Die Gartenlaube (1882)/Heft 9

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 9.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der heimliche Gast.
Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


Hilda hatte ihren Bruder allein in seinem Arbeitszimmer vermuthet; denn es war noch gestern davon die Rede gewesen, daß sich außer ihm und Edwin Alle an der Ausfahrt betheiligen wollten – und nun? Hinter der dunklen Portière, die den Eingang zum Arbeitszimmer des Gutsherrn nur halb schloß, saß in dem zarten Dämmerlichte, das ihrer Schönheit einen besondern Glanz lieh, die junge Frau an einem Nähtischchen, das sie sich in der Fensternische improvisirt hatte. Scherzend wehrte sie sich mit der Sticknadel gegen ihren Gatten, der hinter ihrem Stuhle stand und ihr die Augen zuhielt.

„Hände weg oder ich steche!“ drohte sie lachend.

„Ein Attentat? Oho! Verdient eine exemplarische Strafe.“

„Die fürcht’ ich nicht.“

„Auflehnung, Meuterei, Rebellion gegen die Autorität!“

„Die Ehrfurcht vor derselben ist nicht mehr groß; Du thust Dein Möglichstes, sie zu zerstören, mein Herr Gemahl.“

„Will doch sehen, ob ich keinen Gehorsam finde,“ erklärte er mit scherzhaft angenommener Würde. „Ich dulde nicht, daß Du Deine Augen an der Geburtstagsarbeit für die Frau Mama in dieser Finsterniß verdirbst; denn Deine Augen gehören mir – heute und alle Zeit. Ich kann sie, so oft es mir gefällt, amtlich unter Siegel legen, und sie müssen geschlossen bleiben, bis –“

„Bis ich sie wieder aufthue.“

„Nein, bis ich das Siegel mit einem Kusse löse.“

Er neigte sich zum Vollzuge der angekündigten Maßregel über sie, aber sie hatte den Moment, wo er seine Hände löste, benutzt, um vom Stuhle aufzuspringen.

„O, es bedarf keiner solch feierlichen Amtshandlung, mein gestrenger Herr. Ich sehe schon wieder,“ spottete sie. „Und nun laß mich die paar Stiche fertig machen – nur so weit der Wollfaden noch reicht!“

„Gut, wie Du mir, so ich Dir!“ sagte er und setzte sich, ohne scheinbar weiter auf seine Frau zu achten, auf das Fensterbrett; er zog ein Journal aus der Tasche, entfaltete es und begann zu lesen.

„Diese häßlichen Zeitungen!“ schmollte sie und schlug leicht auf das Blatt.

„Diese häßlichen Zeitungen?“ fragte er. „Ich muß doch eine Beschäftigung haben. Wie erfahre ich übrigens ohne die Zeitungen, was in der Welt vorgeht?“

„Bah, es steht doch kein wahres Wort darin. Nichts als Märchen; die kann ich am Ende auch erzählen.“

„Willst Du? Ach ja, Du bist meine Scheherazade. Erzähle!“

Schmeichelnd hatte er den Arm um sie gelegt, und so zog er sie, während er sich selbst auf den vorher von ihr eingenommenen Sessel niederließ, sanft auf sein Knie. Sie ließ ihn im Eifer, doch noch ein paar Stiche zu vollenden, gewähren und setzte ihm auch keinen Widerstand mehr entgegen, als er ihr die Stickerei nun aus den Händen nahm.

„Confiscirt!“ sagte er. „Zwei Herren kann man nicht dienen. Man arbeitet nicht, wenn man ein Märchen zu erzählen hat.“

„Ist das wirklich Dein Ernst?“

„Natürlich!“

„Ich weiß aber eigentlich nur eins.“

„Du hast Dich ja vermessen, so viele wie die Zeitungen zu kennen. Also mindestens für tausend und eine Nacht. Laß denn hören!“

Sie schlug die Augen, schelmisch lächelnd, zu ihm auf.

„Gut – es war einmal eine Prinzessin, die saß an einem Brunnen im grünen, grünen Walde. Da kam ein stolzer König; der trug an einem schweren Leide, und die Aerzte hatten ihn darum zu dem Brunnen geschickt, daß er sich Heilung hole. Und als er wieder ging, da war er wohl gesund, aber die Prinzessin, die arme Prinzessin, war krank geworden im Herzen und blickte nur immer und immer in den Brunnen, weil er ihr, wie im Spiegel, das Bild des stolzen Königs zeigte, so oft sie seinen Namen rief.“

„Und das war ein sehr wirksames Sympathiemittel,“ fiel er lachend ein. „Denn eines Tages kam er, holte sie heim und war glücklich mit ihr bis an’s Ende ihrer Tage. Und Franz hieß der stolze König, und die Prinzessin hieß Albertine. O, ich kenne, wie mir scheinen will, dieses Märchen – Du mein herziges, herziges Weib!“

Er küßte sie innig. Ihr Arm legte sich um seine Schultern, ihre Schläfe sich an die seine.

„Franz,“ sagte sie, „ich habe Dich so lieb, so lieb, so lieb!“

Die Lauscherin dort hinter der Portière hörte es nicht mehr. Die Hände auf das Herz gepreßt, als ließe sich so dessen lautes Pochen bezwingen, glitt Hilda von der Thür hinweg und aus dem Garderobezimmer. Die Scham brannte auf ihren Wangen, daß sie ihr Versteck nicht schon früher verlassen, aber es war nicht diese Gluth allein, die sie verwirrte. Zuerst hatte sie, unmuthig über die Störung, nur einen Moment zum Eintreten abwarten wollen, der ergab sich jedoch nicht, und so hatte sie fast wider [138] Willen auf dem Flecke ausgeharrt. Halb spöttisch, halb in seltsamer Bewegung hatte sie auf die heitere Gruppe geblickt, bis sie zuletzt, mächtig erfaßt von einer ihr bisher unbekannten Empfindung, wie träumend an dem Thürpfosten lehnte und das Antlitz in die Falten des schweren Vorhanges drückte.

Endlich war sie hinweggeschlichen, aber das Bild verwischte sich nicht vor ihren Augen, und in ihren Ohren klang es fort und fort:

„So lieb, so lieb, so lieb!“

Was war denn so Hohes, so Gedankenvolles gesprochen worden, daß es sie so sehr ergriff? Nichts, ein einfaches Geplauder, Koseworte dazwischen, und doch hatte noch keine Liebesscene in einem Buche, selbst nicht jenes wundersam bestrickende Zwiegespräch auf dem Balkon des alten Hauses der Capuletti in Verona, ihr Empfinden so bewegt, wie das eben Gehörte, Geschaute. Es war ihr, als sei ein elektrischer Funke auf sie übergesprungen – all ihr Blut war in Aufruhr.

Beängstigt, schwer athmend schritt sie wie eine Nachtwandlerin langsam von Raum von Raum, und die langjährige Gewohnheit führte sie an die Thür ihres Zimmers. Daß sie es nicht mehr bewohnte, kam ihr nicht in den Sinn; zu sehr waren ihre Gedanken bei dem eben Erlebten; es war ja auch nichts da, das ihr sagen konnte: dieses Zimmer ist nicht mehr das deine. Ihre Möbel waren in dem kleinen Salon verblieben; bis auf einzelne unbedeutende Veränderungen stand alles an derselben Stelle wie immer, und selbst die Töne des Claviers, auf dem eben ein paar Accorde angeschlagen wurden, vermochten sie nicht auf ihren Irrthum aufmerksam zu machen. In der letzten Zeit war sie es ja gewohnt geworden, daß dieses Gemach als ein allgemeiner Versammlungsort oder eigentlich als ein Musikzimmer betrachtet wurde, in welchem Albertine wie ihr Bruder, so oft sie die Lust zu spielen anwandelte, ungehindert Zutritt hatten.

So winkte sie auch jetzt Edwin, der bei ihrem Eintritt vom Clavier aufgesprungen war, sich nicht stören zu lassen, ja sie bat ihn sogar in der mechanischen Weise, wie man oft Höflichkeitsformeln zu sagen pflegt, weiter zu spielen, es sei ihr ein Vergnügen, ihm zuzuhören.

Und sie hörte, in die Ecke des Sophas gedrückt und die Augen auf die im Zwielichte noch matt erhellten Fenster gerichtet, in der That dem Spielenden zu, nur nicht mit jener bewundernden Aufmerksamkeit, welche derselbe bei ihr voraussetzte, ja sogar ganz ohne jenes auch nur dem technischen Geschicke oder der Melodienfolge zugewendete Verständniß, welches mindestens die Ueberlieferung von eigener Zuthat, das Bekannte von der Improvisation unterscheidet. Die Töne umflutheten sie nur wie ein Aethermeer, durch das sie dahinschiffte und das sie bald auf sanften Wellen schaukelte, bald auf anschwellenden Wogen emportrug und jeden Nerv in ihr zu fühlbarem Mitschwingen brachte.

Eine Stimme in ihr sagte ihr, wie wohl es dem Herzen thun müsse, eine Seele ganz sein eigen nennen zu dürfen. Hatte sie denn nicht dieses Bedürfniß gerade in den letzten Tagen zitternd empfunden, wo sie in steter Angst und Selbstbewachung ihr Geheimniß bergen mußte? Sich rückhaltlos aussprechen zu dürfen, ohne zurückgewiesen, ohne verrathen, ohne verspottet zu werden, und liebevollen Verständnisses sicher zu sein – das mußte doch eine Sicherheit verleihen, in der gut ruhen war, wie in der Wiege des Kindes, das ja auch stammelt, was die Natur ihm eingiebt. War sie denn selbst schon so alt, daß sie diese Sprache verlernt hatte und deren Laute nicht mehr zu finden vermochte?

Die Jahre waren dahingegangen; sie hatten ihr Herz ruhig und regelrecht schlagen gelehrt und ihren Gedanken, sobald sie auf die Zunge traten, ein strenges und abgemessenes Gewand zugeschnitten, aber ein Verjüngungsquell war plötzlich über sie heiß hinweggesprudelt, und jetzt dehnte es sich da in der Brust und die einschnürenden Fesseln gaben nach – sie vermochten das aufblühende Leben des Herzens nicht mehr zurückzudämmen. Das eingekerkerte Gefühl verlangte nach seinem Recht; das Herz rief nach Freiheit und rebellirte gegen den Verstand, der es beschwichtigt, überredet, ja kalt weggeleugnet hatte. Hier bin ich, und ich rege mich! Lange genug war ich beiseite geschoben, wie ein unnützes, lästiges Ding, aber ich bin nicht eingeschrumpft, nicht ausgetrocknet. Von mir geht das Blut aus und zu mir kehrt es zurück, und ich mache es zum Boten meiner Wünsche und durchglühe es mit meiner Flamme und jage den siedenden Schwall durch alle Adern. Wir wollen doch sehen, ob ich zu unterdrücken bin. Warum nur Anderen die Freiheit? Warum nur Anderen das Glück? Auch ich – hört mich! – auch ich will meinen Theil daran haben! Auch ich!

„Hilda!“

Wer sprach den Namen? Wer rief sie? Wo war sie doch?

„Hilda!“ wiederholte Edwin’s Stimme, und jetzt erst erkannte sie dieselbe. Wie ein Schatten war der Sprechende an ihre Seite geglitten.

„Sie sind ganz stumm. Hat Sie mein Spiel so sehr ergriffen, daß Sie nicht das kleinste Wörtchen des Beifalls für mich haben? Und ich glaubte, ich hätte mein Bestes gegeben. Der bescheidenste Lobspruch hätte mich beglückt.“

„Ich war wie unter einem Bann,“ sagte sie langsam, über ihre heiße Stirn streichend.

„Den dürfen Sie auch nicht brechen,“ fiel er lebhaft ein. „Sie dürfen sich diesem Eindruck nicht entziehen. Er ist mir weit mehr als die künstlerische Anerkennung; das Verständniß jener wortlosen Sprache der Seele zur Seele allein kann ihn hervorrufen.“

Die Musik und der süße Zauber der Dämmerung hatten auch ihn in eine Stimmung versetzt, welche die Wünsche seiner Mutter in seine eigenen zu verwandeln geeignet war. Und ihr Schweigen ließ nur die schmeichelhafteste Deutung zu. Fürwahr, Frau Rohrwek hatte Recht: es galt nur noch ein kurzes kriegerisches Spiel – und der Sieg war sein. Dieses vorausgenommene Triumphgefühl gab seiner Phantasie einen kühnen Schwung.

„Ja, Fräulein Hilda,“ sagte er, „dieses Verstummen ist mir ein Beweis, daß meine Hand die richtigen Accorde gegriffen, um dem Unaussprechbaren, das mich erfüllte, Töne zu verleihen; alles, was in mir lebte und nach Ausdruck rang, das schwebte auf dem strahlenden Lichtbogen, den die Musik zwischen uns ausspannte, zu Ihnen hinüber. Ein solches Eingehen auf die Empfindungen eines Anderen ist ein geistiges Einssein, die unverbrüchliche Bürgschaft innerlicher Zusammengehörigkeit. Ja, Hilda, dieser magische Rapport besteht zwischen uns; er wirkt sogar in die Ferne; er läßt mich Ihr Nahen ahnen, wie er die Botschaft meiner Wünsche zu Ihnen trägt; wir können uns nicht dagegen sträuben – er führt uns zusammen. Ist es nicht so? Sind Sie nicht einem unbewußten Drange gefolgt, als Sie hier eintraten? Lassen Sie mich daran glauben, daß der Bann, der Sie nach Ihrem eigenen Geständnisse umfing, schon vorher wirksam war und daß er Sie hierher zu kommen zwang, als ich Sie mit gewaltigen Tönen voll Sehnsucht herbeirief!“

Er hatte sich in ein Feuer hineingesprochen, das über die Leerheit seiner Worte hinwegtäuschte. Und als er nun von der mit so großem Pathos betonten „innerlichen Zusammengehörigkeit“ auch auf deren äußerliche und für das ganze Leben gültige Form zu sprechen kam und gleichsam symbolisch, wie um seiner Rede mehr Nachdruck zu geben, Hilda’s Hand erfaßte – da entzog sie ihm dieselbe nicht. Es war ein Gedränge von beängstigenden Empfindungen, unter deren Gewalt sie stand: zu dem einzigen Freunde, zu dem Gefährten ihrer Jugend, flogen ihre Gedanken – zu Meinhard. Bitterkeit erfüllte sie, wenn sie der letzten Begegnung mit ihm gedachte – Stolz und gekränktes Selbstbewußtsein bäumte sich in ihr auf; war er ihr nicht herrisch entgegengetreten? Hatte er sie nicht in ihrem tiefsten Empfinden verletzt? O, wie sie ihn haßte! Und dann trat das Bild des sterbenskranken Bruders da dranßen im Jägerhause vor ihre Seele; sie mußte ihm helfen, und sie konnte es nicht; denn sie war – allein.

Und jetzt bot sich ihr die Hand eines Mannes, der es gut mit ihr meinte – warum sollte sie dieselbe nicht ergreifen in der Stunde der Gefahr? Daß es auf die Voraussetzung ihrer Liebe hin geschah, bedachte sie nicht. Noch war es ihr fremd, dieses Gefühl, aber Edwin’s fröhliche Erscheinung hatte unstreitig etwas Anziehendes; sie meinte es jetzt schon wahrzunehmen, wie sich ihr sympathisches Wohlgefallen an ihm stärkte, und wenn sich erst sein unsteter Charakter gefestigt, dann lernte sie ihn vielleicht auch als ihren energischen Beschützer achten.

