbst war übrigens längst eine Sinnesänderung zu Gunsten der Engländer eingetreten, und natürlich [518] zeigte sich an seinem Hofe eine ähnliche Strömung. Früher waren die Franzosen die tonangebenden Factoren gewesen, und die Vorliebe des Khedives für Paris und Frankreich und überhaupt für französisches Wesen zeigte sich überall. Zunächst erklärte sich dieselbe wohl aus einer alten Familientradition; denn Mohammed Ali, der Gründer der jetzigen Dynastie und der eigentliche Schöpfer des heutigen Aegyptens, hatte stets einen treuen Bundesgenossen an Frankreich gehabt, das nur in den dreißiger Jahren unter Ludwig Philipp nicht stark genug war, um ihn gegen England und die Türkei zu schützen. Auch Saïd Pascha, der Vorgänger Ismaïl’s, hatte viele Franzosen an seinen Hof gezogen und viele Beamtenstellen mit Franzosen besetzt; Ismaïl selbst hatte sich seine europäische Bildung aus Paris geholt, wo er als junger Prinz mehrere Jahre zubrachte. Diese „Bildung“ bestand freilich nur in einem äußerlichen Firniß, aber er hatte sich doch die Kenntniß der französischen Umgangssprache und seine gefällige Formen und Manieren angeeignet.

Nach seiner Thronbesteigung im Jahre 1863 – ein Ausdruck, der, nebenbei bemerkt, in Stambul für den Regierungsantritt des Vicekönigs von Aegypten sehr stark verpönt ist – wurde Alles an seinem Hofe auf französischen Fuß eingerichtet, und, wo es irgend thunlich war, in genauer Copie des Tuilerienhofes, was in Europa und speciell in Paris oft große Heiterkeit erregte. Sogar ein Oberceremonienmeister wurde ernannt, der anfangs etwas unbeholfen war und eine auffallend dunkle Gesichtsfarbe hatte. In allen Ministerien wurde neben der türkischen, als amtlichen Sprache, auch die französische eingeführt, und am Hofe gab es, vom Cabinetssecretär bis zu den Kammerdienern und Mundköchen hinab, fast nur Franzosen.

Napoleon der Dritte war das Ideal des neuen Vicekönigs, und der Kaiser, der damals noch ein mächtiger und gefürchteter Herr war, bewies ihm stets große Freundschaft und schlichtete auch die Differenzen, die England in der Suezcanalfrage mehrfach anregte, stets zu seinen Gunsten. Das ägyptische Volk (natürlich nur die höheren Classen, denn die Fellachen „zählen“ nicht) war nicht sonderlich erbaut von der französischen Wirthschaft, und als der Khedive gar ein pompöses Opernhaus nach Pariser Stil erbauen ließ und einen Hoftheaterintendanten ernannte, der sofort ein Balletcorps und die Schneider als „schöne Helena“ verschrieb, da regte sich bei den glaubenstreuen Ulemas der Groll gegen dieses abscheuliche christliche Gebahren und mehr als einmal soll in der Nacht Feuer an das gottlose Gebäude gelegt worden sein. Man schickte aber trotzdem einen eleganten viceköniglichen Dampfer nach Marseille, um das Balletcorps zu holen und die Schneider dazu; die hübschen Damen (man hatte nur hübsche ausgesucht) verlebten in Kairo gute Tage.

Einige Operntexte, darunter auch derjenige der „Schönen Helena“, wurden sogar in das Arabische übersetzt und in der Staatsdruckerei von Bulacq gedruckt, um den Paschas und den übrigen vorurtheilsfreien Mohammedanern das Verständniß der schönen abendländischen Dichtungen zu erleichtern. Monsieur Offenbach war der Mozart von Kairo geworden, und die jungen Efendis trillerten in den öffentlichen Gärten seine leichten, losen Melodien und machten auch Fensterpromenade vor den Häusern der Sängerinnen. So zog immer mehr „abendländische Cultur“ in Aegypten ein – ob die richtige und heilsame, ist freilich eine andere Frage.

Es ließen sich noch eine Menge Beispiele citiren, als Beleg dafür, wie Ismaïl Pascha seine culturhistorische Mission auffaßte, darunter viel lustige und bunte und auch oft skandalöse Geschichten, doch das würde uns zu weit führen, zumal wir ja nur einen flüchtigen Blick auf die Vergangenheit werfen wollen, um daraus die Gegenwart zu erklären.

