Die Gartenlaube (1883)/Heft 31

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 31.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Ueber Klippen.

Erzählung von Friedrich Friedrich.

Auf dem Thurme der Pfarrkirche in einem rings von hohen Bergen umschlossenen Thale Tirols läutete es zur Messe. Laut und feierlich hallten die Glockentöne durch den ruhigen, frischen Herbstmorgen hin, sie brachen sich an einer nahen Felswand und da klang es, als ob jeder Glockenschlag noch einen singenden Nachklang habe.

Es war Sonntag, und auf dem Kirchwege kamen Jung und Alt langsam daher zur Messe. Vor dem nahen Wirthshause stand ein Trupp junger Burschen und Männer, um zu plaudern, ein Glas Wein zu trinken und ihre kurze Pfeife auszurauchen, ehe sie in die Kirche gingen.

Manche von ihnen waren erst vor wenigen Tagen von den hochgelegenen Almen, auf denen sie fast den ganzen Sommer zugebracht, heimgekehrt, und da oben hatte es keinen Wein gegeben, und ihre Bekannten waren auch nicht dorthin gekommen. Lauter als sonst ging es deshalb unter ihnen zu, es fehlte nicht an derben Späßen, und wenn ein neuer Bekannter hinzu trat, so hielten ihm zehn Hände das volle Weinglas entgegen, und es wurde ihm die Rechte so kräftig geschüttelt, daß eine zartgebaute Hand unter dem Drucke gebrochen sein würde.

Es waren kräftige, arbeitgehärtete und wettergestählte Gestalten. Die frische Bergluft und die schwere Arbeit ließen keine Schwächlinge aufkommen.

Die kurze Joppe aus grobem Loden, der breite, zum Theil gestickte Ledergurt, die mit Nägeln beschlagenen Bergschuhe, das Alles ließ die Gestalten noch fester erscheinen. Nur der kleine schwarze Hut mit dem Gemsbart und der verwegenen Hahnenfeder, sowie die frische Blume, die an keinem fehlte, gaben ihnen ein lustiges und keckes Aussehen.

Eine Gestalt fiel vor Allen unter ihnen auf. Das war der David Unterburgsteiner. Fast um Kopfeslänge ragte er über die Anderen hinaus; sein Körper hatte etwas Reckenhaftes, und unter seinen buschigen Brauen blitzen ein Paar unruhige, stechende Augen hervor.

Er war der lauteste von Allen und führte das große Wort. Weil er von seinem Vater vor ungefähr einem Jahre ein großes Gehöft am Berge, den Unterburgstein, und einige tausend Gulden geerbt hatte, glaubte er ein Recht dazu zu haben. Und die anderen Burschen ließen sich dies gefallen, weil sie seine Kraft fürchteten. Noch hatte er im Ringen Jeden geworfen, und er liebte es zu raufen.

Es lag in seinem ganzen Wesen und in dem Tone seiner Stimme etwas Herausforderndes und Rohes. Er wußte, daß er wenig Freunde hatte, lachend rief er:

„Er brauche keine Freundschaft, denn was er erreichen wolle könne er selbst durchbringen.“

Ein Bursche trat zu den Dastehenden; es war Sepp Plankensteiner.

„Gestern Abend ist der Hansel Haidacher heimgekehrt,“ sprach er. „Sie haben ihn in Wien ein Jahr früher von den Soldaten losgelassen, als er selbst erwartet hatte. Seine Führung muß eine gute gewesen sein.“

Die Nachricht schien die Meisten zu erfreuen, die Umstehenden bestürmten den Ueberbringer mit Fragen.

Der Unterburgsteiner allein zuckte unwillig mit den Augen und biß erbittert auf die Pfeifenspitze.

„Sepp, weißt Du das mit der guten Führung so genau?“ rief er mit höhnendem, herausforderndem Tone.

„Ich weiß es nicht, aber es wird schon so sein, wie ich sage, denn wen sie einmal unter den Soldaten haben, dem schenken sie so leicht nichts,“ entgegnete der Gefragte ruhig.

„Und ich sage, dem wird nicht so sein!“ rief David laut. „Haha! Es kehrt Mancher auch vor der Zeit heim, weil mit ihm nichts anzufangen ist! Doch mir kann es gleichgültig sein, was den Welschen zurückgeführt hat. Was geht’s mich an!“

Er stürzte lachend ein volles Glas Wein hinab.

Die Umstehenden schwiegen, so sehr sie sich auch über die Worte ärgerten, denn den Hansel Haidacher hatten sie alle gern. Der Unterburgsteiner hatte ihn in wegwerfender Weise einen Welschen genannt, weil Hansels Mutter eine Italienerin war, aber so sehr Hansel in seinem Aeußeren auch die Abstammung seiner Mutter verrieth, im Herzen war er ein echter Tiroler, genügsam und heiter wie ein Kind.

„Ich gönne es dem Haidacher, daß er den Hansel wieder hat,“ sprach ein schlank aufgewachsener Bursche, der Franz Steger. „Dem Alten ist’s schlecht ergangen in den letzten Jahren. Er ist krank und schwach. Drei Kühe sind ihm auf der Alm verunglückt, sein bestes Stück Land ist durch den Bergsturz verschüttet, er allein wäre nicht im Stande gewesen, das zu überwinden. Der Hansel wird’s durchführen!“

„Kannst ihm ja helfen!“ fiel David mit höhnendem Lachen ein. „Bezahl die Schulden, die auf dem Gehöft haften, und führe ihm einige von Deinen Kühen in den Stall, aber Du mußt nicht vergessen, das Futter mitzunehmen.“

Ein lustiger, hell durch die Morgenluft hallender Juchzer unterbrach den Unterburgsteiner. Aller Augen wandten sich nach einer Felswand hoch über ihnen und gleichzeitig riefen die Meisten:

[498] „Der Hansel!“

Da stand oben auf der jäh abstürzenden Felsenwand eine junge, kräftige Männergestalt und schwenkte grüßend den Hut. Ein lauter, freudiger Gruß drang aus dem Thale zu ihm hinauf. Dann eilte der Obenstehende auf einem von unten kaum bemerkbaren und nur für geübte und schwindelfreie Bergsteiger möglichen Pfade, der sich an der Bergwand hinzog, hinab. In vollem Laufe, jeden den Weg versperrenden Felsen wie eine Gemse leichtfüßig überspringend, kam er thalwärts. Selbst die mit dem Wege und den Gefahren vertrauten Burschen verfolgten den Tollkühnen mit den Augen, nicht ohne daß ihre Herzen schneller schlugen, denn keiner unter ihnen hätte gewagt, ihm dies nachzumachen.

In wenigen Minuten war der Hansel unten und mit dem lustig klingenden Gruße: „Grüß Gott!“ trat er in den Kreis seiner Freunde, die er seit Jahren nicht gesehen.

Zwanzig Hände streckten sich ihm entgegen, volle Weingläser wurden ihm hingehalten und lachend leerte er einige.

„Ich bin warm und durstig geworden,“ sprach er, indem er den Hut abnahm und mit der Hand über die feuchte Stirn hinfuhr.

Es war eine auffallend hübsche Erscheinung. Mittelgroß und kräftig gebaut und doch leicht in jeder Bewegung. Das Gesicht verrieth deutlich das italienische Blut, welches in seinen Adern war. Seine Wangen waren selbst durch den schnellen Abstieg kaum geröthet, seine großen, schwarzen Augen blickten lustig, unbefangen. Den Kopf bedeckte ein dunkles, lockiges Haar.

Alle Bekannten drängten sich an ihn heran, um ihm die Hand zu schütteln, nur der Unterburgsteiner kehrte ihm den Rücken zu und bezahlte dem Wirthe den getrunkenen Wein.

„Hansel, wie bist Du frei gekommen vor der Zeit?“ fragte einer seiner Freunde.

„Ich hab’ Glück gehabt!“ entgegnete der Gefragte, dessen Brust von dem schnellen Abstiege noch immer heftig athmete. „Es ist mir als Soldat gut ergangen, und ich wüßte nicht, worüber ich hätte klagen sollen, es ist auch schön in Wien, aber wie hier ist’s doch nicht. Es fehlen die Berge, und es fehlt die Luft. Es legt sich dort etwas schwer auf die Brust; was es ist, weiß ich nicht.“

„Es wird das Heimweh sein,“ warf Sepp ein.

„Ich weiß es nicht,“ fuhr Hansel fort. „Ich hatt’ mich auch darein ergeben, noch ein Jahr zu dienen, denn ändern konnt’ ich’s nicht. Vor einigen Wochen setzten wir zur Uebung in großen Booten über die Donau. Vorn an der Spitze meines Bootes stand der Oberst und ertheilte die nöthigen Befehle. Da stürzt’ derselbe rücklings in den Strom und das Wasser schlug über ihm zusammen. Bestürzt fuhren Alle empor. Ich warf schnell mein Käppi fort und stürz’ mich ihm nach. Und wie ich tauch’, sehe ich ihn vor mir im Wasser hintreiben, es gelingt mir, ihn zu erfassen, und dann arbeite ich mich mit ihm empor. Als ich auftauche, waren wir wohl fünfzig Schritte vom Boote entfernt und die Strömung riß mich weiter, denn ich mußte alle Kraft zusammen nehmen, um den Oberst über Wasser zu halten, der kein Lebenszeichen von sich gab. Aber das Boot kam uns schnell nach, wir wurden Beide gerettet. und nach kurzer Zeit kam auch der Oberst wieder zu sich. Ein Schwindelanfall hatte ihn erfaßt und er wußte kaum, was mit ihm geschehen war. Nach zwei Tagen wurd’ ich zu ihm in seine Wohnung befohlen. Er lag krank darnieder, als ich aber an sein Bett trat, streckte er mir die Hand entgegen. Dann fragt’ er mich, ob ich Lust hab’, weiter zu dienen, dann soll’ es mir nicht fehlen, daß ich weiter rück’. Offen sagt’ ich ihm, daß es mich heim zieh’ und daß mein Vater, der schwach und krank sei, meiner bedürf’. Er ließ sich erzählen, woher ich stamm’ und was ich sei. Dann gab er mir zehn Gulden und hieß mich gehen. Vor wenigen Tagen ließ er mich wieder zu sich rufen. Da gab er mir einen Urlaubsschein für den Rest meiner Dienstzeit und fünfzig Gulden als Reisegeld. Er fügt’ hinzu, daß ich mich an ihn wenden solle, wenn es mir einst schlecht ergeh’, aber ich solle mich brav halten. Nun bin ich da!“

„Und kein Wort hast hierher geschrieben,“ warf Franz Steger ein.

„Glaubst, ich hätt’ mir Zeit dazu genommen?“ rief Hansel, dessen große dunkle Augen den Freund lustig und glücklich anlachten. „Was sollt’ ich schreiben? Ich wußt’ schon, daß es meinem Vater und meiner Mutter am liebsten sei, wenn ich ihnen selbst das Alles erzähl’. Nun gebt mir einen Wein.“

Zehn Gläser wurden ihm entgegengehalten.

Der Unterburgsteiner hatte seine große Gestalt an die Thür des Wirthshauses gelehnt, auf seinem Gesicht lag ein spöttisches, geringschätzendes Lächeln. Kein Wort, welches Hansel gesprochen, war ihm entgangen, aber er gab sich den Schein, als ob derselbe gar nicht für ihn da sei.

„Nun, Hansel, ich glaub’, es ist noch etwas andres, was Dich hierher getrieben hat!“ rief Sepp. „Die Moidl wirst schwerlich vergessen haben!“

Dunkle Röthe übergoß das Gesicht Hansel’s, ehe er aber antworten konnte, ertönte die Orgel in der nahen Kirche, und die Burschen gingen in die Messe.

David folgte ihnen langsam, Er hatte die Lippen fest auf einander gepreßt, und seine Faust hatte sich unwillkürlich geballt. Vor der Kirchthür blieb er zögernd stehen, als ob er unschlüssig sei, was er thun solle.

„Er soll wagen, mir meinen Weg zu kreuzen!“ rief er halblaut, dann trat er in die Kirche.

Zwei Jahre war Hansel fortgewesen. Ehe er das Thal verlassen, war es kein Geheimniß gewesen, daß er die Moidl, die Tochter des Oberburgsteiners, gern hatte, und die ihm wohl wollten, konnten es ihm nicht verargen, denn sie war das hübscheste Mädchen im ganzen Thal.

Aber auch David liebte das Mädchen, deshalb haßte er Hansel.

Noch war es ihm nicht gelungen, Moidl’s Herz zu gewinnen. Wenn er ihr auf dem Wege zur Kirche begegnet war, oder ihren Vater, dessen Gehöft wohl noch fünfhundert Fuß höher am Berge lag, als sein eigenes, besucht hatte, dann hatte er sich ihr stets in der freundlichsten Weise genaht, aber Moidl war ihm gegenüber stets ruhig und kalt geblieben, und selbst durch seine Späße war er nicht im Stande gewesen, ein Lächeln auf ihrem Gesichte hervorzurufen.

Das hatte ihn zwar geärgert, aber nicht beunruhigt, denn wenn sein Trauerjahr verflossen war und er um ihre Hand werben konnte, dann mußte sie doch die Seinige werden, denn so thöricht konnte sie nimmer sein, ihn, den reichsten Bauer im ganzen Thal, zurückzuweisen.

Daß die Moidl den Hansel gern gehabt hatte, wußte er auch. Der Bursche war indessen schon zwei Jahre fort und mit seinem Vater ging es von Jahr zu Jahr rückwärts. Sein Gehöft war verschuldet und konnte kein Mädchen verlocken, Herrin desselben zu werden.

Das hatte er sich oft genug gesagt, nun der Hansel aber unerwartet zurückgekehrt war, war seine Zuversicht doch in’s Wanken gerathen.

In der Kirche schwand sein Groll nicht. Er sah, daß Hansel sich so aufgestellt hatte, daß er die Moidl sehen konnte, und sie hatte ihn auch bereits bemerkt, denn ihr Gesicht war mit Gluth übergossen.

Wohl beugte sie sich nieder auf das Gebetbuch, sobald sie indessen die Augen aufschlug und dieselben dem Blicke Hansel’s begegneten, schoß ihr auf’s Neue das Blut in die Wangen.

David wandte nicht eine Minute lang den Blick von den Beiden. Es gährte und kochte in ihm. Er hätte vorstürzen und den Welschen, wie er Hansel stets nannte, niederschlagen mögen.

Ehe die Messe beendet war, verließ er die Kirche. In dem nahen Wirthshause suchte er das verzehrende Feuer in seiner Brust durch Wein zu löschen. Dann lachte er wild auf. Er lachte über den Welschen, der es wagte, seinen Weg zu kreuzen, er wollte ihm bald die Lust für immer verderben. Heftig schlug er mit der Faust auf den Tisch.

Als die Messe beendet war und die Leute aus der Kirche traten, blieb Hansel neben der Thür stehen. Und als die Moidl kam, trat er zu ihr und streckte ihr die Hand entgegen.

„Guten Tag, Moidl!“ rief er, und seine Augen leuchteten.

Wieder erröthete das Mädchen, aber sie legte ihre Hand in die seinige und bemerkte es kaum, daß er dieselbe festhielt.