„Ich würde Sie auf den Händen durch’s Leben tragen,“ betheuerte er, „und an einem Seidenfädchen sollten Sie mich lenken. Ich glaube, daß ich ein wenig eitel bin, aber wie sollte ich es auch nicht sein, wenn ich selbst einen so hohen Preis zu gewinnen vermag – Sie! Sonst aber ist mit mir leicht zu leben; ich bin ein guter Camerad, und wir werden uns die Existenz so [139] behaglich wie möglich einrichten. Hilda, wollen Sie mir die Sorge dafür anvertrauen?“

Wie einschmeichelnd das klang! Nichts von jener häßlichen Herrschsucht, die das Weib wie ein unmündiges Kind behandelt, dessen ohnmächtigen Zorn man verlachen darf! Nichts von jener überlegenen Gewaltsamkeit, die sie erst soeben in Meinhard’s herrischer Freundschaft kennen gelernt hatte! Mit einem treuen Cameraden Hand in Hand dahinwandeln, mit ihm alles theilen, Freud und Leid – ja, einen solchen Cameraden hatte sie längst ersehnt – –

Als sich aber sein Arm nun um sie legte, rückte sie vor diesem Zeichen der Vertraulichkeit doch unwillkürlich ein wenig zur Seite; ihr Widerstreben war mehr instinctiv als bewußt; sie hatte sich nehmen lassen wie im Sturm, fast als wäre sie eigentlich dabei gar nicht betheiligt.

Ein Gedanke war es nur, der sie ganz erfüllte: daß ihre Hand von jetzt ab eine Waffe führte und aufhörte, schwach und machtlos zu sein, daß ein Mann an ihrer Seite war, der Meinhard demüthigen, ihn zwingen werde – – und in dieser Zuversicht schwelgte ihr Haß. Die Hoffnung, mit Edwin’s Beistand nunmehr Wilhelm’s Angelegenheit rascher und sicherer zu Ende führen zu können, stand erst in zweiter Linie.

So nahm sie denn kühl und gleichgültig Edwin’s Liebesergüsse hin und als er eben, kühner werdend, ihre Hand mit Küssen bedeckte, da that sich die Thür auf, und hinter dem voranleuchtenden Mädchen erschien Frau Rohrwek. Sie war nicht wenig überrascht, als ihr Sohn ihr seine – „Braut“ vorstellte.

Braut! – Seine Braut! Wie das so wunderlich klang und wie das so schnell gekommen war! Die glückliche Mutter, die nun alle ihre Wünsche in Erfüllung gehen sah, überhäufte Hilda mit Zärtlichkeiten.

Das Paar mußte ihr auch sogleich in’s Eßzimmer folgen; denn Albertine sollte sofort die frohe Botschaft hören. Hier gab es eine kleine Scene: Mimi warf sich, als das Geschehene verkündet worden, mit einem leisen Schrei an die Brust ihrer neuen Mutter.

„Was ist Dir, mein liebes Kind ?“ fragte diese.

„Ich – ich,“ sagte die Kleine sich gewaltsam fassend, aber noch unter Thränen schluchzend. „Ich freue mich – ich freue mich so – haha! Ich bin – ein so dummes Ding – daß ich vor Freude weinen muß.“

„O, das ist so natürlich. Auch ich bin solchen nervösen Anfällen ausgesetzt,“ erklärte Frau Rohrwek, aber sie kam nicht dazu, sich über das Thema zu verbreiten.

„So, Du heirathest also, Hilda?“ fragte Franz, der in der Fensternische stand, ziemlich trocken.

„Nun ja, Ihr habt es ja Alle gewollt,“ entgegnete sie mit blitzenden Augen; sie konnte sich den kleinen Triumph nicht versagen. „Hast Du mir nicht am eifrigsten zugesprochen?“

„Hm, ja. So aber habe ich es allerdings nicht gemeint.“

Diese Meinungsäußerung des Gutsherrn verklang ungehört in dem fröhlichen Durcheinander der Stimmen.

Frau Rohrwek richtete schon den ganzen Zukunfthaushalt ein; Edwin improvisirte Gedichte à la Heine; Hilda selbst war in fieberhafter Erregung; ihr Sein, ihr Denken, ihr Empfinden – alles war wie aus den Angeln gehoben, und der Wein, mit dem man bald auf das Wohl des Brautpaares anstieß, färbte ihre Wangen hoch. All den Lärm aber überjubelte Mimi’s helle Stimme; nach einem wiederholten Weinanfall hatte die Kleine resolut ihre Thränen weggewischt, und nun wirbelte sie, wie ein toller Kreisel, um die lebhafte Tischgesellschaft, unablässig plaudernd und lachend. Es war ein bewegter Verlobungsabend.




9.

Trüb und nebelig stieg der nächste Morgen empor.

Die größte Veränderung war während der Nacht mit dem geschwätzigen, nervös überreizten Kinde vorgegangen. Mimi war fast nicht wieder zu erkennen in der grauen, zusammengekauerten Gestalt, die den moosbewachsenen Felsblock am Rande des Jungwaldes erklettert hatte; mit hinaufgezogenen Knieen saß sie dort oben, die Ellbogen gestützt und das Gesicht so ganz in die Hände vergraben, daß kaum ein Fleckchen der Stirn dem einsamen Strahle der schon hochstehenden Sonne ausgesetzt blieb.

Die unförmliche, in sich geduckte Figur sah fast selbst wie ein Stück Stein aus, und erst als ein Wagen von der Stadt dahergerasselt kam, hob sie für einen Moment den Kopf, um ihn sogleich wieder sinken zu lassen.

Meinhard mußte das sich ihm bietende Bild genau fixiren, ehe er seinen Augen traute; dann ließ er den Wagen halten, stieg aus und ging, den Straßengraben überschreitend, auf den Felsblock zu.

„Ja, sind Sie es denn wirklich? Wie kommen Sie hierher? Sie sitzen ja wie ein Häuflein Unglück da oben, Mimi. Oder soll ich ebenfalls Emmy rufen?“

„Ich wollte, ich hätte gar keinen Namen, und kein Mensch riefe mich, und ich lebte nicht mehr,“ sagte sie in tiefer Niedergeschlagenheit.

„Ei, das ist ja ein gewaltiger Weltschmerz,“ versuchte Meinhard den gewohnten Humor, der jedoch auch nicht recht frei klang, hervorzukehren. „Was thun Sie denn eigentlich hier auf dem erhabenen Throne? Spielen Sie Norne?“

Jetzt erst sanken die kleinen Hände und enthüllten ein trauriges, grollendes Gesichtchen.

„Ich zeichne. Sie sehen es ja.“

„Das ist mir wirklich entgangen. Der Nebel wird wohl daran schuld sein. Haben Sie sich ihn zu Ihren Studien gewählt?“

„Nein, ich will nicht zeichnen,“ sagte sie und stieß das kleine Skizzenbuch von ihrem Schooße, daß es sammt dem Stifte über den Stein hinabfiel. „Ich habe es von ihr gelernt, und ich will gar nichts, was von ihr kommt, gar nichts! Ich werde auch nie mehr zeichnen oder Clavier spielen. Ich will’s vergessen, vergessen will ich’s, wie wenn ich nie etwas davon gewußt hätte.“

„Das sind aber wirklich heroische Entschlüsse; gegen wen richtet sich denn eigentlich Ihr Groll?“

„Ach, Sie verspotten mich nur,“ entgegnete sie, nahm die Fäuste von den Schläfen, an die sie dieselben gedrückt hatte, und wandte sich mit einem unmuthigen Rucke von Meinhard ab.

„Ich Sie verspotten? Das würde ich nie wagen.“

„Ja, Sie verspotten mich, wie alle Anderen mich verspotten würden, wenn sie wüßten, wie es in mir aussieht. Aber diese Freude werde ich ihnen nicht bereiten – nein, kein Mensch soll mich anders sehen als lachend. Es soll sich kein Mensch über mich lustig machen.“

„Das fällt ja aber gewiß auch Niemandem ein,“ versicherte er mit freundlichem theilnahmsvollem Ernst. „Was für ein Kummer drückt denn das kleine Herz? Aber zuerst kommen Sie da von Ihrem Wolkensitz auf die Welt herunter, Mimi!“

„Die Welt ist falsch, und ich würde am liebsten gar nichts mehr mit ihr zu thun haben. Ich wollte, der Nebel hüllte mich ein und trüge mich fort, hinauf, immer weiter, immer weiter – so weit, daß man von der Erde gar nichts mehr sieht.“

„Das ist aber heutzutage nicht mehr recht üblich, kleine Fee. Also entschließen Sie sich noch ein Weilchen unter uns zu wandeln – gilt’s? Also hopp!“

Trotz ihrer tiefen Seelenverstimmung zauderte Mimi doch nicht mehr, der Einladung zu folgen. Sie setzte ihren Fuß auf eine tiefere Kante, erfaßte die ihr entgegengestreckten Hände Meinhard’s und that frischweg den kühnen Sprung zur Erde.

„Ich habe jetzt wohl ausgesehen, wie eine Fledermaus, in dem flatternden grauen Mantel?“ fragte sie lächelnd, wurde jedoch gleich wieder ernst. „Onkel Meinhard, Sie dürfen aber Niemandem ein Wort davon sagen, wo Sie mich gefunden haben.“

„Keine Silbe. Aber haben Sie denn da so Geheimnißvolles getrieben?“

„O, nicht doch, nein, gar nicht. Nur braucht es Niemand zu wissen. Ich habe blos auf den Wagen gewartet und wollte ihn zurückkehren sehen.“

„Auf den Wagen?“

Mimi kehrte sich ab, um ihre Verlegenheit zu verbergen, und suchte mit besonderem, ihrer früheren Erklärung direct widersprechendem Eifer nach der Zeichenmappe, während sie antwortete: „Papa und Mama sind zu Saldorff’s gefahren; der Graf hat zwei Reitpferde zu verkaufen, die sehr gut unter dem Damensattel gehen. Seit Comtesse Lori gestorben, will er nichts mehr sehen, was ihn an sie erinnert. Papa glaubt, daß die Pferde billig zu bekommen wären.“

„Und darauf freuen Sie sich und wollen die Nachricht ganz brühwarm haben?“ Ihr geringschätziges Achselzucken entging ihm [140] nicht, und seine irrige Unterstellung berichtigend fuhr er fort: „Doch da hätten Sie ja noch stundenlang auf Ihrem Wachtposten sitzen müssen; es ist ein weiter Weg bis Artmannsberg. Das kommt mir übrigens sehr ungelegen. Ich rechnete darauf, den Papa zu treffen.“

„Sie treffen gar Niemand zu Hause. Es ist alles fort. Edwin ist mit seiner Mutter zur Stadt gefahren. Wenn Sie Jemand sprechen wollen, werden Sie die Heimkehr abwarten müssen.“

„Das kann ich nicht.“ Seine Miene zeigte deutlich, wie unangenehm ihm diese Störung war. Er blickte gedankenvoll vor sich hin in das feuchte Gras, dann hatte er aber doch einen Entschluß gefaßt. „Ist auch Tante Hilda mitgefahren?“ fragte er.

„Nein – die – die ist zu Hause.“

Er bemerkte nicht das eigenthümliche Widerstreben, mit dem die Kleine antwortete, und den Ausdruck von Feindseligkeit in ihrem Gesichtchen. Sein Auge schien mehr nach innen gekehrt.

„Nun, dann muß ich mich wohl an sie wenden – die Zeit drängt.“

Und da nun die Entscheidung getroffen war, gab er dem Lohnkutscher Anweisung, zum Schlosse vorauszufahren.

„Sie begleiten mich doch?“ wendete er sich wieder gegen Mimi. „Oder ziehen Sie es vor, Ihren Nornenstein wieder zu besteigen und nach dem zurückkehrenden Wagen auszulugen, der, nach solcher Ungeduld zu schließen, Ihnen ja überaus Wichtiges mitbringen muß? Im Anfang dacht’ ich an ein Reitpferd, aber mir will scheinen, das Interesse –“

„Necken Sie mich nicht – heute nicht! Ich kann es nicht ertragen, auch von Ihnen nicht, Onkel Meinhard. Sie machen mich zornig. Alles macht mich zornig,“ fiel sie ihm heftig in’s Wort. „Ich will auch gar nichts. Mir bringt man nichts mit, mir nicht – einer Andern. Bah, nicht mit der Spitze des Fingers möchte ich es berühren, und wenn es das kostbarste Geschmeide wäre von eitel Gold und Edelsteinen und echten Perlen.“

„Was sprechen Sie denn eigentlich? Was soll denn mitgebracht werden?“

„Ein Ring, ein Armband – weiß ich es? Irgend ein Schmuckstück für die Braut. Nur so weit habe ich gehört, als Frau Rohrwek den Wagen anspannen ließ. Sie will dem Bräutigam helfen, beim Juwelier etwas auszuwählen. Er soll ein Medaillon nehmen und seine Photographie hineinstecken. Er kann die aus meinem Album haben; ich lasse sie doch nicht mehr darin.“

„Noch einmal –: wovon sprechen Sie eigentlich, Mimi? Wer ist Braut? Wem soll das Geschenk gehören, das Sie so erbittert?“

„Ihr, ihr! Wem sonst! – Sie wissen nichts davon? Sie ahnen es nicht einmal[WS 1]? Ich glaub’ es wohl. Sie waren ja blind, wie alle Anderen. Ich aber habe es kommen sehen, o, ganz gut! wie es immer weiter ging und weiter – und gestern haben sie sich verlobt – und Champagner ist dazu getrunken worden, und das Brautpaar hat man hochleben lassen. Ja, ich habe auch mitgerufen; ich war so lustig – so lustig. Die ganze Welt ist falsch; sie braucht nicht zu wissen, was ich mir bei meiner Lustigkeit denke. Auch er soll nicht glauben, daß ich mir etwas daraus mache. O, so falsch, so falsch! Vorgestern noch zeichnete er mir zwei verschlungene E – wie hübsch sich unser Monogramm mache! – und jetzt ist er vielleicht gerade beim Goldarbeiter und bestellt ein Medaillon in Herzform mit einem E und H darauf. Ist das nicht falsch?“

„E und H?“

„Nun ja: Edwin und Hilda.“

„Es ist nicht möglich!“

„Nicht wahr? O, als ich heute aufwachte, da meinte auch ich, es sei nur ein Traum gewesen, aber unten stehen noch die leergetrunkenen Champagnerflaschen im Flur.“

„Es ist nicht möglich!“ wiederholte Meinhard tief bestürzt. „Sie treiben Scherz mit mir.“

„Scherz? Als ob mir zum Scherzen wäre! Wissen Sie, was ich dachte, als ich da droben saß? Unter die Räder des Wagens möchte ich mich werfen, wenn er zurückkommt – – dann wäre alles aus.“

Und mit wildem Aufschluchzen warf sie sich an Meinhard’s Brust. Sie faßte sich diesmal nicht so rasch, wie am Abend vorher; es that ihr offenbar wohl, sich auszuweinen, und Meinhard, der bleich geworden war, wie ein Marmorbild, sprach ihr auch gar keinen Trost zu; er ließ ihre Thränen fließen und streichelte nur sanft das Haar an ihrer Schläfe. Der Einblick in das kleine Herz und das Mitleid mit dessen Weh halfen ihm allmählich Herr werden über den eigenen Schmerz.

„Ist es nicht abscheulich?“ fragte Mimi noch leise schluchzend. „Sie dürfen mich aber nicht verrathen, Onkel Meinhard, daß ich geweint habe. Ihr Wort darauf! Er soll nicht etwa glauben, daß ich mich unglücklich fühle. Mir liegt gar nichts an ihm – gar nichts.“

Sie trocknete ihre Augen; dann nahm sie seinen Arm und schritt nun langsam an seiner Seite dem Schlosse zu.

„Und was sagt Ihr Papa zu alledem?“ fragte Meinhard.

„O, ich kenne Papa nicht mehr – er läßt Alles geschehen. Mir hätte er es gewiß verboten, wenn ich ihm mit einer solchen Ueberraschung gekommen wäre. Ich begreife nicht, daß er nicht rund heraus gesagt hat: ‚Es darf nichts daraus werden. Ich erlaube es nicht.‘ – Das hätte ich gethan.“

Trotz der tiefen Bewegung, die er empfand, entlockte Mimi’s energische Erklärung ihm doch ein flüchtiges Lächeln.

