Die Gartenlaube (1883)/Heft 36
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No. 36. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Ueber Klippen.
Langsam stiegen die drei Männer den Berg hinab. Der Gensd’arm hielt das Gewehr in der Hand und schritt dicht hinter
dem Verhafteten her, um jeden Fluchtversuch desselben zu verhindern.
Er hätte es nicht nöthig gehabt, denn Hansel dachte nicht an Flucht. Das Gefühl seiner Unschuld erfüllte ihn mit trotzigem Muthe, aber dieser Muth schwand bald, als er den Blick auf den Oberburgstein richtete und an die Geliebte dachte. Wie mußte sie erschrecken, wenn sie seine Verhaftung erfuhr! Und wenn nun seine Unschuld nicht so schnell erwiesen wurde, als er hoffte, wenn er wochenlang im Gefängnisse sitzen mußte und die Geliebte nicht sehen konnte!
Dies hatte er nicht bedacht, als er versprach, willig zu folgen – dies nicht. Die Angst schnürte ihm die Brust zusammen, er rang nach Athem, es war, als ob es vor seinen Augen dunkelte, und er stand still, um sich an einem Felsblock zu halten.
„Hansel, Dein Gewissen regt sich,“ sprach der Richter, der ihm von Jugend auf wohlgewollt hatte. „Es wird Dir leichter um’s Herz werden, wenn Du Alles offen gestehst.“
„Ich hab’ nichts zu gestehen, Herr Bezirksrichter, mein Gewissen ist frei!“ rief Hansel und raffte sich zusammen.
Rasch stieg er den Berg hinab.
Als sie das Dorf erreicht hatten, als er sah, wie die Leute, die er alle kannte, neugierig auf der Straße standen, als er hörte, wie die Kinder einander zuriefen: „Er kommt!“ „Sie bringen ihn!“ als wäre es ein lustiges Schauspiel, dem sie entgegensähen, da fiel ihm doch das Herz vor die Füße. Glaubten denn auch sie an seine Schuld? Hielten auch sie ihn für einen Mörder? War keiner unter ihnen, der offen auftrat und rief, daß er einer solchen That nicht fähig sei?
Es schwiegen Alle. Er vernahm nur ein Flüstern und Gemurmel, als er durch die Reihen der Neugierigen mit gesenktem Blicke hinschritt. Nur einmal blieb er trotzig stehen und blickte herausfordernd um sich, als er hörte, wie eine Frauenstimme ihm eine laute Verwünschung nachrief, weil er den Unterburgsteiner erschlagen habe.
Der Gensd’arm drängte ihn vorwärts. Sie gelangten in dem Gerichtsgebäude an, wie ein Willenloser stieg er eine Treppe empor, eine schwere, mit Eisen beschlagene Thur wurde vor ihm geöffnet, er wurde hineingedrängt in einen halb dunklen Raum, die Thür wurde hinter ihm geschlossen, ein schwerer Riegel vorgeschoben.
Wie ein Träumender blieb er einen Augenblick stehen. Dann preßte er beide Hände auf die Stirn, als ob er sich besinnen müsse, was mit ihm geschehen sei. Sein Auge durchmaß den engen, düsteren Raum, der nur durch ein kleines Fenster schwach erhellt wurde.
Er war ein Gefangener. Wild bäumte es sich in ihm auf. Die Luft des engen Raumes schien ihn ersticken zu wollen. Mit der Kraft der Verzweiflung stemmte er sich gegen die Thür, um sie zu sprengen. Er wollte, er mußte frei sein, weil er unschuldig war!
Aber die Thür widerstand seiner Kraft. An ihr hatte vielleicht schon Mancher verzweiflungsvoll gerüttelt. Erschöpft sank er auf einen Schemel und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
Als Moidl am Sonntag Morgen erwachte, wußte sie nicht, wie sie in das Bett gelangt war und wie lange sie bewußtlos
auf der Erde gelegen hatte. Eine unsagbare Angst lag jetzt noch auf ihr. Sie fieberte. Sie wollte aufspringen, aber sie
vermochte sich kaum zu rühren – die Glieder waren ihr wie gelähmt.
Starr, regungslos war ihr Auge auf die graue Wand des Gemaches gerichtet; grau, unfreundlich blickte auch der Morgen durch das Fenster.
„Er ist todt – die Lawine hat ihn erfaßt, denn er konnte das Thal noch nicht erreicht haben!“ rief es in ihr, und vergebens suchte die Hoffnung gegen diesen Ruf anzukämpfen.
Sie hatte die Hände über der Brust gefaltet, aber sie konnte nicht weinen.
So fand sie ihr Vater, als er in ihre Kammer trat, um nachzuschauen, weshalb sie nicht aufgestanden war.
Starr, fragend blickte sie ihn an.
Brachte er ihr bereits die Kunde von dem Tode des Geliebten?
„Was fehlt Dir, Moidl?“ fragte der Oberburgsteiner.
„Nichts – nichts!“ entgegnete die Kranke mit der Hast des Fiebers.
„Dein Gesicht glüht – Deine Stirn ist heiß!“ fuhr ihr Vater fort.
Moidl antwortete nicht; sie schloß die Augen.
„Ich werde die Magd zu Dir schicken, die mag Dir einen [578] Thee kochen,“ sprach der Oberburgsteiner und verließ dann die Kammer.
Es lag nicht in seiner Natur, in Krankheitsfällen sehr ängstlich zu sein, aber der Zustand seiner Tochter gefiel ihm doch nicht. Er hatte sich bereits gerüstet, zur Messe zu gehen, er zog die Joppe wieder aus und blieb oben. Auch die Magd konnte nicht zur Messe gehen.
Von dem, was das ganze Dorf an diesem Tage beschäftigte, erhielt er erst am Nachmittage Kunde, als der Knecht des Unterburgsteiners kam, um seinen Herrn zu suchen. Er fuhr erschreckt zurück. Und als ihm der Knecht mittheilte, welcher Verdacht sich gegen Hansel richtete, da zweifelte er nicht mehr, daß der Welsche den erschlagen habe, den er zu seinem Schwiegersohn ausersehen hatte. Es traf ihn hart.
Seine große Gestalt schien mit einem Male gebrochen zu sein. Er wollte sich aufraffen und den David suchen helfen – was konnte er ausrichten, da dessen Knechte und mehrere Bauern schon vergebens nach ihm geforscht hatten! In dumpfem Brüten blieb er in der Stube sitzen.
Er dachte nicht an seine kranke Tochter, sie durfte das Geschehene ohnehin noch nicht erfahren.
Erst am folgenden Morgen sah er wieder nach Moidl. Sie lag noch immer im Fieber, er fand sie schlechter, als am Tage zu[vor].
Nun sandte er doch einen Knecht in’s Dorf hinab, um den Arzt zu holen. Der Knecht brachte keine neue Nachricht aus dem Thale mit. Von dem Unterburgsteiner war noch immer keine Spur entdeckt.
Der Arzt kam, und der Oberburgsteiner führte ihn zu seiner Tochter.
„Sie fiebert,“ sprach der Arzt, indem er den Puls der Kranken fühlte. „Ich werde ihr etwas Beruhigendes verschreiben. Sie hat sich stark erkältet; wenn sie einige Tage im Bett bleibt, wird es besser werden.“
Moidl sprach kein Wort. Ihre großen Augen waren auf das Gesicht des Arztes gerichtet, als ob sie aus ihm etwas über das Geschick des Geliebten lesen könne.
Der Arzt trat zu dem Oberburgsteiner.
„Als ich hierher kam, brachten sie gerade den Hansel Haidacher als Gefangenen in’s Dorf,“ sprach er mit leiser Stimme. „Der Bezirksrichter und ein Gensd’arm hatten ihn von dem Gehöft seines Vaters geholt. Es soll erwiesen sein, daß er den Unterburgsteiner erschlagen hat.“
Moidl’s scharfes Ohr hatte die Worte gehört, sie richtete sich im Bette empor, dann sank sie mit lautem Ausschrei zurück.
Bestürzt eilte der Arzt zu ihr.
„Moidl, was ist Dir?“ fragte er.
„Sie wußte noch nicht, daß ihr Verlobter vermißt wurde,“ sprach der Oberburgsteiner.
Der Arzt schlug sich, unwillig über seine Unvorsichtigkeit, mit der Hand vor die Stirn. Er hatte nicht vermuthet, daß die Kranke seine Worte hören werde.
„Das hättet Ihr mir sagen sollen!“ rief er, während er sich über die wie bewußtlos Daliegende beugte.
Das unglückliche Mädchen hatte die Augen geschlossen, und ihre Brust rang nach Athem. Sie hatte die Nachricht empfangen, daß ihr Geliebter lebte, aber zugleich, daß er ein Mörder sei!
Der Arzt wusch ihr Stirn und Schläfen mit kaltem Wasser, ihr Puls ging plötzlich beängstigend langsam und schwach, es war, als ob die Lebenskraft aus ihr entschwunden sei.
„Moidl, ich wollte Dich nicht erschrecken,“ sprach er besorgt. „Fass’ Dich, es kann noch Alles anders kommen.“
Langsam, ohne die Augen aufzuschlagen, schüttelte die Kranke zweifelnd mit dem Kopfe.
„Ruhe!“ preßte sie mit schwacher Stimme hervor.
„Ja, Ruhe wird ihr am besten thun,“ sprach der Arzt, indem er den Oberburgsteiner aus dem Zimmer zog. „Ich verschreibe ihr Beruhigendes und Stärkendes – den Schreck wird sie leicht überwinden. Erfahren hätt’ sie es doch. Sucht ihr nur Hoffnung einzureden.“
„Hat der Bube seine That gestanden?“ fragte der Oberburgsteiner.