„Guten Tag, Hansel,“ entgegnete sie mit leise bebender Stimme. „Wie geht’s Dir?“ fügte sie fragend hinzu.

„Fragst noch!“ rief der Bursche mit heiterem Lachen. „Wie [499] kann mir’s anders ergehen als gut, nun ich wieder hier bin! Und noch viel schöner bist Du geworden, Moidl,“ fügte er leise hinzu.

„Moidl, komm!“ rief ihr Vater, der aus der Kirche trat, mit strengem Tone.

Das Mädchen zuckte zusammen und entzog Hansel ihre Hand, aber nicht ohne schnellen, innigen Druck.

Hansel hätte aufjauchzen mögen.

„Guten Tag, Oberburgsteiner!“ wandte er sich an des Mädchens Vater und streckte ihm die Hand entgegen.

„Guten Tag,“ entgegnete der Bauer, den Kopf halb abwendend und die dargereichte Hand nicht annehmend. „Komm,“ wandte er sich an seine Tochter und schritt weiter.

Er war eine große, hagere Gestalt In seinen Zügen lag etwas Hartes und Strenges, nichts von dem heiteren Sinne der Tiroler. Spät hatte er sich verheirathet. Seine Frau war ihm schon nach wenigen Jahren, nachdem sie ihm die Tochter geschenkt, gestorben. Allein war er nun durch das Leben gegangen. Mit einigen Knechten und Mägden hatte er die Arbeit getheilt, und er kannte nichts Anderes als arbeiten und erwerben. Seine Tochter war wie ein Edelweiß allein und sich selbst überlassen aufgewachsen, und wie ein Edelweiß blühte sie.

Und die Besitzung des Bauern hatte das Ihrige dazu beigetragen, ihn von den Menschen zu entfremden. Hoch oben am Berge, mehr denn tausend Fuß über der Thalsohle, lag sie bereits in dem Bereiche der Wolken. Tagelang war sie in Nebel gehüllt, wenn im Thal der Sonnenschein sich lagerte, und im Winter war sie durch Schnee oft wochenlang völlig abgeschlossen.

Im Sommer stieg der Bauer nur Sonntags den beschwerlichen Weg hinab, um die Messe zu hören, und nach derselben in dem nahen Wirthshause, dem „Elephanten“, seinen Wein zu trinken und mit den Bekannten zu plaudern.

Ohne zur Seite zu blicken, schritt er an dem Wirthshause vorüber.

„Willst Du nicht einkehren?“ fragte die Moidl, die an seiner Seite schritt.

„Nein, ich will heim und Du gehst mit,“ gab der Oberburgsteiner mit strengem Tone zur Antwort.

Moidl schwieg. Wie ein trüber Schatten legte es sich auf ihr hübsches, frisches Gesicht. Sie wandte noch einmal den Kopf zurück, und als sie sah, daß der Hansel in der Thür des Wirthshauses stand und ihr nachblickte, da athmete ihre Brust leichter, denn sie wußte, daß er sie nicht vergessen hatte.

„Der Oberburgsteiner hat Deinen ‚Guten Tag‘ kaum erwidert,“ sprach der Sepp zu dem Hansel.

„Kann ich’s hindern?“ entgegnete der Letztere mit heiterem Tone. In Moidl’s Augen hatte er gelesen, daß sie ihn noch liebe, der Druck ihrer Hand hatte es ihm bestätigt – mehr wünschte er nicht. „Wem mein Gruß nicht gut genug ist, der muß sich einen besseren suchen.“

Er zog den Sepp mit in das niedrige Gastzimmer und ließ sich mit dem Steger und mehreren Freunden an einem Tische nieder. An einem Nebentische saß David mit mehreren Bauern.

Hansel bestellte Wein.

„Heut müßt Ihr mit mir trinken,“ sprach er zu seinen Freunden. „Es hat mich oft verlangt, mit Euch wieder zusammen zu sitzen, und nun ist es früher gekommen, als ich gehofft hab’.“

Der Wirth brachte den Wein, und die jungen Burschen stießen an.

„Haha! die wenigen Gulden werden auch ein Ende nehmen! Es ist nur gut, daß dann von den Bergen Wasser genug fließt!“ rief der Unterburgsteiner am Nebentische mit lauter, herausfordernder Stimme.

Besorgt blickten Sepp und Franz auf den Hansel, denn auch dieser hatte einen leicht erregbaren Kopf und sie befürchteten, daß er mit David an einander gerathen könne.

Aber Hansel stimmte in das Lachen des Unterburgsteiners ein.

„Hast Recht!“ rief er mit lustigem Tone zu dem Tische hinüber. „Das Wasser möcht ich weniger missen als den Wein! Es hat den Vorzug, daß es nichts kostet und den Kopf klar erhält!“

Er hatte die Lacher auf seiner Seite.

David schwieg. Er war ein verschmitzter Kopf, aber zu schwerfällig, um es in Wortgeplänkel mit dem Hansel aufzunehmen. Er hatte ohnehin in seinem Grolle hastig getrunken, und der Wein hatte sein Gesicht geröthet und seine Gedanken verwirrt.

Still saß er da und starrte brütend vor sich hin. Er horchte auf jedes Wort, welches Hansel sprach, und es grollte in ihm, weil er keinen Anlaß fand, ihm entgegen zu treten.

Hansel schien sich um seinen Gegner nicht im Geringsten zu kümmern. Lustig erzählte er von dem Leben in Wien, von den prächtigen Bauten und dem Reichthume, der dort herrsche, von dem Glanze des Hofes, den er als Wache geschaut hatte.

„Hast Du nicht auch mit dem Kaiser gegessen?“ rief David, der den in ihm nagenden Groll nicht länger bändigen konnte.

„Nein,“ entgegnete Hansel ruhig. „Aber gesehen hab’ ich ihn oft, und wenn Du besser weißt, wie er aussieht, dann erzähl Du!“

„Ich brauch das nicht zu wissen, denn hier wird er mir doch nimmer begegnen,“ gab David zur Antwort. „Es ist ein Pfarrer nach Rom gereist, der hat seinen Hund mitgenommen, und der Hund hat den Papst gesehen, aber der Papst nicht ihn!“

„Hat der Hund dies Dir selbst erzählt?“ fragte Hansel, und wieder hatte er die Lacher auf seiner Seite.

Das Gesicht des Unterburgsteiners röthete sich vor Zorn.

„Schweig!“ schrie er und schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, daß die Gläser umstürzten.

„Wer hier seinen Wein bezahlt, kann auch schwatzen,“ gab Hansel zur Antwort. „Frag den Wirth, der wird Dir’s sagen.“

Der Unterburgsteiner sprang auf.

„Willst mit mir raufen?“ rief er. „Auf ein großes Mundwerk bin ich freilich nicht eingerichtet.“

„Nein, ich raufe nicht mit Dir!“ entgegnete Hansel. „Du hast Groll gegen mich, und wenn ich raufe, soll es nicht in Feindschaft geschehen.“

„Ich wüßt nicht, weshalb ich Dir grollen sollt!“ rief David. „Haha! Das kann Jeder vorschützen, dem es an Muth fehlt!“

Hansel sprang empor. Mit einem Schritte stand er dicht vor dem Unterburgsteiner, dessen Gestalt ihn um mehr als Kopfeslänge überragte. Das Blut war aus seinem Gesichte gewichen, jeder seiner Nerven schien zu zucken.

„An Muth fehlt es mir nicht – ich will mit Dir raufen,“ rief er.

Seine Freunde sprangen auf und suchten ihn zurückzuhalten, denn den Unterburgsteiner hatte noch Keiner geworfen.

„Laßt mich gewähren!“ rief Hansel erregt. „Daß mir der Muth fehlt, soll mir Niemand nachsagen.“

Mehrere ältere Männer wandten sich an David, um ihn zurückzuhalten.

„Laßt ihn doch seine Kraft mit mir messen!“ entgegnete er mit höhnendem Lachen. „Mit dem Munde allein läßt sich das nicht ausmachen.“

Alle begaben sich auf den Hof des „Elephanten“. Hastig warfen David wie Hansel ihre Hüte fort und zogen die Joppen aus. Sie streiften die Hemdärmel empor, und wer die kräftigen, reckenhaften Arme des Unterburgsteiners sah, konnte über den Ausgang kaum im Zweifel sein.

Die Männer und Burschen hatten um die beiden Gegner einen Kreis gebildet, der hinreichend Raum ließ. Eine ernste und besorgte Stimmung herrschte unter ihnen; denn dies war kein Ringen, in dem zwei übermüthige Buben ihre Kräfte maßen, es war der Kampf zweier Gegner, die sich haßten.

Einen Augenblick standen David und Hansel einander regungslos gegenüber, Auge im Auge; Jeder schien dem Andern eine Schwäche in der Stellung abzulauern. Auf dem Gesichte des Unterburgsteiners lag der Hohn und die Zuversicht eines sicheren und leichten Sieges.

Endlich fuhren sie auf einander los. Es war das Werk eines Augenblicks, aber Beide hatten sich regelrecht erfaßt. Das Ringen begann. David bot all seine Kraft auf, um den Gegner mit einem Rucke niederzuwerfen, aber er hatte denselben unterschätzt. Durch das Gewicht seines reckenhaften Körpers suchte er ihn niederzudrücken, aber Hansel’s Sehnen schienen während des Kampfes zu schwellen, er gab seinem Gegner nicht um einen Zoll nach.

Lautloses Schweigen herrschte ringsum. Nur mit den Augen gaben Hansel’s Freunde sich ein Zeichen, daß auch sie sich über die Kraft des Freundes getäuscht hatten.

[500] Man hörte das laute Athmen der Kämpfenden, man sah, wie ihre Brust wogte. Der Eine suchte den Andern zurückzudrängen, aber Hansel’s Fuß hatte sich ebenso fest in den Erdboden gestemmt, wie der nägelbeschlagene Schuh des Unterburgsteiners. David’s Gesicht röthete sich mehr und mehr, der Zorn, einen Gegner gefunden zu haben, den er unterschätzt hatte, beengte seine Brust. Hier stand Kraft gegen Kraft, der Ausgang schien allein von der Ausdauer abzuhängen.

Da raffte Hansel sich zusammen, er drängte den Gegner zurück, die Umstehenden wichen zur Seite, jede Muskel seiner Arme trat scharf hervor, noch einmal zuckten sie, da warf er den Unterburgsteiner zu Boden.

Unwillkürlich athmeten alle Umstehenden erleichtert und erfreut auf.

Die beiden Gegner lagen zu Boden. Ihre Brust rang nach Athem. Ihre Kräfte schienen erschöpft zu sein. Ihre Augen, die kaum eine Handspanne von einander entfernt waren, ruhten starr und voll Haß in einander.

„Du hast es gewollt!“ rief Hansel, ließ den Gegner los und richtete sich empor.

Einen Augenblick lang blieb der Unterburgsteiner regungslos liegen. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er geworfen war. Er schloß die Augen, und seine Brust rang nach Athem. Dann griff seine Rechte nach einem Steine, er sprang empor, und Alles vergessend, drang er auf Hansel ein.

Noch hatte dieser von der Anstrengung sich nicht erholt. Als er indessen den Gegner erblickte, als er sah, wie derselbe den Arm erhoben, um mit dem Steine seinen Kopf zu zerschmettern, zuckte er wie vom Blitze getroffen zusammen. Mit einem einzigen Sprunge hatte er ihn unterlaufen und erfaßt, mit der Kraft der Verzweiflung hob er den riesigen Körper empor und schleuderte ihn zu Boden.

Der Unterburgsteiner schrie wild auf vor Schmerz und Wuth. Er raffte sich taumelnd empor, riß ein Messer aus der Tasche und wollte mit demselben auf Hansel eindringen, aber mehr denn Zehn sprangen auf ihn ein, umklammerten seine Arme und entwanden ihm das Messer.

Fast ohnmächtig brach die große Gestalt zusammen, und nur zwei von Allen blieben bei ihm, um ihn zu beruhigen und fortzuführen.

Bleich und von der Anstrengung erschöpft stand Hansel da.

„Ihr hättet ihn ruhig gewähren lassen sollen, denn ich hätte auch sein Messer nicht gefürchtet,“ sprach er zu den Freunden, die jubelnd auf ihn einstürmten.

Sie Alle hatten den Unterburgsteiner gefürchtet und unter dem Drucke desselben gelitten, mit einem Male war dieser von ihnen genommen. Der Große war von einem Burschen geworfen, dem es Niemand zugetraut hatte; laut jubelten sie auf. Triumphirend zogen sie Hansel in das Gastzimmer zurück. Jeder rief nach Wein, um den Helden freizuhalten.

Hansel allein schien über seinen Sieg wenig erfreut zu sein. Erschöpft und vor sich hinstarrend saß er da.

„Ich habe mir heute einen Feind erworben, den nichts versöhnen wird,“ sprach er.

„Du brauchst ihn nicht mehr zu fürchten, er wird Dir ausweichen,“ rief Sepp Plankensteiner.

„Die Feinde, die uns offen entgegentreten, sind nicht die schlimmsten,“ entgegnete Hansel. Die Besorgnisse die ihn erfüllten, wurden indessen bald durch den Wein verdrängt, und kaum eine halbe Stunde später ging’s in der Wirthsstube so lustig zu wie seit Jahren nicht.

Währenddem stieg der Besiegte langsam den steilen Pfad zu dem Unterburgstein empor. Er hatte den Weg manch tausendmal gemacht, und nie war ihm derselbe beschwerlich erschienen, jetzt mußte er mehr denn einmal still stehen, um Athem zu schöpfen und den Schweiß von der Stirn zu wischen, und doch schien die Sonne nicht warm, sondern ein frischer, kühler Wind wehte von Norden her.

(Fortsetzung folgt.)




Das erste allgemeine deutsche Kriegerfest in Hamburg.

Von Harbert Harberts.

Als im vergangenen Jahre Alldeutschlands Sänger nach Hamburg strömten und die guten Hamburger ihre Gäste mit der wärmsten Gastfreundschaft bei sich aufnahmen, da hatte noch Niemand eine Ahnung davon, daß dem schönen Feste bereits in diesem Jahre ein anderes allgemeines deutsches Fest folgen würde, und zwar ein Fest, das durch seine Bedeutung und sein glänzendes Gelingen verdient, in die Annalen der Zeitgeschichte eingetragen zu werden: ein allgemeines deutsches Kriegervereinsfest.

Die Zahl der deutschen Kriegervereine erreicht so ziemlich die der Städte und größeren Ortschaften im deutschen Reich, denn jede Stadt, jedes Städtchen, ja fast jedes Dorf hat seinen Kampfgenossen- oder Militärinvalidenverein. Den Anfang dieser Vereine haben wir über ein halbes Jahrhundert zurück zu suchen, und ihre Wiege steht im Sande der Altmark.

Dort lebte auf seinem adligen Gute ein pensionirter Officier, welcher sein redliches Theil mit dazu beigetragen, die deutsche Erde von den Schaaren des corsischen Welteroberers zu säubern, und der in den ruhmvollen Befreiungskriegen sein Haupt mit Ruhm und seinen Leib mit Narben bedeckt hatte. Er starb, und seine Cameraden in der Nähe, die mit ihm die Strapazen und die Gefahren des Feldzugs getragen hatten, traten zusammen, um ihn mit militärischen Ehren zur Gruft zu geleiten. Die nächste Garnison stand weit entfernt, und so legte man selber die als Heiligthümer aufbewahrten Uniform- und Armaturstücke wieder an, und in ihnen gab man dem Verstorbenen das letzte Geleite. Man trug dem Sarge auf einem Kissen das eiserne Kreuz und den russischen Annenorden nach, die einst die Brust des Helden geschmückt hatten, und über des Kriegers Grab krachten die üblichen drei Ehrensalven.