Eines schönen Tages war es plötzlich mit dem herrschenden französischen Einflusse vorbei, nämlich im Kriegsjahre 1870, wo den Franzosen von den Deutschen so bös heimgeleuchtet wurde: Schlacht auf Schlacht und Niederlage auf Niederlage für die Franzosen, der Kaiser geächtet und gefangen, der stolze Tuilerienthron umgestürzt, die Kaiserin, die schöne Kleopatra vom vorigen Jahre, in niederer Verkleidung aus Paris geflüchtet und in Paris selbst die Republik proclamirt – unglaublich, aber wahr!

Jetzt kam Deutschland zu hohen Ehren am viceköniglichen Hofe, und der deutsche Generalconsul, der unvergeßliche Herr von Jasmund, war dort auf einmal die bedeutendste diplomatische Figur geworden, Bismarck der erste Staatsmann und Moltke der erste Feldherr seiner Zeit. Die französische Colonie in Aegypten verlor augenscheinlich viel von ihrem bisherigen hochfahrenden Wesen, und die Deutschen, die schon wegen ihrer geringen Anzahl niemals eine hervorragende Rolle am Nil gespielt hatten, gingen ruhig wie sonst ihren Geschäften nach, wenn auch nicht ohne eine gewisse innere Befriedigung über die vermehrte Achtung und Bewunderung, die ihnen von allen Seiten entgegen getragen wurde.

Zu gleicher Zeit traten die Engländer mit sehr viel Aufsehen in den Vordergrund. Ihre Colonie, obwohl bei weitem nicht so zahlreich wie die französische, war schon seit Jahren in Aegypten sicher und gut etablirt, und ihre Banken, Handelshäuser und Agenturen, die letzteren für den Export der Baumwolle nach England und für den Import aller möglichen Waaren aus Indien, hatten mehr als andere den Ruf großer Solidität. Außerdem waren an allen Instituten und Etablissements, die zum Maschinenwesen gehörten, Engländer angestellt, sowohl auf den Eisenbahnen und Dampfschiffen wie auch bei den Wasser- und Schleusenwerken, und ganz speciell in den viceköniglichen Zuckerfabriken, deren Leitung sich ganz in ihren Händen befand. Seit Eröffnung des Suezcanals war der Zuzug der Engländer noch bedeutender geworden, wie sie auch von jeher das namhafteste Contingent an Nilreisenden geliefert hatten. Abenteurer, Stellensucher, Projectenmacher und sonstige Schwindler, von denen es im Pharaonenlande stets wimmelte, gab es unter den Engländern so gut wie gar nicht, wenigstens nicht unter den eigentlichen Engländern; denn die Malteser und etwa noch die Griechen von den ionischen Inseln gehören zu den schlimmsten Subjecten der buntgemischten Bevölkerung der großen ägyptischen Städte, einer Musterkarte aller Nationalitäten der Erde.

So hatten die Engländer also schon im Stillen gut vorgearbeitet und als praktische Leute, die sie ja von jeher gewesen sind, das Terrain nicht allein genau recognoscirt, sondern schon zum Theil im Stillen besetzt, als nach dem oben erwähnten viceköniglichen Decret der Ruf an sie erging, in den engeren Rath des Khedive zur Theilnahme an der Finanzreform einzutreten. Von da an datirt ihr officielles Mitregieren, und sie betrachteten sich schon als die Herren des Nillandes wie zu Anfang dieses Jahrhunderts in Indien. Die Franzosen wurden möglichst bei Seite geschoben, was sie sich wider ihren Willen gefallen lassen mußten. Ganz ignoriren durfte man sie nicht, um sie sich nicht vor der Zeit zu Feinden zu machen und auch um den Khedive nicht vor den Kopf zu stoßen, aber sie nahmen immer nur die zweite Stelle ein, und in streitigen Fällen gaben die Engländer stets den Ausschlag.