„Ich weiß es nicht. Aber die Schuld war auf seinem Gesichte zu lesen, denn er wagte nicht aufzublicken.“
„Und von David ist noch keine Spur aufgefunden?“
„Nein.“
„Dann hat er ihn erschlagen und im Schnee verscharrt!“ rief der Bauer und warf sich auf einen Schemel.
Der Arzt versprach, am folgenden Tage wieder zu kommen, und ging fort.
Moidl war allein. Ihre großen Augen blickten starr in die Luft. Die heilige Jungfrau, zu der sie gebetet, hatte ihre Bitte gewährt – Hansel war gerettet, aber für sie zugleich für immer verloren! Er ein Todtschläger! Sie konnte es nicht fassen. War er deshalb der Gefahr entgangen? Besser noch für ihn, wenn er von der Lawine erfaßt wäre! Sie zuckte erschreckt über diesen Gedanken zusammen. Durfte denn auch sie an ihm zweifeln? War seine Schuld schon erwiesen? Der Unterburgsteiner hatte ihm schon einmal nach dem Leben getrachtet, vielleicht hatte er ihn auf’s Neue überfallen, und Hansel’s That war nur eine That der Notwehr gewesen.
Jetzt saß er im Gefängnisse. Und wenn er ein Mörder war, sie mußte an ihn denken, dachte er doch sicherlich auch an sie.
Der Arzt kam am folgenden Tage wieder und empfahl ihr die größte Ruhe. Wo sollte sie dieselbe finden, da sie Tag und Nacht an den Unglücklichen dachte? Und was die Magd ihr erzählte, trug nur dazu bei, sie noch mehr zu erregen.
„Er gesteht nicht,“ sprach die Magd. „Er leugnet hartnäckig, aber die Köchin des Bezirksrichters, die ich am Sonntag zufällig sprach, hat mir gesagt, das rette ihn nicht, denn er sei schuldig. Wenn es ihm vielleicht auch nicht an das Leben gehe, so werde er doch so viel Jahre schweres Gefängniß bekommen, daß seine Haare vielleicht ergraut seien, wenn er dasselbe wieder verlasse.“
Sie ahnte nicht, wie sehr sie die Kranke, die kein Wort erwiderte, dadurch peinigte. –
Mit Hansel war in dem Gefängnisse eine eigenthümliche Wandlung vorgegangen. Auf seine anfängliche leidenschaftliche Erregung war Abspannung und Muthlosigkeit gefolgt, aber auch diese hatte er bald überwunden, und nun erschien er ganz ruhig.
Fest blieb er dabei, daß er den Unterburgsteiner in der Nacht nicht gesehen habe, und ebenso fest verweigerte er jede Auskunft, welche Veranlassung ihn in jener Nacht den Weg zum Unterburgstein hinaufgeführt habe, wo der Gaisbube ihn gesehen hatte. Diese Weigerung bestärkte nur den Verdacht seiner Schuld.
Vergebens bemühte sich der Richter, ihn zum Geständnisse zu bewegen, er wandte Güte und Strenge an, Alles blieb erfolglos.
„Ich hab’ nichts zu gestehen,“ entgegnete Hansel stets. „Sie glauben mir nicht, ich muß dies ertragen; den Muth verlier’ ich nicht, denn Eins weiß ich bestimmt, meine Unschuld muß doch an den Tag kommen!“
Schlauer noch als der Richter glaubte der Gerichtsdiener es zu beginnen. Er hatte dem Verhafteten täglich das Essen und Wasser zu bringen und blieb öfter in der Gefängnißzelle, um mit Hansel zu plaudern. Er bot Alles auf, das Vertrauen desselben zu gewinnen.
„Mir kannst Du dreist Alles sagen,“ sprach er. „Ich bin Soldat gewesen wie Du und einen Camerad würd’ ich nimmer verrathen.“
„Es ist nur schad’, daß ich Dir nicht ein Wort mehr zu sagen weiß, als dem Richter,“ entgegnete Hansel heiter. „Ich müßt’ sonst eine Geschichte ersinnen, aber mir fällt nichts bei.“
„Du handelst gegen Dein eigen Interesse,“ fuhr der Gerichtsdiener fort. „Wenn Du Alles leugnest, nun da kannst Du lange, lange in Untersuchungshaft sitzen.“
„Ich hab’ ja Zeit. Jetzt könnt’ ich doch auf dem Gehöft meines Vaters wenig schaffen. Ich leg’ mir hier Alles im Kopfe zurecht, was ich thun werde, wenn ich wieder frei bin.“
„Du kommst nicht frei, wenn Du nicht gestehst! Räumst Du Deine Schuld ein – freigesprochen kannst Du dann freilich nicht werden, aber des Kaisers Gnade kann Dich freigeben, und das wird geschehen, weil Deine Eltern Dich nöthig haben. Der Richter selbst will sich für Dich verwenden.“
„Hat er Dir dies gesagt?“
„Ja,“ gab der Diener dreist zur Antwort.
„Nun, dann sag’ ihm, ich brauch’ seine Verwendung und auch des Kaisers Gnade nicht, denn mich trifft keine Schuld!“ rief Hansel.
[579] „Du willst nicht auf mich hören?“
„Nein. Ich folg’ meinem Gewissen und meinem eigenen Kopfe, die zeigen mir schon den rechten Weg. Aber Eins will ich Dir gestehen. Wenn ich mich schuldig fühlt’, so würde ich doch nicht ein solcher Thor sein und Dir Alles erzählen, damit Du es dem Richter warm hinterbrächtest und Dich noch obenein rühmen könnest, Du habest mich überführt!“
Aergerlich verließ der Diener den Raum, und Hansel erhielt am folgenden Tage eine geringere Portion Essen.
Er lachte darüber, denn er war nicht verwöhnt und konnte sich mit wenig begnügen, da er seine Kräfte nicht anzustrengen brauchte.
Die Nachforschungen nach dem Unterburgsteiner waren fast unablässig fortgesetzt, die Gensd’armen hatten den ganzen Berg und Wald durchsucht, ohne eine Spur gefunden zu haben. Es blieb nur eine Annahme, daß Hansel den Leichnam des Erschlagenen fortgetragen und an einem entfernten Orte verscharrt habe. Er hatte die ganze Nacht über Zeit gehabt, denn wann er heimgekehrt war, wußte Niemand. –
So waren Wochen vergangen.
Moidl war langsam genesen, aber Mancher, der sie früher gesehen, würde sie nicht wieder erkannt haben. Ihre Wangen waren bleich und eingefallen, ihre Augen blickten trübe und ausdruckslos.
„Das Fieber hat sie so arg mitgenommen,“ sprach der Arzt, aber nicht das Fieber hatte an ihr gezehrt, sondern die Angst um den Geliebten; in ihrem Innern keimte kaum noch eine Hoffnung für ihn und ihr Herz konnte doch nicht von ihm lassen.
Der Frühling brach außerordentlich früh herein, vielleicht war es nur ein Vorbote desselben. Wohl deckte noch Schnee die Berge, aber die Luft war lau und mild und die Sonne sandte erwärmende Strahlen.
Da verließ die Genesene zum ersten Male das Haus und schritt langsam nach der kleinen Capelle. Hastig schluchzend sank sie auf dem Betschemel nieder und legte mit zitternden Händen ihre braunen Flechten, die sie der Mutter Gottes gelobt, wenn sie den Geliebten errette, auf den kleinen Altar.
„O rette ihn – rette ihn!“ flehte sie auf’s Neue mit gefalteten Hänlden, und sie legte die Stirn an die kalte Kante des Altars. „Rette ihn – er kann ja nicht schuldig sein!“ wiederholte sie.
Regungslos knieete sie da.
Ihr Vater trat in die Capelle, er sah das braune Haar seiner Tochter auf dem Muttergottesbilde liegen.
„Moidl, was hast Du gethan?“ rief er unwillig. „Weshalb hast Du Dein Haar abgeschnitten?“
Die Betende zuckte erschreckt zusammen, flehend erhob sie den Blick zu dem Bilde der heiligen Jungfrau, als ob sie um Vergebung bitte, weil ihre Lippen die Wahrheit nicht sagen konnten.
„Ich hab’ es gelobt, als ich mich so elend fühlte,“ sprach sie.
Der Bauer erwiderte kein Wort. Trotz seines festen, harten Sinnes hatte er doch ein gläubiges Gemüth. Auch er legte die Hände in einander und sprach leise ein Vaterunser.
„Moidl,“ sprach er dann mit weicherer Stimme. „Wir sind schwer geprüft; wenn Deine Kräfte es aushalten, dann sollst Du am Sonntag zur Messe gehen. Die Magd kann Dich begleiten, wenn der Weg Dir schwer wird.“
„Ich werde es thun, Vater,“ gab das Mädchen ruhig, mit schwacher Stimme zur Antwort und kehrte in das Haus zurück.
Der Sonntag kam. Das Wetter war freundlich und milde. Langsam stieg Moidl in’s Thal hinab, die Begleitung der Magd hatte sie abgelehnt. Sie hielt sich für kräftig genug, allein zu gehen, allein mehr denn einmal mußte sie auf einem Steine ausruhen.
Der Morgen war so ruhig und friedlich. Langsam, feierlich klangen die Glockentöne, welche zur Messe riefen, zu ihr empor. An dem ihr gegenüber liegenden Berge stiegen Männer und Frauen nieder. Sie blickte hinüber nach dem Gehöft Haidacher’s, düster, wie verlassen lag dasselbe da. Ein lauter, lustiger Juchzer drang ihr in’s Ohr, aber er erhöhte nur ihre schmerzliche Stimmung. So hatte auch Hansel oft seine Jugendlust in den Morgen hinausgerufen, und nun saß er immer noch im Gefängnisse. Wer wußte, wie lange noch? Wer wußte, ob ihre Augen ihn je wiedersahen?