Die Cameraden aber, die in solcher Weise den Verstorbenen begraben hatten, gaben sich, als sie sich wieder trennten, um ihren täglichen Beschäftigungen von Neuem nachzugehen, das Wort darauf, daß sie Jedem unter sich, im Falle des Ablebens, dieselben Ehren erweisen wollten. Aus diesem äußeren Anlasse entstand der erste Kriegerverein.

Das Beispiel aber fand Nachahmung; in Preußen wie in Baiern und Sachsen entstanden solche Vereine, die sich bald Veteranen-, bald Kampfgenossen-, bald Militärbegräbnißvereine nannten. In Preußen wurden diesen Vereinen besondere Vergünstigungen verliehen; eine königliche Cabinetsordre vom 22. Februar 1842 gestattete ihren Mitgliedern das Tragen von Waffen und einer vollständigen, derjenigen der preußischen Infanterie ähnlichen Uniform. Es lag in der Natur des Verlaufes der Geschichte, daß diese Kriegervereine keine besondere innere Stärke gewinnen konnten, denn den Befreiungskriegen folgte eine lange Friedenszeit, und die alten Mitkämpfer aus den glorreichen Jahren von 1813 und 1814 nahmen an Zahl immer mehr ab.

Da fielen in unsere Zeit die Feldzüge des Jahres 1864 gegen die Dänen, des Jahres 1866 gegen Oesterreich und der heißen Jahre 1870 und 1871 gegen Frankreich. Was damals in Deutschland zum Kriegsdienst verpflichtet war, das stand im Felde, und als der furchtbare Kampf zu Ende war und das Heer wieder heimzog, da kehrten Tausende von den Männern der Reserve und Landwehr zugleich zu ihrem bürgerlichen Berufe zurück, und sie waren es, die der alten Cameradschaft weiter im bürgerlichen Leben gedachten und sich zu Vereinigungen zusammentaten, denen man im Allgemeinen den Namen Kriegervereine beilegte.

Der ideale Zweck dieser Vereine ist, patriotisches Leben und Streben in deren Schooße zu fördern, und damit wird der praktische Zweck verbunden, sich in der Noth echt cameradschaftlich hülfreich beizuspringen.

Die einzelnen Kriegervereine thaten sich wieder zu Kriegerverbänden zusammen; so „Sachsens Militärvereinsbund“, der den König Albert von Sachsen, und „Baierns Veteranen-, Krieger- und Kampfgenossenbund“, der den König Ludwig den Zweiten von Baiern, sowie der „Württembergische Kriegerbund“, der den

[501]

Das erste allgemeine deutsche Kriegerfest in Hamburg. Originalzeichnung von P. Duyffcke.
1. Hafenfahrt. 2. Feldgottesdienst. 3. Festwagen der Friedensgöttin. 4. Ehrenpreise. 5. Festmedaille. 6. Eingangspforte.

[502] Prinzen Hermann zu Sachsen-Weimar, den Schwager des Königs Karl von Württemberg, zum Protector hat. Die beiden ersten Verbände haben je 80,000, der letzte circa 30,000 Mitglieder.

Nicht ganz so glücklich weht der Geist der Einigung durch die Kriegervereine des Königreichs Preußen. Wohl beschäftigt man sich dort seit Jahr und Tag mit der Idee, einen allgemeinen deutschen Kriegerverband zu schaffen, aber die beiden dermalen an der Spitze stehenden Körperschaften sind über die Mittel und Wege zur Erreichung dieses Zieles nicht einig, und jede von ihnen marschirt die eigene Straße. Die beiden Rivalen nennen sich der „Deutsche Kriegerbund“ und das „Cartellverhältniß der Land-, Provinzial- und Gauverbände“. Der Präsident der letzteren Körperschaft, Hofrath Hugo Dinckelberg, berief im August des Jahres 1874 einen allgemeinen deutschen Kriegertag nach Leipzig, um die Bildung einer „Allgemeinen deutschen Kriegerkameradschaft“ in Angriff zu nehmen, allein der „Deutsche Kriegerbund“ schloß sich aus. Auch der „Deutsche Kriegerverband“, der am zehnjährigen Gedenktage des Frankfurter Friedens gegründet wurde, hat es nicht vermocht, alle deutschen Krieger unter einen Hut zu bringen. Trotzdem ist die Hoffnung nicht ausgeschlossen, daß dieses Ziel noch einmal erreicht werde. Vorerst wirken indessen die Kriegervereine in ihren Specialverbänden eifrig darauf hin, ihre patriotischen und humanitären Aufgaben zu erfüllen, und eine Reihe von zum Theil gutgeleiteten Genossenschaftszeitschriften unterstützt diese Bestrebungen auf das Lebhafteste. So z. B. „Der Kamerad“ in Dresden , der „Deutsche Kriegerbund“ in Zittau, die „Deutsche Kriegerzeitung“ in Sondershausen, der „Veteran“ in München, die „Württembergische Kriegerzeitung“ in Stuttgart, die „Parole“ in Berlin u. a. m.

Das Hamburger Fest-Comité hatte mit staunenswerther Emsigkeit und Energie die nöthigen Vorarbeiten gemacht, die erheblichen Mittel beschafft und diese theilweise, wie Moses das Wasser, aus sterilem Felsen geschlagen, auch für das Festkleid der Stadt gesorgt. Als Festplatz war, wie im vorigen Jahre beim Sängerfeste, die sogenannte Moorweide vor dem Dammthore erkoren und auf derselben als Festhalle die daselbst stehende permanente Ausstellungshalle.

Die künstlerische Ausschmückung des Festplatzes und der Festhalle wurde dem noch in jungen Jahren stehenden Architekten J. Schwartz, einem Mitkämpfer im letzten französischen Kriege, übertragen, und dieser Künstler hat sich seiner Aufgabe in geradezu genialer Weise entledigt. Als Eingang zum Festplatze stellte er ein altdeutsches Burg- oder Stadtthor auf (Nr. 6 der Illustration), und in gleich anmuthender Weise waren die den weiten Platz umrahmenden Bier- und Restaurationszelte, die Musikpavillons, der Gabentempel im Innern der Festhalle etc. erbaut, und der äußere Schmuck an grünen Guirlanden, bunten Fahnen und Emblemen gab dem Ganzen ein einheitlich prächtiges Gepräge. Besonderer Erwähnung bedarf der kolossale Reichsadler, welcher die eine innere Wand der Festhalle über dem Eingange schmückte. Derselbe war nach den Angaben des Architeken Schwartz von dem Mater Bartelmann aus Hunderttausend von kleinen grünen Tannenzweigen gebildet.

Die beiden dem ersten Festtage vorangehenden Tage hindurch wurde mit Zuhülfenahme der Nächte eifrig an der Ausschmückung der inneren Stadt gearbeitet, und als die heiße Sommersonne am 1. Juli über Hamburg aufging, da prangte die alte Hansestadt wie eine junge Braut am Hochzeitstage.

Ein Zapfenstreich hatte den Vorabend des Festes für die Bevölkerung und für die Tausende der aus Nah und Fern herbeigeeilten Krieger eingeleitet, und Morgens in aller Frühe ertönten auf den Straßen die Klänge der Reveille. Um sechs Uhr fand als würdigste Weihe für das Fest eine einfache Gedenkfeier an dem Kriegerdenkmal auf der Esplanade statt, bei welcher Holzapfel, der Präses des Festcomités, tief empfundene Worte zum Gedächtniß der für’s Vaterland Gefallenen sprach.

Vormittags wurde dann ein allgemeiner Feldgottesdienst abgehalten. Auf der Bürgerweide zwischen dem Lübecker und Berliner Thor war vor dem daselbst befindlichen Wafferreservoir mit der Front gegen die Straße ein hoher, weithin sichtbarer Altar errichtet. (Nr 2.) An den Stufen, die zu demselben hinaufführten, waren Pyramiden von Trommeln und Kanonenkugeln angebracht und das Altarblatt, auf dessen Spitze ein mächtiges Kreuz sich erhob, war ganz aus lebenden blauen Kornblumen und weißen Rosen gebildet. Nachdem die Festtheilnehmer in dichten Schaaren um den Altar Aufstellung genommen hatten, sang die Menge unter Begleitung der Musik den Choral: „Großer Gott, wir loben dich!“ und mächtig fluteten die Klänge zum blauen Himmel empor. Dann bestieg Pastor Vett von der Hamburger St. Jacobi-Kirche, ein ehemaliger Divisionspfarrer, die Kanzel und hielt eine die Herzen bewegende Rede über den Text aus 2. Mose 15, 2: „Der Herr ist meine Stärke und mein Lobgesang und mein Heil.“ Nach Beendigung der prächtigen Rede sang die imposante Versammlung: „Nun danket alle Gott“, und dann sprach der Geistliche den Segen, womit die erhebende Feier ihren Abschluß fand.

Mittlerweile war die Sonne höher und höher geklommen und die Hitze erreichte jene tropischen Höhegrade, die unseren heurigen Sommer in so bemerkenswerther Weise ausgezeichnet haben, aber die Straßen, auf welche die Königin des Tages mit wahrhaft sengender Gluth ihre Strahlen herabsandte, füllten sich immer dichter und dichter mit Neugierigen, denn nun galt es, die Krone des Festes an sich vorbei defiliren zu lassen. Die Krone des Festes! Fürwahr, diese Bezeichnung gebührte dem Zuge wegen seiner Mannigfaltigkeit und Pracht im vollsten Maße.

Das ganze Arrangement des Zuges und die Entwürfe der in demselben fungirenden köstlichen Gruppen verdanken gleichfalls ihren Ursprung dem schon vorhin erwähnten Architekten J. Schwartz, und der treffliche Zeichner unserer Illustration (S. 501), der Maler Paul Duyffcke, hat den ganzen Zug in einem in Farbendruck herausgegebenen eigenen „Festzug-Album“ für kommende Zeiten festgehalten.

Unser Bild deutet in seiner Mitte (Nr. 3) die stolzeste Gruppe, den Friedenswagen, an. Unter den zahlreichen allegorischen Gruppen zeichnete sich ganz besonders auch der Wagen der Hammonia und der der Provinz Schleswig-Holstein aus. Nicht minderen Beifall erwarben sich die Wagen einzelner Gewerke, so der Schlachter, der Schlosser und Tischler, sowie der des St. Pauli-Hafenvereins, der ein vollständig aufgetakeltes und ausgerüstetes Schiff darstellte. Dazwischen bewegten sich historische Gruppen, Krieger aus früherer Zeit.

Ganz besonderen Effect rief die Abtheilung der früheren Hamburger Bürgergarde hervor, die 1866 der neuen Wehrverfassung des damaligen Norddeutschen Bundes zum Opfer fiel und mit der zwischen Hamburg und Preußen abgeschlossenen Militärconvention aufgelöst wurde. Der Hamburger hängt noch immer mit zäher Liebe an seiner alten Bürgergardenherrlichkeit, und als dieselbe im Festzuge wie geisterhaft dem Grabe der Vergangenheit entstieg, als die alten, lieben Gestalten, die stämmigen Sappeurs, die biederen Gardisten, die flotten Reiter, die flinken Schützen und die strammen Kanoniere, in ihren alten Uniformen wieder vorüberzogen im hellen Lichte des Tages, da hat sich in manches Männerauge leise, leise eine Thräne der Wehmut gestohlen, und Keiner brauchte sich derselben zu schämen, denn es ist immer schön und lobenswert, Pietät zu üben und alte Erinnerungen heilig in der Brust zu bewahren.

Eine Zierde des Zuges, die wir nicht unerwähnt lassen dürfen, bildete auch die glänzende Cavalcade, die der rühmlichst bekannte Circusdirector Ernst Renz gestellt hatte und die aus nicht weniger als hundert Pferden, von Herren und Damen in reichen phantastischen Costümen geritten, bestand.

Ueberall, wohin der Zug, der vom Steinthor aus sich durch eine Reihe von Straßen nach dem Festplatz bewegte, kam, da waren die Fenster der Häuserfronten von unten bis oben dicht mit Menschen besetzt; ja sogar auf den Giebelfenstern hatten kühne Zuschauer Platz genommen, und überall fand der Zug enthusiastische Aufnahme; überall schwenkten schöne Hände ihm weiße Tücher zum Gruße entgegen und ließen duftige Blumen auf ihn herabregnen. Trotz der sengenden Hitze hielt Alles tapfer aus, bis der letzte buntgekeidete Herold und der letzte Fußgänger des Zuges vorüber war. Es ist bei der herrschenden Temperatur selbstredend zu nennen, daß die Theilnehmer des Zuges ermattet und halb verdurstet auf dem Festplatze, der sich leider in eine einzige Staubwolke gehüllt hatte, anlangten, und daselbst wurde denn auch an den kühlen Quellen des braunen Bieres mancher mächtige Tiefschluck gethan.

Und mancher mächtige Tiefschluck wurde ferner des Abends gethan, als sich die Krieger in der mit elektrischem Lichte strahlend [503] beleuchteten Festhalle zum Festcommers vereinigten, den das Comitémitglied S. Steinberg mit einem Hoch auf den deutschen Kaiser, den obersten Kriegsherrn, eröffnete. Das zweite Hoch brachte in begeisterter Rede der Hofrath Dinckelberg auf die gastfreie Feststadt aus. Er schloß: „Unsere liebenswürdige Gastgeberin, die alte Stadt Hamburg, die Vorkämpferin des Deutschthums im Auslande, die Schützerin deutschen Wesens an den Nordküsten des Reiches – hurrah! hurrah! hurrah!“

Dann folgte ein Kriegssalamander, den allerdings ein commentgläubiger deutscher Student höchst seltsam finden und nur widerwillig mitreiben mußte.

Den weiteren Theil des Abends füllten patriotische Reden, deren Wortlaut jedoch größtentheils in dem sich allmählich entwickelnden Trubel unverstanden blieb, und deutschthümliche Lieder, unter denen „Schleswig-Holstein meerumschlungen“ und „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“ hervorragende Stellen behaupteten. Dabei wurde natürlich das Poculiren nicht vergessen Die deutschen Krieger erwiesen sich in dieser Beziehung als würdige Nachkommen ihrer alten Vorfahren, die in grauer Vergangenheit, als die christliche Zeitrechnung erfunden wurde, auf ihren Bärenhäuten auf beiden Ufern des Rheines lagen. Sie machten es wie diese und tranken immer noch Eins. „Zum Abgewöhnen,“ sagt der vorsichtige Zecher. Auf dem Festplatze aber herrschte noch bis spät in die Nacht hinein buntes Leben und Treiben.

Damit schloß der erste und mit ihm der Haupttag des Festes.