Es kamen nun allerlei englische und französische Finanzcommissäre in’s Land, der französische indeß stets im Schlepptau des englischen, und die Enquête begann. Derselben präsidirte der Generalzahlmeister der englischen Armee, jedenfalls ein bewährter Finanzmann, der aber trotzdem von dem schlauen Muffetisch, den der Khedive nicht entlassen wollte, dergestalt hinter’s Licht geführt wurde, daß der Rapport ganz illusorisch ausfiel. Der darauf folgende Commissar Göschen setzte wenigstens die Entfernung des allgemein verhaßten Finanzministers durch, dessen sich der Khedive denn auch endlich und zwar in echt orientalischer Weise entledigte. Auf der Spazierfahrt, wie er sie täglich mit seinem Freund und Günstling machte, besichtigten sie ein restaurirtes Dampfschiff und beim Fortgehen – die Befehle waren schon vorher gegeben worden – wurde der Muffetisch einfach am Bord zurückgehalten. Alles Weitere beschränkt sich auf Gerüchte. Nach den Einen soll der Minister sofort erdrosselt worden, nach Anderen unterwegs (denn er war nach Dongola in Nubien exilirt worden) plötzlich an einem heftigen Cholera-Anfalle gestorben sein. Gleichviel, der Khedive hatte ihn, ein zweiter Ollivier, „leichten Herzens“ beseitigt. Dergleichen geschieht heutzutage noch oft im Orient, und es kräht kein Hahn darnach. Wie viele solcher Gräuel mögen die hohen Haremsmauern in Kairo, Stambul oder sonstwo bergen! Und wurde nicht bald darauf der Sultan Abdul-Asiz mit der ominösen Scheere „geselbstmordet“?

Am nächsten Morgen enthielt die amtliche Zeitung, „le Moniteur égyptien“, die Nachricht von einer entdeckten Verschwörung, an deren Spitze der Muffetisch gestanden habe und die keinen geringeren Zweck hatte, als den Khedive zu stürzen und Halim Pascha auf den Thron zu setzen. Obwohl der Minister [519] als Hochverräther den Tod verdient, so habe der Khedive doch Gnade für Recht ergehen lassen und ihn nur nach Dongola in’s Exil geschickt. So der „Moniteur“, dem natürlich kein vernünftiger Mensch glaubte, aber alle Welt athmete doch auf, weil der Quälgeist des Landes beseitigt war. Das Wie war dabei ja gleichgültig.

Das Vermögen und die Güter des Muffetisch wurden sofort confiscirt – das war die Hauptsache. Man sprach von unermeßlichen Summen, unter Anderem von mehr als hunderttausend Goldstücken, die man in eisernen Kisten vorgefunden habe, was recht gut möglich sein konnte. Das Gold- und Silbergeschirr seines Hausraths und die in seinem Harem vorgefundenen Juwelen wurden auf viele Millionen Franken geschätzt – Alles erklärte der Khedive für gute Prise. Von den vierhundert Sclavinnen wurden die sechs schönsten Circassierinnen dem Sultan nach Constantinopel geschickt; dann traf der Khedive seine Auswahl, und die übrigen wurden nach rechts und links hin verkauft. Und dabei war der Sclavenhandel, dank den humanen Gesinnungen des Khedive, in ganz Aegypten längst unterdrückt, wie man beständig nach Europa hin meldete.

Mittlerweile hatten die Engländer, ganz im Geheimen und hinter dem Rücken der Franzosen, einen geschickten, und wichtigen Coup gemacht: sie hatten nämlich dem Khedive seine sämmtlichen Suezcanalactien für vier Millionen Pfund Sterling abgekauft. In England befanden sich dadurch mehr als zwei Drittel sämmtlicher Actien, also das bedeutendste Anrecht auf den Besitz des Canals. Als darauf die Finanzcommissäre ihre fast nutzlose Enquête beendigt hatten, war es den Engländern bei ihrem stets Wachsenden Einfluß leicht, in alle großen Administrationszweige englische Directoren einzusetzen: bei den Eisenbahnen, bei der Douane, bei der Verwaltung der directen und indirecten Steuern, beim Post- und Telegraphendienst, und vor Allem bei der Staatsschuldentilgungscommission, sodaß in erster Reihe das Finanzministerium so gut wie ganz lahm gelegt wurde.

Das war die Zeit der sogenannten Generalcontrolleure, eine schöne Zeit wenigstens für die Controlleure selbst, deren jeder 4000 Pfund Sterling Jahresgehalt bezog, den sie sich, weil sie die Hände auf allen Cassen hatten, auch immer vorweg auszahlten. Diese Controlleure zogen ein ganzes Heer von Unterbeamten in’s Land, die alle reichlich besoldet waren, pro forma immer im Einverständniß und unter Mitwirkung der Franzosen, aber unter vier Beamten gab es stets drei englische und nur einen französischen. Factisch waren also die Engländer schon jetzt, das heißt zu Anfang des Jahres 1877 die Herren von Aegypten; es sollte freilich noch ein Rückschlag eintreten, aber vor der Hand verhielt sich der Khedive passiv und übte nominell eine Art Scheinregierung aus, die seiner Eitelkeit und seinen Souverainetätsgelüsten schwer genug ankommen mußte. Schon damals sprach man von seiner Abdankung zu Gunsten seines ältesten Sohnes; ob er selbst diesen Gedanken je gehegt und erwogen, sticht sehr dahin; denn im Orient steigt man noch seltener freiwillig vom Regentenstuhl herab, als im Occident, obwohl auch dafür die gewaltsamen Entthronungen dort weit häufiger sind. Das sollte der Khedive Ismaïl nur zu bald an sich selbst erfahren. Hierüber in unserm nächsten Artikel!