Langsam stieg sie abwärts. Als sie das Dorf erreichte, hatte die Messe bereits begonnen, denn die Straße war leer. Es war ihr lieb, daß sie allein gehen konnte. Ihr Herz war so schwer und bange. Sie mußte an dem Gerichtsgebäude vorüber, in welchem Hansel saß, und sie wußte, daß die Gefängniszelle nach der Straße hinaus lag. So nahe mußte sie an ihm vorüberschreiten, ohne ihn zu sehen.
Sie zitterte leise, als sie sich dem alten Gebäude näherte, die Augen hatte sie auf die Erde geheftet, ihre Hände hielten das Gebetbuch fest umfaßt.
„Moidl, Moidl!“ rief plötzlich eine Stimme über ihr.
Sie richtete das Auge empor, an dem kleinen Fenster der Gefängnißzelle, hinter den Eisenstäben entdeckte sie Hansel’s bleiches Gesicht.
Ein halb unterdrückter Aufschrei entrang sich ihren Lippen.
„Moidl, laß den Muth nicht sinken,“ rief Hansel. „Ich bin unschuldig, deshalb müssen sie mich frei geben!“
Noch einmal blickte das Mädchen auf zu dem bleichen Gesichte des Geliebten, dann eilte sie hastig weiter und es war ihr, als ob neue Kraft sie belebe.
„Er ist unschuldig!“ rief es freudig in ihr, sie hatte es von seinem eigenen Munde gehört und sie wußte, daß er ihr keine Unwahrheit sagen konnte. Nun fürchtete sie nichts mehr. Der Himmel erschien ihr höher und blauer. Sie langte in der Kirche an.
In ihrem Kirchstuhle sank sie auf die Kniee und betete so inbrünstig, wie sie seit langer Zeit nicht gebetet hatte.
„Er ist unschuldig!“ tönte es immer wieder in ihr, nun glaubte sie Alles, was auch kommen mochte, ertragen zu können.
„Geht Dir’s wieder besser?“ fragte eine Bekannte sie, als die Messe beendet war.
„Ja, es geht mir gut,“ entgegnete Moidl, und ihre Augen gewannen wieder Glanz. „Das Fieber ist gewichen, der Frühling kommt, nun wird es auch bei uns dort oben wieder freundlicher.“
„Du hast Schweres durchlebt,“ fuhr die Freundin fort.
„Ja, sehr Schweres, aber das ist nun vorüber und ich hab’ wieder frischen Muth,“ gab Moidl zur Antwort.
Selbst der Oberburgsteiner war erstaunt, als er seine Tochter sah. Auf den bleichen Wangen derselben schimmerte schon wieder ein leichtes Roth durch.
Zwei Tage später befand sich das ganze Dorf in größter Aufregung. Einige Knaben hatten in dem Schnee der niedergegangenen Lawine einen menschlichen Körper entdeckt – es war der Leichnam des Unterburgsteiners.
Der Bezirksrichter, der Arzt und zwei Gensd’armen waren zu der Stelle geeilt, damit unter ihrer Aufsicht der Todte aus dem Schnee gegraben werde, und fast das halbe Dorf war ihnen gefolgt. Nun mußte doch endlich Aufklärung über das Verschwinden Davids kommen, welches die Gemüther seit so langer Zeit in Aufregung gehalten hatte. Es mußte sich auch zeigen, wie er durch Hansel erschlagen war, denn der Schnee ließ keine Verwesung und Entstellung zu.
Der große Körper des Unterburgsteiners wurde mit größter Vorsicht ausgegraben – dicht neben ihm lag seine Büchse – derselbe war so wohl erhalten, als ob er nur zwei Tage in dem Schnee gelegen habe.
Die Dorfbewohner drängten in ihrer Neugier so ungestüm heran, daß die beiden Gensd’armen Mühe hatten, sie zurückzuhalten; jeder wollte die Verletzung sehen, die ihm durch Hansel’s Hand beigebracht war.
Der Bezirksrichter betrachtete den Todten aufmerksam, der Arzt untersuchte ihn, konnte aber nicht die geringste Verletzung an dem Körper entdecken. Der Todte wurde auf einer Bahre nach dem Gerichtsgebäude getragen, um dort noch einmal auf das Sorgfältigste untersucht zu werden.
Hansel wurde zu dem Todten geführt, er blieb vollständig ruhig.
„Wo ist er gefunden?“ fragte er.
„Das brauch’ ich Dir nicht zu sagen,“ entgegnete der Richter, der ihn prüfend beobachtete. „Du weißt es sehr genau.“
„Ich weiß es nicht,“ gab Hansel ruhig zur Antwort.
[580] „In dem Schnee der Lawine hat er gelegen; wie ist er dort hingekommen?“
„Ich weiß es nicht,“ wiederholte Hansel. Eine dunkle Ahnung des Geschehenen stieg in ihm auf, er verbarg sie, denn er konnte sie nicht aussprechen, ohne zugleich zu verrathen, was ihn in jener Nacht in die Schlucht geführt hatte.
Die Untersuchung des Arztes war eine sehr sorgfältige, trotzdem wurde an dem Todten nicht die geringste Verletzung entdeckt. Alle Anzeichen sprachen dafür, daß er nicht in dem Schnee verscharrt, sondern lebend von der Lawine erfaßt und von ihr im Schnee begraben war. Er war in dem Schnee erstickt.
Hansel wurde in seine Zelle zurückgeführt.
Der Leichnam des Unterburgsteiners war nun endlich aufgefunden, aber dies hatte nicht im Geringsten zur Klärung beigetragen, das Räthsel schien sogar noch schwerer lösbar geworden zu sein. Daß der Todte durch Hansel nicht erschlagen war, stand fest. Aber wie war der Unterburgsteiner in jener Nacht in die Schlucht gekommen? Und er mußte dort gewesen sein, sonst hätte er von der Lawine nicht erfaßt werden können. Weshalb verweigerte Hansel hartnäckig jede Auskunft, was ihn in jener Nacht auf den Weg zum Unterburgsteiner und dann in den Wald geführt hatte?
Wenn nichts Strafbares damit verbunden war, weshalb schwieg der Verhaftete?
Vergebens sann der Richter nach, und die Ueberzeugung setzte sich in ihm fest, daß Hansel’s nächtlicher Gang doch mit dem Tode des Unterburgsteiners in engstem Zusammenhange stehe. Das „Wie“ vermochte er sich freilich nicht zu erklären.
Er ließ den Gefangenen noch einmal vorführen.
„Hansel,“ sprach er. „Der Verdacht, daß Du den Unterburgsteiner erschlagen, hat sich nicht bestätigt, denn an dem Todten ist keine Verletzung gefunden. Nun kannst Du mir offen sagen, was Dich in jener Nacht auf den Weg geführt hat.“
„Ich konnt’ nicht schlafen und wollt’ mir noch Bewegung machen,“ gab Hansel zur Antwort.
„Schweig’ mit Deinen unwahren Ausflüchten, die jedesmal andere sind!“ herrschte ihn der Richter an. „Ich denk’, an Bewegung hat es Dir bei der Arbeit nicht gefehlt. Und Du weißt auch nicht, was den Unterburgsteiner in jener Nacht in die Schlucht geführt hat?“
„Nein,“ gab Hansel zur Antwort.
„Ich lass’ Dich nicht frei, bis dies Alles aufgeklärt ist; Du kannst die Aufklärung geben, aber Du willst es nicht. Ueberleg’ Dir die Sache. Ich wiederhole, daß ich Dich nicht eher freigebe, als bis Du Alles offen gestanden. Bedenk’, daß ich es länger aushalte als Du!“
„Ich kann keine Aufklärung geben,“ entgegnete Hansel. „Ich hab’ Ihnen gesagt, daß ich den David nicht erschlagen, Sie haben mir nicht geglaubt. Nun ist es erwiesen, daß ich die Wahrheit gesprochen. Und es wird auch die Zeit kommen, in der erwiesen wird, daß ich nichts Strafbares begangen hab’, ich verlass’ mich auf mein gutes Recht und mein Gewissen. Mich trifft keine Schuld!“
Der Richter ließ den Verhafteten wieder in die Zelle zurückführen.
Die Kunde, daß der Körper des Unterburgsteiners in dem Schnee der Lawine aufgefunden sei und nicht die geringste Verletzung zeige, war auch zum Oberburgstein hinaufgedrungen.
Moidl jubelte innerlich auf, denn nun war die Unschuld Hansel’s erwiesen. Die Kunde, welche ein Holzknecht erzählt hatte, war leider nur kurz und unvollständig, und sie sehnte sich, Näheres zu erfahren.
Am folgenden Tage kam der Gerichtsdiener, um ihrem Vater eine Zustellung in einer Proceßsache zu bringen, und er erzählte, während sie mit einer Näharbeit still am Fenster saß, ihrem Vater ausführlich, wie Alles gewesen war. Er war ja bei der Ausgrabung des Todten und bei der Untersuchung desselben durch den Arzt zugegen gewesen.
„Erschlagen ist er nicht, das steht fest,“ fügte er hinzu.
Den Oberburgsteiner schien das Gehörte wenig zu befriedigen, langsam schritt er in dem Zimmer auf und ab.
„Wie ist David in die Schlucht gekommen?“ fragte er.
„Das weiß noch Niemand. Er ist von der Lawine erfaßt und mit niedergerissen worden, das ist die feste Ueberzeugung des Bezirksrichters und des Arztes, und ich glaube es auch,“ sprach der Diener.
Der Bauer schüttelte zweifelnd mit dem Kopfe; es paßte ihm dies nicht.