Am Montag und Dienstag, die diesem Haupttage folgten, wurde das Festprogramm in getrennten Gruppen erledigt. Ein Theil der Gäste probirte in Barmbeck auf dem Schützenhofe vor den Schießständen von Neuem in allerdings friedlicher Weise die alte Kunst, die Kugel des Rohres sicher in’s Ziel zu senden. Hier war es nur das Schwarze der Scheibe; einst war jenes Ziel das Herz des Feindes. Den besten Schützen winkten gleißende Ehrenpresse, die man in der Festhalle im Gabentempel verlockend zur Ansicht gebracht hatte (Nr. 4). Hier erwähnen wir auch der Festdenkmünze, welche in Nr. 5 dargestellt ist. – Ein anderer Theil der Festgenossen besah sich die vielen Sehenswürdigkeiten der Stadt, während die Delegirten der vertretenen Kriegervereine in der „Ernst Merck-Halle“ des Zoologischen Gartens sich zum ernsten Rath versammelten. Was dort besprochen wurde, gehört nicht mehr in den Rahmen dieses Artikels. Wieder Andere unternahmen lohnende Elbfahrten durch den mit Seeschiffen besetzten Hafen den breiten Strom hinunter, den Segel aller Nationen beleben. Auch dorthin hat unser Zeichner die Gäste begleitet und in der oberen Ecke unseres Bildes (Nr. 4) werden wir auf den Elbstrom versetzt, wo im Hintergrunde ein Stück der gigantischen Eisenbahnbrücke zu sehen ist, die beide Ufer der Elbe mit einander verbindet. Den Schluß des Festes bildeten Fahrten nach Helgoland, nach Kiel und dem deutschen Reichskriegshafen.

Die Tausende von deutschen Kriegern, die sich nach den froh verlebten Tagen wieder nach allen Seiten in die Heimath zerstreuten, werden hoffentlich allesammt neu gestärkt sein im Gefühl der alten Kameradschaft, und damit ist der Zweck des Festes erreicht. Das deutsche Reich, das unter den Staaten Europas emporragt in majestätischer Schöne wie ein gothischer Tempelbau, hat viele Neider und Feinde, und wer weiß, wie bald es wieder roth aufzuckt am Horizont in blutigen Flammen! Wer weiß, wie bald von Neuem die Trommel auf den Gassen ruft zu Krieg und Streit! Dann aber gilt es, wie zu jeder Zeit, Schulter an Schulter einzustehen für das heilige Land der Väter; einträchtig wie Brüder, denn die Eintracht macht stark.




Eine wenig Beachtete.

Wer an warmen Frühlings- oder Sommertagen an einem Teich oder Bach vorbeiging, der hat sich gewiß gefreut über das Leben und Treiben der zierlichen Wasserjungfern, die mit ihren schlanken blaugefärbten Leibern in anmutigen Bewegungen über bunte Blumen und zwischen hochgeschossenem blühendem Grase dahinschwirrten. Unbemerkt aber bleibt von den Meisten eine etwas entfernte Verwandte dieser schillernden Libelle, die nicht gleich ihr im Sonnenlichte tanzt, sondern während des Tages in unscheinbarem, einfarbigem Gewand mit anliegenden Flügeln still dasitzt an den Halmen des Röhrichts und der Binsen, oder an den Zweigen des niederen Erlen- und Weidengebüsches. Dies ist die eine oder andere der in Deutschland in mehreren Arten vorkommenden Köcherjungfern (Phryganeodea).

Erst gegen Abend, wenn die Sonne von Wasser- und Wiesenflächen gewichen, wenn die Dämmerung beginnt sich langsam auf Wasser und Wiesenflur zu senken, wenn der schmetternde Vogelgesang des Tages verstummt und nur der gleichförmige Ruf der Wachtel aus nahegelegenen Feldern vernehmbar ist, da verläßt dies einfach gefärbte und besser zur Dämmerung als zum hellen Lichte des Tages passende Insect das Plätzchen, an welchem es den Tag über fast regungslos gesessen, um die Flügel auszubreiten und lautlos dahinzufliegen über Wasserspiegel und Wiesenflur.

Und doch bietet das stille Leben dieses unscheinbaren Geschöpfes dem fleißigen Beobachter der Natur soviel des Interessanten, daß es sich wohl verlohnt, auch weitere Kreise auf das Treiben dieser Wassermotten aufmerksam zu machen.

Ihre Larve schwimmt nicht wie andere im Wasser lebende Insectenlarven, wie z. B. die der Libellen und Wasserkäfer, frei umher, sondern sie erbaut sich aus verschiedenen ihr erreichbaren Stoffen ein köcherartiges Häuschen, in welches sie sich jederzeit zurückziehen und sich so vor Gefahr schützen kann. Dieser Eigenthümlichkeit der Larve verdankt das Thier seinen Namen „Köcherjungfer“.

In den Frühlingsmonaten findet man die kleinen sonderbaren Gehäuse dieser Thiere fast in allen Teichen und Wassergräben, auch in Bächen, theils an der Oberfläche schwimmend, theils auf dem Boden dahin kriechend. Die Gestalt und noch mehr die verwandten Baustoffe der Gehäuse weichen ziemlich von einander ab, denn die Größe des Hauses wird bestimmt durch die Art, welcher die Larve angehört. Bei der Wahl des Baumaterials richtet sich das Thier natürlich nach dem, was die Oertlichkeit bietet. In schilfbewachsenen Teichen sind es hauptsächlich keine Röhrichtstücke, in Bächen die in’s Wasser gefallenen Rindentheile von Erlen, die zur Verwendung kommen, in Wiesengräben werden kleine, von den Thieren teilweise selbst zugeschnittene Blatttheile von Wassersternen, Wasserminzen und ähnlichen Pflanzen benutzt. Mitunter sind auch kleine Muscheln und Wasserschnecken am Gehäuse befestigt. Manche Arten bauen ihre Köcher nicht aus Pflanzenstoffen, sondern aus kleinen Steinen und Sandkörnern. Die verschiedenen aus vegetabilischen Stoffen erbauten Wohnungen bilden fast ausnahmslos eine beinahe cylinderförmige, an beiden Enden offene, hinten indessen etwas enger verschlossene Röhre, welche inwendig mit einem starken seidenartigen Stoff, ähnlich dem, welchen die Raupen unserer Nachtfalter beim Verpuppen bilden, ausgekleidet ist.

Einige der Arten, welche Sand und Steinchen verwenden, bauen ein kleines nur wenige Millimeter langes Gehäus in Form eines kunstvollen Hörnchens. Das links auf unserer Abbildung (S. 512) dargestellte Gehäuse, welches aus Tennessee in Nordamerika herstammt, wurde sogar lange Zeit für das Erzeugniß einer Schnecke gehalten, während es in der That von einer Köcherfliege, Helicopsyche Shuttleworthi, gebaut wird.

Das eigenthümliche Leben aller dieser kleinen Hausbesitzer läßt sich nun am besten beobachten, wenn man dieselben mit nach Hause nimmt und in’s Aquarium setzt. Hier bemerkt man alsbald, wie aus dem kleinen Gehäuse ein Kopf und nach und nach sechs Beine hervorkommen, wie die grünlich gefärbte Bewohnerin desselben bemüht ist, sich durch Rudern fortzuarbeiten, wie sie sich bei drohender oder vermeintlicher Gefahr in ihr Haus zurückzieht und dasselbe langsam zu Boden sinken läßt, nach kurzer Zeit aber wieder heraufsteigt, um die Blätter und Ranken der Wasserpflanzen zu erreichen, sich an denselben festzuklammern und sie zu benagen. Dadurch richten freilich die Larven der Köcherjungfern im Aquarium ziemliche Verheerungen an, denn Wasserpflanzen bilden, wie es scheint, ihre einzige Nahrung. Dazu nagen sie an denselben oft ganze Aestchen durch und erlangen in dieser Zerstörungsarbeit, dank ihren am Kopf befindlichen Zangen, bald ziemlich beträchtliche Resultate.

Im übrigen lassen sie alle Mitbewohner unbehelligt, und [504] wenn sie auch nicht gerade zu den durch lebhaften Farbenglanz, zierlichen Gliederbau oder große Beweglichkeit hervorragenden Insassen des Aquariums gehören, so tragen sie doch durch die oft wunderbarsten Formen ihrer Gehäuse dazu bei, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu vergrößern. Besonders abenteuerlich erscheint es, wenn die auf unserer Abbildung wiedergegebenen, aus Schilfstückchen, Moos und Muscheln erbauten Gehäuse langsam auf- und niedersteigen, oder wenn die hinten mit zwei lang hinausragenden Aestchen oder Würzelchen verzierten Köcher auf dem Boden dahinkriechen.

Köcherfliegen.
Originalzeichnung von E. Schmidt.

Im Aquarium hat man auch die beste Gelegenheit, die Art und Weise, wie von diesen Larven ihre Häuser gebaut werden, zu beobachten. Die Larven sind nämlich nicht in denselben festgewachsen, sondern können leicht aus denselben ausgetrieben werden, wenn man an der hinteren Oeffnung des Gehäuses vorsichtig eine abgerundete Stricknadel einschiebt und auf diese Weise die Larve zum Herauskriechen zwingt. Bringt man das Thier nun in ein mit Wasser gefülltes Gefäß, dessen Boden mit Holzstückchen, Moosresten und anderen Pflanzenstoffen bedeckt ist, so beginnt es ziemlich bald mit dem Baue eines neuen Hauses. Soweit ich beobachten konnte, verfährt es dabei in folgender Weise. Anfangs kriecht die Larve scheinbar planlos zwischen dem Baumaterial umher, faßt ein Hölzchen oder Blättchen mit ihren Füßen und Zangen, bis sie etwa aus drei bis vier Hölzchen oder Blättchen um ihren Kopf einen Kranz gelegt hat, den sie nun etwas nach hinten schiebt, einen neuen Kranz daran fügt, diesen wieder rückwärts schiebt, und so ein neues Haus zu Stande bringt In dieser Arbeit sind etwa eine bis zwei Stunden erforderlich. Läßt man das Thier nun ungestört, so bessert es noch eine Zeitlang an seiner neuen Wohnung aus. Die Bildung des erwähnten inneren Gespinstes erfolgt erst nach vollendetem äußerem Baue.

Larven der Köcherfliegen und deren verschiedene Gehäuse.
Originalzeichnung von E. Schmidt.

Die Lebenszeit der Larve dauert etwa bis Ende Mai oder Mitte Juni. Alsdann ist sie völlig erwachsen und denkt daran, sich zu verpuppen. Sie schließt nun die beiden Oeffnungen ihrer Wohnung mit Moos, hängt sich an Wasserpflanzen fest oder verarbeitet sich förmlich, wie ich es an einer Art zu beobachten Gelegenheit hatte, mit Vorliebe in dichtes Moos, welches am Rande des Teiches unter dem Wasserspiegel wächst.

Die Puppenruhe dauert etwa zwei bis drei Wochen, nach welcher Zeit die Jungfer ausfliegt, während das leere Gehäuse entweder am Moos hängen bleibt, oder auf der Oberfläche des Wassers umher treibt und zerfällt.

Die Größe der einzelnen Arten von Köcherjungfern ist verschieden; mit ausgebreiteten Flügeln messen die größeren drei bis vier Centimeter. Die Färbung ist bei allen Arten unscheinbar, die größeren Oberflügel sind braun oder grau oder gar fast durchsichtig, nur stellenweise mit einem mattfarbigen Anflug oder eben solchen Zeichnungen versehen; die kleineren Unterflügel, welche beim Sitzen verdeckt bleiben, sind farblos. Auf unserer obenstehenden Abbildung ist rechts die bekannteste, rautenfleckige Köcherfliege dargestellt, links zwei seltenere Arten (Phryganea grandis und reticula).

Die unansehnliche Färbung, die, wenn man so sagen darf, zurückgezogene Lebensweise unserer Jungfer, ferner die Aehnlichkeit der Gehäuse der Larve mit in’s Wasser gefallenen Aestchen oder abgestorbenen Pflanzenresten tragen dazu bei, daß diese Thiere, welche ja ohnehin weder nutz- noch schadenbringend in das Leben der Menschen eingreifen, von den Meisten unbemerkt und unbeachtet bleiben. Von ihrem Dasein und Leben wissen etwas Näheres nur Die, welche sich für das stille Treiben lebender Wesen im und am Wasser besonders interessiren, welche Genuß finden an der Erkenntniß der unendlichen Schöpferkraft der Natur und ihrem tausendfältigen Leben und Weben.

[505]

Kleine Bilder aus der Gegenwart.

Nr. 3.0 Im Taucherpavillon der Hygiene-Ausstellung in Berlin.

Es war ein glücklicher Gedanke, dem schaulustigen Publicum der so trefflich gelungenen Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen einen Einblick in die Geheimnisse der modernen Taucherkunst zu gewähren, und in der That übt der nördlich von der Stadtbahn gelegene achteckige Pavillon eine seltene Anziehungskraft auf die Neugierigen der Herren- und Damenwelt. Das kann uns nicht wundern, denn für die Taucherkunst wird seit langer, langer Zeit in Deutschland eine der erfolgreichsten Reclamen gemacht, und der Reclamemacher ist kein Geringerer, als der erklärteste Liebling des Volkes, Friedrich Schiller. Wir glauben entschieden, daß es gerade sein „Taucher“ ist, der die Meisten dazu veranlaßt, für dreißig Pfennig besonderes Eintrittsgeld einen Zunftgenossen jenes hochherzigen Jünglings, welcher in der Charybde verschwand, zu schauen.

Aus der Hygiene-Ausstellung: Im Taucherpavillon.
Originalzeichnung von A. von Roeßler.

Aber alle, die dort Bank an Bank gedränget sitzen, gelangen in kurzer Zeit zu der Ueberzeugung, daß auch in diesem Falle zwischen Dichtung und Wahrheit eine unendlich tiefe Kluft liegt, und daß die Ausübung der modernen Taucherkunst wohl ein hartes, aber auch poesieloses Stück Arbeit bildet.

Nehmen auch wir auf einer der Bänke Platz! Da sehen wir zu unsern Füßen ein im Durchmesser fünf Meter großes Wasserreservoir, dessen Tiefe, wie uns mitgetheilt wird, vier Meter beträgt. Das ist der Ocean im Kleinen, auf dessen Grund und Boden der Taucher alltäglich in der Zeit von elf Uhr Vormittag bis fünf Uhr Abends allerlei Arbeiten verrichtet. Am oberen Rande des Bassins befindet sich eine kleine eiserne Treppe, auf welcher der Taucher in die Tiefe hinabsteigt.

Die Vorstellung beginnt. Der kräftige Mann tritt vor und macht unter Leitung des Tauchermeisters John Kock seine Toilette mit den gewichtigen Kleidungsstücken, welche die Firma L. von Bremen u. Comp. in Kiel zu diesem Zwecke geliefert hat. Der Rock, den er vor unsern Augen anzieht, ist durchaus wasserdicht, denn sein Stoff besteht aus einer doppelten Lage starkgewebten, mit Gummi getränkten Zeuges, und außerdem befinden sich zwischen den beiden Lagen sorgfältig eingelegte Gummiplatten. An den Aermeln dieses Anzuges sind starke Kautschukmanschetten, die luftdicht das Handgelenk umschließen, und Gummiarmbänder angebracht. Den Manschetten entspricht am oberen Theile des Anzuges ein starker Gummikragen, welcher an den Taucherhelm luftdicht befestigt wird.