Blätter und Blüthen.

Die preisgekrönten Entwürfe des neuen deutschen Reichstagsgebäudes in Berlin. (Mit Abbildungen auf S. 516 und 517.) Endlich nach zehnjährigen vergeblichen Versuchen hat der deutsche Reichstag in seiner letzten Session sich für die Wahl eines Platzes entschieden, auf welchem der stolze Bau errichtet werden soll, in welchem künftig die Vertreter der deutschen Nation über die Geschicke derselben berathen werden.

Eine aus Mitgliedern des Bundesrathes und des Reichstages bestehende Commission wurde niedergesetzt, um die Ausführung des großen Werkes in die Hand zu nehmen und dasselbe seiner Vollendung entgegenzuführen. Es wurde eine neue Concurrenz ausgeschrieben, an der sich die berufensten Baukünstler Deutschlands und Deutsch-Oesterreichs betheiligten. Nahe an 200 Entwürfe wurden eingeliefert, die jetzt der Oeffentlichkeit übergeben worden und nahezu alle durch ernstes Streben, durch fleißige Gedankenarbeit der Höhe der Aufgabe gerecht zu werden bemüht gewesen sind. In den letzten Tagen des Juni fiel die Entscheidung, die im ganzen Vaterlande, namentlich aber in Architektenkreisen mit Spannung erwartet worden war. Die ersten Preise von je 15,000 Mark wurden zwei verhältnißmäßig noch sehr jungen Künstlern, dem Architekten Paul Wallot in Frankfurt am Main und dem Professor Thiersch in München, zuerkannt.

Den zweiten Preis von 10,000 Mark erhielten die Berliner Architekten Kayser und von Großheim, Kramer und Wolkenstein und Heinrich Seeling. Der dritte Preis wurde Giese und Weilen in Dresden, Hubert Stier in Hannover, Ende und Beckmann, sowie Bosse und Schwechten in Berlin zu Theil. Außerdem beschloß die parlamentarische Commission noch acht Entwürfe anzukaufen, welche in bestimmten Beziehungen ein besonderes werthvolles Material für die Aufstellung eines zur Ausführung bestimmten Bauplanes darbieten. Ferner sind auf Vorschlag der Jury noch zwei andere Entwürfe angekauft worden, welche wegen Nichteinhaltung der Programmbedingungen von der Concurrenz ausgeschlossen werden mußten. Von diesen hat namentlich der mit dem stolzen Motto „Bramante“ versehene Entwurf des Freiherrn von Ferstel, des Erbauers der Votivkirche, des Museums und der Universität in Wien, durch die Großartigkeit der Conception, die gerechte Anerkennung der Kritik und die Bewunderung des Publicums in hohem Grade hervorgerufen. Doch wir wollen uns nicht auf eine Beurtheilung einzelner Entwürfe, welche von der Jury ausgezeichnet worden sind, entlassen, wir beschränken uns nur darauf, den Lesern der „Gartenlaube“ die beiden Entwürfe im Bilde vorzuführen, welche den ersten Preis erhielten.

Der Wallot’sche Entwurf, dessen Hauptansicht auf unserem Bilde zur Seite des Brandenburger Thores zu erblicken ist, ein imposanter Bau im Stil der hohen Renaissance, zeichnet sich durch eine auf quadratischer Grundlage sich erhebende Kuppel von hoher Schönheit aus, unter welcher, gerade in der Mitte des Gebäudes, der Sitzungssaal für die Abgeordneten sich befindet. Dieser im ersten Stock liegende Sitzungssaal wird bei Tage durch seitliches Oberlicht erhellt, während des Abends elektrisches Licht, das aus der Kuppel durch eine Glasdecke in den Sitzungssaal hineinstrahlt, auch nach außen strömend, „den getreuen Berlinern jederzeit Kunde geben soll von dem Fleiß und der Pflichttreue der Volksvertreter“, wie der Verfasser in seinen erläuternden Bemerkungen sich ausdrückt.