„Sie vergessen,“ sagte er beinahe bitter, „daß Fräulein Hilda selbstständig und Herrin ihrer Handlungen ist.“

„Auch wenn sie eine Thorheit begeht?“

„Wer soll sie hindern?“

„Sie, ja Sie, Onkel Meinhard. Sie müssen ihr in’s Gewissen reden. Sie haben immer den meisten Einfluß auf sie gehabt, und Sie können Papa nöthigen, daß er seine Meinung unzweideutig äußert. Von einer Billigung ist bei ihm ohnedem nicht die Rede; ich habe es ganz gut heraus gehört. Er gab Edwin auf’s deutlichste zu verstehen, daß ein Mann, der eine Frau heimführen wolle, erst ein Heim oder wenigstens eine Stellung haben müsse im Leben. Er hat ihm sogar seine Talente zum Vorwurf gemacht, und das war ungerecht; denn es ist so schön, zuzuhören, wenn Edwin ein Gedicht declamirt oder seine Compositionen vorträgt, und nun gar seine Bilder, ach, seine Bilder – nein, nein, seinen Wankelmuth, seine Schwäche gegen die Verlockungen, nicht seine Talente hätte Papa ihm vorhalten sollen. Ich weiß schon, wer die ganze Sache eingefädelt hat. Frau Rohrwek mit der Tante zusammen – die haben es zurecht gemacht, und statt daß Papa Edwin vorwirft, er sei zu jung zum Heirathen – was gar nicht wahr ist – hätte er lieber derjenigen, die ihn in ihren Netzen gefangen hat, sagen sollen, daß sie zu alt dazu.ist.“

„Aber Mimi!“

„Ist es denn nicht so? Sie war ja schon ganz erwachsen, als ich auf die Welt kam. Wenn ich einmal so alt bin wie die, dann mag ich gar nicht mehr leben, Onkel Meinhard.“

(Fortsetzung folgt.)




Die Lambertikirche in Münster und die Wiedertäufer.

Auch Kirchthürme haben ihre Schicksale. Binnen heute und wenigen Wochen wird einer der historisch interessantesten Thürme Deutschlands zwar nicht dem Erdboden, wohl aber dem Kirchendache gleichgemacht werden – der Lambertithurm zu Münster, von dessen Höhe noch bis vor wenigen Wochen die drei Käfige der Wiedertäufer als schreckliche Wahrzeichen in’s Land hinausschauten. Es war aber auch wirklich die höchste Zeit zum Abbruch des Thurms; denn seine Baufälligkeit ließ allmählich nichts mehr zu wünschen übrig.

Für diejenigen, welche den alten Thurm noch in seiner ganzen Größe gesehen haben, bemerken wir, daß er durchaus nicht, gleich seinem berühmteren Collegen von Pisa, von vornherein und mit Absicht eine schiefe Richtung erhalten hatte. Es war vielmehr lediglich Altersschwäche, was ihn beugte, und zwar schon seit Langem; denn schon im sechszehnten Jahrhundert wurde eine Untersuchung angeordnet, ob der „Lamberz-Torn oik noet hatte, umb kurtz to fallen“, und da man fand, daß er sich vom Kirchenschiff getrennt hatte, so wurde er mit eisernen Klammern an letzterem befestigt,

[141]

Rathhaus und Lambertikirche zu Münster in Westfalen.
Nach der Natur gezeichnet von Fritz Stoltenberg.

[142] auch im Innern durch kolossale Balkenmassen gestützt. Das Läuten mit den im Thurme befindlichen Glocken wurde mit der Zeit ganz eingestellt, um nicht durch die hierdurch verursachten Schwingungen die Gefahr zu vergrößern.

Nachdem sich jedoch während der letzten Jahre die Unvermeidlichkeit des vollständigen Abbruchs immer deutlicher herausgestellt hatte, wurde endlich vor einigen Wochen mit der Ausführung begonnen und zunächst die Spitze nebst der wälschen Haube, sowie das oberste Stockwerk des Steinbaues niedergelegt. Augenblicklich ist man damit beschäftigt, das Gerüst zur Abtragung des unteren Stockes anzubringen, und wenn diese Zeilen in die Hände der Leser kommen, ist der Abbruch desselben vielleicht schon vollendet. Alsdann soll der Rumpf ein Nothdach erhalten und die Arbeit einstweilen sistirt werden, bis das Ministerium in Berlin über den Plan des Neubaues entschieden haben wird und die hierzu nöthigen Geldmittel zusammengebracht sein werden. Die Wiedertäuferkäfige wurden vor der Hand auf einem Hofe in der Nachbarschaft untergebracht.

Der Abbruch des Lambertithurms dürfte den geeigneten Moment bezeichnen zu einem kurzen Rückblick auf jene blutige Tragikomödie, die im sechszehnten Jahrhundert von der Secte der Wiedertäufer in dem alten Münster in Scene gesetzt wurde und welche unter der Ueberschrift „Die phantastische Episode des neuen Reiches von Zion" in den Jahrbüchern der Geschichte eingetragen steht.

Mit dieser Episode aber verhielt es sich also:

Im Jahre 1532 hatte die neue lutherische Lehre nach heftigen Kämpfen auch in Münster Eingang gefunden, aber schon bald nachher machten sich gewisse religiöse und demokratische Bewegungen im Schooße der Bürgerschaft bemerkbar. Im Januar von 1533 trafen zwei Apostel der Wiedertäuferlehre, welche bekanntlich die Kindertaufe verwarf, aus Holland ein; einer derselben war Johann Bockhold, seines Zeichens ein Schneider aus Leyden, zugleich ein Mann, dessen Phantasie von den Schriften und Lehren Thomas Münzer’s beherrscht wurde. Dieser setzte sich sofort mit dem lutherischen Prediger Rothmann in Verbindung, und schon nach wenigen Tagen zählte man in der Stadt mehr als 1400 Getaufte. Immer mehr griff die Bewegung um sich, gefördert durch die rücksichtslose Durchführung der Gütergemeinschaft und der Vielweiberei, welche zuerst Widerstreben, bald aber allgemeinen Anklang fand. Binnen Kurzem bemächtigten sich die Wiedertäufer mit Gewalt auch sämmtlicher Kirchen, in denen sie nach ihrem Willen den Gottesdienst einrichteten, bis derselbe später aus den „Häusern Baals" auf offenen Marktplatz, unter freien Himmel, verlegt ward. Die Stadt war vollständig in der Hand der Aufständischen; Papisten wie Lutheraner wurden vertrieben, Kirchen, Klöster, Bilder, Bücher und Kunstwerke mit vandalischer Wuth zerstört und Alle, die sich nicht zum neuen Glauben bekennen mochten, mit Feuer und Schwert ausgerottet.

Während der geflüchtete Fürstbischof zur Bekämpfung des Unwesens gewaltige Rüstungen machte, wurde der Stadtrath in Münster aufgelöst und an seiner Stelle ein Collegium von zwölf Aeltesten mit der höchsten Gewalt bekleidet. Kurze Zeit nachher aber verkündete Johann Dusentschur aus Wannendorf, es sei der Wille Gottes, daß obengenannter Johann Bockhold von Leyden als König über den ganzen Erdkreis gesetzt werde, worauf er ihm das Schwert überreichte, ihn salbte und zum König des neuen Reiches Zion ausrief. Von nun an trug König Johann eine goldene Krone, ein goldenes Scepter und Kleider von Purpur; ein gewisser Knipperdolling, ein wüthender Gegner der Bischöfe und der Pfaffen, wurde Statthalter und ein früherer Pastor Krechting Geheimer Rath. Wöchentlich dreimal saß der König auf dem Domhofe zu Gericht. Er legte sich einen Harem an und führte ein schwelgerisches Leben, während seine Freunde diesem Beispiele folgten und sich in den Wohnungen der geflüchteten Domherren und des Adels häuslich einrichteten.

Mittlerweile jedoch hatten die Bischöflichen, von einigen Reichsfürsten unterstützt, die Stadt eng eingeschlossen. Der von den Aufständischen sehnlichst erwartete Zuzug der deutschen Wiedertäufer blieb aus, aber noch am 22. Juni 1535 beantwortete Johann von Leyden die Aufforderung zur Uebergabe mit der Bemerkung, er könne derselben nicht eher Folge leisten, als bis es ihm durch besondere göttliche Offenbarung befohlen werde. Indessen gelang es schon zwei Tage später dem Belagerungsheere, durch den Verrath einiger Ueberläufer zur Nachtzeit in die Stadt einzudringen. Die Wiedertäufer fochten mit dem Muthe der Verzweiflung, mußten aber erliegen. Was nicht entkam, wurde niedergehauen. Johann selbst hatte sich auf dem Aegidithore verborgen, wurde aber dort entdeckt und mit seinen beiden Gefährten Knipperdolling und Krechting nach dem barbarischen Geschmacke der Zeit mit glühenden Zangen gefoltert und schließlich langsam zu Tode gemartert.

So geschah’s auf dem Marktplatze zu Münster am 22. Januar des Jahres 1536. Das Drama der Wiedertäufer zu Münster war aber dennoch nicht so ganz das blöde Satyrspiel, als welches eine orthodoxe Geschichtschreibung es hinterdrein darzustellen gesucht hat. Die Opposition gegen die Kindertaufe ist uralt. Längst vor der Reformation wurden ihre Widersacher als Ketzer bezeichnet, und durch das ganze Mittelalter dauerte das Widerstreben, welches auch heute noch nicht erloschen ist. Zuerst riefen die sogenannten Zwickauer Propheten Unruhen in Zwickau und Wittenberg hervor, offenbar durch Luther’s Auftreten hierzu angeregt. Es waren das Thomas Münzer, Cellarius, Stübner, Storch, Thomä und Andere, zumeist sehr geistesbewegliche Leute; sie traten für göttliche Offenbarungen, für ein inneres Licht neben dem Wort der Bibel ein, drohten den Fürsten, daß ihnen das Schwert abgenommen werde auf Erden, unterstützten den Bauernkrieg und kämpften ihn, wie besonders Münzer, selbst mit, verwarfen vor allem die Kindertaufe, setzten die geistige Taufe in höherem Alter an deren Stelle, neigten nebenbei auf materiellem Gebiete zur Gütergemeinschaft und forderten die Gleichheit aller Christen.

Diese Wiedertäufer oder Anabaptisten verbreiteten sich rasch weiter und weiter und vermischten oft mit dem kirchlich-religiösen Streben fremdartige Zwecke und Agitationen, die sie bald in fanatisch-unreiner, bald aber auch in edler Begeisterung zur Ausführung brachten. Vor Allem waren sie revolutionär gesinnt, wodurch sie natürlich die Fürsten gegen sich aufreizten; selbst Luther gab dem Landgrafen Philipp von Hessen den Rath, sie mit Gewalt zu vernichten, und auch Kaiser Karl der Fünfte erließ die schärfsten Verordnungen gegen sie auf den Reichstagen zu Speier 1529 und 1530; zu Hunderten wurden sie mit Feuer und Schwert hingerichtet, zu Tausenden schon nach der Schlacht von Frankenhausen niedergestoßen.

Aehnliches geschah in der freien Schweiz, in England und in den Niederlanden. Ein wahres Morden begann gegen die Secte, wo immer sie gefunden wurde, und jeder, der etwas freier dachte, als die Mehrzahl seiner Zeitgenossen, lief Gefahr, als Wiedertäufer denuncirt zu werden.

Der Protestantismus verwarf alle falsche, ungöttliche Autorität in Glaubenssachen, die Wiedertäufer dagegen lehnten sich auf wider jedwede Autorität überhaupt. Aber als Münster, die Hochburg des Wiedertäuferthums, gefallen war, da siegte in ganz Westfalen wieder der Katholicismus, und er verfolgte die Secte überall auf das Grausamste. Nicht in Abrede läßt sich stellen, daß die Wiedertäufer an der ihnen widerfahrenen übermäßigen Härte selbst mitschuldig waren, indem sie aus Trotz und ohne Noth gegen alle damaligen weltlichen und geistlichen Satzungen und Sitten freventlich verstießen. Andererseits aber mußten, wie das ja so oft zu geschehen pflegt, auch die Vernünftigeren unter ihnen mitbüßen für die Tollheiten der allzu Radicalen; die ganze Glaubensgenossenschaft hatte zu leiden unter dem Haß und der Furcht, welche die Aufrührer in Münster erregt hatten, und selbst die Protestanten waren genöthigt, sich von den Wiedertäufern, weil diese den Protestantismus überall in Mißcredit brachten, zuletzt förmlich loszusagen. Gleichwohl haben auch die schwersten Niederlagen die Wiedertäuferei, in deren Lehren, trotz aller Auswüchse, offenbar ein gewisser idealistischer Zug sich verkörpert, nicht gänzlich auszurotten vermocht.

Schon der oben erwähnte Rothmann und Andere forderten eine gründliche Reform des Lebens, Vermeidung der Unmäßigkeit in Genüssen, auch des öffentlichen Kirchengehens, damit die Bekenner des neuen Glaubens nicht durch eitle Lehren und verkehrten Gebrauch der Sacramente befleckt würden und den Zorn Gottes auf sich lüden; dann erst seien sie würdig, mit dem äußeren Merkmal des Bundes, der neuen Taufe, bezeichnet zu werden. In diesem Sinne aber entwickelte sich noch im sechszehnten Jahrhundert aus den Wiedertäufern, durch Menno Simons, die Secte der Mennoniten oder der Taufgesinnten, und mit ihnen begann eine neue, geläuterte Periode der Wiedertäuferei, deren Lehre noch gegenwärtig in den verschiedensten Gegenden Europas Tausende, in [143] Nordamerika aber Millionen von Anhängern zählt. Sie selbst nennen sich bekanntlich Baptisten und stehen in der Regel durch Fleiß, Sparsamkeit, Wahrheitsliebe, Ehrenhaftigkeit und Toleranz gegen Andersdenkende in hoher Achtung. – –

Kehren wir zum Schluß unseres Artikels nochmals zur Lambertikirche zurück! Sie liegt am Marktplatze der bischöflichen Residenz, nahe an dem stolzen gothischen Rathhause in dessen „Friedenssaale“ am 24. October 1648 der „Westphälische Frieden“ zwischen dem deutschen Reich und den fremden Mächten ratificirt wurde. Wie dieses ist auch die Kirche ein herrlicher gothischer Bau aus der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts. Das Aeußere der Kirche ist reich an Verzierungen, von denen jedoch leider ein Theil in den Stürmen des Wiedertäuferaufstandes zu Grunde ging. Insbesondere rühmt man an ihr das Maßwerk der tief herabgehenden Fenster des Langhauses, die vorspringende Fenstereinfassung sowie das Dachgesims von zierlichem Laubwerke, aber nicht minder interessant ist die architektonische Ausstattung des Innern wegen der Mannigfaltigkeit und Schönheit der einzelnen Theile, insbesondere der Pfeiler, die an den Capitälen ebenfalls anmuthiges Laubwerk zeigen, sowie durch die Anordnung des Schiffes und des Chores. Arm dagegen ist die Kirche an werthvollen Gemälden und Sculpturen, was wiederum in der Zerstörungswuth der Wiedertäufer, die gegen allen Bilderdienst eiferten, seinen Grund hat; nur das Hauptportal ist mit achtzehn Statuen unter Baldachinen geschmückt. Bis zur jüngsten Zeit herunter knüpfte sich jedoch das Interesse Einheimischer und Fremder für diese Kirche weniger an ihre baulichen Schönheiten, als vielmehr an jene vielgenannten drei eisernen Käfige, welche als ein unheimliches Wahrzeichen der Stadt wie des ganzen Münsterlandes an der Südseite des halb romanischen, halb spätgothischen Hauptthurmes, und zwar unmittelbar unterhalb der Gallerie, angebracht waren. Jene Käfige enthielten einst die Leichen der drei Hauptanführer der Wiedertäufer, Johann’s von Leyden, Knipperdolling’s und Krechting’s, von deren martervoller Hinrichtung weiter oben die Rede war. Längst hatten die Stürme jede Spur von den Gebeinen jener unglücklichen Phantasten verweht, aber die eisernen Stäbe der düstern Behältnisse trotzten der Zerstörung, und wenn der Blick des Geschichtsfreundes auf dem mittelsten haftete, das ein wenig erhöht über die beiden anderen hinaufragte, wenn er sich erinnerte, daß in ihm die Leiche des weiland „Königs von Zion“ lange Zeit hindurch ein Spiel der Winde und eine Beute der Raubvögel gewesen, so ließ er schaudernd jene schreckensreiche Episode der Münsterschen Geschichte an seinem Geiste vorübergleiten.