Der letztere bildet das wichtigste und interessanteste Ausrüstungsstück. Er besteht, wie wir das deutlich auf unserer Abbildung sehen, aus zwei Theilen, dem Kragen und einem gerundeten Aufsatze, die beide aus Kupfer geschmiedet sind. Von den vier Glasfenstern, die in ihm angebracht sind, kann das oberste abgeschraubt werden, und wird erst dann zugemacht, wenn der Taucher in’s Wasser steigt. Der Helm selbst ist durch eine fest angeschraubte Röhre mit dem auf dem Rücken des Tauchers befindlichen Luftregulator verbunden, und von dem letzten führt endlich ein starker Schlauch zu der Luftpumpe, welche dem von der Außenwelt hermetisch abgeschlossenen Manne die nöthige Luft liefert. An dem Regulator befindet sich auch das Ventil, durch welches die vom Taucher ausgeathmete Luft entweicht.

Die etwa zwei Centner schwere Ausrüstung des Tauchers wird noch durch zwanzig Pfund wiegende, mit Bleisohlen versehene Taucherschuhe und zwei Gewichte vervollständigt. Das eine derselben wird an seinem Rücken befestigt, das andere herzförmige und 24 Pfund schwere an seiner Brust. Pro forma wird auch hier das Dolchmesser mitgenommen und die Signalleine nicht vergessen.

Jetzt wird das verschiebbare Glas des Helmes zugeschraubt, und der Taucher ist zum Abstieg fertig. Sofort tritt die Luftpumpe, an der zwei Mann arbeiten, in Thätigkeit und liefert in der Minute fünfundachtzig Liter Luft. Nun heißt es: „Hochherziger Jüngling, fahre wohl!“

Da unten ist es aber gar nicht so fürchterlich, und wer sich davon überzeugen will, der braucht nur in das untere Geschoß des Pavillons hinabzusteigen, wo er durch eins der im Bassin angebrachten Gucklöcher unsern Tausendkünstler in völliger Thätigkeit beobachten kann. Er schreibt dort unter Wasser, spaltet Holz, dessen einzelne Scheite von selbst an die Oberfläche steigen etc. Zum Schluß hat auch für ihn das Handwerk einen lucrativen Boden, welcher zwar nicht aus Gold, aber wenigstens aus Nickel oder gar Silber besteht, denn die Gäste da oben im Amphitheater werfen manchmal in Erinnerung an die Becher und Ring spendende Majestät kleine Münzen in die Tiefe hinab, welche der Taucher an das rosigte Licht fördert. Manchmal überrascht er auch das Publicum durch sein plötzliches Erscheinen an der Wasseroberfläche, das er „aus eigener Kraft“ bewerkstelligt. Um dies zu ermöglichen, führt er die eingeathmete Luft nicht mehr durch den Mund in das Ausathmungsventil, sondern bläst sie durch die Nase in seinen Anzug hinein.

So bietet denn dieser Taucherpavillon dem Laien Gelegenheit, sich über die moderne Taucherkunst einen richtigen Begriff zu bilden, und spiegelt im Kleinen ein Bild der menschlichen Thätigkeit wieder, welche in der Gegenwart zu immer höherer Vollendung und Bedeutung gelangt.

[506]

Heiße Stunden.

Ein Idyll aus Bayreuth von Wilhelm Kästner.
(Fortsetzung.)

Nachdem die Vorstellung unter stürmischen Beifallsbezeigungen zu Ende gegangen war, beschloß Alfred die mannigfachen Ritterdienste dieses Tages mit der Aufsuchung des Wagens, der die Damen nach ihrem Hôtel, der „Sonne“, zurückbringen sollte.

Am anderen Morgen erachtete er es als seine erste Pflicht, nach dem Bureau des Verwaltungsrathes zu stürzen, um sich seinen Platz für die nächste Vorstellung, den kostbaren Platz an Rosa’s Seite zu sichern – Frau Commerzienräthin ließ ja die Plätze im Theater für die nächsten zwei Vorstellungen reserviren. Dann wurde ein Clavierauszug des „Parsisal“ von ihm erworben und möglichst ostentativ unter dem Arm getragen, denn Alfred wollte sich auf alle Fälle die Gunst der Mutter erhalten, da sie nach aller Erfahrung den Weg zum Herzen der Tochter bahnt.

Mit dem beruhigenden Gefühl, die weitere Belagerung der Feste in zweckentsprechender Weise eingeleitet zu haben, schlenderte er nun den Rennweg auf und ab, sich in nächster Nähe der „Sonne“ haltend. Der sehnlichst erwartete goldblaue Sonnenstrahl erschien jedoch nicht, wohl aber nach Verlauf einer halben Stande die Frau Commerzienräthin, glänzend und behaglich wie immer. Und wahrlich, der Clavierauszug verhalf ihm zum Sieg.

So sah man den auch den Referendar Nachmittags im Garten der „Sonne“, bei einer Tasse Kaffee, seinen Clavierauszug geöffnet auf den Tisch legen, während die Commerzienräthin, mit der Partitur und einigen Leitfäden und Erklärungen bewaffnet, ihm gegenüber Platz nahm und nun erläuternd und vergleichend ihren Redestrom zwischen den Büchern durchfließen ließ. Von einem benachbarten Tische klang das fröhliche Lachen Rosa’s zu ihm herüber, denn sie mied ihn augenscheinlich und hatte sich nach dem Mittagessen einer befreundeten Damengesellschaft angeschlossen, während er einige Dutzend Motive aussuchen, umkehren, bewundern mußte.

Mit Mühe bezwang er sich, diese Seelenqual zu ertragen, weil er immer hoffte, Rosa würde nach einiger Zeit an dem Tische erscheinen, aber auch in dieser Hoffnung sah er sich getäuscht, da gegen vier Uhr die Commerzienräthin ihren Vortrag mit dem Bemerken schloß, daß sie sich mit neuangekommenen Freunden zu einer Spazierfahrt verabredet habe. Als er im Begriff war, sich zu verabschieden, überbrachte ein Kellner der Commerzielträthin ein Telegramm. Fräulein Rosa’s scharfe Augen mußten dies bemerkt haben, denn sie kam sogleich herbeigehüpft und frug eifrig:

„Kommen sie endlich?“

„Ja, morgen mit dem Mittagszug, wie ich sehe.“

„Wie ich mich freue!“ rief Rosa.

„Wir haben Papa auch wirklich sehr lange nicht gesehen.“

„Und ich freue mich auch sehr auf Max.“

„Mein Mann,“ berichtete die Commerzielträthin dem bescheiden wartenden Alfred, „kommt morgen hier an. Er war vorher zur Cur in Karlsbad, mußte Geschäfte halber auf einige Tage nach Berlin zurück und bringt nun von da noch einen sehr lieben Verwandten von uns, Herrn Max Hillmann, mit.“

„Ich begreife gar nicht, wie es Max ausgehalten hat, so spät erst hierher zu kommen,“ meinte Rosa.

„Es war sehr freundlich von ihm, auf Papa zu warten, denn wer weiß, ob dieser sonst nicht unter dem Vorwand von Geschäften in Berlin sitzen geblieben wäre. Und es liegt mir doch so viel daran, daß Dein Papa den ‚Parsifal‘ kennen lerne.“

„Der arme Papa! Es wird ihm freilich recht heiß dabei werden,“ seufzte Rosa. Dann wurde sie plötzlich sehr roth und sah einen Moment scheu zu Alfred hinüber, dessen hübsches Gesicht gleichfalls verlegene Röthe überzog, obgleich er sich stellen wollte, als dächte er an gar nichts bei dieser unbedachten Ideenverbindung von Parsifal – und Hitze.

„Der Wagen wartet sicher schon seit einer halben Stunde auf uns,“ mahnte jetzt die Mama. „Adieu, Herr Referendar, lassen Sie sich morgen bei Zeiten sehen,“ rief sie diesem noch in gewohnter Leutseligkeit zu.

Alfred schaute dem davonrollenden Wagen eine Weile nach, ehe er sich anschickte, den Rest des Nachmittags und den Abend allein in dem fremden Städtchen zu verleben. Große Fortschritte, sagte er sich dabei, hatte er heute in der Gunst des Fräuleins nicht eben gemacht, aber doch auch keine weiteren Rückschritte. Ja, eine innere Stimme flüsterte ihm sogar zu, daß sie ihn einige Male unvermerkt sehr freundlich angesehen habe. – –

Auf dem Rennweg standen und promenirten am nächsten Tage die Fremden zahlreich umher, aber die Damen Jung konnte er zu seinem Verdruß nicht unter ihnen entdecken. Der ganze Vormittag verstrich unter fruchtlosem Warten und Suchen, bis ihm kurz vor ein Uhr einfiel, daß jetzt die Damen wahrscheinlich auf dem Bahnhof sein würden, um die Ankommenden zu empfangen. Es war zu spät für ihn, jetzt noch vor dem Eintreffen des Zuges dahin zu gelangen, und er zog daher vor, nochmals in der Nähe des Hôtels Posto zu fassen, da ihm so die Erwarteten nicht entgehen konnten.

Nach kurzer Zeit begannen Wagen und Omnibusse vom Bahnhof heranzurasseln, denen bald zahlreiche Fußgänger folgten. Auch Familie Jung schien bei dem kühlen, trüben Wetter, das heute herrschte, eine Wanderung zu Fuß einer Fahrt vorgezogen zu haben. Sie wurde soeben, die Straße herankommend, sichtbar, voran der Commerzienrath, ein gutmüthig aussehender dicker Herr, am Arm seiner Gattin, hinter ihnen ein zweites Paar, bei dessen Erblicken unserem Referendar ein Stich durch das Herz ging. Der schöne, hochgewachsene Mann von etwa dreißig Jahren, mit blondem Vollbart und etwas träumerisch blickenden grauen Augen, konnte nur der oft erwähnte „Vetter Max“ sein, denn Fränlein Rosa hing, vertraulich plaudernd und oft eifrig zu ihm empor sehend, an seinem Arm.

Ob sie Alfred’s tödtlichen Schrecken auf seinem blassen, verstörten Gesichte las? Wer kann die Gedanken errathen, die hinter solchen krausen blonden Stirnlöckchen in einem achtzehnjährigen Mädchenkopfe wirbeln? Gewiß ist nur, daß sie Alfred mit plötzlich aufstrahlendem Lächeln einen Gruß zunickte, wie er ihm so holdselig und verbindlich noch nie von der kleinen Schönen zu Theil geworden, worauf sie, immer noch mit dem strahlenden Lächeln, zu dem großen blonden Vetter hinaufsah.

Die Commerzienräthin wollte mit ihrem Manne in den Thorweg des Hôtels einbiegen, als sie Alfred, welcher in der Nähe stand, bemerkte, ihn zu sich heranwinkte und ihm eilig zurief:

„Wo stecken Sie denn den ganzen Morgen, Herr Referendar? Wir glaubten, Sie auf unserem Spaziergange in der Stadt irgendwo zu treffen. Ich habe Sie wieder zu uns decken lassen, wenn es Ihnen recht ist. Wir kommen sogleich nach dem Speisesaale.“

Dort hatte die vorsorgliche Dame die Plätze am Ende der Tafel belegen lassen, sodaß man, als Alle erschienen waren, sich sehr behaglich gruppiren konnte. Der Commerzienrath saß obenan, seine Gattin und Alfred Berger an seiner linken, Rosa und Vetter Max an der rechten Seite. Die Commerzienräthin stellte Alfred vor und erzählte rühmend, wie er ihr und der Tochter vom Augenblicke der Ankunft an fortgesetzt die liebenswürdigsten Gefälligkeiten erwiesen habe. Der Commerzienrath machte bald die Entdeckung, daß der junge Mann der Neffe seines besten Jugendfreundes, eines Justizrath Berger sei, und diese glücklich entdeckte Verwandtschaft bildete eine vortreffliche Grundlage für Alfred’s ferneren Verkehr mit der Familie Jung, der er, wie der Commerzienrath versicherte, als Neffe eines Jugendfreundes kein Fremder mehr sei. Die Unterhaltung bei Tisch wurde zwanglos und allgemein. Auch Fräulein Rosa nahm an dem Gespräche Theil, lachte herzlich mit und war überhaupt in so vergnügter Stimmung, daß sie ihren vorherigen Groll gegen Alfred ganz vergessen zu haben schien und ihn über den Tisch hinüber gelegentlich freundlich anblickte. Das wäre nun Alles ganz erfreulich für Alfred gewesen, wenn er sich dabei nicht mit innerer Wuth gesagt hätte, daß diese Umwandelung doch augenfällig erst seit dem Erscheinen des hübschen Vetters eingetreten war. Es blieb ihm indeß jetzt nicht Zeit, viel darüber nachzudenken, denn die Commerzienräthin mahnte zum Aufbruche nach dem Theater.

[507] Draußen auf dem Festplatze hing sich Rosa wieder eilig an den Arm des Vetters und sagte, sich zur Mama wendend, wobei sie vermied, Alfred anzusehen:

„Ich habe Papa gebeten, mir heute den Platz neben Max zu überlassen. Ich möchte wissen, ob man von da besser sehen kann, da er um einige Reihen tiefer ist, als die anderen.“

„Wie Du willst, Kind, aber störe Max nicht etwa durch Schwatzen und Unaufmerksamkeiten.“

„Ha ha, liebe Mama, Du weißt sehr wohl, daß er sich nicht stören läßt bei solcher Gelegenheit. Im Gegentheil, ich hoffe von seiner Andacht und Versunkenheit angesteckt zu werden. Nicht wahr, Max, Du hast nichts dagegen, wenn ich neben Dir sitze?“

„Wie? Was sagtest Du? Stören? Ganz und gar nicht, Röschen,“ erwiderte dieser zerstreut. „Aber laß uns endlich eintreten.“

Da saßen sie nun, um wenige Sitzreihen tiefer, dicht vor Alfred, der zähneknirschend auf sie hinabschaute.

Es war ja ganz klar, daß sie in diesen Vetter verliebt, wahrscheinlich schon mit ihm verlobt war, denn er nahm ja die Huldigungen der reizenden Cousine mit souverainem Gleichmuth, wie etwas Selbstverständliches hin. Dafür also war er hier geblieben, um, neben dem dicken Commerzienrath eingepreßt, einer Aufführung beizuwohnen, für die er in seinem jetzigen Zustand weder Stimmung noch Verständniß haben konnte. Und da sah sie sich auch noch von Zeit zu Zeit nach ihm um, als ob sie ergründen wollte, welchen Eindruck ihr Benehmen auf ihn gemacht habe. Nun, sie sollte wenigstens nicht den Triumph genießen, ihn noch länger schmachten zu sehen. In der Vorstellung mußte er noch aushalten, aber dann ging ja wohl ein Nachtzug, den er benutzen konnte, um endlich sein eigentliches Reiseziel zu erreichen und in den Schweizer Bergen bald die ganze Episode zu vergessen.