„Nun wird der Bursche wohl aus der Haft entlassen und geht frei aus?“ fuhr er fragend fort.
„Noch halten wir ihn fest,“ gab der Diener zur Antwort. „Eh’ er nicht gesteht, wo er in der Nacht gewesen ist und was ihn auf den Weg zum Unterburgstein geführt hat, geben wir ihn nicht frei. Der Richter hat ihn gestern vergebens aufgefordert, nun Alles offen zu gestehen, da erwiesen sei, daß er den David nicht erschlagen. Er sucht nach Ausflüchten und verweigert jede Auskunft. Was dahinter steckt, wissen wir noch nicht, aber wenn es nicht etwas Strafbares wär’, dann würd’ er die Wahrheit schon sagen.“
„Natürlich!“ rief der Bauer, der seinen Groll gegen Hansel nicht verbergen konnte. „Daß er nicht ohne Schuld ist, darauf möcht’ ich einen Eid leisten.“
„Er bleibt in Haft, bis er Alles gestanden, und sollt’ noch ein Jahr darüber hingehen,“ versicherte der Gerichtsdiener.
Moidl verließ die Stube und eilte auf ihre Kammer. Beide Hände preßte sie auf das Herz, denn dasselbe schlug so heftig, als ob es die Brust zersprengen wolle. Ihretwegen saß Hansel noch im Gefängniß, um die Zusammenkünfte mit ihr nicht zu verrathen, entbehrte er die Freiheit!
Sie fiel auf die Kniee und betete, sie dankte der heiligen Jungfrau, weil sie ihre Bitte erhört.
Wie sie in jener entsetzlichen Nacht den Niedersturz der Lawine gehört, da hatte sie in ihrer Verzweiflung mit dem Himmel gehadert, weil er den Schnee niedergehen ließ, ehe der Geliebte in Sicherheit war. Und jetzt wußte sie, daß Hansel dadurch gerettet war, denn es unterlag für sie keinem Zweifel mehr, daß der Unterburgsteiner ihm in der Schlucht aufgelauert hatte und durch die Lawine zu Grunde gerichtet war.
Als sie sich wieder erholt, war sie ruhig und gefaßt. Ein Entschluß war ihr gekommen und ohne Wanken hielt sie ihn fest. Am folgenden Tage war Sonntag, da wollte sie ihn zur Ausführung bringen.
Mit frischem Lebensmuthe griff sie die Arbeit an, und wer ihr fest in die Augen geschaut hätte, dem hätte es nicht entgehen können, daß in ihr ein Gedanke lebte, welcher sie glücklich machte.
Fischotterjagden in England.
Die Jagd auf den Fisch- oder Flußotter (Lutra vulgaris) ward bisher in Deutschland – wie auf dem Continente überhaupt – kaum als eigentliches Jagdvergnügen betrieben. Die Mehrzahl der Ottern wird noch jetzt von Jagdhütern oder Fischern zufällig erlegt, wann und wo sich die Gelegenheit dazu bietet, und man ist in der Wahl der Jagenszeit, Waffen, Hunde und Fangapparate um so weniger heikel, als der Balg des Otters ein sehr geschätztes, zu jeder Jahreszeit brauchbares Pelzwerk liefert. – Nebenbei glaubt man außerdem noch den Bestrebungen unserer Fischereivereine durch Tödtung eines solchen „Fischräubers“ ganz enorme Dienste zu leisten. In dieser Richtung hat in neuerer Zeit namentlich der bekannte Otterjäger Ewald Schmidt aus Westfalen binnen wenigen Jahren Erstaunliches geleistet, ohne daß deshalb die Ottern wesentlich vermindert oder die Forellen billiger geworden sind.
Mehr vom waidmännischen Standpunkte aus wird die Otterjagd bei uns allerdings seit einigen Jahren von mehreren unserer hervorragendsten Jagbbesitzer betrieben, unter welchen sich wohl mancher befindet, dessen Bemühungen um die Züchtung einer constanten Rasse deutscher Otterhunde wir hier die gebührende Anerkennung zollen möchten. – Alle diese bis jetzt in Deutschland ausgeführten Otterjagden sind reine Stöberjagden, bei denen (wie bei den bekannten Brackenjagden) das von einem
[581][582] oder mehreren Hunden aufgestöberte und laut verfolgte Wild von den angestellten und der Jagd überall folgenden Schützen mit dem Schießgewehr erlegt wird. Im Vergleich zu diesen deutschen Otterjagden hat die Art und Weise, wie der englische Sportsman in neuerer Zeit die Otterjagd betreibt, in der That etwas Imponirendes.
Zur vorläufigen Charakteristik der englischen Otterjagden muß hier zunächst erwähnt werden, daß dieselben (wie die Fuchsjagden) reine Parforcejagden sind und daß somit jede Anwendung irgend einer Waffe, es sei nun Schießgewehr, Spieß oder Wurfharpune, streng verpönt ist. Die Hunde folgen der Witterung oder der Spur des Otters zu Wasser und zu Lande mit lautem Halse so lange, bis derselbe ermüdet von den Hunden überrollt und im Nu getödtet ist. Die Otterhundemeuten werden (wie die der Fuchshunde) entweder von einzelnen wohlhabenden Sportsmen oder von bestimmten Gesellschaften auf gemeinschaftliche Kosten unterhalten. In letzterem Falle sind außer dem Dirigenten des Unternehmens noch die Posten des Schatzmeisters und Secretärs zu erwähnen, welche meist als Ehrenämter von einzelnen Mitgliedern verwaltet werden. - Dem Oberjäger oder Piqueur (englisch „Huntsman“, während der Dirigent den Namen: „Master of the Hounds“ führt) ist die eigentlich praktische Leitung der Jagden, die Führung der Meute („Pack“) und die Oberaufsicht über die Zwinger (Kennel), in welchen die Hunde untergebracht sind und gezüchtet werden – übertragen. Der „Huntsman“ wird je nach der Größe des Kennels von ein oder zwei Gehülfsjägern (Whipper, von whip Peitsche) unterstützt, und von seiner Tüchtigkeit hängt sowohl der Erfolg der einzelnen Jagden wie überhaupt das Gedeihen des Ganzen wesentlich ab. Die Zahl der Hunde beträgt selten über dreißig bis vierzig Köpfe, von denen etwa ein Drittel auf die junge Nachzucht fällt.
Man gewährt dem Otter allerdings in England keine so große Schonung, wie dem Fuchse, welcher dort für das nationale Vergnügen der Fuchsjagden mit rührender Fürsorge gehegt wird – allein man duldet ersteren doch in allen jenen Gewässern, wo eben die localen Verhältnisse einer wesentlichen Vermehrung der Edelfische nicht günstig sind. Erscheinen nur hier oder dort Ottern auf ihren Streifzügen in einem strenger gehegten Fischwasser, so verrathen ihre im nassen Sande oder Schlamme der Ufer hinterlassenen Spuren bald ihre Anwesenheit, und der Fischereiberechtigte beeilt sich, dies dem nächstwohnenden „M. o. O. H.“ das ist „Master of Otterhounds“, zu melden und um baldige Abhaltung einer Jagd in den betreffenden Revieren zu bitten. Da aber eine solche Jagd oft mehrere Stunden weit dem Wasser entlang geht, so werden zugleich die anstoßenden Grenznachbarn ersucht, die Jagdfolge auf ihrem Terrain zu gestatten – ein Wunsch, der immer mit Vergnügen erfüllt wird, da alle Beteiligten sich der Jagd, wenn auch zum Theil nur als Zuschauer, anzuschließen pflegen.
Am Morgen des verabredeten Jagdtages finden wir denn eine zahlreiche Gesellschaft am Rendez-vous-Platze – meist in der Nähe einer Brücke – versammelt, Fußgänger und Reiter, außerdem zweirädrige Dog-Carts und Victoria-Kaleschen, aus deren Fond elegante Damentoiletten hervorleuchten – im Vordergrunde des Bildes eine Anzahl rüstiger Sportsmen zu Fuß, im leichten Jagdkostüm, ohne Gewehr, aber statt dessen mit einem 5 bis 6 Fuß langen, starken Springstock bewaffnet, der beim Durchwaten des Wassers, beim Durchstoßen der Röhren gebraucht wird. Diese Herren, welche den Huntsman in einiger Entfernung überall begleiten, seinen Anordnungen bereitwilligst Folge leisten und sich vielfach nützlich machen, bilden die eigentliche Jagdgesellschaft.
Der Huntsman mit der Meute läßt noch auf sich warten; ein dicker Farmer vom nächsten Gute beruhigt die ungeduldigen jüngeren Herren durch die Versicherung, daß die Otterhunde gestern Abend mit dem letzten Eisenbahnzuge wirklich eingetroffen und im Hotel zu den King-Arms untergebracht seien. Ein Anderer glaubt soeben ein Hornsignal aus der Ferne vernommen zu haben – und bald darauf taucht richtig drüben aus dem dunklen Weidicht, bestrahlt von der Morgensonne, der zinnoberrothe Rock des Huntsman leuchtend hervor, jetzt schreitet er über die Brücke, gefolgt und umdrängt von dem Gewimmel der ruthenwedelnden, tatendurstigen Otterhunde – ein höchst malerischer Anblick!
Die Otterhunde sind noch vom alten Schlage der „Carlisle-Hounds“, kein Tropfen Fuchshundblut fließt in ihren Adern, eine rauhbärtige, zottige, trotzig um sich blickende Gesellschaft – 121/2 Koppel (Brace), das ist 25 Köpfe an der Zahl. Sie haben etwa die Größe eines starken deutschen Hühnerhundes, sind jedoch stärker von Knochen; der mächtige Kopf ist mit auffällig langem, tief angesetztem Behang geschmückt. Die Farbe ist meist ein tiefes Eisengrau oder Schwarz, mit gelbbraunen Abzeichen am Kopf und den Läufen, auch wohl grau mit gelb melirt, hell sandgelb und röthlich gelb, dagegen kommt das reine Weiß bei den eigentlichen Otterhunden seltener vor.