Auch Thiersch aus München, der Gewinner des andern ersten Preises, hat einen mächtigen Kuppelthurm zum Mittelpunkte seines Parlamentsbaues gemacht. Derselbe erhebt sich über einem rechteckigen Hauptbau von drei Etagen und wird durch vier kleine Thürme flankirt. Der nach dem Muster des griechischen Theaters einen großen Halbkreis bildende Sitzungssaal befindet sich aber nicht, wie bei dem Wallot’schen Entwurf, unter der Kuppel, die hier vielmehr das Foyer überwölbt.

Leider gebricht es uns hier an Raum, die Einzelheiten und Schönheiten der beiden Entwürfe zu beschreiben; wir müssen uns somit darauf beschränken, den von allen Seiten anerkannten schönen und imposanten Aufbau der Außenarchitektur hervorzuheben, durch den sich sowohl der Wallot’sche wie der Thiersch’sche Entwurf auszeichnet. Wir haben auch um so weniger nöthig, eine Vergleichung dieser preisgekrönten Entwürfe mit denen anderer Künstler anzustellen oder gar auf die Einwendungen der Kritik gegen die Entscheidung der Jury einzugehen, als die parlamentarische Commission zwar beschlossen, den Wallot’schen Plan der Ausführung zu Grunde zu legen, dem bereits nach Berlin berufenen Künstler aber die Aufgabe gestellt hat, unter Benutzung seines eigenen und der anderen prämiirten und angekauften Entwürfe den eigentlichen Plan erst auszuarbeiten, der dann wahrscheinlich alle heute noch geltend gemachten Bedenken beseitigen wird.

Es ist Hoffnung vorhanden, daß bereits in der nächsten Reichstagssession die Parlamentsbaucommission diesen umgearbeiteten Entwurf dem Reichstage vorlegen und der Reichstag dann in die Lage versetzt sein wird, die zunächst erforderlichen Geldmittel aus dem auf nahe an 30 Millionen Mark angewachsenen Fonds zur Verfügung zu stellen.

Mit dem Abbruch der Gebäude auf dem Bauplatze wird bereits am 1. August begonnen werden, und so ist es nicht unwahrscheinlich, daß Kaiser Wilhelm am 18. Januar 1883, dem Tage der Errichtung des Reiches, im Stande sein wird, den Grundstein zu einer monumentalen Parlamentshalle für die Vertreter der deutschen Nation zu legen. Hoffen wir aber auch, daß, wenn dereinst – in der jetzt endlich absehbaren Zeit von acht, höchstens zehn Jahren – die Vertreter des deutschen Volkes unter dem stolzen Kuppeldach des Parlamentspalastes auf dem Königsplatze sich versammeln, die Schatten sich verzogen haben werden, die heute noch die politische Freiheit und das verfassungsmäßige Recht in Deutschland umdüstern!
H. St.

„Alma Julia-Maximiliana hoch!“ So schallt es in den ersten Tagen des August durch die fröhliche Mainstadt Würzburg, wo „Bursche“ und „Philister“ sich ereifert, das dritte Jahrhundertfest der Universität mit Feuer und Kraft, also „gut fränkisch“ zu begehen. – Ein Universitäts-Jubiläum in Deutschland hat die doppelte Bedeutung, daß es ein Landes- und für Tausende ein Familienfest zugleich ist. Die Stadt selbst ist nur der Herd des Festes; die Festgäste kommen weit über die Weichbilds-, die Provinz-, ja die Landesgrenzen her; denn jede deutsche Hochschule zählt ihre Insassen nach Einheimischen und Fremden, und unter Fremden verstand man ehedem auch diejenigen Deutschen, welche nicht zu den Kindern des Landes der Universitätsstadt gehörten. Größere oder in gewissen Fächern hervorragende Universitäten ziehen sogar von jenseits der Grenzen des Reichs und von jenseits der Meere die strebenden Jünglinge herbei, und als eine solche Hochschule muß auch Würzburg hinsichtlich seiner medicinischen Facultät gelten. Hat die Regierung eines Landes alle Ursache, sich der Ehre einer blühenden Universität an einem Jubiläumstage zu erfreuen und durch ihre Theilnahme dem Feste Glanz zu verleihen, so bleibt der Hauptfreudentheil desselben doch den alten und jungen [520] Commilitonen, den alten und jungen Studenten der betreffenden Hochschule gewahrt. Kann es auch anders sein? Wo der Jüngling seine seligste Lebenszeit – „die Tage der Rosen“ – genossen, dort haften unaustilgbar seine liebsten Erinnerungen, dorthin sehnt er sich auch als Mann, ja als Greis noch zurück, und ruft ein solcher höchster Festtag, ein Jubiläum, die Genossen aus aller Welt zur Feier zusammen, so bringt Jeder, der es vermag, auch Weib und Kinder mit, und so werden akademische Familienfeste fertig, wie sie inniger und sinniger von keinem anderen Volke gefeiert werden können.