Da die „Gartenlaube“ mit der gegenwärtigen Wochennummer ihren Lesern die Lambertikirche mit dem nun im Abbruche befindlichen Thurme bildlich vor Augen führt, so beschließen wir diese Zeilen wohl nicht unpassend mit dem Ausdruck des Wunsches, es möge die Vollendung eines stilvollen, der schönen Kirche würdigen Neubaues sich nicht allzulange verzögern. Und dann werden, wie man hört, am neuen Thurme auch die historischen drei Käfige wieder ihren Platz finden, um von dort wie seit nunmehr vierthalb Jahrhunderten, abermals weit hinauszuschauen in’s Münsterland.




Deutschlands große Industrie-Werkstätten.

Nr. 14. Das Schmirgeldampfwerk in Hainholz vor Hannover.

Die pergamenischen Altertümer waren erst vor kurzer Zeit nach Deutschland gekommen, als ich eine Reise von Berlin nach Wien unternahm. Ein Reisegefährte, der in mir einen Bewohner der deutschen Kaiserstadt erkannt hatte, brachte das Gespräch auf diese erhabenen Denkmäler einer bis dahin wenig gekannten Kunstepoche und wünschte von mir, der ich sie ja gesehen haben müsse, eine genaue Schilderung derselben zu hören.

Gesehen hatte ich die Sachen allerdings und mich von Herzen daran erfreut, aber die an mich gerichteten Fragen zu beantworten, war ich außer Stande und würde arg in’s Gedränge gekommen sein, hätte sich nicht ein anderer Herr, der erst unlängst zu uns eingestiegen war, in’s Gespräch gemischt und statt meiner die gewünschte Auskunft ertheilt.

Er vermochte dies in einer eigenartigen und lebendigen Weise zu thun; denn er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie ein Theil der Schätze dem Boden entrissen wurde, der sie neidisch und schützend den Blicken der nachwachsenden Geschlechter so lange entzogen. Der neue Reisegefährte stellte sich uns als einen Freund des Dr. Karl Humann (vergl. „Gartenlaube“ 1880, S. 599) vor, dessen Kunstkenntniß, Umsicht und Energie Deutschland den Besitz jener vielbeneideten Kunstschätze verdankt. Er erzählte von der gastlichen Aufnahme, die er bei wiederholtem Aufenthalte in Smyrna im Hause seines Freundes gefunden, und wußte über türkische und griechische Verhältnisse trefflich Bescheid zu geben; denn auch Griechenland hatte er mehrmals besucht und war gerade wieder auf einer Reise dahin begriffen. Unwillkürlich regte sich die Neugierde. Wer und was mochte der Fremde sein? Alterthumsforscher, Geologe, Künstler, Ingenieur? Jede dieser Vermuthungen hatte etwas Wahrscheinliches.

Unser Reisegefährte mußte uns diese Fragen von den Gesichtern abgelesen haben; denn er kam uns mit der Bemerkung zu Hülfe:

„Sie fragen sich gewiß, was einen einfachen Gewerbetreibenden, als den Sie mich sicher erkannt haben, so oft nach[WS 2] dem classischen Boden von Hellas führt? Ich will Ihnen das Räthsel lösen: Ich kaufe dort das Material zu meinen Fabrikaten, nämlich Schmirgel.“

„Eine hübsche Lösung der Frage.“ dachte ich, „nämlich die Lösung eines Räthsels durch das andere.“

„Schmirgel?“ fragte ich. „Was ist Schmirgel? Wozu wird der gebraucht?“ Mein älterer Reisegefährte, der mich schon durch seine Fragen über die pergamenischen Alterthümer in Verlegenheit gesetzt hatte, schaute mit tiefer Verachtung ob meiner Unwissenheit zu mir herüber. Wieder fand ich Hülfe bei dem Andern, der mein Selbstgefühl hob durch die Versicherung, die gleiche Frage werde unzählige Male an ihn gerichtet. In weiten Kreisen Gebildeter wisse man weder was Schmirgel sei, noch welche Bedeutung er für die Herstellung eines großen Theiles unserer Lebensbedürfnisse habe.

„Das Glas des Spiegels dort an der Wand,“ fuhr er erläuternd fort, „ist mit feinem Schmirgel geglättet; ohne Schmirgel war weder Ihre Brille, mein Herr, noch die Sammetbänder und Kragenschleifen unserer Damen, noch der Hut, welchen ich hier im Futterale mit mir führe, anzufertigen; die blinkenden Griffe an der Außenseite unseres Waggons sind ebenso wohl, wie alle wichtigen Metallgegenstände an demselben bei ihrer Anfertigung mit Schmirgel behandelt, um ihnen den Schliff zu geben, und diese Beispiele ließen sich in’s Unendliche vermehren.“

„Schmirgel ist also ein Mineral?“

„Eine Abart des Korund,“ antwortete statt des Gefragten mit wichtiger Miene der andere Herr.

„Und Sie müssen ihn aus so weiter Ferne herholen?“

„Die Fundorte des Schmirgel, Smergel oder Smirgel“ docirte unser gelehrter Reisegefährte weiter, „sind hauptsächlich Naxos und Klein-Asien, obgleich er auch in Nord-Amerika, auf den Canal-Inseln, in Portugal, aus Ceylon und sogar bei Eisenberg in Sachsen –“

„Bitte um die Billets,“ unterbrach der Schaffner, das Coupé aufreißend.

Wir waren dicht vor Wien. Ich warf dem Vielwisser einen bösen Blick zu und wandte mich eifrig an den Besitzer der Schmirgelfabrik, nur die erwachte Wißbegierde noch nach Möglichkeit zu befriedigen. So gut es in der Eile thunlich war, gab er Auskunft auf meine sich überstürzenden Fragen, that ihnen aber endlich lächelnd mit den Worten Einhalt:

„Sie scheinen die Gründlichkeit zu lieben. Was Sie zu erfahren wünschen, läßt sich im Fluge nicht mitteilen. Hier ist meine Karte; ich bin der Mitbesitzer des Dampfschmirgelwerkes von S. Oppenheim u. Comp.[WS 3] in Hainholz bei Hannover; sollte Ihr Weg Sie je in unsere Gegend führen, so besuchen Sie mich; Sie sollen alsdann durch den eigenen Augenschein die gesammte Fabrikation kennen lernen.“

Seine letzten Worte verhallten schon in dem Lärmen und Gewühl, das regelmäßig durch die Ankunft eines Zuges an einer größeren Station verursacht wird. Ein flüchtiges, aber herzliches Abschiednehmen – dann trieb uns die wogende Menge nach verschiedenen Richtungen aus einander.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Im Original: eiumal
  2. Vorlage: noch
  3. Das Werk ist heute Sitz der Vereinigten Schmirgel- und Maschinen-Fabriken

[144] Während der Fiaker mich nach meinem Hôtel fuhr, hielt ich die Karte in der Hand und dachte kopfschüttelnd, daß diese Begegnung, wie so manche, wohl auch flüchtig und spurlos vorübergehen und ich nie Gelegenheit finden werde, der Einladung Folge zu leisten. Indeß diesmal sollte das alte Sprüchwort: „Berge und Thäler kommen nicht zusammen, wohl aber Menschen“, Recht behalten; denn im vergangenen Sommer traf ich im Seebade Norderney meinen Reisegefährten wieder. Wir begrüßten uns wie alte Freunde; er wiederholte seine Einladung, und ich versprach, auf der Rückreise bei ihm Station zu machen. Das geschah auch.

Nach meiner Ankauft in Hannover brachte mich die Hainholz mit der Stadt verbindende Pferdebahn auf bequeme Weise an das Ziel meiner Reise; ich fand die herzlichste Aufnahme in den Familien der beiden Fabrikbesitzer, die sich unfern von ihrem Fabrikgebäude ein schönes, behagliches Wohnhaus erbaut haben, und es währte eine geraume Zeit, ehe das Gespräch sich der ersten Veranlassung meines Besuches, der Fabrik, zuwandte. Nachdem wir aber darauf gekommen, blieb mein Interesse für lange Zeit ausschließlich davon gefesselt.

Die Entstehung der Fabrik ist, wie mir berichtet ward, sozusagen auf einen Zufall zurückzuführen. Die Inhaber derselben, die Herren Oppenheim und Seligmann, welche damals, der eine als Kaufmann, der andere als Fachmann, ihren Weg durch’s Leben zu machen begannen, wurden im Jahre 1859 veranlaßt, sich mit der Herstellung von Glas- und Flintsteinpapier zu beschäftigen, das zum Schleifen und Glätten von Holz- und Metallgegenständen Verwendung findet.

Die Fabrikation ward anfänglich in sehr beschränkter und primitiver Weise betrieben, das Papier fand aber Absatz, und so konnte bald eine Erweiterung des Betriebes eintreten. Es währte nicht lange, so ward von den Abnehmern und von anderer Seite die Nachfrage nach Schmirgelleinen und Schmirgelpapier laut, sodaß die Geschäftsinhaber es für angezeigt hielten, diesem Artikel gleichfalls ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, der bis dahin in Deutschland noch nicht hergestellt, sondern aus England und Amerika bezogen wurde, obgleich man dort das Material dafür ebenso wenig im Lande selbst besitzt, wie bei uns.

Wie man mich weiter belehrte, kommt nämlich für die Fabrikation nur der Schmirgel aus Naxos und der Levante in Betracht, und zwar giebt der erstere die besseren, der letztere die mehr gebräuchlichen Qualitäten. An seinen Fundorten sprengt man den Schmirgel in Stücke bis zu einer Größe von etwa 75 Kilogramm, und es ist leicht denkbar, daß der Transport dieses harten und schweren Minerals große Schwierigkeiten bietet.

Auf der Insel Naxos, wo die griechische Regierung das Monopol der Ausbeute innehat und jährlich bedeutende Quantitäten Schmirgel gebrochen werden, schafft man die Stücke aus den Gruben im Gebirge über steile, beschwerliche Bergpfade auf den Rücken geduldiger Saumthiere nach dem Hafenort Naxos und verladet sie dort in kleine Segelschiffe, welche sie nach dem größten griechischen Handelsplatz, Hermopolis, jetzt Syra, auf der gleichnamigen Insel bringen, von wo aus Segelschiffe sie den betreffenden Consumplätzen zuführen.

Der Levantische Schmirgel findet sich zumeist in der Nähe des alten Ephesus und der Stadt Thyra; die dort befindlichen, Privatleuten gehörigen Gruben liefern noch eine weit erheblichere Ausbeute als jene auf der Insel Naxos. Auch hier wird der Transport zunächst durch Lastthiere (Esel und Kameele) bewirkt, bald aber tritt an die Stelle des ältesten Verkehrsmittels das modernste; in Cosbonar und an einigen anderen Stationen nimmt die Eisenbahn die Steine auf und führt sie dem Hafenplatz Smyrna zu, von wo aus sie auf Schiffen nach den Stätten, an welchen sie verarbeitet werden sollen, gebracht werden.

„Den Schmirgel hätten wir also,“ fuhren meine Berichterstatter fort, „wie aber war der feste, zähe Stein zu zerkleinern und für seine Zwecke herzurichten? Verlassen Sie sich darauf, die beste Art, den Schmirgel zu zerbrechen, hat uns nicht wenig Kopfzerbrechen bereitet.“

Zunächst versuchte man durch primitive Hülfsmittel, den Stein mit Aufwendung von viel Zeit und Mühe zu zerkleinern und zu zermahlen; das so erzeugte Fabrikat konnte sich aber in Bezug auf Ebenmäßigkeit der Körnung mit dem der wohleingerichteten ausländischen Fabriken nicht messen, und zum Ueberfluß war die unzulängliche Herstellungsart auch noch eine sehr theure. Da galt es einen Entschluß, und die Herren Oppenheim u. Comp. faßten ihn. Sie bauten eine größere Fabrik mit Dampfbetrieb, in welcher die Erzeugung sämmtlicher Schmirgelfabrikate in umfassender Weise vorgenommen werden konnte. Zur Besichtigung dieses hochinteressanten Werkes ward ich nunmehr freundlich eingeladen.

Wir durchschritten den Hofraum, sowie einen geschmackvoll angelegten, wohlgepflegten Garten und gelangten nach der Fabrik, einem Complex von mehreren Gebäuden, welche den großen oblongen Hofraum von allen Seiten umgeben. Der Rundgang begann bei einem großen Haufen röthlich schimmernder Schmirgelsteine in verschiedenen Größen.

In der Schmirgelfabrik: Brechmaschinen.
Nach der Natur aufgenommen.

Arbeiter führten beliebige Mengen derselben mittelst Kipp-Lowries auf Schienengeleisen einer Brechmaschine zu, deren Gewicht, beiläufig bemerkt, 15,000 Kilogramm beträgt und zu deren Betrieb etwa zwölf Pferdekräfte erforderlich sind (vergl. Abbildung I). Dafür knackt sie die Steine aber auch wie Nüsse, und was der erste Steinbrecher begonnen, führt ein zweiter kleineren Kalibers weiter aus. Von Maschine zu Maschine sich fortbewegend, verwandelte sich das zuerst so unzerbrechlich erscheinende Material vor meinen Augen in Körner von verschiedener Größe, bis zum feinsten Mehl (vergl. Abbildung II). Der zermahlene Schmirgel gelangte nach dieser Procedur auf große Siebwerke, welche denselben in gleichmäßige Körnungen von etwa dreißig verschiedenen Arten sortirten.

Man sollte glauben, dieses Verfahren müsse einen fortwährenden undurchdringlichen Staub erzeugen, zu meinem Erstaunen fand ich aber die Luft fast völlig frei von diesem schleichenden Feinde der menschlichen Lungen. Mittelst Saugmaschinen wird in sinnreicher Weise der Staub aufgefangen und dadurch die den Arbeiter bedrohende Gefahr bedeutend gemindert, gleichzeitig aber auch ein Vortheil im Betriebe erzielt: der also gewonnene Staub ist ja auch Schmirgel und kann als solcher in der Fabrikation verwendet werden.

Der in Pulver und Körner verwandelte Schmirgel wird in Fässer verpackt und gelangt zum Theil in dieser Gestalt zur Versendung, und zwar setzt die Fabrik gegenwärtig auf diese Weise im Durchschnitt pro Tag 2500 Kilogramm ab. Dies ist jedoch nur die eine Seite des Verbrauches; eine andere nicht minder bedeutende ist die zur Anfertigung des Schmirgelleinens und Schmirgelpapiers. Dieser Fabrikationszweig ist in Verbindung mit der Herstellung des Glas- und Flintsteinpapiers einer der interessantesten Punkte des an Ueberraschungen reichen Etablissements, und es ist dafür ein eigenes Gebäude hergerichtet. [145] Zunächst führte man mich in einen Saal, in dessen Mitte ein Glasgehäuse die für diesen Specialbetrieb angelegte Dampfmaschine umschließt. Dieselbe erhält das Räderwerk des Getriebes in einem so vortrefflichen und geregelten Gange, daß kein unnützer Schritt, kein vergeblicher Handgriff gethan wird, obgleich es im Saale webt und schwirrt wie in einem Bienenstocke. Ein denkender Geist, eine organisatorische Kraft hatte hier die Arbeit der menschlichen Hand und der Maschine zu einem wunderbar in einander greifenden Ganzen vereinigt. Zunächst freilich schien die letztere der ersteren völlig entrathen zu können.