Ein kleiner Terrier (Dachshund) begleitet die Meute oder richtiger den Huntsman, denn er ist ängstlich bemüht, in unmittelbarer Nähe seines Herrn zu bleiben; seine jagdliche Aufgabe besteht darin, alle jene engen Röhren und Schlupfwinkel zu durchkriechen, wohin die großen Otterhunde dem Otter nicht folgen können.
Nachdem der Huntsman die nötigen Entdeckungen in Betreff der vorhandenen Ottern und ihrer muthmaßlichen Aufenthalte eingezogen, werden die Hunde in einiger Entfernung von der Brücke gelöst und zwar an einem sogenannten „Ausstiege“ des Otters, das heißt an einer seichten Uferstelle, wo der Otter das Wasser verlassen hat, um den Heimweg zu seinem Versteck auf festen Lande fortzusetzen.
Die Hunde verschwinden einer nach dem andern im hohen grünen Farnkraut, welches die zahllosen grauen, mit bunten Flechten bedeckten Steinblöcke am Ufer überwuchert – nur hier und dort kommt einer wieder auf Augenblicke zum Vorschein – mit der Nase am Boden schnobernd und lebhaft mit der Nute wedelnd – dann ist alles still.
Da hört man einen schwachen, halb unterdrückten Seufzer eines einzelnen Hundes, dann plötzlich den vollen tiefen Anschlag eines alten zuverlässigen Cumpans, der im nächsten Augenblick etwa vierzig Schritte weit auf der gefundenen Otterspur gerade aus stürmt, dann setzt er sich plötzlich hinten nieder, hebt den Kopf senkrecht empor und heult in langgedehnten Klagetönen himmelan als ob ein entsetzliches Unglück bevorstehe. Inzwischen jagen die übrigen Hunde mit lautem Halse an dem klagenden Veteranen vorüber, und dieser hält es nun für’s Beste seinen Gesang aufzugeben, um so rasch wie möglich seinen Collegen zu folgen.
Diese sonderbare Eigenschaft des Niedersitzens und Klagens während des Jagens besitzen die meisten langsam jagenden Hunde (Hurleurs oder Heuler) indeß keine Rasse in so ausgeprägtem Grade, wie die eigentlichen Otter- und Bluthunde.
Der bunte Troß der Zuschauer beeilt sich nun die gangbaren Wege und Fahrstraßen einzuhalten, um hier oder dort wieder einen Ueberblick des Ganges der Jagd zu gewinnen und wo möglich beim Tode des Otters gegenwärtig zu sein.
Wir folgen der Jagd, so rasch es eben auf dem bald holprigen, halb morastigen dornbewachsenen Ufer möglich ist, wohl eine englische Meile weit immer stroman, dann sehen wir die Meute plötzlich rechtwinklig vom Ufer abbiegen, einen weiten, unregelmäßigen Kreis in den nahen Wiesen durcheilen, dann wieder zurück an den Bach und ohne Zaudern hinein in’s nasse Element, um die Jagd am jenseitigen Ufer fortzusetzen. Hinterdrein stürmt die Jagdgesellschaft, und wir haben nun Gelegenheit, den Nutzen der langen Stöcke als Sondir- und Balancirstangen beim Durchwaten des stellenweise über drei Fuß tiefen reißenden Bergwassers genügend zu würdigen.
Kaum sind wir glücklich hinüber, so gehen die Hunde auch schon etwa hundert Schritt weiter zurück durch den Bach und halten dann plötzlich an einem tiefen, von Dornsträuchen überdeckten Einschnitt des jenseitigen Ufers, woselbst sie unter unstetem Hin- und Herrennen und Scharren auf dem Boden einen wahren Höllenlärm erheben. Dort unter dem undurchdringlichen Wurzelgeflecht des unterwaschenen Ufers liegt der Otter! – Lustig ertönt nunmehr das kurze Hornsignal des Huntsman, und bald ist die zerstreute Jagdgesellschaft zur Stelle, und Jeder wartet in größter Spannung der Dinge, die nunmehr kommen werden.
Der Huntsman ersucht nun zunächst eine Allzahl junger Herren sich weiter unten quer durch den Bach in einer Linie aufzustellen, um nötigen Falls das Entweichen des Otters in der Richtung nach einem anstoßenden großen Teiche zu verhüten. Andere Herren eilen stromaufwärts, um sich am Ufer an solchen Stellen zu postiren, wo sie den flüchtenden Otter im seichteren Wasser erkennen und seine Flucht melden können.
Wie schon erwähnt, ist die Führung jeder Schuß- oder Wurfwaffe durchaus ausgeschlossen.
[583] Nachdem die noch immer tobenden und scharrenden Otterhunde mit Mühe vom Bau entfernt und einigermaßen beruhigt sind, wird der kleine bissige Terrier in die enge Eingangsröhre gelassen. Nach einigem ungeduldigen Winseln und Knurren hört man ein wüthendes Gebell dumpf heraufschallen – dann erscheint das tapfere Hündchen mit stark schweißender Schnauze wieder an der Oberwelt – der Otter ist fort – wahrscheinlich durch eine unter dem Wasserspiegel mündende Röhre geflüchtet und im tiefen Wasser am Boden gedrückt forteilend, unsern Späherblicken entschwunden.
Unsere Vermuthung wird sofort bestätigt durch den lauten Ruf eines weiter oben postirten Jägers, welcher ihn über die Fuhrt wie einen Schatten unter dem Wasser hinweggleiten sah. Sofort sind die Otterhunde zur Stelle und begleiten den unter dem Wasserspiegel dahin schwimmenden Otter am Ufer unter beständigem Geläute. Der Wind steht gut und das Wasser trägt die starke Witterung des Otters mit jedem Wellenschlage dem Ufer zu, welches jetzt zu beiden Seiten steiler und abschüssiger wird. Die Hunde stürzen sich nun in’s Wasser und folgen dem voraufeilenden Otter, schwimmend und fortwährend laut Hals gebend, nach. Ein herrlicher Anblick! Trotz seiner Amphibiennatur muß der Otter über kurz oder lang doch Luft schöpfen – er streckt daher von Zeit zu Zeit, wo dies unbemerkt unter dem Ufer geschehen kann, die Nase hervor, um zu athmen, aber Hunde und Jäger haben seinen Aufenthalt recht bald wieder ermittelt und nöthigen ihn abermals zu tauchen. Dadurch ermüdet er mehr und mehr, taucht selten und auf kürzere Zeit, sucht, wenn es unbemerkt geschehen kann, das Wasser ganz zu verlassen und wird dann entweder schon im Wasser von den Hunden ergriffen oder auf dem Lande von ihnen überrollt und nach kurzer, heftiger Gegenwehr getödtet.
Trotz aller Anstrengungen des „Huntsman“ und seiner tapferen Meute kann es vorkommen, daß eine unter den günstigsten Aussichten begonnene Jagd erfolglos bleibt, indem es dem Otter gelingt einen größeren Fluß zu erreichen oder in Röhren, welche unter den Wasserspiegel münden, unbemerkt zu verschwinden. Bei hohem Wasserstande ereignen sich solche Fehljagden gar nicht selten und im Allgemeinen macht der englische Otterjäger sich wenig daraus, wenn der so eifrig verfolgte Otter schließlich doch seinen Balg rettet, denn der Reiz dieser Jagd liegt vorzugsweise in der Arbeit der Hunde und dem eigenthümlichen, mannigfach wechselnden Verlauf der Wasserjagd. In den meisten Fällen kommt der Otter der Jagdgesellschaft während der ganzen Jagd gar nicht zu Gesicht, bis er endlich vom Huntsman aus dem wirren Knäuel der Hunde todt hervorgezogen wird.
Wenn die Witterung es erlaubt, pflegt nach Beendigung der ersten Jagd wohl ein gemeinschaftliches Frühstück im Freien stattzufinden. Sehr hübsch ist auch der Gebrauch, die Bälge der erlegten Ottern später denjenigen Grundbesitzern oder Fischereiberechtigten zu übersenden, in deren Revier der betreffende Otter gefangen wurde. Zu diesem Zwecke werden die Bälge sorgfältig in naturgetreuer Stellung vom Conservator aufgestellt, häufig wie schlafend zusammengerollt (als Fußkissen), am Halse ein schmales Silberband tragend, auf welchem das Datum der Jagd, Gewicht des Otters und Angabe der Stelle, wo er erlegt wurde, in gravirter Schrift angebracht sind.
Diese und andere gegenseitige Aufmerksamkeiten tragen nicht wenig dazu bei, das gute Einvernehmen zwischen der Jagdgesellschaft, den Fischereiberechtigten und Grundbesitzern zu erhalten und den Reiz des Jagdvergnügens durch gemeinschaftliche Theilnahme zu erhöhen.
Die Vorliebe der Engländer für rasche Hunde und möglichst geringen Zeitverlust bei jeder Jagdart hat in neuerer Zeit dahin geführt, die alte, allerdings etwas langsame Rasse der eigentlichen Otterhunde mit dem Fuchshunde zu kreuzen, auch werden hier und dort bereits reine Fuchshunde, welche die erste Jugendzeit hinter sich haben, für die Otterjagd verwendet. Der Erfolg soll ein günstiger sein, indeß wirkt die Arbeit im Wasser sehr bald nachtheilig auf diese kurzhaarigen Hunde ein, und vor Allem geht durch diese Neuerung jedenfalls ein gut Theil des eigenthümlichen Reizes der Otterjagd verloren.