All diese Jubelfreuden, unter welchen die Scenen des Wiedersehens graugewordener Jugendfreunde, deren Lebenswege oft ein halbes Jahrhundert lang sich nicht begegneten, wohl zu den ergreifendsten gehören, geben in diesen Tagen dem stattlichen Würzburg erhöhten Schmuck. Wie herrlich die Lage dieser ehemaligen fränkischen Fürstbischofs-Residenz ist, zeigt unsere Abbildung im Jahrgange 1866 Nr. 45;[WS 1] die Beigabe der traurigen Zeit, die Beschießung der Festung Marienberg, stört uns jetzt nicht mehr. Wenn heute dort Kanonen donnern, so gehören sie zu den Stimmen des festlichen Jubels.

Was nun die Würzburger Universität betrifft, so ist ihre Gründung kein Werk von einem Tage gewesen. Der erste Grund zu einer hohen Schule daselbst soll schon im Jahre 942 von dem Bischof Poppo dem Dritten gelegt worden sein; der wirkliche Ausbau gelang erst 1403, aber schon zehn Jahre darnach hatte diese Hochschule mit der Ermordung ihres ersten Rectors ein Ende. Der Tod stellte sich sogar einem zweiten Versuch, durch Gründung eines Gymnasiums den Uebergang zu einer Universität zu bahnen, entgegen, indem er den Fürstbischof Friedrich von Wirsberg 1564 eiligst mit sich nahm. Es gehörte ein Mann dazu, der noch nach Jahrhunderten für Krankheitsvertreibung und Lebensverlängerung zu sorgen verstand, um ein dauerndes Werk zu gründen: dieser Mann war Julius Echter von Mespilbrunn, der Stifter des weltberühmten Julius-Hospitals. Wohl erzeigte sich derselbe als ein ebenso eifriger Jesuitenfreund wie Ketzerfeind, sodaß auch er zu denen gehört, welche zu Folge der Glaubenstrennung in Deutschland von dem einen Theile gesegnet und vom anderen verdammt werden. Da er aber mit allem Guten, das er unternahm, es redlich meinte, so soll heute kein Schatten auf sein Andenken fallen. Hat er doch seine Sorge auch dem edlen Weinbau zugewandt, und wir müssen es ihm gar wohl zu einem Verdienst anrechnen, daß sein Julius-Hospital in seinen Kellern den vorzüglichsten und heilsamsten Rebensaft pflegt. Oder ist es kein Ruhm, daß der tröstliche Reim entstehen konnte: „Frankenwein – Krankenwein“? –

Am 2. Januar 1582 wurde die neue Hochschule eröffnet; der Gründer selbst war ihr erster Rector. Ihr erstes hundertjähriges Jubiläum feierte sie vom 19. bis 29. Juli 1682, das zweite vom 29. Juli bis 8. August 1782. Nachdem Würzburg 1803 baierisch geworden war, erfuhr die Akademie unter Maximilian Joseph eine neue Organisation und war fortan als die Alma Julia-Maximiliana zu preisen, als welche sie nun ihr drittes Jahrhundert-Ehrenfest begeht. Es waren große historische Festzüge in Aussicht gestellt, aus daß, wo das Herz jubelt, auch das Auge nicht zu kurz komme. Um so mehr wird namentlich diejenigen Freunde und Verehrer der Hochschule, welchen es nicht vergönnt ist, dort selbst mit zu schwärmen, die Nachricht erfreuen, daß die Vorbereitungen zu einer „Illustrirten Chronik dieser dritten Säcularfeier" getroffen sind und daß diese unter dem Titel „Alma Julia“ gleich nach dem Feste erscheinen wird. Mit den dort feiernden Schaaren aber stimmen wir freudig ein in das „Alma Julia Maximiliana hoch!“

Fr. Hfm.