Als man nach dem Schluß des ersten Actes wie gewöhnlich das Haus verließ, nahm sich Alfred vor, die Zwischenzeit nicht mit der Familie Jung zu verbringen. Unter dem Vorwande, er habe sie im Gedränge plötzlich aus den Augen verloren und nicht wieder finden können, wollte er seinen gekränken Gefühlen wenigstens die Qual ersparen, Rosa beständig am Arme des verhaßten Vetters neben sich zu sehen. Er war im Begriff, unbemerkt um eine Ecke zu verschwinden, als die junge Dame sich gewandt zu ihm und dem Papa durchdrängte und rief:

„Wenn es Ihnen recht ist, Dir, Papa, und Herrn Berger, so schließe ich mich hier an, denn auf Maxens Ritterdienste kann ich augenblicklich nicht zählen. Sieh nur, wie er auf Mama losgestürzt ist und es kaum erwarten kann, bis er all seinen Enthusiasmus in ihr mitfühlendes Herz ausgeschüttet hat! Ich denke, wir Drei gehen ein wenig hinüber nach der anderen Seite des Platzes, wo es nicht so gefüllt ist. Sie werden uns jetzt nicht vermissen.“

Der Papa folgte gutgelaunt den Anordnungen des Töchterchens, und auch Alfred konnte nicht widerstehen, so sehr er sich innerlich ob dieser Schwäche schalt. Veranlaßt durch die reizende Aussicht, welche sich vom Festplatz aus bietet, gerieth das Gespräch auf die lieblichen Umgebungen von Bayreuth.

„Hast Du mit Mama schon eine Fahrt nach der ‚Fantasie‘ gemacht?“ frug der Commerzienrath die Tochter.

„Nein, noch nicht. Wir warteten, weil Mama meinte, Du würdest gern dabei sein. Weißt Du, Papa, wir sollten morgen dahin fahren, und Du solltest Herrn Berger einladen mit uns zu kommen. Nicht wahr, Sie kennen die berühmte ‚Fantasie‘ auch noch nicht?“ wandte sie sich mit ihrem bezauberndsten Lächeln zu Alfred, der plötzlich vergaß, daß er noch heute, mit dem Nachtzug, aus dem Banne dieser schelmischen Augen entfliehen wollte.

Der Commerzienrath versicherte, Herr Berger sei selbstverständlich auch bei dieser Gelegenheit als Gast willkommen. Dieser zögerte noch einen Augenblick, nahm aber schließlich die Einladung dankend an, worüber Fräulein Rosa sichtlich in die Stimmung gerieth, die sie durch erhöhte Liebenswürdigkeit bethätigte.

Aber besonders gut erging es ihm am folgenden Tage, auf der verabredeten Fahrt nach dem Schlößchen „Fantasie“, eben nicht. Herr und Frau Commerzienrath nahmen den Fond des bequemen, offenen Landauers ein, Max und Rosa den Rücksitz und unserem Referendar fiel, als dem Jüngsten in der Gesellschaft, der Platz neben dem Kutscher zu.

Da saß er nun, in stillem Ingrimm vor sich hinstarrend, während hinter seinem Rücken Rosa’s Stimme von Zeit zu Zeit mit einem „Lieber Max“ oder „Bester Vetter“ und dergleichen Süßigkeiten an sein Ohr schlug. Dann gerieten sie wieder auf musikalisches Gebiet.

„Finden Sie nicht die Gegend hier sehr hübsch, Herr Berger?“ erklang es auf einmal hinter Alfred.

Aha, jetzt ließ sie sich herab, auch ihm zur Abwechselung einen Brocken der Unterhaltung zuzuwerfen!

Er stellte sich, als habe er nichts gehört, und blieb unbeweglich sitzen.

„Herr Berger!“ flötete es wieder, dringlicher, und da er noch immer taub blieb, erhielt er einen ganz kleinen Schlag mit dem Sonnenschirm auf die Schulter, sodaß er nicht mehr umhin konnte, sich umzusehen.

Der Commerzienrath lag, resignirt und widerstandslos, mit geschlossenen Augen in seiner Ecke, im Begriff, ein Schläfchen zu machen. Die Gemüther der beiden göttlichen Streiter dagegen waren so erhitzt, daß sie unversehens, nachdem ihr eigentlicher Gegner den Kampfplatz geräumt hatte, sich in Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung einiger Motive verwickelten und tapfer weiter stritten.

Fräulein Rosa lehnte, vermutlich gelangweilt von diesem Thema, nach Alfred umgewandt auf ihrem Sitz und sah voll zu ihm auf, was ihr so gut stand, daß dieser vergaß, sich wieder abzuwenden.

Von den Bewertungen über Gegend, Wetter und dergleichen, die Beide, in ihren Stellungen verharrend, wechselten, hätte Alfred am Ende der Fahrt den Inhalt nicht angeben können. Er wußte und fühlte nur, wie er berauscht in die blauen Augensterne dicht vor ihm sah, in denen es oft so schelmisch und warm zugleich aufblitzte. Waren seine Blicke endlich der jungen Dame zu beredt geworden? Jedenfalls wählte sie ein gründlich wirkendes Abkühlungsmittel dafür. Vetter Max, der in der Hitze des Gefechts bereits den Hut abgenommen und neben sich gelegt hatte, vertheidigte soeben in steigender Erregtheit einen neuen Satz gegen die Angriffe seines weiblichen Feindes. Da legte sich ein zartes Händchen schmeichelnd auf sein blondes, lockiges Haupt.

„Ruhig, ruhig, Du Wilder! Hörst Du noch immer nicht auf zu streiten? Sieh doch, wie Du Mama aufgeregt hast. Machen wir dazu eine Spazierfahrt?“

„Ja, Du hast Recht, Röschen. Wir wollen es auch nun lieber ruhen lassen,“ seufzte der Angeredete tief auf, faßte dabei das Händchen, das ihn streichelte, und führte es galant an seine Lippen.

Alfred fuhr zurück, wie von einer Natter gebissen, und wandte den Kopf nicht wieder bis zum Ende der Fahrt.

„Auf Wiedersehen, lieber Herr Berger. Auf morgen!“ sagten Herr und Frau Jung herzlich, als man am Abend im Begriff stand, sich zu trennen.

„Ich werde mir allerdings morgen noch erlauben, Ihnen vor meiner Abreise Lebewohl zu sagen,“ entgegnete Alfred mit einem plötzlichen, heftigen Aufschwung zu männlicher Entschlossenheit, die ihn selbst überraschte.

„Wie, Sie wollen fort? Wie schade! Ich dachte, Sie würden uns noch nach Nürnberg begleiten. Sie müssen doch Fräulein Malten noch als Kundry sehen!“

Alfred blieb fest und versicherte, er habe schon allzu lange seine geplante Ferienreise verzögert.

Die Commerzienräthin wandte mit Nachdruck ein:

„Aber um welchen Preis auch, Herr Referendar! Nach der Schweiz können Sie noch jedes Jahr reisen, Bayreuth und ‚Parsifal‘ dagegen –“

„In der nächsten Aufführung bitte ich wieder um meinen alten Platz. Er gefiel mir doch besser, als der neben Max,“ sagte auf einmal Fräulein Rosa mit der harmlosesten Miene von der Welt, und als ob sie, in halblauter Unterhaltung mit dem Vetter begriffen, von dem übrigen Gespräch nichts gehört habe.

(Schluß folgt.)
[508]

Mode und Kleiderreform in England.

Eine gesellschaftlich-hygienisch-sittengeschichtliche Skizze.
Von Leopold Katscher in London.

1. 0Das Uebel.

„Geh’ doch! Gott hat dir eine Gestalt
gegeben und du machst dir eine andere.“
 Shakespeare.

„Die Mode bekümmert sich nicht um die
Physiologie.“ The Lancet“.

Die Männer haben längst erkannt. daß den sinn- und zwecklosen Wandlungen der launischen „Göttin Mode“ keine erhebliche Rolle gebührt in den ernsten Beschäftigungen eines menschenwürdigen Lebens; sie sind daher in ein Stadium relativer Eintönigkeit und Stetigkeit in Sachen der Kleidung eingetreten, wenn es auch unter ihnen noch Ausnahmen giebt, die gewissen Thorheiten nachgehen. Bei den Damen trifft gerade das Entgegengesetzte zu: unter ihnen giebt es nur wenige, die vernünftig und muthig genug sind, das Joch übertriebener Eitelkeit abzuschütteln.

Die Weiber des civilisirten Abendlandes sind in Sachen der Kleidung ärger als die Wilden. Die erste Idee von einem Bekleidungswesen ging nicht aus der Nothwendigkeit eines Schutzes oder aus einem Bedürfniß nach Bequemlichkeit, sondern aus Putzsucht hervor und äußerte sich im Tättowiren, im Bemalen des Körpers, im Tragen von Federn oder Perlen. Je civilisirter der Mensch wurde, desto mehr sah er bei seiner Kleidung auf Bequemlichkeit, Gesundheit und Schutz, desto weniger auf Verzierung. Der Wilde, dem der Begriff „Kunst“ aufdämmert, beeilt sich noch heute, sie zu einem Theil seiner eigenen Person zu machen, sei es, daß er sich Wunden beibringt, um in bestimmter Anordnung eine Reihe von Narben aufweisen zu können, sei es, daß er die Kunst des Malers oder die des Bildhauers an seinem Körper ausübt. Der civilisirte Mensch dagegen hat gelernt, die Kunst von seiner Person zu trennen und sie als separate Darstellung zu bewundern. Er hängt in seinen Zimmern Bilder und sogar Vorhänge und Draperien auf; es fällt ihm aber nicht ein, diese Dinge an sich zu tragen.

Und doch halten viele Frauen eine solche wildenähnliche Schaustellung an der eigenen Person nicht für unwürdig, machen ihre Kleidung zu einem Mittel, das die Aufmerksamkeit auf sie lenken soll, und erziehen sich daher selbst zur Unbescheidenheit, Eitelkeit und Gefallsucht. Sie denken bei der Wahl ihrer Kleidung weniger an deren Hauptzwecke – Schutz, Gesundheit, Bequemlichkeit – und mehr an den äußeren Putz und Tand. Die meisten thun es unbewußt, weil sie zu unwissend sind, und diejenigen, die zu einer besseren Erkenntniß gelangt sind, haben nicht den Muth ihrer Ueberzeugung, wagen nicht, sich zu emancipiren von der Tyrannei der Mode. Und so bleibt es dabei, daß die Frauen Kleider tragen, die ihrer Gesundheit dauernd schaden und mithin ihre mechanische Arbeitsfähigkeit, sowie das Maß ihrer geistigen Leistungsmöglichkeit herabsetzen.

Der ewige Modenwechsel wäre noch kein so arges Unglück, ließe sich nur wenigstens sagen, daß die Wandlungen aus einer gesunden Wurzel herauswüchsen. Aber das läßt sich eben leider in keiner Weise sagen – ganz im Gegentheil. Darum wollen wir uns hier nicht weiter mit den freilich streng zu verdammenden Wandlungen der Mode, sondern ausschließlich mit den allen Moden der Jetztzeit zu Grunde liegenden allgemeinen Principien beschäftigen. Von der Art, wie man sich keidet, hängt so unendlich viel ab, daß diese Frage unbedingt zu den wichtigsten gehört, mit denen ein Menschenfreund sich würdig beschäftigen darf und – soll.

Zahlreiche Männer sind der Ansicht, daß es nicht Männersache sei, sich um Frauentoiletten zu bekümmern; das ist falsch. Wo es sich um die Gesundheit von Gattinnen, Schwestern und Töchtern handelt, hat jedes Mitglied des starken Geschlechts das Recht und noch mehr die Pflicht der Intervention, um so eher als von der Lösung dieses Problems zum Theil ja auch das Wohl oder Wehe seiner Enkel und Urenkel abhängt.

Die weibliche Tracht der civilisirten abendländischen Kreise ist keine nützliche Dienerin, sondern eine strenge Herrin, die ihre Unterthaninnen zwingt, sich den Leib zu kasteien, daß heißt zu quälen und zu verunstalten. Die jetzigen Moden stehen zur Vernunft etwa in demselben Verhältniß, wie der Aberglaube zu einer geläuterten Naturreligion. Ein seltsamer Etiquettencodex, eine merkwürdige, inconsequente „sociale Kleiderordnung“ wird schablonenhaft und gedankenlos befolgt. Man geht z. B. auf den Ball oder auf eine Soirée ohne Unterschied des Wetters, selbst im Winter, stark decolletirt, während es für unstatthaft gilt, vor sechs oder sieben Uhr, im eigenen Familienkreise, selbst am heißesten Sommertage, sich in einem ausgeschnittenen Kleid zu zeigen.

Der Hauptgrund, warum die verkehrte Eitelkeit, die falsche Sucht nach nicht vorhandener Schönheit den Sieg über die Vernunft davongetragen, ist wahrscheinlich der Umstand, daß die Lenker des Modenwesens schlechte Anatomen sind oder aber es sein wollen. Sie haben die Beschaffenheit des menschlichen Körpers total außer Acht gelassen. Die Frauen bewundern die Darstellungen der weiblichen Gestalt, wie sie in Bilder- und Sculpturengallerien zu sehen sind, als Kunstleistungen, mit denen die lebenden Damen der Wirklichkeit nichts zu schaffen haben. Sie scheinen diese Venus-Leiber für mythologische Gebilde zu halten, deren Maßstab nicht an sie selbst angelegt werden kann. Die zu kleidende Gestalt ist in ihren Augen eine ganz andere, und zwar die der glockenförmigen, wespentailligen Probirmamsellen, die sie in den „Kunstateliers“ ihrer Schneiderinnen sehen und die allerdings nichts mit classischer Schönheit gemein haben. Offenbar wollen die Damen den Herren die Ehre anthun, zu glauben, daß die männliche Gestalt vollkommener sei als die weibliche und daß diese, um vollkommen zu werden, erst nach Modevorschrift gedrückt und gepreßt werden müsse! Zweifellos sind die Damen physisch von Natur etwas schwächer angelegt, aber gerade darum sollten sie sich nicht noch mehr schwächen, ihre Nerven und Muskeln nicht noch durch unpassende Kleidungsstücke schädigen.

Welches sind die Hauptnachtheile der üblichen Kleiderordnung? In welchen Beziehungen sündigen die Damenschneiderinnen und ihre freiwilligen Opfer am meisten? Der wichtigsten Nachtheile und Sünden, die wir im Auge haben, sind drei:

     1) Mangel an Freiheit der Bewegung. Hieran tragen hauptsächlich die Unterröcke und Ueber- oder Schooßröcke die Schuld; selbst bei schönem Wetter sind sie jeder lebhafteren Bewegung, jeder gesundheitlichen Leibesübung hinderlich; bei Wind, Regen und Straßenmorast sind sie aber geradezu peinlich.