Eine auf der linken Seite des Saales befindliche Maschine wickelt große Rollen von Nessel oder Papier ab, führt sodann den Stoff einer Druckmaschine zu, welche ihn in geeigneten Zwischenräumen mit dem Fabrikstempel versteht, und sendet ihn von da großen Walzen zu, die aus einem darunter befindlichen Kasten mittelst Rotation flüssigen Leim auftragen, während andere Vorrichtungen den pulverisirten Schmirgel darüber streuen. Nunmehr erfaßt ein höchst sinnreich construirter Apparat das Leinen oder Papier, hängt es zum Trocknen an der Decke des Saales auf und bringt es in gleichmäßigem Vorwärtsbewegen zu einer andern Maschine, die es herabholt und in einzelne Blätter zerschneidet. Erst von diesem Moment an bemächtigt sich die menschliche Hand des bis dahin sehr empfindlichen Fabrikats, indem sie die Blätter abzählt und je zu fünfundzwanzig Stück den Packern zuträgt, die sie zu Hunderten und Tausenden in Rahmen pressen und schnüren. In den anstoßenden Räumen wird der Leim aufgelöst und für seine Zwecke verarbeitet.

In ganz derselben Weise wie das Schmirgelleinen wird an der rechten Seite des Saales durch eine zweite Maschine das Flintstein- und Glaspapier hergestellt. Das Material zu dem erstern liefert der sehr harte Flint- und Feuerstein, zu dem letztern zumeist zerbrochene gläserne Wein- und Bierflaschen.

In der Schmirgelfabrik: Mahlmaschinen.
Nach der Natur aufgenommen.

Zur Fortsetzung meiner Wanderung nahm mich nunmehr ein Fahrstuhl auf, den ich bisher mit Materialien beschwert und in beständigem Auf- und Niedersteigen gesehen hatte. Er beförderte mich in die oberen Räume, wo mich plötzlich eine von dem betäubenden Lärm im Fabriksaale wohlthätig abstechende Stille umfing. Hier lagern viele Hunderte von Papierrollen von je sechs- bis siebenhundert Meter Länge, hoch aufgeschichtete Stöße von Leinenstücken, drei bis vier Etagen hohe Reihen von Körben und Säcken, die mit Leim gefüllt sind, Chemikalien und anderes zur Fabrikation erforderliche Material. In dem anstoßenden Saale ging es wieder laut genug zu. Hier wurden Emballagen angefertigt, und die Kreissäge knirschte, um die für die Verpackung erforderlichen Holzplatten, Rahmen und Kisten zu schneiden.

Durch den Fahrstuhl wieder zur ebenen Erde befördert, verließ ich, geleitet von meinem freundlichen Führer, das Gebäude und betrat ein anderes, dessen Beschaffenheit mich zuerst an eine große Waschküche gemahnte; ich befand mich in der sogenannten chemischen Abtheilung. Hier wird gemahlen, gesiebt, gekocht, geklärt, geglüht, destillirt, getrocknet.

„Was denn aber?“ so fragte ich.

Die Antwort lautete:

„Sämmtliche chemische Bestandtheile, welche für die Herstellung von Schmirgelscheiben, Feilen etc. erforderlich sind.“

Die Masse wird nach gehöriger Zubereitung in eiserne Formen der mannigfachsten Art gebracht und durch hydraulische Pressen, je nach Größe und Erforderniß, einem Druck bis zu zwölftausend Centnern ausgesetzt. Die so geformten Scheiben, Feilen, Rädchen etc. gelangen hierauf in den Trockenraum, um die nöthige Härte zu erwerben. Die Schmirgelscheiben werden zuletzt noch auf Maschinen durch schwarze Diamanten justirt und centrirt, das heißt darauf hin geprüft, ob sie die richtige Schwere haben und ob ihre zur Aufnahme der Achse bestimmte Oeffnung sich gerade im Mittelpunkt [146] der Scheibe befindet. Zur Prüfung ihrer Festigkeit unterwirft man sie zuletzt noch auf einer Maschine einer äußerst rapiden Umdrehung, was das Zerspringen der Scheibe zur Folge hat, sofern sich an derselben irgend ein Fehler befindet. Angebrachte Sicherheitsvorrichtungen schützen den Arbeiter, welcher diese Prüfung vorzunehmen hat, vor Verletzungen durch die abspringenden Stücke.

Die Anwendung dieser Schmirgelscheiben in den Schleifereien erfordert Maschinen, welche denselben eine große Umdrehungsgeschwindigkeit geben, und die Fabrik beschäftigt sich neuerdings auch mit Herstellung solcher Maschinen in verschiedener, dem Zwecke entsprechender Construction. Es ist zu diesem Behufe eine mit allen Hülfsmitteln ausgerüstete Werkstatt eingerichtet, die ich ebenfalls besichtigte. Damit war der Rundgang aber noch nicht beendet. Aus dem Kesselhause ließ man mich durch eine Verbindungsthür in ein hohes mit Mettlacher Fliesen belegtes Gemach treten. Hier schlug das Herz des ganzen großen Werkes. Beinahe geräuschlos arbeitete eine mächtige Dampfmaschine, welche sämmtliche in Betrieb befindliche Maschinen, mit Ausnahme der im Saale für die Schmirgelpapierfabrikation aufgestellten, in Gang setzt.

Wiederholt hatte ich meinen Führer nach dem Zwecke der verschiedenen Erzeugnisse, die ich vor meinen Augen entstehen sah, gefragt, aber immer die Antwort erhalten:

„Erst sehen Sie, was und wie Alles geschaffen wird! Dann sollen Sie Näheres über die Anwendung hören.“

Nachdem wir noch das kaufmännische und technische Bureau besichtigt hatten und nun ausruhend in einem kleinen wohnlichen Zimmer neben dem ersteren saßen, ward mir der gewünschte Bescheid:

Schmirgel in seinen zweiunddreißig verschiedenen Körnungsabstufungen dient zum Abschleifen und Poliren aller Metallgegenstände in Maschinen- und Gewehrfabriken, Metall- und Kanonengießereien, Glas- und Spiegelmanufacturen, zum Schleifen der Glasplatten in Krystallglasfabriken, zu Herstellung der Facetten an Pokalen etc., zum Schleifen der Nähnadeln etc. Zierlich in Dosen verpackt, mit Etiquette versehen, gelangt er als Putzpulver für Messer und Gabel in den Haushalt; fein geschlemmt, braucht man ihn in optischen und mechanischen Werkstätten, in Marmorschleifereien und bei der Anfertigung von Schmuckgegenständen. Das durch Auftragen von Schmirgel auf Stoff oder Papier hergestellte Schmirgelpapier oder Schmirgelleinen findet in der Metallbearbeitung ebenfalls die ausgedehnteste Anwendung, ebenso bei der Fabrikation von Sammet und von Seidenhüten.

Schmirgelschleifscheiben werden benutzt zum Schleifen von Eisen, Stahl und Messing, Glas, Horn, Email, Perlmutter, sowie zum Ausschleifen der Zähne an Sägen. Die Schmirgelfeilen und kleineren Scheiben dienen als Schleifmittel in der Uhren- und Bijouteriefabrikation; es benutzt sie der Zahnarzt, der Optiker und Mechaniker.

Das Glas- und Flintsteinpapier endlich findet die verschiedenartigste Verwendung zum Bearbeiten von Holz und Leder und ist dem Tischler, Lackirer, Maler, Bildhauer ebenso unentbehrlich wie in Gold- und Schuhleistenfabriken etc.

Die Schmirgelfabrik von Oppenheim u. Comp. beschäftigt gegenwärtig an Beamten, Ingenieuren und Reisenden ein Personal von circa zwanzig Personen, ferner fünf Meister und achtzig Arbeiter und Arbeiterinnen; sie verbraucht jährlich an Rohmaterialien rund 20,000 Centner Schmirgel, Feuerstein und Glasscherben, 3500 Centner Rollenpapier, 1500 Centner Kölner Leim und 500,000 Meter Rohleinen, woraus 20 Millionen Bogen Papier und Leinen, mehrere Tausende Schmirgelscheiben und eine entsprechende Anzahl kleiner Geräthschaften fabricirt werden, während der zur Versendung kommende pulverisirte Schmirgel sich pro Jahr etwa auf 9000 Centner beläuft.

Und dabei ist diese Fabrik keineswegs die einzige ihrer Art in Deutschland; denn es giebt deren noch einige in der Provinz Hannover, in Holstein, Sachsen, Schlesien, in der Rheinprovinz und in Hessen-Nassau. Freilich ist auch das Absatzgebiet ein sehr ausgedehntes; es umfaßt ganz Europa und erweitert sich mit dem Fortschreiten der Civilisation nach allen Ländern der Erde.

Wir verließen die Fabrik, um nach dem Wohnhause zurückzukehren; zuvor wurde mir aber, als ich auf den Hof hinaustrat, noch eine eigenartige Ueberraschung zu Theil, nämlich das Exercitium einer wohlgeschulten Feuerwehr, welche die Herren Oppenheim u. Comp. aus ihren Arbeitern herausgebildet haben und die in schmucker Uniform mit bewundernswerther Geschicklichkeit manövrirte. Diese Einrichtung ist in Anbetracht der Entfernung der Fabrik von der Stadt sehr wichtig und hat sich trefflich bewährt.

Noch ein Tag des Verweilens inmitten der liebenswürdigen Familien war mir vergönnt – dann mußte geschieden sein. Beim Abschiede erbat ich die Erlaubniß, das Gesehene für weitere Kreise schildern und mit Benutzung der mir geschenkten Photographien auch bildlich veranschaulichen lassen zu dürfen. Nur zögernd wurde mir die Zustimmung ertheilt; ich hatte zuvor den der Bescheidenheit entstammenden Widerstand durch die Vorstellung zu besiegen, der Aufsatz solle zur Belehrung dienen; er solle sehr Vielen, welche täglich in einer oder der anderen Weise von dem Fabrikate, das sie nicht kennen, Nutzen ziehen, die Frage beantworten: „Was ist Schmirgel?“

J. Hirsch.




Die neue Aera der Polarforschung.

Von A. Woldt.

„Den Pol erreichen!“ Das ist die große Losung des Gigantenkampfes schon seit jener Zeit, in der die Wikinger ihr heißes Blut an den Gletschern Grönlands abkühlten und ihre von Raub und Mord befleckten Hände im arktischen Schnee rein wuschen; das ist die Losung des großen Zeitalters der geographischen Entdeckungen, das war bis jetzt die offene und versteckte Losung fast aller Polarexpeditionen des gegenwärtigen Jahrhunderts. „Den Pol erreichen!“ Die Flagge des eigenen Landes auf dem Pol aufpflanzen, das war das Bestreben jeder Nation, welche sich an diesem internationalen Wettkampfe betheiligte. Hinauf zum Norden, nach dem sehnlichst erstrebten Ziele ging die Jagd der Engländer und Amerikaner durch jenen schrecklichen Engpaß zwischen Grönland und der Inselwelt des arktischen Amerika; hinauf ging die Jagd der Schweden und Holländer in jene tiefe Höhlung bei Spitzbergen hinein, welche fast alljährlich bis über den achtzigsten Breitegrad hinaus ein eisfreies Meer bildet; hinauf ging der Marsch der Deutschen gegen die furchtbaren Schneestürme der eisstarrenden Ostküste Grönlands; hinauf die Fahrt der Oesterreicher in die verworrenen Eisstrudel des Franz-Joseph’s-Landes. Sie alle haben ihr Leben dafür gewagt, daß die Flagge ihrer Nation zuerst am Pole wehen sollte; sie alle haben dabei aber auch jenes graße Ziel der Menschheit verfolgt, sich überall auf Erden die Herrschaft über die Mitgeschöpfe und über die Naturgewalten zu erobern. Es war, als wenn eine Schaar alter heroischer Diskuswerfer im Wettkampfe auftrat und jeder Held seine Scheibe noch weiter zu schleudern trachtete, als alle seine Vorgänger.

Worin besteht die Bedeutung des Pols? Verbirgt er in seiner entlegenen Einsamkeit eine Summe von wunderbaren Naturgeheimnissen, die im Dienste und Interesse des Menschengeschlechtes erforscht werden müssen? Bildet er eine Wetterscheide für die Gebiete seiner näherer oder ferneren Umgebung? Ist er aus Land oder Wasser, aus festem oder beweglicher Eise gebildet? Ist es überhaupt möglich, mit Hülfe unserer Meßinstrumente seine Lage wissenschaftlich genau zu bestimmen?

Die Antwort darauf lautet: Der Schwerpunkt der Polarforschung liegt nicht in der speciellen Bedeutung der beiden Pole selbst, welche rein geographische Punkte sind, wie beispielsweise alle Kreuzungspunkte des Gradnetzes unserer Erde; er liegt vielmehr in denjenigen Errungenschaften, die uns die wissenschaftliche Erforschung der gesammten arktischen und antarktischen Gebiete, d. h. Nordpol- und Südpol-Gebiete, verschaffen wird, welche mit einem Flächeninhalt von mehr als einer halben Million deutscher Quadratmeilen den mächtigen Erdtheil Afrika an Größe übertreffen. Dieses gewaltige Doppelgebiet umfaßt also beinahe den sechszehnten Theil der gesammten Erdoberfläche und ist fortwährend der Schauplatz der gewaltigstem meteorologischen, magnetischen und anderer wissenschaftlich hoch bedeutender Vorgänge.

[147] Hier liegt der Schwerpunkt der Polarforschung; hier hat die Wissenschaft ihre Instrumente anzusetzen, um jene großen allgemeinen Naturgesetze zu studiren, deren Wirkungskreis sich, weit über die politischen und nationalen Ländergrenzen hinaus, über mächtige Gebiete der Erde erstreckt.

Schon im Jahre 1823 bahnte Sabine die Erforschung eines der von den Polargebieten verhüllten Geheimnisse an, indem er mit Clavering an der Ostküste Grönlands durch seine berühmten Pendelversuche Schlüsse über die wahre Gestalt der Erde machte. Acht Jahre später entdeckte James Clarke Roß im Norden von Amerika die damalige Lage des magnetischen Poles.[1]

In den fünfziger Jahren bahnte Otto Torell, der gegenwärtige Chef der geologischen Landesaufnahme Schwedens, mit Unterstützung des damaligen Kronprinzen, jetzigen Königs Oscar, jene lange Reihe von Expeditionen an, in denen unser nordisches Nachbarvolk unter Führung des genannten Gelehrten und seines großen Schülers Nordenskjöld die Polarregionen im Lichte längst verschwundener geologischer Zeitalter reconstruirte. Auch die deutsche Nordpolexpedition unter Capitain Koldewey im Jahre 1870 brachte reiche wissenschaftliche Resultate mit nach Hause, wie überhaupt seitdem fast jede Polarexpedition.

Bis in die Mitte des vorigen Jahrzehnts war indessen noch keine entscheidende Wendung in der Polarforschung eingetreten; denn es stand immer noch das Interesse im Vordergrunde, möglichst hohe Breiten zu erreichen. Da kehrte im Herbst 1874 Weyprecht mit seinen kühnen Gefährten zurück, und von nun an wurde die Parole ausgegeben, daß Entdeckungen in möglichst hohen Breiten nicht mehr den Hauptgegenstand der Polarexpeditionen bilden, sondern daß die Nationen sich zu gründlicher wissenschaftlicher Erforschung der leichter erreichbaren Gebiete hoher Breite die Hände reichen müßten. Dieses Verdienst, von dem Wettlauf nach dem Nordpol mit Erfolg abgerathen zu haben, gebührt unbestritten dem österreichischen Polarfahrer Weyprecht, welchen man auch seitdem fast allgemein als den Vater der gegenwärtigen neuen Aera der wissenschaftlichen internationalen Polarforschung bezeichnet hat.