Die Ueberraschungen des letzten Kometen. Der im Juni nur ganz vorübergehend dem bloßen Auge sichtbar gewordene letzte Komet – nach seinem ersten Entdecker der „Komet Wells“ genannt – hat den mit dem Spectroskop bewaffneten Beobachtern einige gänzlich unerwartete Aufschlüsse gegeben. Wie die Leser der „Gartenlaube“ aus dem Artikel über den vorjährigen Kometen (Jahrg. 1881, S. 498) wissen, haben die seit dem Jahre 1864 der Spectralanalyse unterworfenen Kometen (von denen etwa ein Dutzend genauer untersucht werden konnte) ganz übereinstimmend ein Spectrum ergeben, welches demjenigen glich, das man beobachtet, wenn elektrische Funken durch Leuchtgas, Petroleumdampf oder Alkoholdampf schlagen, das heißt mit anderen Worten: sie zeigten stets das Spectrum einer Kohlenwasserstoffverbindung, welche sich durch drei breite, nach der einen Seite verwaschene Streifen auszeichnet. Der berühmte, vor Kurzem verstorbene Leipziger Astrophysiker F. Zöllner, welcher auf diesem Gebiete bahnbrechend gewirkt hat, schloß daraus, daß die Kerne der Kometen, das heißt die von einer Dunsthülle umgebenen eigentlichen Massen dieser Gestirne, aus denen sich die mächtigen Schweife erst bei ihrer Annäherung an die Sonne entwickeln, vielleicht aus flüssigem Petroleum bestünden, also aus einer Substanz, die auch im Erdinnern in großen Massen vorkommt und bei der Zertrümmerung eines größeren Planeten leicht derartige kaltflüssige Weltkörper gebildet haben könnte. Da die Kometenkerne neben dem zurückgeworfenen Sonnenlichte des Schweifs und der Hülle, welches sich im Spectrum durch die dunklen Fraunhofer’schen Linien kennzeichnet, deutlich auch eignes Licht ausstrahlen, so entsprang die Frage, ob diese brennbaren Massen in Folge der großen Nähe, in welcher sie bei der Sonne vorübereilen, vielleicht in Gluth oder Brand gerathen. Zöllner glaubte indessen, es möchte sich nur um ein elektrisches Leuchten, etwa wie das andauernde Leuchten einer Gewitterwolke, handeln, wie er denn die entschiedene Abwendung der meisten Kometenschweife von der Sonne als eine elektrische Abstoßung des durch das Sieden der Kometenmasse gebildeten elektrischen Dampfes ansah.

Der Komet Wells zeigte nun zum ersten Male ein gänzlich verschiedenes Spectrum. Nach Beobachtungen, die zuerst von Professor H. C. Vogel aus denn astrophysikalischen Observatorium zu Potsdam angestellt wurden, zeigte derselbe schon im April ein continuirliches (ununterbrochenes) Spectrum, in welchem die Petroleumstreifen anscheinend fehlten oder doch kaum erkennbar waren. Dieses Spectrum wurde von Tag zu Tage heller, namentlich in seinem gelbrothen Theile, und endlich erschienen helle Linien in demselben, unter denen am 1. Juni die Natriumlinie zweifellos bestimmt werden konnte. Ueberstrahlt von dem starken Eigenlichte des Kometen, den man in der ersten Juniwoche an geeigneten Oertlichkeiten am hellen Vormittage neben der Sonne glänzen sah – Nachts stand er für die Beobachtung zu ungünstig – verschwanden die Fraunhofer’schen Linien gänzlich und waren nicht einmal in photographischen Aufnahmen des Spectrums zu erkennen. Diese Beobachtungen sind inzwischen von vielen anderen Astrononnen bestätigt worden, und es hat sich somit zweifellos ergeben, daß der Wells’sche Komet von ganz anderer Art war, als alle seit zwanzig Jahren genauer untersuchten Kometen. Die chemische Verschiedenheit wäre nicht weiter auffallend, da man seit lange weiß, daß unter den Weltkörpern nach dieser Richtung Verschiedenheiten vorhanden sind, und daß z. B. die den Kometen in manchen Beziehungen ähnlichen Meteor- oder Sternschnuppenschwärme, welche an bestimmten Tagen die Bahn der Erde regelmäßig kreuzen, unter einander chemisch verschieden sind. Das Anfallende bei der neuen Kometenbeobachtung liegt jedoch in dem Unterschiede der Temperaturen. Eine Dampfbildung und Elektricitätsentwickelung im Zöllner’schen Sinne konnte bei äußerst niedriger Temperatur stattfinden; in dem Kern des Wells’schen Kometen waren dagegen glühende Metalldämpfe enthalten, wie wir sonst nur gewöhnt waren, sie auf den Fixsternen und auf der Sonne selbst anzutreffen.

Wir haben darin somit einen sicheren Beweis von der ungeheueren Gluth erhalten, welcher der Wells’sche Komet bei seinem allerdings sehr nahen Vorübergange an der Sonne ausgesetzt gewesen ist. Aber werden wir aus diesen Beobachtungen nicht schließen müssen, daß auch die Kohlenwasserstoffverbindungen der anderen Kometen, wenn sie in ihre Sonnennähe kamen, nicht blos dampften, sondern wirklich brannten, und daß diese Weltkörper im Universum jenen Motten und Mücken gleichen, die um ein offenes Licht kreisen, bis sie sich die Flügel verbrennen?