     2) Gewichtigkeit der Toiletten bei ungleicher Vertheilung des Gewichts. Auch hier spielen die Unter- und Schooßröcke eine große Rolle; sie sind schwer und hängen von den Hüften herab, wodurch sie überdies die Mitte des Körpers erhitzen, während sie die unteren Theile der Beine verhältnißmäßig unbedeckt lassen, sodaß oft genug auch eine ungleiche Vertheilung der Wärme platzgreift. Aber auch der Oberkörper ist gewöhnlich zu schwer gekleidet. Abgesehen von zu schwerem und zu reichlichem Stoffe, tragen die vielen unnützen – oft noch dazu häßlichen – Verzierungen, wie Puffen, große Mengen Knöpfe und Schmelzperlen, Schleifen, Quasten u. dergl., zur Erhöhung des Gewichts bei. Oft sieht man ein zartes Mädchen, dessen schwaches Rückgrat nur mühsam den Kopf und die Schultern aufrecht erhalten kann, eine Toilette tragen, die 10 Pfund und mehr wiegt. Bei einer Fangballpartie gelang es einmal dem Major Wingfield – der dieses Spiel in England eingeführt hat – nur mit größter Mühe, eine Dame zu schlagen; er ließ nachträglich ihre und seine Gewandung wiegen und fand, daß die ihrige 10, dieseinige aber blos 41/2 Pfund wog, worauf er erklärte, sie hätte das Spiel gewinnen müssen, wäre sie nicht durch das Gewicht ihres Anzuges gehemmt gewesen. Aber weit ärger als das Gewicht selbst wirkt dessen unpraktische Vertheilung – das heißt die Concentrirung auf die Hüftengegend – auf die Gesundheit ein.

     3) Druck auf mehrere Körpertheile, namentlich die Brust, das Herz, die Lungen, die Hüften, die Füße. Dies ist der weitesttragende Vorwurf, den man der modernen Frauentracht machen kann. In die das Wachsthum der Organe schädigende Einpressungsarbeit theilen sich das Schnürleibchen, der sogenannte „Pariser“ Schuh mit seinem hohen, stark vorgeschobenen Absatz,

[509]

Dorfstraße. Oelgemälde von Paul Meyerheim.
Nach einer Photographie im Verlage der „Photographischen Gesellschaft in Berlin“.

[510] seiner schmalen Sohle und seinem spitz zulaufenden Vorderende, der zu eng anliegende Leib (Gilet, Jacke, Polonaise etc.) des Ueberkleides und das Festbinden des Schooßrockes, der Unterröcke und der Unterbeinkleider.

Wir wollen nicht nur des Festmieders[WS 1] gedenken, das bekanntlich schon vielen Damen das Leben verkürzt hat und dessen Folgen ein schlechter Magen, eingefallene Wangen, ein feuerrother und unreiner Teint, ein verkrümmter Rücken und das Schwinden aller körperlichen und geistigen Spannkraft sind; nicht nur des Engschnürens, das die inneren Organe verrückt, den Brustkasten und die Taille verunstaltet, das Athmen erschwert, jede gesundheitliche Bewegung zur Qual macht, die Herzthätigkeit und die Verdauung schwächt, das Gehirn und das Blut verschlechtert und eine Menge von Leiden herbeiführt, bei deren Auftreten man die Ursache gewöhnlich in allen anderen Umständen eher sucht, als in dem stählernen oder fischbeinenen Ungeheuer. Wir wollen auch von dem lose getragenen Mieder sprechen und betonen, daß dasselbe ebenfalls verwerflich ist, denn die Schwere der Kleider läßt es von seinem richtigen Platze herabgleiten und auf das Becken drücken, also einen Schaden ermöglichen, der das ganze Lebensglück zerstören kann, abgesehen davon, daß die meisten Mädchen, selbst wenn ihr Wille gut ist, sich über das Maß der Lockerheit zu täuschen pflegen; man messe den Körperumfang nur während tiefen Einathmens, und man wird sehen, daß es am besten ist, gar kein Schnürleibchen zu tragen. (Elastische Mieder sind freilich nicht so arg wie die üblichen, allein wie wenige tragen sie!)[1]

Aber selbst das genügt nicht, so lange das Ueberkeid (Gilet, Jacke, Polonaise etc.) zu eng ist, und ist auch dies nicht der Fall, so stiftet das Festbinden der Wäschstücke und des Schooßrockes noch immer genüg Unheil, indem es ebenfalls zu Verwachsungen führt. Manche Mädchen sind so schlank, daß Wäsche und Kleider, so lange man sie überhaupt bindet und nicht knöpft, eng gebunden werden müssen, sollen sie nicht über die schmalen Hüften hinabfallen.

In Mädchenschulen vorgenommene Messungen haben ergeben, daß bei drückender Kleidung innerhalb sechs Monaten die Höhe und der Brustumfang um je 1 bis 2 Zoll zunahm, die Taille aber gar nicht wuchs, während dort, wo kein Druck gestattet war, der Brustumfang um 11/2 bis 2, der Vorderarm um 3/4, der Arm um 1 bis 11/4 und die Taille um 31/2 bis 4 Zoll größer wurde, abgesehen davon, daß die allgemeine Gesundheit und der Grad der Stärke in den beobachteten Fallen viel befriedigender waren, wo kein Körpertheil eingepreßt werden durfte.

Vielen Müttern, die nicht die Absicht haben, ihre Töchter zu verkrüppeln, mißlingt ihr Plan, weil sie beim Maßnehmen vergessen, daß, was bei einer gewissen Haltung locker ist, bei einer anderen zu eng wird. Beim Maßnehmen steht das Mädchen aufrecht; in dieser Stellung und wenn die Lungen verhältnißmäßig leer sind, mißt es um die Taille, nehmen wir an, 21 Zoll; dasselbe Mädchen wird aber sofort um 11/2 Zoll mehr messen, wenn es eine tiefe Einathmung vornimmt, und beugt es sich auch noch vor, so kommen weitere 11/2 Zoll Taille- oder Brustumfang hinzu. In der Schule sitzen Mädchen aber vielfach vorgebeugt, sodaß ihnen Kleider zu eng werden, die während des Stehens weit genug sind.

Was schließlich die Fußbekeidung betrifft, so ist das Uebel nicht so erheblich, weil das Tragen von schädlichen, widernatürlichen Schuhen doch wohl nicht so allgemein ist, wie das von verwerflichen Kleidungsstücken anderer Art; allein die Anzahl der Sünderinnen ist auch in diesem Punkte immerhin eine ungeheure. Um wie viel schöner, eleganter und – bequemer ist ein natürlicher Fuß im Gegensatz zu dem erkünstelten, verwachsenen Ergebniß des Tragens von „Pariser“ Schuhen! Wie bitter rächt sich diese falsche, an die chinesischen Lächerlichkeiten erinnernde Eitelkeit durch Hühneraugen – sollen diese etwa elegant sein? –, durch Schmerzen beim Auftreten und durch die Unmöglichkeit, rasch und lange zu gehen! Wie blöde, den Schwerpunkt zu verlegen und das Gewicht des Körpers auf die Zehen zu concentriren! Um wie viel besser, schöner, gesunder sind den Geboten der Natur angepaßte Schuhe!

Wir haben gesehen, welche Nachtheile die moderne Frauenkeidung im Gefolge hat. Wir haben gesehen, daß das Blut durch ungenügendes Athmen verschlechtert, daß in Folge dessen das Hirn geschädigt wird, daß als weiteres Ergebniß die Lungen ihr Blutreinigungswerk nicht gehörig besorgen können und daß auf Grund all dessen jede anstrengendere mechanische und geistige Arbeit überflüssiger Weise ungemein erschöpfender gemacht wird, als sie es unter anderen Verhältnissen wäre. Kurz, im Vorstehenden haben wir von dem Uebel „Mode“ gesprochen; und nun wollen mir uns mit der Abhülfe beschäftigen.


2. Die Abhülfe.
„Aller Anfang ist schwer“.

Bekanntlich ist die „Frauenfrage“, von Nordamerika abgesehen, in keinem Lande so sehr fortgeschritten wie in England. Seitdem die Frauen nicht mehr ausschließlich als Sclavinnen oder Puppen betrachtet werden, seitdem sie mehr und mehr darnach streben, ihr Brod selber zu verdienen, ist das Bewußtsein von der Wichtigkeit der Kleiderfrage beträchtlich gestiegen. Sie sind sich des Uebels der modernen Kleidung bewußt, haben aber in der Regel nicht den Muth, nach ihrer Ueberzeugung zu handeln.

Glücklicher Weise giebt es immerhin eine gewisse Anzahl vorurtheilsloser Damen, die sich nicht fürchten, eine Reform anzustreben. Wenn diese Bestrebungen bisher erfolglos geblieben sind, so hat das seinen Grund nicht nur in der Verstocktheit der Modethörinnen und in der Vorliebe der meisten Menschen für den lieben „alten Schlendrian“, sondern auch darin, daß die Umwälzungscandidatinnen es nicht verstanden haben, Vorschläge zu machen, die radical gewesen wären und zugleich die angeborene Gefallsucht des schönen Geschlechts genügend berücksichtigt hätten. Man hat nämlich hauptsächlich vorgeschlagen, die Frauen sollten Männerkeider tragen; diese aber dünken der Damenwelt nicht genug geschmückt und verziert. (Nur zur Annahme der häßlichsten und unangenehmsten aller männlichen Toilettestücke, des Cylinderhutes, den selbst die meisten Männer schmähen, haben sich die Damen entschlossen!)

Die zuweilen von Aerzten gegebenen Winke hinwiederum sind unbeachtet geblieben, weil sie sich in der Regel nur auf unbedeutende Details bezogen, ohne das Uebel bei der Wurzel zu fassen, das heißt eine gründliche Aenderung der der Frauentracht zu Grunde liegenden unheilvollen Principien zu fordern. Die Amerikanerin Mistreß Bloomer, die vor einiger Zeit eine männerähnliche, aber der Männerkeidung doch nicht ganz gleichkommende Tracht erfand, scheiterte, weil diese wirklich häßlich war.

Aus alledem geht hervor: erstens, daß es sehr schwierig ist, bei einer solchen Reform das Richtige zu treffen; zweitens, daß jede neue Tracht, wenn sie dem Uebel gründlich abhelfen soll, auf durchaus anderen Grundsätzen beruhen muß, als die jetzigen Moden; drittens, daß kein Reformvorschlag auf allgemeine Annahme rechnen kann, der nicht bei aller Gesundheit, Beguemlichkeit und Zeitersparniß die Gesetze der Schönheit im Auge behält, denn die meisten Weiber werden zu allen Zeiten den Wunsch hegen, sich zu putzen, sei es mit Beachtung oder mit Außerachtlassung der Forderungen der Vernunft. Es giebt Frauen genug, die kein Schnürleibchen tragen und denen nichts am Schnitte ihrer Kleider liegt, so lange diese nur recht lose sind; aber dieses Beispiel findet nicht allgemeinere Nachahmung, weil die betreffenden Kleider [511] häßlich sind und ihre Trägerinnen darin „schlampig“ aussehen; überdies sind diese „Vernünftigen“ fast immer ältliche Personen, während jüngere gegen die Nettigkeit in der Toilette nicht so leicht gleichgültig werden.

Jede richtige Reformbestrebung muß also sowohl die natürliche Gestalt des Körpers wie auch die Gebote der Wohlgefälligkeit berücksichtigen. Das erstere wäre mit Hülfe der Anatomie leicht zu erreichen, viel schwieriger aber das zweite, denn die Begriffe von Schönheit und Geschmack sind bekanntlich sehr verschieden. Die nettesten Reformatorinnen sind bemüht, „anmuthige“ Zukunftstrachten zu ersinnen; allein die Anschauungen von weiblicher „Anmuth“ sind durch die „süße Gewohnheit“ des Anblicks falscher „Ideale“ längst in Verwirrung gerathen. Doch man muß einmal einen Anfang machen, muß versuchen, den verderbten Geschmack zu läutern, und durch die Vorhaltung einfacherer, aber edlerer Muster zu erziehen.

Diese Aufgabe haben sich zwei Vereine gestellt, die sich in London vor etwa anderthalb Jahren bildeten und deren Bestrebungen augenblicklich recht viel von sich reden machen. Die Anregung zu ihrer Begründung gab der relativ günstige Erfolg, den eine vor ungefähr acht Jahren von mehreren amerikanischen Damen in Scene gesetzte Agitation - bestehend aus einer Serie von fünf Vorträgen weiblicher Aerzte, gehalten in vielen Städten der Union - in den Vereinigten Staaten erzielt hat. Der eine Verein heißt „National Dreß Society“, der andere „National Dreß Association“; beides heißt: „Gesellschaft für rationelle Kleidung“. Beide Vereine bezwecken, wie es in den Statuten heißt, „die Förderung der Annahme einer auf Rücksichten der Gesundheit, Bequemlichkeit und Schönheit beruhenden Kleiderordnung“; beide „mißbilligen die ewigen Modewandlungen“; beide wollen ihr Ziel durch Veranstaltung von Versammlungen, Vorträgen und Ausstellungen, durch Abfassung und Verbreitung von Anzeigen, Flugschriften etc., sowie durch die Ersinnung und den Verkauf von Papiermustern „rationeller“ Toiletten zu erreichen suchen: beide sind der Ansicht, daß jede richtige Reform eine Verbesserung sein sollte, statt der Thorheit, Trägheit, Unwissenheit und Laune einfach eine neue Abwechslung zu bieten; beide stimmen darin überein, „eine wirklich schöne Toilette lasse sich“ - wir citiren aus einer „Rationelle Kleidung und ihre Wirkungen“ betitelten englischen Broschüre der Mrs. E. M. King, Schriftführerin der „R. D. Association“ - „ohne das Behängen der Taille mit Vorhängen herstellen“; die Wohlgefälligkeit „hänge nicht ausschließlich davon ab, daß der Körper mit einer Menge Stoffs überladen werde, sondern sei auch mit der vollkommenen Entwickelung des Leibes, mit leichter Beweglichkeit und mit Elastizität vereinbar; die Welt müßte an ihren Schönheitsforderungen keine Einbuße erleiden und die Damen könnten dennoch eine gesunde und angenehme Tracht tragen“. Beide Vereine „protestiren gegen jede Mode, die die Gestalt verkrümmt, die freie Bewegung des Körpers hemmt und die Gesundheit schädigt, gegen Mieder, eng anliegende Kleider, enge Schuhe mit hohen Absätzen, schwere Unterröcke, allzu gewichtig aufgeputzte, überladene Schooßröcke, vulgäre, entstellende Crinolinen und Crinoletten“.

Man sollte glauben, daß es am besten wäre, wenn zwei so gleichgesinnte Vereine sich mit einander verschmelzen würden, um mit vereinten Kräften zu arbeiten; leider müssen wir bemerken, daß diese beiden Gesellschaften es umgekehrt gemacht haben: sie waren anfänglich eine Körperschaft; diese teilte sich erst später – vor einem halben Jahre – in zwei Gruppen. Den Anlaß zu dieser im Interesse der guten Sache bedauerlichen Spaltung gaben Meinungsverschiedenheiten über die Natur der anzustrebenden Reformen. Mrs. King war mit der Vicomtesse Harberton – der Präsidentin der jetzigen „Society“ – darüber einig, daß die üblichen Unterröcke abzuschaffen seien, daß kein Mieder getragen werden dürfe, daß die Wäsche nicht gebunden, sondern geknöpft werden sollte, daß die Fußbekleidung auf den Geboten der Hygiene beruhen müsse, daß das Gewicht und die Wärme der Kleidung gleichmäßig über den ganzen Körper zu vertheilen, kurz, die Damen waren über alles einig, nur nicht über den einen, allerdings sehr wichtigen Punkt: was an die Stelle der Unterröcke zu treten habe.

Lady Harberton befürwortet einen sogenannten „zweitheiligen Rock“, das heißt eine Art ungeheuer weiter Pluderhosen, über denen ein gewöhnliches (nur nicht zu bindendes, sondern zu knöpfendes) Ueberkeid zu tragen wäre, unter dem zwei bis drei Zoll der Hosen hervorgucken würden.