Man muß indessen hier zwei Dinge genau aus einander halten, nämlich: die Einstellung der alten Methode und die Aufstellung des Planes der neuen gemeinsamen Forschung. Das Verdienst, die letztere zuerst angeregt zu haben, darf unser verdienstvoller Gelehrter, der gegenwärtige Director der deutschen Seewarte, Professor Neumayer, unbedingt für sich beanspruchen. Gerade an dem Tage, wo Weyprecht nach zwei Polarwintern, die er mit allen ihren Schrecknissen unter den furchtbarsten Eispressungen an Bord des „Tegetthoff“ durchlebt und durchlitten hatte, zu den Schlittenreisen Vorbereitungen traf, die das noch unbetretene Franz-Joseph-Land erforschen sollten, – gerade an dem Tage (am 25. Februar 1874) hielt Neumayer in Berlin einen öffentlichen Vortrag über das Thema: „Die geographischen Probleme innerhalb der Polarzonen, in ihrem inneren Zusammenhange beleuchtet.“ Aus diesem Vortrage, der in den „Hydrographischen Mittheilungen“ Nr. 7 vom 4. April 1874 abgedruckt ist, citire ich wörtlich folgende Stelle:

„So hätte ich Ihnen denn im Norden, wie im Süden, auch die Wege bezeichnet, welche die größte Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Bearbeitung der Probleme, die ich in ihrem inneren Zusammenhange zu beleuchten hatte, darbieten. Ich habe in den behandelten Punkten ein Gewicht auf die Gleichzeitigkeit der Forschungen gelegt und bin, von solchen Gesichtspunkten geleitet, auch der Ansicht, daß auf den bezeichneten Wegen gleichzeitig und im Einklange, das heißt in gemeinsamer wissenschaftlicher Organisation, vorangegangen werden müßte, um im Herzen der Polarregionen, in Observatorien, die während einer längeren Periode in Thätigkeit zu sein hätten, die verschiedenen Aufgaben der Physik unserer Erde zu bearbeiten. Für diesen Zweck aber ist es wichtig, daß der richtigste, der ergiebigste Moment gewählt werde, und als solcher steckt sich die nächste Maximalperiode magnetischer Thätigkeit und der Polarlichterscheinung 1881 bis 1882 sofort dar, welche zugleich auch sehr heranrückt an die Zeit der zweiten Wiederkehr des Vorüberganges der Venus vor der Sonnenscheibe in unserem Jahrhundert, welcher in hohen südlichen Breiten mit Vortheil beobachtet werden kann. Wollen wir hoffen, daß alle gebildeten Nationen alsdann ebenso, wie sie sich jetzt rüsten, um in gegenwärtigem Jahre einer großen wissenschaftlichen Pflicht zu genügen, zur Förderung unserer Probleme sich rüsten werden!“

Auf der Naturforscherversammlung zu Graz, im Herbst 1875, nahm die Idee der neuen Forschung eine bestimmtere Form an, indem der damals sehr gefeierte Weyprecht sich zum Verkündiger des neuen Planes machte, eine Reihe von internationalen wissenschaftlichen Beobachtungsstationen in den arktischen Gegenden anzulegen. Wohlbemerkt, dies war noch nicht das ganze wissenschaftliche Programm; denn es fehlte hierbei die Betonung der Nothwendigkeit einer gleichzeitigen Erforschung des antarktischen oder Südpolargebietes. Nichts war natürlicher, als daß der begeisterte Vorkämpfer für diese Idee, Neumayer, welcher bereits im Jahre 1854 in einer Eingabe an das Cabinet des damaligen Königs von Baiern auf die Wichtigkeit der Erforschung des Südpolargebietes – mit Melbourne Observatory als Basis – aufmerksam gemacht hatte, die Aufnahme der Südpolarforschung als einen integrirenden Theil des Programms empfahl und dieses auch durchzuführen wußte, wie denn Weyprecht selbst diese Priorität Neumayer’s späterhin stets offen anerkannt hat. Nachdem der Plan auf dem internationalen Meteorologencongreß 1879 besprochen worden, wurde er noch in demselben Jahre auf der ersten internationalen Polarconferenz in Hamburg unter Neumayer’s Vorsitz programmmäßig durchberathen und erhielt dann 1880 in Bern und 1881 in St. Petersburg unter Vorsitz des gegenwärtigen Directors der internationalen Polarconferenz, Professor Wild, seine definitive redactionelle Fassung, in der er gegenwärtig von den betheiligten Nationen angenommen worden ist und ausgeführt werden soll.

Die dritte internationale Polarconferenz in St. Petersburg war von zehn Delegirten der Staaten Dänemark, Frankreich, Norwegen, Holland, Oesterreich, Rußland und Schweden besucht, von welch letzteren nur Frankreich und Holland ihre definitive Theilnahme noch nicht zugesagt hatten, während von Rußland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika Zusicherungen für die Besetzung von je zwei Stationen vorlagen. Deutschland war leider nicht vertreten, da bei uns eine Betheiligung von Reichswegen vorläufig wegen mangelnder Fonds durch den Reichskanzler abgelehnt worden war.

Auf der Petersburger Conferenz ergab sich als ganz gesichert die Besetzung einer Reihe von Punkten, deren Gruppirung um den Nordpol den Lesern der „Gartenlaube“ durch das diesem Artikel beigefügte Kärtchen veranschaulicht wird. Wir finden da folgende Orte, an welchen Stationen errichtet werden sollen, durch schwarze Punkte angedeutet: Point Barrow (A) an der Nordküste von Nordamerika und Lady Franklin-Bai (C), hoch im Norden, in der Mitte des zweiundachtzigsten Breitegrades, beim Robeson-Canal, durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika; ferner Upernavik (D) in Westgrönland durch Dänemark; Insel Jan Mayen bei Island (F) auf Kosten des Grafen Wilczek durch Oesterreich; die Mossel-Bai auf Spitzbergen (G) auf Kosten des Kaufmanns O. Smith in Stockholm durch Schweden; Bossekop bei Alten im äußersten Norden Europas (H) durch Norwegen; die Lena-Mündung (L) auf Kosten der Kaiserlich Russischen Geographischen Gesellschaft durch Rußland; die Möller-Bai auf Nowaja-Semlja (J) und Port Dickson an der Ob-Mündung (K) durch Rußland oder Holland. Ferner galt als wahrscheinlich die Besetzung von Fort Simpson in Canada (B) durch Canada, während deutscherseits später die Pendulum-Insel (E) auf der Ostküste von Grönland in’s Auge gefaßt wurde. Was die Errichtung von Stationen am Südpol anbelangt, so sind bis jetzt nur die Besetzung von Cap Horn durch Frankreich und der Süd-Georgien-Insel durch Deutschland beabsichtigt worden.

Im deutschen Reiche begann inzwischen die Lage der Dinge sich günstiger für das Unternehmen zu gestalten, als bis dahin. Das Reichsamt des Innern ernannte im December 1881 eine deutsche Polarcommission, und außerdem wurde im Etat des Reichsamtes des Innern für das Etatsjahr 1882 bis 1883 die Summe von 300,000 Mark als Kosten der Betheiligung des Reichs an internationalen Polarforschungen festgesetzt.

Die deutsche Polarcommission beschloß, daß von Deutschland eine arktische Station, womöglich im Gebiete des Atlantischen Oceans, und mindestens eine antarktische Station zu besetzen sei. [148] Für die Südhemisphäre wurde Süd-Georgien und für die Nordhemisphäre die Pendulum-Insel auf der Ostküste von Grönland in’s Auge gefaßt. Der letztgenannte Punkt ist indessen wieder in Frage gekommen, da er wegen der furchtbaren Vereisung des ostgrönländischen Meeres ohne ein besonderes Expeditionsschiff schwer zu erreichen sein dürfte und zur Erbauung eines solchen Zeit und Geld fehlt. An Stelle von Ostgrönland ist neuerdings einer der Punkte links oder rechts von der Davis-Straße respective Baffins-Bay vorgeschlagen worden.

Betrachten wir nunmehr das wissenschaftliche Programm für die internationalen Polarexpeditionen, wie dasselbe endgültig in St. Petersburg festgestellt worden ist! Der Zweck des Unternehmens ist die Erforschung der physikalischen Verhältnisse überhaupt, speciell aber der meteorologischen und erdmagnetischen Erscheinungen der Polargebiete und der unmittelbar an dieselben angrenzenden Zonen der Erde nach einem gemeinsamen durch internationale Uebereinkunft festzusetzenden Plane. Die Beobachtungen erfolgen, um ihre Sicherheit zu erhöhen, in besonders erbauten festen Observatorien; sie werden mindestens alle Stunden ausgeführt und umfassen ein volles Jahr vom August 1882 bis 1. September 1883; sie geschehen auf allen Stationen nach demselben Plane und theilweise auch zu absolut gleichen Zeitmomenten, damit man den Eintritt und die Fortpflanzung der magnetischen Störungen verfolgen kann. Die Beobachtungen werden eingetheilt in obligatorische, welche als das Minimum des von allen Expeditionen zu Fordernden anzusehen sind, und in facultative, also freiwillige. Zu den obligatorischen gehören stündliche magnetische und meteorologische Beobachtungen, also Bestimmungen der Temperatur der Luft, des Meereswassers, des Luftdrucks, der Feuchtigkeit der Atmosphäre, des Windes, der Wolken, des Niederschlags, wie überhaupt des Wetters; ferner Bestimmungen des Erdmagnetismus und der Polarlichter.

Die am Nordpol projectirten Stationen der internationale
Polarexpeditionen in den Jahren 1882–1883.

A und C Stationen der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, B englische, D dänische, E deutsche, F österreichische, G schwedische, H norwegische, J holländische Station, K und L russische Stationen.

Am ersten und fünfzehnten jeden Monats ist sogenannter „Termintag“, an welchem auf allen Stationen „von Mitternacht zu Mitternacht Göttinger Zeit“ verschärfte Beobachtungen stattfinden werden. Die Lesungen der magnetischen Elemente geschehen während dieser vierundzwanzig Stunden von fünf zu fünf Minuten, außerdem während einer vollen Stunde nach je zwanzig Secunden. Aber die Beobachtungen an den Termintagen werden sich nicht ausschließlich auf die Polarstationen selbst erstrecken, sondern es sind nach einem Petersburger Beschluß Schritte gethan, daß während der Dauer der Polarexpeditionen und ihrer Beobachtungen auch die sämmtlichen meteorologischen und magnetischen Observatorien der Welt und ebenso die Handels- und Kriegsmarine der verschiedenen Nationen durch sorgfältigere Beobachtungen atmosphärischer und magnetischer Erscheinungen die Thätigkeit der Polarexpeditionen vorzugsweise während der Termintage vervollständigen und daß an den Termintagen und zur Zeit magnetischer Störungen die elektrischen Ströme in den Telegraphenleitungen überall speciellerer und sorgfältigerer Untersuchung unterworfen werden.

Das großartig vereinbarte Unternehmen hat bereits einen glücklichen Anfang zu verzeichnen, indem die beiden amerikanischen Stationen bereits im Sommer 1881 besetzt worden sind. Hochinteressant ist die äußerst glückliche Fahrt, welche die zur Besetzung der Lady Franklin-Bay bestimmte Expedition gemacht hat. Die Errichtung der Station geschah sofort nach der Landung. Die unter Lieutenant A. W. Greeley stehende „Colonie“ gedenkt, wenn der erste lange Winter glücklich überstanden sein wird, ein oder zwei Grad weiter nordwärts eine Tochtercolonie anzulegen, hierselbst den zweiten Winter zuzubringen und im darauffolgenden Sommer möglichst den Nordpol zu erreichen; jedenfalls die vom Capitain Nares in den Jahren 1875 und 1876 erreichte nördliche Breite von 83° 201/2’, die nördlichste Grenze, zu welcher bis jetzt die Polarforscher vorgedrungen waren, zu überschreiten.

Was nun unser deutsches Reich betrifft, so hat die deutsche Polarcommission, deren Präsident Director Neumayer ist, eine Executivcommission ernannt, welche Anfang Februar 1881 eine mehrtägige Sitzung in Hamburg abgehalten hat. Den Berathungen zufolge sollen die Baulichkeiten jeder der beiden deutschen Stationen aus einem Wohnhaus und zwei Observatorien bestehen. Das Personal jeder Station setzt sich zusammen aus einem Gelehrten mit praktischer Erfahrung im Beobachten als Vorsteher der Station, aus einem Stellvertreter des Vorstehers und Leiter der magnetischen Arbeiten von gleicher Befähigung, aus drei Assistenten für den magnetischen Theil des Beobachtungsprogramms, aus zwei Assistenten für den meteorologischen Theil des Beobachtungsprogramms, aus einem Mechaniker, welcher sich auch an den Beobachtungen zu betheiligen hat, und aus drei Seemännern für Küche, Haushalt, Tischlerei, Zimmermannsarbeit und Bedienung. Die Ausstattung an Instrumenten ist eine ausgezeichnete. Aber mit dieser rein meteorologischen und magnetischen Forschung ist das umfassende Gebiet der wissenschaftlichen Eroberung der Polarländer durchaus nicht abgeschlossen. Deshalb hat Director Neumayer durch ein Circulair vom 10. Januar 1882 den bei der Polarforschung noch außerdem interessirten wissenschaftlichen Instituten und Gelehrten Deutschlands Mittheilung über den Stand der Frage gemacht und sie zu Aeußerungen darüber veranlaßt, welche weiteren Zwecke, außer den bereits als obligatorisch festgesetzten, sie zu vertreten wünschten, welche Geldmittel, respective Apparate von ihrer Seite hierzu zur Verfügung gestellt werden könnten, eventuell welche Personen sie für die Theilnahme an den Expeditionen zur Ausführung ihrer speciellen Wünsche in Vorschlag bringen würden. Dieser Theil der Polarforschung befindet sich noch im Stadium der Vorbereitung, und gedenken wir darauf noch zurückzukommen.




Um die Erde.

Von Rudolf Cronau.
Siebenter Brief:0 Indianische Dichtung und Wahrheit in Minnesota.

Fort Snelling, von dessen Gründungsgeschichte ich in meinem letzten Briefe gesprochen, ist keine romantische, sagenumwobene Burg im europäischen Sinne. Ueber den Schöpfungen des jungen amerikanischen Volkes ruht eben keine mittelalterliche Dämmerung, erfüllt von den märchenhaften Gestalten verzauberter Prinzessinnen und abenteuerlicher Ritter; nein, was aus den Bauten der Neuen Welt zu uns redet, das ist greifbare Wirklichkeit, das sind wohlverbürgte geschichtliche Thatsachen oder nackte Ziffernreihen, welche Fortschritte der Industrie und des Handels bekunden. Aber man glaube ja nicht, daß das Stöhnen des Dampfrosses und das Klingen der Aexte alle Poesie aus den amerikanischen Wäldern und Felsschluchten verscheucht haben!

O nein! Ich durchwandere die Umgebung von Fort Snelling, und beim Anblicke der rauschenden Wasserfälle, ja schon bei dem

[149]

Lager der Sioux-Indianer bei Fort Snelling in Minnesota.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

[150] bloßen Klange ihrer Namen wird meine Phantasie rege und schweift in längst vergangene Zeiten zurück: rasch setzt sie sich über die enggezogenen Marken der menschlichen Geschichte hinweg und schaut unbefangen in das mythische Dunkel, als auch hier Götter auf die Erde herniederstiegen, um die Menschen zu beglücken oder über sie das Füllhorn des Elends unbarmherzig auszuschütten.

Ich stehe vor den kleinen Wasserfällen, welche die Indianer Minnehaha, „lachende Wasser“, nannten, und da muß ich Longfellow’s, des edlen Sängers, gedenken und seiner wunderschönen Dichtung „Hiawatha“. Mein Fuß steht auf dem romantischen Boden, auf dem einst die Volkssage ihre glänzenden Fäden spann, aber wie Wehmuth beschleicht mich der Gedanke, daß das Volk, welches diese Sage schuf, zerstreut oder gar ausgerottet ist, während eine fremde Sprache, die Sprache seiner Vertilger, von seinen Göttern und Helden singt und sagt. Das ist eine grausame Ironie der Geschichte. Man will nicht leise rühren an Longfellow’s Lorbeerkranz; denn „Das Lied von Hiawatha“ ist eine Perle im Diadem der amerikanischen Dichtung – aber die Helden, die das Lied besingt, wer schonte sie einst in dem grausamen Vernichtungskriege – die armen Indianer?