Rothenburg ob der Tauber ist, nachdem es lange genug im tiefen Dornröschenschlaf abseits des Weltverkehrs gelegen, fast plötzlich als „ein Kleinod aus deutscher Vergangenheit“ entdeckt worden, und durch sein historisches Festspiel nun völlig in die Mode gekommen. Wo aber der wißbegierige Schwarm der Touristen seinen Wanderstab an die Wand lehnt und sein Fähnlein als Lockzeichen aufsteckt, da wird auch gleich der literarische Boden fruchtbar, um Bedürfnisse zu befriedigen, auch wenn sie nicht zu den „längst gefühlten“ gehören sollten. Für den Fremdling, der sich Rothenburgs mit deutscher Gründlichkeit erfreuen wollte, war ein guter Führer durch die Vergangenheit und Gegenwart dieser Stadt ein solches Bedürfniß, und dieses befriedigte schon 1881 Wilh. Klein. Sein mit zehn Illustrationen und einem historischen Plane ausgestattetes Buch leistet, was der Reisende von einem guten Gesellschafter erwartet. Daß auch ein freudiger Heimathstolz mit aus dem Buche spricht, ist nicht zu verkennen, thut aber sogar wohl; denn ein Gang durch die Stadt und ihre Geschichte überzeugt uns, daß der Stolz auf beide ein gerechter ist. – Unser Festschilderer ist einem andern Führer gefolgt, und noch ein drittes, ebenfalls illustrirtes: „Rothenburg in alter und neuer Zeit“, hat in Ansbach (bei C. Brügel und Sohn) das Licht der Welt erblickt und zeichnet sich durch den Reichthum von Mittheilungen aus der Geschichte und der Sagenzeit sowie eine Sammlung historischer Volkslieder aus.




Kleiner Briefkasten.


Z. Z. Woher der sprichwörtlich gewordene Name Münchhausen kommt? Zu Ihrer Beruhigung (es wird sich bei Ihrer Anfrage wohl wieder um eine Wette handeln, zu deren Entscheidung Sie wie unzählige Andere gütigst an uns appelliren) können wir Ihnen mittheilen, daß bei allen Münchhausiaden der Name des Helden sicher nicht erdichtet ist. Der echte und rechte Münchhausen lebte im vorigen Jahrhundert und hieß Karl Friedrich Hieronymus Freiherr von Münchhausen auf Bodenwerder in Hannover (geboren 1720, gestorben 1781). In russischen Diensten hat der biedere Feldherr einige Türkenkriege mitgemacht und erzählte von dem, was er dort angeblich erlebt hatte, in seiner lieben Heimath unglaubliche Dinge; auch machte er stark in „Jagdgeschichten". Nach seinem Tode wurden die gelungensten dieser Aufschneidereien mit den üblichen literarischen Beigaben zuerst von Raspe in englischer Sprache herausgegeben und zwar im Jahre 1785. Die deutsche Bearbeitung des bald allgemein bekannt gewordenen Buches stammt von G. A. Bürger. Daß im vorigen Jahre das hundertjährige Jubiläum des Todestages des echten Münchhausen gefeiert werden konnte, daran haben wohl die wenigsten von Denjenigen, die seine Geschichten fleißig weiter verbreiten, gedacht. Oder war dies vielleicht bei dem vorjährigen Bundesschießen in München der Fall, auf welchem bekanntlich Münchhausen leibhaftig auf der Bühne erschienen war.

B. L. in Ch. Die uns von Ihnen eingesandte Blume ist der sogenannte Rosenkönig, eine bei den Rosen zuweilen beobachtete Erscheinung, welche dadurch verursacht wird, daß eine Blume durch die andere hindurchwächst.

P. K. in Berlin. Es ist wohl einer der bedenklichsten Druckfehler, auf den Sie uns aufmerksam machen. Es muß an der betreffenden Stelle nicht „seines“, sondern „ihres“ heißen; denn das interessante Werk über Fr. Liszt ist ja von einer Dame, Lina Ramann, geschrieben worden.

Ein treuer Abonnent in H. Ihre Arbeit ist nicht uninteressant, aber leider für unser Blatt nicht geeignet. Verfügen Sie gütigst über das Manuscript.

L. Z. 100. Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Nr. 48

  1. Maler P. F. Peters.

Anmerkungen (Wikisource)