Mrs. King dagegen behauptet, das sei nicht radical genug; die Hosen dürfen nicht übermäßig weit sein, wenn sie nicht zu schwer sein sollen; die Beibehaltung des Schooßrockes würde das Uebel „Behinderung freier Bewegung“ fortbestehen lasten und das Princip, daß der Schooßrock nur zur „Zierde“ da sei, nicht zum Durchbruch bringen; vorderhand müsse man, um nicht durch Ueberstürzung alles zu verderben, mit geringen Anfängen einer Reform zufrieden sein, auf die Dauer aber müsse man weiter gehen – während Lady Harberton bei ihrem „Zweitheiligen“ stehen bleiben will –, und zwar werde es früher oder später zu einer Tracht kommen, bei der ein Mittelding zwischen türkischen Weiber- und abendländischen Männerhosen ohne darüber zu tragenden Schooßrock die Hauptrolle spielen dürfte.

Sollen sämmtliche Bedingungen einer gründlichen und nützlichen Reform erfüllt werden, so ist es allerdings kaum zweifelhaft, daß irgend eine Art von zweibeinigem Kleidungsstück die gestaltlosen Unterröcke wird ersetzen müssen, womit nicht gesagt ist, daß die Frauen Männerbeinkleider tragen werden oder sollen. Das Princip – Berücksichtigung des Körperbaus – ist freilich für Damen und Männer ein gemeinsames; aber der Schnitt und die Verzierungen können die Weiberhose vielfach von dem männlichen Beinkleid unterscheiden; das eigentliche Kleidungsstück soll permanent, die Draperie darf veränderlich – nur nicht schwer – sein. Ueber das Wie und Was der Reform herrscht noch keine Klarheit.

Um die Herbeiführung der letzteren zu fördern, sowie um dem Schneidergewerbe Veranlassung und Gelegenheit zu bieten, die Reformfrage aufzugreifen und an ihrem Fortschritt theilzunehmen – aus diesen Ursachen veranstaltete die King’sche „Association“ im Juni 1883 zu London eine „Ausstellung rationeller Kleidung“. Um die spröden Modistinnen anzulocken, wurde für geeignete Ausstellungsobjecte – das heißt „vernunftgemäße“ Muster von Zukunftsroben – eine Reihe von Geldpreisen ausgeschrieben. Die Betheiligung war denn auch eine recht lebhafte, seitens der Fachschneider sowohl als der Dilettanten im Publicum, und wir bemerken auf der recht interessanten Ausstellung manche sehr befriedigend entworfene Tracht nach dem löblichen Ideal der leitenden Reformatorinnen.

Eine Beschreibung dieser handgreiflichen Umwälzungsvorschläge oder Heilungssymptome wäre hier nicht am Platze; wir müssen uns mit der Bemerkung begnügen, daß es nicht unwahrscheinlich ist, daß diese Ausstellung von prakischen Ergebnissen begleitet sein wird. Sie dürfte die Auffindung einer wirklich guten und schönen Zukunftstracht erleichtern; wenigstens aber hat sie das Gute zur Folge, daß die Presse und die weitesten Gesellschaftskreise auf die Bewegung aufmerksam geworden sind. Vorderhand haben die beiden Vereine schon den wichtigen Erfolg aufzuweisen, daß zahlreiche Modenfirmen sich bereit erklärt haben, die Schnittmuster der Reformatoren in ihren Schaufenstern auszustellen und darnach Roben anzufertigen, während früheren Bitten der Vereine nach dieser Richtung von keiner einzigen Firma entsprochen wurde.

Weitere Schritte sind geplant; Frau King beabsichtigt nämlich, eine der Bewegung zu widmende Monatsschrift herauszugeben, sowie in verschiedenen Provinzstädten Vorträge über die Anforderungen an rationelle Toiletten zu halten. Vorläufig, wie gesagt, will sie „nur langsam voran“; durch anfänglich kleine, dann immer größere Abweichungen von dem „alten Schlendrian“ will sie allmählich einen Kleidungsstil herbeiführen, „der unserer Person und unserer Lebensweise angepaßt sein soll“.

Es giebt noch eine dritte Gruppe von Reformfreundinnen: die Anhänger des „dem modernen Gebrauch angepaßten griechischen Gewandes“. Diese Gruppe, die allerdings keinen Verein gebildet hat und am untätigsten ist, wird von einer hervorragenden englischen Dichterin mit deutschem Namen geleitet: von Mrs. Emily Pfeiffer, die schon vor fünf Jahren über ihre Idee schrieb und neuerdings – im Juni dieses Jahres – eine vom Nationalen Gesundheitsverein veranstaltete Hygiene-Ausstellung beschickte; von ihr und zwei anderen Damen war da je ein sehr graziöses Kleid dieser Art zu sehen. Das Princip ist: ein ganz einfach gemachtes Kleid der sogenannten, allenthalben bekannten „Prinzessen“-Gattung – Leib und Schooß in Einem Stück – aus beliebig feinem oder ordinärem Stoff irgend welcher Art, und darüber eine in [512] schöne Falten zu legende Toga (Pallium, Shawl) aus ganz weichem Stoff. Diese Kleider nehmen sich sehr gefällig aus, eignen sich aber weder für alle Welt noch für alle Umstände und Beschäftigungen; sie üben auf keinen Körpertheil Druck aus, aber im Punkte der Bewegungsfreiheit sind sie nicht besser als die jetzigen Moden.

Die Entdeckung, praktische Berwerthung und allgemeine Anerkennung aller richtigen Grundsätze und Details einer definitiven Umwälzung wird selbstverständlich viel Nachdenken und eine sehr lange Zeit beanspruchen; aber sicherlich wird es über kurz oder lang zur Verwirklichung der menschenfreundlichen Reformbestrebungen kommen; die blöden Straßenschleppen und manche andere Unsinnigkeiten sind bereits verschwunden – hoffentlich wird die Vernunft bald auch in anderen Einzelheiten triumphiren und schließlich einen vollständigen Sieg erringen. Die Sache ist zu wichtig, als daß wir glauben könnten, sie werde im Sande verlaufen, und wir wünschten, daß sich einige deutsche Frauen bereit fänden, die hier begonnene Bewegung auf den heimathlichen Boden zu verpflanzen; wie das Uebel international ist, sollte auch die Abhülfe international werden.

Vorläufig, bis sich die Ansichten über die Zukunststrachten ein wenig geklärt haben werden, müssen wir mindestens versuchen, die gegenwärtig im Schwange befindliche Art der Bekleidung unschädlicher zu machen, als sie es ist.




Blätter und Blüthen.

Unsere Illustration auf Seite 509. Paul Meyerheim’s Bild einer Dorfstraße, bedarf keiner Erklärung. Auch über den Künstler hat die „Gartenlaube“ ihren Lesern im Jahrg. 1869 (S. 814) so ausführliche Mittheilungen gemacht, daß wir hier nur auf die beiden früher in unserm Blatte in Holzschnitt wiedergegebenen Gemälde des trefflichen Meisters in der Darstellung von Menschen- und Thiergestalten hinzuweisen brauchen: auf seine Savoyardenkinder (1869) und seine Königstiger-Familie (1880). Hinsichtlich des vorliegenden Bildes möchten wir besonders auf die beiden Kindergruppen aufmerksam machen. Das „Zusehen“ gehört bekanntlich zu den Hauptfreuden der Kinderwelt, und daß ein Kesselflicker im Dorfe dazu Gelegenheit bietet, ist offenbar. Eine gleich große Kinderfreude ist’s, auf dem Erntewagen mit heimzufahren, und darum konnte der vor uns von dem mächtigen Rindergespann gezogene gar nicht schöner geschmückt werden, als mit den fröhlichen Kindern. Auch der alte Kesselflicker und das junge Mädchen, das ihm neue Arbeit bringt, sind eine beachtenswerthe Gruppe. Paul Meyerheim, der schon 1876 bei der Ausstellung in Paris die große goldene Medaille erhalten hat, ist Mitglied der Akademie in Berlin und der Belgischen Gesellschaft der Aquarellisten.




Zum Besten des Schulze-Delitzsch-Denkmals ist soeben im Verlage von Ernst Keil in Leipzig erschienen: „Das Begräbniß des Anwalts der deutschen Genossenschaften, Reichstagsabgeordneten Dr. Schulze-Delitzsch. Dargestellt von Dr. F. Schneider, stellvertretenden! Genossenschaftsanwalt.“ Preis 30 Pfennig. – Vielen Verehrern des großen Volksmannes wird es ohne Zweifel erwünscht sein, nicht nur eine Schilderung der ergreifenden Leichenfeier, sondern auch den wortgetreuen Abdruck der am Sarge Schulze’s gehaltenen Reden zu besitzen, und so dürfen wir wohl hoffen, daß das Büchlein den im Interesse der guten Sache erwünschten Absatz finden wird.




 Hoffe!

Ist das Glück ein Sonnenstrahl,
Muß das Leid die Wolke sein,
Die mit Thränen ohne Zahl
Hüllt das Glück in Schatten ein.

Ewig kann in Purpurpracht
Nicht die goldne Sonne stehn.
Wolken kommen wie die Nacht –
Wolken müssen weiter gehn.

Meinst du auch, ein herb Geschick
Brach dein junges Glück entzwei;
Hoffe auf der Sonne Blick,
Denn die Wolke – geht vorbei. –
 J. F.

Gehäuse der Köcherfliegen-Larven (vergrößert).
Originalzeichnung von E. Schmidt.

Die Fremden in Paris. Die großen Städte üben auf Auswanderungslustige stets eine mächtige Anziehungskraft aus, und in jeder derselben bilden die Ausländer einen nicht unbedeutenden Theil der Bevölkerung. Aber keine Stadt dürfte so stark mit fremden Elementen durchsetzt sein, wie die Hauptstadt der französischen Republik. Während z. B. in Berlin auf 1000 Seelen 13 Ausländer kommen, entfallen in Paris 75 Ausländer auf je 1000 Einwohner. Die Statistik weist ferner nach, daß von den Parisern kaum der dritte Theil in Paris selbst geboren wurde. Nach den vor Kurzem veröffentlichten amtlichen Berichten der Volkszählung von 1881 hatten in der Stadt ihren festen Wohnsitz: 45,281 Belgier, 31,190 Deutsche, 21,577 Italiener, 20,810 Schweizer, 10,789 Engländer, 9250 Holländer, 5927 Amerikaner, 5786 Russen, 4992 Oesterreicher und 3616 Spanier. Die Zahl der Deutschen ist in den letzten Jahren besonders stark gewachsen, denn noch im Jahre 1876 betrug sie nur 19,024. In demselben Jahre belief sich die Zahl der Ausländer überhaupt auf 119,349, und sie stieg in der Zeit bis zum Jahre 1881 auf 164,038. Diese 44,689 Ausländer bilden aber nicht weniger als den fünften Theil des Gesammtzuwachses der Bevölkerung von Paris in den genannten Jahren. – Daß aber diese amtlichen Zahlen nicht ganz zuverlässig sind, ist unseren Lesern aus dem im vorigen Jahre (Nr. 52) in der „Gartenlaube“ erschienenen Artikel: „Deutsches Vereinsleben in Paris“ bekannt, in welchem Max Nordau nachwies, daß viele „Deutsche aus beklagenswerther Feigheit sich als solche nicht bekannten“, sondern die betreffende Rubrik in dem ihnen zugeschickten Zählblättchen unausgefüllt ließen, oder sich für Oesterreicher etc. ausgaben. Die in Frankreich naturalisirten Deutschen wurden aber als Franzosen mitgezählt. Max Nordau berechnete die Zahl der deutsch-sprechenden Einwohner von Paris aus etwa 100,000, und so wäre der Antheil der Ausländer an der Entwickelung und dem Ruhme der französischen Hauptstadt noch größer, als dies schon aus der amtlichen Statistik erhellt.




Kleiner Briefkasten.

O. K. in D. Ihre anonymen Anfragen liegen im Papierkorbe und werden so lange unbeachtet bleiben, bis Sie sich der von uns nun oft genug erbetenen Ordnung fügen, uns Ihre Adresse anzugeben. Der Schluß Ihrer Zuschrift: „Bitte bestimmt um gefälligen Aufschluß“ klingt für ein Gesuch um eine Gefälligkeit fast ebenso kühn wie Ihre Anfrage selbst: „Welches ist der direkteste Weg respective Route von München nach Jerusalem?“

A. J. in G. Wenden Sie sich an die städtische Sparkasse in Darmstadt mit der Bitte um das nöthige Material. – Glück auf!

K. E. in C. Altersasyl betreffend. Wir bitten um die Adresse, um unser Asylverzeichniß senden zu können.

F. H. Die Wiederholung des historischen Festspieles in Rothenburg ob der Tauber (vergl. „Gartenlaube“ 1882, S. 492 und 508) wird am 13. August dieses Jahres stattfinden.




Inhalt: Ueber Klippen. Erzählung von Friedrich Friedrich, S. 497. – Das erste allgemeine deutsche Kriegerferst in Hamburg. Von Harbert Harberts, S. 500. Mit Illustration von P. Duyffcke, S. 501. – Eine wenig Beachtete, S. 503. Mit Abbildungen von E. Schmidt, S. 504 und 512. – Kleine Bilder aus der Gegenwart. Nr. 3. Im Taucherpavillon der Hygiene-Ausstellung in Berlin, S. 505. Mit Abbildung von A. von Roeßler, S. 505. – Heiße Stunden. Von Wilhelm Kästner (Fortsetzung), S. 506. – Mode und Kleiderreform in England. Von Leopold Katscher, S. 508. Mit Abbildung S. 510. – Blätter und Blüthen: Unsere Illustration (mit Illustration von Paul Meyerheim auf S. 509. – Zum Besten des Schulze-Delitzsch-Denkmals. – Hoffe! – Die Fremden in Paris. – Kleiner Briefkasten, S. 512.


Für die Redaction bestimmte Sendungen sind nur zu adressieren: „An die Redaction der Gartenlaube, Verlagsbuchhandlung Ernst Keil in Leipzig.“



Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druvk von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Das Schnürleibchen wie es sein soll.

    Wir verweisen bei dieser Gelegenheit auf den im Jahrg. 1855 erschienenen Artikel „Die weibliche Kleidung“ von Prof. Bock, in welchem unter Anderem Folgendes zu lesen ist: „Sollen nun die großen Nachtheile, welche das Zusammenschnüren der Oberbauchgegend nach sich zieht, wegfallen, dann muß das Corset so eingerichtet werden, daß es nur unterhalb dieser Gegend und oberhalb der Hüften den Leib zusammenschnürt, wodurch auch die Taille verbessert und dem Unterleibe ein sicherer Halt gegeben wird. Deshalb dürfte das hier abgebildete Schnürleibchen empfehlenswerth sein. Es wird nur an einer kleinen Stelle (b) geschnürt, darüber (c) und darunter (d) locker gebunden: am Hüftausschnitte (a) läßt sich nach Belieben eine künstliche Hüfte ansetzen, um die Unterkleider tragen zu helfen; an jedem Seitentheile ist ein breiter elastischer Streifen (e) eingesetzt, um das Ausdehnen der Oberbauchgegend zu erleichtern.“
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Festmiederns