Hier beim Minnehaha schaute der Indianerapostel Hiawatha zum ersten Male seine Geliebte. Wie gebannt stand er vor der schönen Dacotahjungfrau; denn ihre dunklen Augen waren seltsam wie der Fall des Minnehaha:

„Bald voll Sonne, bald voll Schatten
Lacht’ und grollt’ ihr Auge wechselnd;
Wie der Fluß war flink ihr Füßchen,
Und ihr Haar floß wie das Wasser,
Und so tönend war ihr Lachen; –
Von dem Wasserfall des Flusses
Hatte sie auch ihren Namen:
Minnehaha, Lachend-Wasser.“

Aber es war nur die zartgewobene Liebesepisode Hiawatha’s, die sich hier, in der reizvollen Umgebung von Fort Snelling, abspielte; denn der Schauplatz seiner ferneren Thaten ist die Südküste des Oberen See.

O Hiawatha, poesiegeschmückter Indianerheld, was ist heute aus deinem Stamm geworden! Von den steil herabstürzenden Fowns Leap kommend (vergl. unsere Abbildung), machte ich die Bekanntschaft deiner rothhäutigen Brüder. Am Rande eines hügelumschlossenen kleinen Sees hatten sie ihre rauchgebräunten, kegelförmigen Zelthütten aufgeschlagen; sie gehörten dem berüchtigten Stamme der Sioux an, boten aber nur noch wenig Zeichen ihrer Abkunft; dahin, verloren, zerstoben ist die wilde Poesie ihres unberührten Naturlebens!

Mein Besuch galt zunächst der Pa-chu-ta, einer unter dem Namen „Medicin“ bekannten Indianerin. Sie ist die Tochter der 1873 im Alter von 105 Jahren verstorbenen Aza-ya-man-ka-wan, jener „Beerenpflückerin“, die während der fürchterlichen Indianergräuel bei Neu-Ulm (siehe „Gartenlaube“ 1865) vielen Menschen das Leben rettete und bei den Bewohnern von St. Paul und Umgegend in bestem Gedächtniß steht. Als ihre letzte Krankheit über sie kam, verschrieb ihr die Handelskammer eine Summe Geldes, um ihr allen möglichen Comfort zu bereiten.

Pa-chu-ta trafen wir in ihrer Hütte eben beschäftigt, an qualmigem Feuer Kartoffeln und ein Omelette zu bereiten. Aus ihrem breiten, schmutzig rothen Gesichte blinzelten verschmitzt ein Paar lustige Aeugelein, während den Mund ein sonderbar süßes Lächeln umspielte.

Sie war, wie die Mehrzahl der anderen Frauen, eine ungeheure Fleischmasse, ward aber bei weitem überboten von Tha-ti, das heißt der, „die ein eigenes Lager hat“. Fürwahr, kein übel erfundener Name; denn Tha-ti ist wirklich eines eigenen Wigwams durchaus bedürftig; ihre Körperfülle ist der Grund, daß ihr gestrenger Herr und Gemahl die himmlischen Jagdgründe seiner Väter aufgesucht, da sein junges Weib, aufschießend und zunehmend, sehr bald den ganzen Raum innerhalb der vierundzwanzig Pfähle seines Wigwams ausfüllte, und ihm so Luft, Licht, Raum und Leben raubte. Jetzt theilt Tha-ti ihr Zelt mit einem elenden mageren Krieger, einem Steifleder in buntem Hemde und zerrissenen Beinkleidern, der von Männerwürde niemals eine Ahnung gehabt. Imponirend war nur sein furchtbarer Griff – in die von uns präsentirte Candydüte.

Die einzige Hiawatha’sche Figur, die mir bei meinem Besuche zu Gesicht kam, war ein junges Mädchen im Alter von dreizehn Sommern, nach indianischen Begriffen also schon bald heirathsfähig. Schlank und zierlich gewachsen, flog sie leicht dahin wie ein Reh, und ihr langes schwarzes Haar flatterte im Winde. Die Züge ihres Gesichtes hatten feinen, regelmäßigen Schnitt – wie lange aber mag es dauern, dann ist auch aus dieser Libelle eine jener derbknochigen, wohlbeleibten Schönen geworden, wie ich deren eine in Tha-ti kennen gelernt.

Interessant war die innere Ausstattung der Zelte; da war all das bunte Sammelsurium zu finden, welches einen halb barbarischen, halb civilisirten Sittenzustand charakterisirt; da gab es Kaffeemühlen und Friedenspfeifen, Riflegewehre und Bogen, Büffelhäute und alte Steppdecken. Was mich aber am seltsamsten berührte, das war eine riesige Karte der Vereinigten Staaten von Anno Tobak und eine wahrhaftige Standuhr, deren Zeiger eine Stunde in vierzig Minuten zurücklegte und also ganz besonders dem Fortschritt huldigte.

Anderthalbe Stunde von St. Paul entfernt liegt auf einer Wiese am Ufer des Mississippi ein Denkmal aus besseren Tagen des Indianerthums; ich habe es auf der beigegebenen Illustration nachzubilden versucht – der sogenannte Indian oder Red Rock, ein etwa drei bis vier Fuß langer, entsprechend dicker, eiförmiger Steinblock. Was an ihm zunächst in die Augen fällt, ist eine Anzahl blutrother Streifen, die sich quer um ihn ziehen, während an dessen spitzem Ende mit wenigen Strichen ein von Strahlen umgebenes Gesicht gemalt ist, etwa so, wie wir als Kinder die Sonne dargestellt. Das Ganze gleicht einer riesigen, versteinerten Käferlarve, und der indianische Name für dieses Ungethüm ist „Wakon“ oder Geisterstein. Seit langen Jahren schläft Schweigen und Vergessenheit über dem einsamen Steine; kaum daß die tiefe Ruhe umher der Schritt eines aus Neugierde landenden Bootfahrers stört, der das seltsame Denkmal in stillen Gedanken betrachtet.

Als ich das Indianerlager verließ, da fielen mir Longfellow’s wehmüthige Verse ein, die Prophezeiung des Hiawatha an sein Volk:

„Ja, ich sah in meinem Traume
Das Geheimste selbst der Zukunft,
Sah im Westen jenes Sumpfland
Der uns unbekannten Stämme;
All’ das Land war reich an Menschen,
Rastlos kämpfend und sich mühend,
Mancherlei der Zungen sprechend,
Doch nur einen Herzschlag fühlend.
Ihre Axt hallt’ in den Wäldern;
Ihre Stätten rauchten qualmend;
Ueber alle Seen und Ströme
Rauschten ihre Donnerkähne.
Dann kam mir ein traurig düst’res
Traumgesicht – so wolkentrübe;
Uns’re Stämme sah zerstreut ich,
Meiner Lehren nicht gedenkend,
Schwächlich und sich stets bekriegend,
Sah die letzten unsers Volkes
Westwärts schweifend wild und elend,
Gleich zerriss’nen Wolkenmassen,
Gleich des Herbstes welken Blättern.“




Kloster Lehnin.

Ein Stück märkischer Romantik.
(Schluß.)

Das Kloster Lehnin wäre wohl längst der Vergessenheit anheimgefallen, wenn nicht ein literarisches Curiosum ihm zu einem besonderen Ruf, zu einer fast populären Berühmtheit verholfen hätte. Das ist die sogenannte „Lehninische Weissagung“ – das „Vaticinium Lehninense“ – auf welche am Schlusse der ersten Hälfte dieses Artikels hingewiesen worden und über die nun das Wesentlichste berichtet werden soll.

In den achtziger Jahren des siebenzehnten Jahrhunderts wurden in geheimnißvoller und offenbar ebenso vorsichtiger als kluger Weise Abschriften einer lateinischen Dichtung an’s Licht gebracht, [151] welche das Schicksal des Hohenzollern’schen Herrscherstammes vom Untergang der Askanier, des gräflichen Hauses, das vor den Hohenzollern in Brandenburg regiert hatte, bis zum Untergange der Hohenzollern weissagte. Nicht blos in fürstlichen Archiven fanden sich Abschriften; das angebliche Original auf Pergament mußte der Große Kurfürst selbst auf einer Reiherbeize in einer Mauerspalte der Klosterruine von Lehnin entdecken.

Abgedruckt wurde das Gedicht zum ersten Male 1723 in dem von Lilienthal in Königsberg herausgegebenen „Gelahrten Preußen“ nach einem „in einem Landes-Archiv“ vorgefundenen Manuscript. Während der Regierungszeit Friedrich’s des Großen erschienen neue Drucke 1741 ohne Ortsangabe, 1745 in Berlin und Wien, 1746 in Frankfurt und Leipzig und 1758 in Bern.

Betrachten wir nun das Gedicht selbst! Es besteht aus hundert gereimten Hexametern (dem sogenannten „Leoninischen Versmaße“, bei welchem in Hexameter und Pentameter die Endworte der Cäsur und des Verses sich reimen) in eleganter und correcter Sprache und soll von einem Mönch Hermann um 1300 verfaßt worden sein. Der Inhalt der Weissagung gab jedoch der Kritik schon kurze Zeit nach der Veröffentlichung derselben Veranlassung zu der Beweisführung, daß es in weit späterer Zeit verfaßt und das Ganze darnach eine Fälschung sei. – Diese Weissagung beginnt mit der Klage über den Untergang des Geschlechtes der Askanier, das im Kloster Lehnin eine Fürstengruft hatte, und geht dann zur Schilderung des Hohenzollernstammes über, dessen Regenten charakterisirt werden bis auf das elfte Geschlecht. Der Vertreter desselben wird „Stemmatis ultimus“, der letzte des Stammes sein, nach welchem

Zum Hirten kehrt die Heerde, zum König Germanien wieder,
Und in der Mark sinkt nun die alte Drangsal zu Boden.
Statt des Fremden genießet froh der Erzeugte des Landes,
Und es entsteht von Lehnin und Chorin die alte Bedachung,
Und kein Wolf darf mehr die Wohnung der Heerde umschleichen.“

Dem prüfenden Blicke konnte es nicht entgehen, daß die Charakteristik der Hohenzollern’schen Regenten bis zur Zeit des Großen Kurfürsten auf offenbar geschichtlicher Grundlage beruht, und daß dann erst das unsichere Tasten der Weissagung mit den vieldeutungsfähigen Phrasen beginnt, aus welchen die Absicht mehr herauslesen kann, als darin liegt. Schon von Friedrich dem Ersten weiß der Prophet nicht, daß sich derselbe in Königsberg die Königskrone aufsetzte. Von Friedrich Wilhelm dem Dritten heißt es:

„Blüh’n wird der Sohn und erhalten, was niemals zu hoffen er wagte,
Doch wird traurig das Volk die Ungunst der Zeiten beklagen;
Denn es nahet die Zeit, die Großes im Schooße verschließet,
Und der Fürst weiß nicht, daß neue Gewalten entstehen.“

Mit diesem Fürsten hätte die Weissagung sich erfüllen müssen; denn er war der Vertreter des elften Geschlechts. Längst aber hatte die politische Speculation sich des Gegenstandes bemächtigt, und damit Wilhelm der Erste als Stemmatis ultimus erscheinen könne, traten ultramontane Vertheidiger für die Echtheit der Wahrsagung mit der Behauptung ein, Friedrich der Große und Friedrich Wilhelm der Vierte könnten in der Reihe nicht mitzählen, weil sie selbst ohne Nachkommen gestorben seien.

Diese durch derlei Nutzanwendung der Sage verliehene Wichtigkeit und der Glaube, den sie in weiten Schichten des Volkes fand, bewogen zuerst den König Friedrich Wilhelm den Dritten, den berühmten Geschichtsforscher Friedrich Wilken mit einer Prüfung der Weissagung zu beauftragen. Und der König hatte um so mehr Grund dazu, als durch sein Unglück der Triumph des prophetischen Mönchs als gesichert erschien; denn war in Folge der Siege Friedrich’s des Großen die Sage von Lehnin völlig eingeschlafen, so weckte der Kanonendonner von Jena und Auerstädt sie zu neuem Leben.

Unter dem Titel „Hermann von Lehnin, der durch die alte und neue Geschichte bewährt gefundene Prophet des Hauses Brandenburg“ erschien 1808 mit Angabe der Druckorte Frankfurt und Leipzig eine neue Ausgabe der Wahrsagung, deren Herausgeber ohne Weiteres die Lehnin’sche Wahrsagung durch den Sturz Preußens für erledigt und den König für den letzten Hohenzollern-Regenten erklärte. Die Noth macht abergläubisch, und in jenen Tagen des tiefsten Unglücks in Preußen konnten solche Schicksals-Enthüllungen im Volke nur von niederdrückendster Wirkung sein.

Aber nicht blos in Deutschland benutzten die Feinde Preußens und des Protestantismus den Mönch von Lehnin als unfehlbaren Kampfführer; in Belgien veröffentlichte ein Louis de Bouverot ein Werk „Extrait d’un manuscrit relatif à la prophétie du frère de Lehnin, avec des notes explicatives“ (Auszug aus einem Manuscript, bezüglich der Prophezeiung des Klosterbruders von Lehnin, mit erklärenden Noten), welches, wenn auch erst zwanzig Jahre später, aber doch mit derselben Absicht W. von Schütz als „Weissagung des Bruders Hermann von Lehnin nach der belgischen Ansicht“ (Würzburg 1847) dem deutschen Publicum vorlegte. Das war nur ein Vorläufer für die Sturmzeit. Während derselben kamen noch fünf neue Ausgaben der Weissagung, von Boost, Wilhelm Meinhold, Rösch, Guhrauer und Heffter („Geschichte des Klosters Lehnin“) auf den Büchermarkt. Die von Seiten der Ultramontanen veranstalteten verfolgten ausschließlich den Zweck, den Untergang des preußischen Herrscherhauses und den Sieg des Papstthums in Deutschland als durch göttliche Verheißung gesichert darzustellen.

Daß die ganze Weissagung eine Fälschung sei, hat zuerst (schon 1746) der Pfarrer Weise in Lehnin dargethan, und später forschte man besonders dem wahren Verfasser des Gedichtes nach. Wilken glaubte ihn in dem (1693 in Berlin gestorbenen) Kammergerichtsrath und Consistorialassessor Martin Friedrich Seidel gefunden zu haben, weil von dessen Hause die Verbreitung der Schrift ausgegangen und er selbst ein trefflicher lateinischer Stylist und Dichter gewesen sei. Dagegen erkennt der Berliner Gelehrte Valentin Schmidt in seiner Widerlegung der Weissagung den wahren Verfasser in einem Convertiten, dem ehemaligen lutherischen Consistorialrath und Propst an der Petrikirche in Berlin Ludwig Andreas Fromm, und ihm schließt sich auch Hilgenfeld in Jena in seiner Schrift „Die Lehnin’sche Weissagung“ (Leipzig 1875) an.

In der That trifft bei diesem Manne Alles zu, was eine Ausschreitung des Hasses zu einer solchen Rachethat erklärbar macht. Fromm war orthodoxer Lutheraner und trat in seinem Eifer gegen die Reformirten so heftig auf, daß ihm eine Disciplinaruntersuchung drohte. Dieser entzog er sich 1666 durch die Flucht zunächst nach Wittenberg. Als er aber auch dort nicht die Aufnahme fand, deren er sich versehen, ging er nach Prag. Dort trat er 1668 zur katholischen Kirche über, wurde zum Domherrn von Leitmeritz befördert und starb daselbst 1685. Man braucht schwerlich eine noch geeignetere Persönlichkeit zu suchen, um ihr eine solche Ausgeburt des Fanatismus zuzutrauen, dies um so weniger, als es Fromm außerdem auch nicht an Geist und Gewandtheit zu derselben gebrach.