Die Zahl der namhafteren Otterhundmeuten Englands und Schottlands mag immerhin zwölf bis vierzehn betragen, unter denen die zu Carlisle stationirte Meute wohl die bedeutendste ist. – Unsere Abbildung (siehe Seite 581) zeigt den Typus der Carlisle-Hunde, welche der Verfasser vor einigen Jahren näher kennen zu lernen Gelegenheit hatte. Der Otter ist bereits erlegt, die Hunde ruhen ermüdet von den Strapazen der Jagd, und der Huntsman erwartet die am andern Ufer zurückgebliebene Jagdgesellschaft.
Bilder aus der Hygiene-Ausstellung.
„Auf Wiedersehen heute Abend in der Hygiene-Ausstellung!“
Mit diesen Worten wollte mein Freund, der mich in Berlin auf dem Bahnhofe begrüßt und bis zum Portal des Hôtels geleitet hatte, mich nunmehr verlassen, um seinen unterbrochenen Tagesgeschäften wieder nachzugehen
„Abends?“ rief ich unwillkürlich. „Ich denke, um sechs Uhr wird die Ausstellung geschlossen?“
„Ganz recht! Das Hauptgebäude mit seinem vorwiegend für Fachkenner bestimmten Inhalt, der unser Einem oft recht wenig interessant und verständlich ist.“
„Aber das ‚Panorama von Gastein‘?“
„Das ist wahr! Deshalb fahren Sie lieber noch bei Tageslicht hinaus; denn das ist wirklich sehenswert. Und dann treffen wir uns vor Bauer’s Restaurant. Wir werden den schönen Abend ganz unterhaltend verbringen.“
„Adieu also!“
Mein Freund rollte in seiner Droschke „Erster Güte“ schnell und geräuschlos über den Asphalt von dannen, und mich trug der Aufzug des Hotels in feierlicher Stille hinauf in das mir zugewiesene Stockwerk; weiche Läufer zeigten mir die Bahn bis zu meinem Zimmer, und schon in der nächsten Minute verließ es der freundliche, flinke Knabe, der mich geleitet hatte, sein galonnirtes Mützchen und mein Autogramm in der Hand.
Bald hatte ich meinen äußeren Menschen möglichst der Kaiserstadt würdig ausgestattet und schlenderte durch die belebte Friedrichsstraße dem Stadtbahnhofe zu. Mit dem Billet für zehn Pfennig ausgestattet stieg ich die Steintreppe hinan, und da saust auch schon der Zug herbei, jeder „sieht, wo er bleibt“, öffnet und schließt sich sein Coupé ohne Schaffner und in wenigen Minuten verläßt man es wieder auf dem Lehrter Bahnhof.
„Gehen Sie lieber um die Invalidenstraße herum zum Haupteingang; dann ist der erste Eindruck, den Sie haben, imposanter.“
Gewissenhaft befolgte ich diesen Rath eines Mitfahrenden, dem, als Eingeborenem, offenbar daran lag, daß die „Hijehne“, wie er sie kurz nannte, sich dem „Fremden“, als welcher ich sogleich erkannt war, von der vortheilhaftesten Seite zeigen möchte.
Die lange Planke entlang, über welche Giebel, Dächer, Fahnen, Schornsteine und Wetterfahnen der Pavillonstadt mich schon neugierig begrüßten, vorüber an dem schauerlichen Moabiter Zellengefängniß, dessen Bewohner hier wenigstens eine erfreuliche und sanitäre Aussicht haben, ging es nach dem Haupteingang und, mit Karte, Katalog, Führer etc. ausgerüstet, eine der beiden Freitreppen herab, zwischen denen sich Cascaden von einem Pulsometer getrieben hinab ergießen, um sich unten in einem von Gartenanlagen umsäumten Becken zu sammeln.
Von hier aus präsentirt sich die Fronte des nunmehr aus Stein, Eisen und Glas reconstruirten Ausstellungspalastes mit dem kuppelgewölbten hohen Mittelbau in der That sofort klar, übersichtlich und mit Wirkung. Man sieht, daß das Ganze ein Mittelschiff und je zwei Seitenschiffe enthält und daß jedes dieser Schiffe im Grunde sich wieder aus einer Reihe einzelner, mit niedrigeren Kuppeln versehener Pavillons zusammensetzt.
„Nicht monoton und doch für etwaige spätere Verwendung in Einzeltheilen sehr praktisch,“ kam ein neben mir Stehender meinem prüfenden Blicke zu Hülfe.
[584] Da ich seit lange in jedem derartigen freiwilligen Cicerone einen Bauernfänger wittere, begab ich mich schleunigst zwischen dem Malto-Leguminosen- und dem Chocoladenpavillon hindurch, schon damit in erneute angenehme Stimmung versetzt, nach dem Glaspalaste, zunächst mein Auge an der von Genien umschwebten Kaiserinbüste weidend und die Preller’schen auf Stoff gemalten Bilder, welche für die Betrachtung etwas zu hoch schweben, musternd.
Diese Velarien (ein Weißbiergesicht in meiner Nähe hatte sie, weil es „Volièren“ suchte, bis dahin nicht entdecken können) sind in der That würdige landschaftlich-allegorische Compositionen – eine passende Umrahmung für das Standbild der hohen Protectorin.
Das Ziel meiner Wanderung war das am entgegengesetzten Ende des Mittelschiffes gelegene „Panorama von Gastein“. Nach Durchwanderung einer düsteren Felsengrotte, an deren Eingang uns ein Standbild der Hygiea begrüßt, während wir im Innern dichtgedrängt und eingekeilt zwischen ehrlichen und verdächtigen Physiognomien, die Hand auf Uhr und Portemonnaie, uns vorarbeiten, stehen wir mit einem Male in einer Alpenhütte und genießen, von drei Altanen derselben nach drei verschiedenen Richtungen hin, entzückende Blicke in die Gasteiner Thäler. Dies Schaustück, ein Meisterwerk Hertel’s, künstlerisch und zugleich durch die wirklichen Gegenstände des Vordergrundes ungemein wirksam, zieht mit Recht den Strom der Besucher magnetisch an, während sich dieselben, soweit sie nicht Aerzte, Techniker und Hygieniker von Beruf sind – gegenüber den eigentlichen Ausstellungsgegenständen theils nur neugierig, theils ziemlich gleichgültig verhalten.
„O Göttin der Gesundheit, wie groß ist dein Herz, wie allumfassend sind deine liebenden Arme! Wie hast du gastlich Jeden in deinen Tempel eingelassen, der sich mit seinen Gaben dir nahte! Ja, jetzt erkenne ich erst, daß im Grunde Alles, was da geschaffen wird, dir dienstbar und unterthan ist, denn Alles wirkt, wenn nicht unmittelbar, so doch auf Umwegen, für das Wohlbefinden, für das Behagen, für die Gesundheit des Menschen mit!“ Diese erhebende Betrachtung regte sich in meiner Brust, als mein Auge über diese bunte Fülle voll Gebilden fleißiger Menschenhand schweifte und mein Fuß mich durch das Gewirr der geschmackvollen Auslagen, Kojen und Pavillons trug, wobei ich nicht verfehlte, den dickleibigen Katalog eifrig zu Rathe zu ziehen. Oefen und Kochmaschinen, Mieder, Brieftaschen aus Schlangenhaut, Wein, Thee, Biscuits und Chocolade, Pläne von Kirchen und Concerthäusern, elektrische Läutwerke und Beleuchtungsobjecte, Federmesser und Korkzieher, Manufacturwaaren und eingesetzte Früchte – eine bunte Gesellschaft, die sich hier zwischen die streng zum Dienste der Gesundheits- und Krankenpflege gehörigen Dinge gemischt hat.
„Wer Vieles bringt, wird Manchem Etwas bringen,“ sagten sich die leitenden Kräfte mit Recht. „Die Gesundheit fördert es doch, und da es außerdem füllt, so mag es zugelassen werden.“
Diese liberale Anschauung hat denn auch wirklich ein selbst für den Laien unterhaltendes Gesammtbild geschaffen, und er nimmt die photographischen Portraits ungarischer Schweine – Vorbilder strotzender Gesundheit – er nimmt die Modelle von Kohlenbergwerken, die Spielzeuge für kleine und große Kinder gern in den Kauf und betrachtet mit heiliger Scheu und respectvollem Interesse das viele Nützliche, welches Staaten und Städte, Gesellschaften, industrielle Etablissements und Private geschaffen haben, um den Einzelnen und die Gesammtheit bei guter Gesundheit zu erhalten ober vor Schaden zu schützen.
In den Seitenhallen war es ziemlich still geworden. Ein Aussteller, dem ich mein Befremden darüber äußerte, meinte, daß nach der Prämiirung ein merklicher Nachlaß der Theilnahme nicht zu verkennen sei. Schon bei den üblichen Ausstellungen ziehen, sobald die Jury ihre Entscheidung gesprochen, die Furien der Zwietracht, des Mißmuths und der Unzufriedenheit in die bis dahin friedlich-festlichen Hallen ein. Jeder glaubt, mit großen Opfern und jahrelanger Mühe das Beste seines Könnens geleistet zu haben, und wie Wenigen ist die Enttäuschung erspart! Ist dies schon eine allgemeine Ausstellungsklage, so hat sie sich Angesichts der geringen Zahl jener vielumworbenen Medaillen, welche die allgemeine deutsche Hygiene-Ausstellung zu vergeben hatte, in diesem Falle sehr gesteigert. Der Umstand, daß zunächst Comité-Mitglieder selbst, daß Vereine zum rothen Kreuze und dergleichen Corporationen, anstatt außer Mitbewerbung zu bleiben oder sich mit Diplomen zu begnügen, ihren Antheil an jenen spärlichen Zeichen der Anerkennung erhielten, ließ für die Menge zum Theil bedeutsamer Aussteller von vornherein nur noch einen schwachen Hoffnungsschimmer übrig. Hierzu kam, daß manchem Glücklichen schon durch seinen Namen, seine Betheiligung, seine persönlichen Beziehungen sichere Anwartschaft auf jenen von Hunderten vergeblich erkämpften Sieg – gewissermaßen ein ihnen schon in die Wiege gelegtes Göttergeschenk – zu Theil geworden sein mag. Es trägt eben nicht jeder reichblühende Baum Früchte; ein Frost, ein Hagelschlag – und die berechtigtsten Hoffnungen sind zerstört. Nicht für Jeden bewährt sich das „Suum cuique“.