Wenn dennoch der alte unheimliche Wahrsager von Lehnin noch immer nicht ganz zur Ruhe kommt, so ist namentlich bei unserem deutschen Volke der Hang zum Sagenhaften und Wunderbaren mit schuld daran. Oft ist sogar ein geheimnißvoller Zug von Pietät damit verbunden, namentlich für diejenigen, welche ein geschichtliches Band mit einer solchen zum Volkseigenthum gewordenen Sage verknüpft. Auch im preußischen Königshause hat die nahezu vollständige Aufklärung der Entstehung jener Weissagung dieses Band nicht ganz zu lösen vermocht. Es war offenbar jener pietätvolle Zug, der unseren Kaiser leitete, als er an jenem 18. Januar 1871, an welchem „Germanien zu seinem Könige wiedergekehrt“, befahl, daß „für Lehnin auch die alte Bedachung erstehe.“ – Dieser Abschluß ist der würdigste, den die Lehnin’sche Weissagung finden konnte.




Blätter und Blüthen.


Ein Maler des Krieges. Noch bis vor Kurzem war der schnell zu europäischer Berühmtheit gelangte russische Maler Wasili Wereschagin bei dem größeren Publicum Deutschlands so gut wie unbekannt; London, Petersburg, Paris feierten ihn als einen der ersten Meister unter den Lebenden. In Deutschland aber nannte Niemand seinen Namen, obgleich er vier Jahre in München gelebt und geschafft hatte; erst als er seine Werke in Wien ausgestellt hatte und die österreichische Presse mit seltener Einstimmigkeit und ungewohnter Begeisterung seinen Ruhm verkündete, wurde auch das Echo bei uns lebendig.

Jetzt ist Berlin in der Lage, selbst zu prüfen und findet sich vor etwas Ungeahntem, Erstaunlichem, Gewaltigem, vor einem Meister, der durch die Kühnheit seiner Composition und die dramatische Lebendigkeit der Schilderung ebenso hinreißt, wie er durch seine grauenvollen Vorwürfe und die unbarmherzige Wahrheit, mit welcher er die Natur wiedergiebt, [152] oft erschüttert, oft abstößt, immer aber fesselt. Dazu gesellt sich eine Technik, die mit souverainer Meisterschaft über alle Hülfsmittel ihrer Kunst verfügt, hier mit kühnen breiten Pinselstrichen Riesengemälde auf die Leinwand wirft und dort sich mit peinlichster Sauberkeit in die Ausmalung des Details vertieft. Auch die Farbe ist dem Künstler unterthan zu jedem Dienste, den er von ihr fordert; Luft und Wasser, Licht und Dunkel behandelt er mit gleicher Treffsicherheit; großartig concipirte Landschaften stehen neben kolossal angelegten Historienbildern, charakteristische Portraitstudien neben fein ausgeführten Genrescenen – kurzum, er wagt sich auf jedes Gebiet seiner Kunst, und in jedem ist er Meister.

Die in den schönen Sälen des Kroll’schen Theaters befindliche Collectivausstellung seiner Werke bildet seit Wochen den Mittelpunkt des künstlerischen Interesses der Reichshauptstadt. Sie bietet auch mehr als eine unserer gewohnten Gemälde-Ausstellungen; denn sie führt uns gleichsam den ganzen Mann vor, sein bewegtes, abenteuerliches Leben, die Früchte und Sammlungen seiner zahlreichen Reisen und Feldzüge, die Trophäen seiner oft lebensgefährlichen Jagden, wie Tiger- und Bärenfelle, kurzum, Sie trägt einen ausgeprägt individuellen Charakter von pikantestem Reize.

Erhöht wird derselbe durch das ganze Arrangement. Versetzen uns schon die bärtigen russischen Diener in ihrer Landestracht in eine fremde Welt, so fühlen wir uns völlig von dem Treiben draußen isolirt, wenn wir plötzlich in dem mit elektrischem Lichte beleuchteten Saale stehen und uns mächtige, buntprangende Schildereien entgegenleuchten, die alle Farbengluth des Orients über uns auszuströmen scheinen. Jene düsteren, entsetzlichen, nervenerregenden Bilder aus dem russisch-türkischen Kriege, dazu die mit ernsten, getragenen Männerchören wechselnden Töne des unsichtbaren Harmoniums, dessen klagende, schwermüthige Weisen eine weihevolle Stimmung in uns erwecken – das ruft einen überwältigenden, unvergeßlichen Eindruck hervor. Nebenbei sei bemerkt, daß die Beleuchtung der Gemälde mit elektrischem Lichte sich ganz vortrefflich bewährt; die Farben behalten Glanz und Frische, und jede vom Künstler beabsichtigte Wirkung kommt zur vollsten Geltung.

Ueber Wereschagin’s Lebensgang giebt uns der Katalog einige Anhaltspunkte. Geboren wurde er am 26. October in Tscherepovetz, Gouvernement Nowgorod, von russischen Eltern, doch war eine seiner Großmütter Tatarin. Er erwarb in der Marineschule zu Petersburg das Officierspatent, wandte sich dann der Malerei zu und wurde Schüler der Akademie, die ihm für sein erstes Bild, „Odysseus tödtet die Freier“, eine Medaille zuerkannte. Er hat später dieses Bild eigenhändig vernichtet. 1863 ging er auf Studienreisen nach Berlin, Paris und den Pyrenäen, 1864 in den Kaukasus, trat aber noch in demselben Jahre in Paris als Schüler in das Atelier Gérome’s. 1867 bis 1870 nahm er an dem Feldzuge des Generals Kaufmann in Turkestan Theil und erwarb für seine persönliche Tapferkeit hohe militärische Auszeichnungen; 1870 bis 1873 arbeitete er in Horschelt’s Atelier in München, und 1874 bis 1876 bereiste er, zum Theil im Gefolge des Prinzen von Wales, Indien.

Beim Ausbruch des russisch-türkischen Krieges schloß er sich sofort der Avantgarde des älteren Skobeleff an, wurde an der Donau schwer verwundet, ging nach seiner Genesung mit General Gurko über den Balkan und kehrte nach Abschluß des Waffenstillstandes nach Paris zurück, wo er seitdem in seinem riesigen Atelier in Maison Lafitte eine rastlose Thätigkeit entfaltet.

Wereschagin’s künstlerischer Charakter ist mit wenigen Worten bezeichnet: er ist ein rücksichtsloser Realist, welcher der Natur unerschrocken zu Leibe geht und nur ein Gesetz über sich anerkennt: die Wahrheit. Aber er ist von unseren modernen Realisten, die sich meist als bloße Photographen und Abschreiber der Natur zu geben lieben, grundverschieden; denn er stellt seine Kunstübung überall in den Dienst einer sittlichen Idee, und „Krieg dem Kriege!“ ist die Losung, welche auf seinem Banner steht. Man komme hier nicht mit dem Einwand der Tendenzmalerei; die Forderung, daß jedes Kunstwerk Selbstzweck sei, schließt nicht aus, daß sich der Künstler seiner culturellen, seiner ethischen Aufgabe bewußt bleibe, und der Priester des Schönen soll immer auch ein Priester des Wahren und Guten bleiben. Daß freilich Wereschagin über[WS 1] dem Wahren und über seiner sittlichen Idee das Schöne häufig über Gebühr vernachlässigt und in den Hintergrund drängt, läßt sich nicht ableugnen, und hier ist der Vorwurf der Einseitigkeit, die aus der ausschließlichen Betonung der einen Tendenz entspringt, in einem gewissen Grade gerechtfertigt.

Aber sind etwa unsere landläufigen Realisten Verkünder des Schönheitsideals? Die Wände unserer Ausstellungsräume predigen seit Jahren das Gegentheil mit abschreckendster Deutlichkeit. Und jene haben nicht einmal den Entlastungsgrund, daß, was sie dem Schönen rauben, dem Guten zu Statten komme. Ueberdies gilt diese Einseitigkeit, die man vom künstlerischen Standpunkte aus bedauern mag, vom ethischen und volkserziehlichen aber zustimmend begrüßen muß, nur von Wereschagin’s Kriegsbildern; in Seinen Orientbildern, welche Vorwürfe des Volkslebens und dergleichen behandeln, vereinigen sich genaues Studium der localen Verhältnisse und poetische Auffassung und Wiedergabe zu Werken von unbestreitbar großer harmonischer Schönheit.

Dazu gehören beispielsweise: „Der Großmogul in seiner Privatmoschee in Delhi“, „Die Moschee über Tamerlan’s Grabe in Samarkand“ und vieles Andere. Das neuerdings so populär gewordene ethnographische Genre hat durch Wereschagin, beiläufig bemerkt, eine unschätzbare Bereicherung erfahren; von deutschen Meistern kann sich unter den Lebenden nur Wilhelm Gentz, von fremden nur der Pole Joseph Brandt mit ihm messen, welche beide, wie er, „vieler Menschen Städte geschaut und Sitten erfahren“ und in der künstlerischen Wiedergabe fremder Volkstypen, in dem sicheren Erfassen des Charakteristischen, sowie in der Leuchtkraft der Farbe und der Sicherheit der Technik ihm ähnlich und ebenbürtig sind.

Es ist unmöglich, aus der mehr als hundertfünfzig Nummern umfassenden Ausstellung auch nur das Wichtigste herauszuheben. Neben den farbenprangenden indischen Bildern, deren eines den Einzug des Prinzen von Wales in Jeypore mit vier nahezu lebensgroßen Elephanten schildert, während uns daneben auf einer Wiesenlandschaft die Gipfel des Himalaya in ihren blendenden Schneemänteln entgegenleuchten, wird das Interesse des Publicums in erster Linie durch die Schlachtenbilder gefesselt. Nie ist das Elend, das Entsetzen, all der trostlose Jammer des Krieges ergreifender, beredter, abschreckender gepredigt worden, als in diesen Darstellungen aus dem russisch-türkischen Kriege.

Von den idealen Seiten, die man dem Kriege nachrühmt, weiß Wereschagin nichts; er schildert nicht homerische Einzelkämpfe, die das Herz des Jünglings höher schlagen machen, nicht den begeisterten Tod für’s Vaterland, nicht den frischen, fröhlichen Kampf für eine menschheiterlösende Idee – er sieht überall nur den Massenmord, das erbarmungslose, brutale, entsetzliche Hinschlachten von Tausenden und Abertausenden. Wofür fielen diese Männer, wofür erfroren unsere Jünglinge, welcher begeisternde Gedanke wärmte diesen Vorposten das Blut, bis sie im Schipkapasse von den Schneewehen begraben wurden?

Wir warten vergebens auf Antwort. Entsetzen, Grauen, Vernichtung überall – nirgends ein Strahl des Lichtes, der Verheißung! Nur in des Künstlers Seele dämmert ahnungsvoll das Morgenroth eines künftigen schönen Tages, von dem unsere Dichter sagten und sangen. Ob er kommen wird, ob er kommen kann – wer vermöchte das zu sagen? Klar wird uns aus diesen Wereschagin’schen Bildern jedenfalls das Eine, daß die Art der modernen Kriegführung den letzten Hauch der Poesie vom Schlachtentode abgestreift hat; die Tapferkeit des Einzelnen vermag sich nicht mehr in kühner That, sondern nur in schweigendem Dulden, in willenlosem Erliegen zu bekunden; nicht mehr sausen die Walküren über das Schlachtfeld, um den Helden nach Walhall emporzutragen – gestorben, verdorben und – ach in wie vielen Fällen! – zweck- und ziellos geopfert, modern sie im gemeinsamen Grabe – kaum, daß sie wußten, wofür sie ihr Leben ließen.

Es gehören starke Nerven zur Vertiefung in diese Bilder. Als Titelblatt können wir die Apotheose des Krieges betrachten, welche der Künstler allen Siegern der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft widmet. Eine Schädelpyramide, wie sie Tamerlan als Denkmäler seiner Kriegsthaten zu errichten pflegte – Schädel auf Schädel gethürmt und ringsum die Geier, welche das letzte Fleisch von den Knochen reißen. In diesem Bilde wird uns der Cyklus symbolisch angedeutet. Man erlasse mir die Schilderung des Schlachtfeldes bei Plewna, des türkischen Lazareths, der Gräber auf Schipka, des mit Leichen besäeten Weges von Plewna nach der Donau!

Einen wahrhaft erschütternden Eindruck macht das Bild „Besiegte“, zu welchem der Maler folgenden Commentar giebt: „Zwei Tage nach der Uebergabe der Festung Telisch trugen die Russen die von den Türken verstümmelten Leichen, ungefähr 1300 an der Zahl, zusammen. Der Priester sprach ein letztes Gebet; dann wurden sie in das gemeinsame Grab gelegt ....“

Ein ödes, weites Blachfeld. Nebel erfüllt die Luft – bald wird er sich zu Schnee verdichten und sie alle einhüllen, die hier Reihe an Reihe neben einander liegen, starr, kalt, todt. Die einzig Lebenden in der schauerlichen Stille sind der Pope im schwarzen Gewande und ein russischer Unterofficier. Die Wirkung ist um so grauenerregender, als aus dem Massengrabe uberall die Köpfe hervorragen, während die Leiber dürftig mit Erde beschüttet sind.

Ja, diese Bilder reden mit fürchterlicher Beredsamkeit, und daß wir wissen, ihre Worte werden ungehört verhallen, wie die Stimme des Predigers in der Wüste, verbittert die trostlose Stimmung, in welcher uns der Künstler entläßt. Doch bald siegt das Gefühl der Bewunderung über sein eminentes Können, sein in allen Sätteln gerechtes Genie. Mag man nun über Nutzen und Nothwendigkeit der Kriege denken, wie man wolle, mag man einwerfen, daß, wenn Millionen durch die Ruhmsucht von Despoten oder die Eifersucht und Intriguen der Cabinete in den Tod getrieben wurden, auch die Sonne der Freiheit bisher stets in Blut getaucht über den Völkern aufging, daß jede große, weltumwälzende Idee Hunderttausende von Opfern forderte, ehe sie ihre segensreichen Einflüsse zu entfalten vermochte – unserem Künstler wird man zugeben müssen, daß er seinen Standpunkt mit aller Energie seines Talentes vertheidigt und jedenfalls die von ihm beabsichtigte Wirkung voll und ganz erzielt. Aber abgesehen davon, bietet er eine solche Fülle des Schönen, des Vollendeten, daß ihm Niemand den Zoll der Bewunderung versagen wird. Und seine Technik verblüfft auch den Meister. Er malt den Marmor, wie es nur je Alma Tadema gekonnt; seine große, ganz in Weiß gehaltene Schneelandschaft springt uns in all ihren Contouren mit plastischer Schärfe in die Augen; hier hebt sich der in den weißen Burnus gehüllte Indier in vollster Körperlichkeit von der glänzenden Marmorwand der Moschee ab; dort schafft der Künstler im „Gefängniß zu Samarkand“, in dessen tief im Schatten liegende schreckliche Höhlen ein verirrter Sonnenstrahl fällt, ein Meisterstück des Helldunkels. Diese Beispiele ließen sich bei der phänomenalen Vielseitigkeit Wereschagin’s in’s Unendliche vermehren, und es ist gleichgültig, ob, namentlich in den großen Tableaus, manches zu flüchtig ausgeführt worden; denn jedem kleinen Vorwurfe gegenüber vermögen wir auf eine Reihe großer Leistungen hinzuweisen, die bekunden, daß unser Künstler alles kann, was er will.

Hermann Trescher.     

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: stber

Kleiner Briefkasten.


H. Br. in Berlin. Wir können Ihnen leider nicht rathen. Verfügen Sie über das Eingesandte!

A. B. Gebrüder Senf in Leipzig und C. Zechmeyer in Nürnberg.

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Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die Erdkugel ist bekanntlich so stark mit Magnetismus geladen, daß sie als ein Magnet gelten kann. Als solcher aber muß sie, wie jede Magnetnadel, zwei magnetische Pole, den magnetischen Nordpol und den magnetischen Südpol, besitzen. Der eine von ihnen liegt im nordamerikanischen Eismeer, in der Nähe der Insel Melville, der andere im südlichen Eismeer südlich von Neuholland. Auf diesen Polen nimmt die freihängende Magnetnadel eine verticale Stellung ein.

Anmerkungen (Wikisource)