Genug – zahllose verdiente Mitarbeiter sind bei diesem Sparsystem der Preisverteilung leer ausgegangen. Gleichgültigkeit und Unmuth sind seitdem – wie ich ohne besonderen Hinweis sofort erkannte – an die Stelle freudigen Wettstreites getreten. Auch mein bescheidener Gewährsmann mochte nach dem, weß sein Herz überging, einer jener Vielen sein, denen die Ausstellung statt Freuden und Ehren nur Leiden und Lasten eingetragen. Mißvergnügt seinen Schrank verhüllend, folgte er mir, als ich, dem Schall der Glocke gehorsam, durch die stiller gewordenen Hallen dem Ausgange zueilte.
Draußen schlug das frische, fröhliche Leben in vollen Pulsen. Die geschickt hervorgezauberten Gartenanlagen und die über das weite Terrain verstreuten Kioske und Pavillons in ihren bunt wechselnden Formen, dazwischen der gewaltige Stadtbahnviaduct mit seinen weit gespannten Bogen und auf allen Wegen und Stegen eine lachende, plaudernde Menschenmenge, die sich unter den Klängen von drei, vier Militärkapellen wie ein Strom dahinwälzt. Ist drin das ernste Heiligthum der Hygiea – hier draußen, unter dem klaren blauen Himmel feiert sie ihre heiteren Feste und ihr Oberpriester ist Bauer, jener kleine, unscheinbare Mann mit seinem gewaltigen Speculationsgeist, der dort, vor seinem Restaurant, behaglich sitzt und mit Freunden ein Glas leert. Ja, Leben, Genuß, Unterhaltung, Zerstreuung – das ist das Zeichen, unter dem sich hier jene Tausende zusammengefunden haben.
Endlich gelingt es mir, mich bis zu einem Tische hindurchzuarbeiten, von dem mir schon der Künstlerhut, der blonde Vollbart und die blauen Augen meines Freundes, der pünktlich, wie immer, zur Stelle ist, entgegenwinken. Eine kurze Rast und ein frischer Trunk – und Arm in Arm mit ihm begebe ich mich, ihm als Kenner mich völlig anvertrauend, mit auf die Wanderung nach den „Sehenswürdigkeiten“!
„Welches Wort, lieber Freund! Ein solch profaner Ausdruck gegenüber einer solchen Fachausstellung!“
„Und doch ist es wahr,“ sagte er. „Schon die Anzeigen des Comités deuten ja darauf hin, indem sie den Besuchern ‚Concert, Exercitien der Feuerwehr, Kochschule und Volksküche, Taucherproduction‘ etc. in Stichworten als Hauptanziehungspunkte vorführen. Folgen wir diesem officiellen Wink, und nebenbei kann ich Ihnen auch manches hübsche Hygienische zeigen. Benutzen wir das Dämmerlicht.“
Sprach’s und weiter geht’s an einem Stadtbahnbogen vorüber, wo eine mehr oder weniger echte Italienerin einen „Bittern“ schenkt, vorbei an dem Blooker-Pavillon mit der sauberen Holländerin, zum Taucher, der soeben in seiner complicirten Rüstung unter den Wasserspiegel seines Bassins gestiegen ist, um zwar keinen hinabgeworfenen „goldenen Becher“ von einem Korallenriff, aber einen blanken Thaler vom Grunde heraufzuholen, den er mit Stolz, als wäre es die „Silberne Medaille“, emporhebt, sobald er wieder im rosigen Licht athmet. – Ein anderes Bild! Aus dem Wasser in die Tiefen der Erde! Wir betreten den Stollen eines Kohlenbergwerks, dessen Wände durch Glühlämpchen erleuchtet sind. Lebensgroße, täuschend in Wachs nachgebildete Arbeiter mit ihren gebräunten Gesichtern und schmutzigen Kitteln zur Rechten und zur Linken! Daran erkenne ich die Meister Castan, für die es keine Schwierigkeiten giebt, wenn es gilt, die Natur vorzutäuschen.
„Weiter, lieber Freund! Da wir einmal bei den Elementen sind, einen Blick in den ‚Meteorologischen Pavillon‘! Wie sinnreich die complicirten Apparate, mit denen der Mensch das Reich der Luft zu belauschen und zu beherrschen gelernt hat!“
„Jetzt fehlte nur das Feuer!“ äußerte ich, schon völlig eingeschüchtert von den elementaren Gewalten, und noch war meinen Lippen das Wort kaum entflohen, so standen wir schon vor der Schaubühne der Judlin’schen Imprägnirungsanstalt, um dort die Schleppe einer im Salon ohnmächtig hingesunkenen Dame noch [585] ebenso lustig brennen zu sehen, wie dies schon seit Monaten der Fall ist.
Noch ganz erfüllt von dem Bilde der unzerstörbaren Jungfrau, durchwanderten wir einige Sanitätszüge, deren Comfort und praktische Einrichtung bewundernd, und standen bald vor dem Siemens’schen Leichenverbrennungsgebäude.
„Endlich werde ich einmal eine Leichenverbrennung sehen!“
„Sie irren, mein Guter! Weder Menschenleiber noch Thierkörper sind bis jetzt darin zu Asche umgewandelt worden.“
„Warum?“
„O frage nicht!“
„Nun denn, kehren wir von diesem düsteren Tempel, dem Stationsgebäude für die Fahrt in’s Jenseits, wieder zu unserem Dasein zurück, wo Leib und Seele noch zusammengehalten werden. Bekanntlich hat gutes Essen und Trinken diese schöne Aufgabe, deshalb ist jetzt ein Besuch bei der Volksernährerin und Mutter aller Schwachen und Hülflosen, bei Lina Morgenstern, am Platze. Wie praktisch und segensreich diese Volksküche, wie sauber und belehrend diese Kochschule! Hut ab vor der resoluten, thätigen Frau.“
Cigarrenladen, fahrbare Milchwirthschaft, Cap-Wein-Tempel, Harzer Sauerbrunnen, das Normal-Wohnhaus, wie es in der Regel nicht sein soll – genug, genug der Genüsse. Die Abendsonne ist gesunken; einzelne Sterne wagen sich an dem dunkleren Himmel hervor, und um die Fontaine und den glitzernden Teich flammen die Regenerativ-Gasbrenner, und mit ihrem gelblichen Licht kämpft jenseits der Stadtbahn der magische, bläuliche Glanz der zahlreichen elektrischen Flammen. Alle drei bis vier Minuten huscht ein Eisenbahnzug hin und wieder, und neugierig blicken die Fahrenden herab auf das lustige Wogen und Treiben. Von da und dort ertönen die Melodien der Militärmusik, und wer nicht an Speise und Trank die Gesetze der Hygiene praktisch zu erproben Gelegenheit und – Platz findet, der macht sich das ebenso hygienische Vergnügen, auf diesem halb an ein Gartenetablissement, halb an einen interessanten Jahrmarkt erinnernden Plan sich zu ergehen. Ein Summen und Brausen, ein Grüßen und Plaudern ringsum. Zwischen der Aristokratie der Geburt, des Geistes und Geldes die Typen der Spießbürger, der Flaneurs und der Halbwelt. Berlin hat sein Saisonvergnügen, was diesem Sommer seinen Stempel aufdrückt. Es amüsirt sich „hygienisch“.
Weg mit den Grillen und Sorgen um die Erhaltung der Gesundheit, weg mit dem Schreckgespenst der Krankheiten! Mögen die trefflichen Gelehrten, deren Arbeiten dort im Pavillon des „Reichs-Gesundheitsamtes“ ein staunenswerthes Bild von Fleiß und Scharfsinn entrollen, die teuflischen Bacterien (denn die sind doch schließlich an allem Bösen schuld) ermitteln und vernichten! Hier in diesem Lichtmeer, diesen Schallwellen herrscht die Freude am Augenblick, die Luft zu sehen und zu genießen, der Zweck, unter dem Banner des Rothen Kreuzes dem Wahlspruch „Freut euch des Lebens“ eine neue Seite abzugewinnen. Wenn die Ausstellung heute der Fischerei oder morgen dem Gewerbe gilt, hier der Elektricität oder dem Sport, dort der Blumencultur oder der Viehzucht, dann ist das eine ganz specielle Aufgabe. Aber die Hygiene ist ein Gemeingut, und Jeder hat die Pflicht, auf dem der Göttin mit der trinkenden Schlange geheiligten Boden vor Allem ihrem Cultus zu leben, das heißt sich’s mit Heiterkeit wohl sein zu lassen; dann hat die Hygiene-Ausstellung, die sich, wie manche Damen, die den Zenith überschritten haben, bei Abendbeleuchtung am interessantesten ausnimmt, Tausende ihrer Besucher glücklich gemacht.
Wien vor zweihundert Jahren.
Von allen Folgen des Dreißigjährigen Krieges war die schlimmste die fast vollständige Vernichtung einer obersten Staatsgewalt im deutschen Reiche. Mit teuflischer List hatte namentlich Frankreich es in den berüchtigten Friedensverhandlungen zu Osnabrück und Münster (1648) – bei welchen „das Elend des Krieges durch die Schande des Friedens womöglich noch überboten wurde“ – durchgesetzt, daß allen, auch den kleinsten deutschen Fürsten in weltlichen Dingen dieselbe Unabhängigkeit
[586] vom Kaiser gesichert wurde, welcher sich in geistlichen die protestantischen Fürsten vom Papste erfreuten. An der Souveränitätssucht der Glieder erkrankte der ganze Körper des Reiches, und wenn es noch 150 Jahre dauerte, ehe es dieser verderblichsten Staatskrankheit ganz erlag und dem Namen nach von der Karte Europas verschwand, so verdankte es dies nur der unverwüstlichen Kraft des Volkes. Daß trotz aller Leiden und der tiefen Erniedrigung, in welche dasselbe versunken und niedergedrückt war, der Kämpfmuth noch in den Herzen festsaß, dafür sollte Wien sich das glänzendste Zeugniß des siebenzehnten Jahrhunderts erwerben.
Die achtziger Jahre jenes Jahrhunderts brachten über Deutschland abermals Verluste und bedrohten es mit Gefahren, die nicht nur den Bestand des Reiches in Frage stellten, sondern vor denen alle Völker westeuropäischer Bildung zittern sollten. Zwei Bollwerke pries damals der Deutsche am höchsten, denn sie bildeten den stärksten Schutz gegen die zwei mächtigsten und unversöhnlichsten Feinde Deutschlands, Straßburg gegen die Franzosen und Wien gegen die Türken. Kaiser Karl der Fünfte soll einst den Ausspruch gethan haben: „Wenn die Franzosen vor Straßburg und die Türken vor Wien stünden, so würde ich Wien fahren lassen und Straßburg retten.“ Und nun war Straßburg, ein Hauptsitz deutscher Gelehrsamkeit und Kunst und die feste Stätte eines kerndeutschen Bürgerthums, seit dem 30. September 1681 für das Reich verloren, und der Fürst Egon von Fürstenberg, welcher es an Ludwig den Vierzehnten mit verrathen, hatte als Bischof von Straßburg zu dem Verbrechen noch die Schmach gefügt, dem französischen König bei dessen „Siegereinzug“ den Gruß Simeon’s zuzurufen: „Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen!“ - Und nach dieses selben Königs Willen sollte jetzt Wien den Türken überliefert werden.
Ludwig der Vierzehnte, der sich als mächtigster König Zeit fühlte, strebte in der Unersättlichkeit seines Ehrgeizes nach der, trotz aller inneren Schwäche des Reichs, in den Augen der Welt doch noch glänzenden Kaiserkrone. Bei der erprobten Feilheit mancher Reichsfürsten mochte ihm die Erreichung dieses Ziels nicht gar schwer erscheinen. Wirklich bot sich auch die Gelegenheit dazu. Kaiser Ferdinand der Dritte starb am 2. April 1657, sein Sohn gleichen Namens, der bereits König von Ungarn und Böhmen und zum künftigen Kaiser gewählt war, starb noch vor ihm, und so stand der Thron des Reichs erledigt da. Sofort eilten französische Gesandte an alle Kurhöfe, um Ludwig’s Wahl zum römischen Kaiser deutscher Nation zu betreiben. Schon waren die drei geistlichen Kurfürsten am Rhein für ihn gewonnen; um so kräftiger traten die protestantischen Fürsten für die Wahl eines deutschen Oberhauptes auf. Sie fiel auf den zweiten Sohn Ferdinand’s, der als Leopold der Erste den Thron bestieg. Ludwig sann auf Rache, und da Wien nicht seine zweite Hauptstadt geworden war, so sollte fortan ein türkischer Pascha dort seinen Sitz erhalten. Seitdem hetzten französische Sendlinge insgeheim unaufhörlich Türken und Ungarn zum Krieg gegen den Kaiser, während er das Reich im Westen nie zur Ruhe kommen ließ.
Die Wahl Leopold’s zum Kaiser war, wenigstens für die protestantischen Fürsten, wenn sie auf eine dankbare Schonung für ihre Glaubensgenossen in den Ländern des Habsburgers gehofft hatten, eine verfehlte. Leopold war, ursprünglich zum Geistlichen bestimmt, von Jesuiten erzogen und blieb ihr folgsamer Zögling bis an sein Ende. Diese Glaubensrichtung und der enge Schnürleib spanischer Hofsitte, in welchem er sich bewegen mußte, konnte nur einen abgeschlossenen, unzugänglichen Menschen, keinen Mann aus ihm machen. Nicht was er that, sondern was er geschehen ließ, bildet die traurige Geschichte seiner Regierung.
Trotzalledem begünstigte ihn in seinen ersten Kämpfen gegen die Türken das Glück. Die allgemeine Türkenfurcht trieb ihm Hülfe vom Reich, selbst von Spanien und Venedig zu, und sogar Ludwig der Vierzehnte sandte ihm, um öffentlich den Schein seiner „allerchristlichsten“ Majestät zu retten, 6000 Mann unter dem Herzog von La Fouillade. Von tüchtigen Feldherren, Montecuculi, dem Grafen von Waldeck und dem General Spork geführt, errang das Heer den großen Sieg bei St. Gotthard, am 1. August 1663, welcher die Türken zwang, zu Vasvar einen Frieden auf zwanzig Jahre zu schließen.
Leider wurde dieser Sieg von der alleinherrschenden Jesuiten-Camarilla nur dazu benutzt, um die Ungarn, die man schon in ihren Rechten vielfach gekränkt hatte, nun, namentlich durch die heftigsten Verfolgungen aller Protestanten, deren Geistliche man sogar in großer Zahl gefangen nahm und auf die Galeeren verkaufte, zu offener Empörung zu zwingen. Der Uebermuth der Soldateska, welcher jede Frevelthat gegen den Landmann und „Ketzer“ freigegeben zu sein schien, zerriß das letzte Band der Pflicht. Der Adel, voran die Grafen Zriby, Nadasdi und Ragoczy, stellte sich an die Spitze einer Verschwörung.
Als diese entdeckt worden und ihre Häupter dem Blutgericht verfallen waren, stellte sich Emerich Tököly, das Haupt der ungarischen Protestanten, an die Spitze der Empörer, und sie wurden sowohl von dem französischen „Sonnenkönig“ Ludwig dem Vierzehnten (der gerade damals das Edict von Nantes aufhob und die Hugenotten vertrieb), als von dem spätern Türkenbesieger, dem Polenkönige Johann Sobieski, mit Geld und Mannschaft unterstützt. Sie bemächtigten sich der Münzstätten in Oberungarn und ließen Ducaten prägen, welche theils das Bild Ludwig’s des Vierzehnteu mit der Umschrift „Beschützer der Ungarn“, theils dasjenige Tököly’s als Fürsten der von ihm besetzten Gebiete mit der Inschrift „Für Religion und Freiheit“ trugen. Der Kaiser sah sich genötigt, mit den Insurgenten um Frieden zu verhandeln, aber die Franzosen und Türken verleiteten durch ihre Versprechungen Tököly zu so hoch gespannten Anforderungen, daß sich Alles zerschlug, und nun riefen Magyaren und Türken den Rebellenführer zum „Könige von Ungarn“ aus. Unter diesen Umständen brach das verhängnißvolle Jahr 1683 an.
Es fand Deutschland in einer sehr mißlichen Lage. Die ultramontane Politik Oesterreichs hatte dem Kaiser fast alle deutschen Fürsten entfremdet; nur Baiern stand beharrlich zu demselben. In Ungarn machte Tököly reißende Fortschritte und nahm dem Kaiser fast alles ihm noch übrig gebliebene Land weg, wozu ihn vorzüglich die fortgesetzt ihm zufließenden französischen Hülfsgelder befähigten. Die Türken aber fanden diese Constellation ihrem alten Streben, in Mitteleuropa Fuß zu fassen und das Christenthum zu vernichten, im höchsten Grade günstig. Der allmächtige Großwesir Kara Mustapha, den die Lorbeeren seiner ebenso siegreichen, als grausamen Vorgänger nicht ruhen ließen, riß den Sultan Mahommed den Vierten zum Kriege fort, rüstete mit allen Kräften und anerkannte Tököly, welcher unterdessen die Kaiserlichen mit fruchtlosen Unterhandlungen arglistig hinhielt, als Vasallenfürsten von Ungarn, dessen Reichsinsignien er ihm sandte.
Schon im October 1682 begab sich der Sultan nach Adrianopel, um gegen Oesterreich aufzubrechen, dessen Gesandten Caprara der Wesir immer noch in Sicherheit wiegte. Lange genug dauerte in Wien die Verblendung, als stände kein Krieg bevor, und als der Schleier der Täuschung endlich zerriß, da sah sich der Kaiser fast ohne Bundesgenossen, denn die westeuropäischen Staaten fanden sich genöthigt, ihre Unabhängigkeit gegen Frankreich zu wahren, das somit die Interessen der Türkei wacker vertrat; in England aber ging die Revolution gegen das Haus Stuart ihren Gang, in den auch Holland hineingezogen wurde. Baiern war der erste Staat, der dem Kaiser werkthätige Hülfe zusagte. Ueberraschender Weise aber folgte jetzt auch Polen nach, dessen König, von Ludwig dem Vierzehnten empfindlich beleidigt, mit Frankreich brach und am 31. März 1683 mit Kaiser Leopold das folgenreiche Bündniß schloß.
Jetzt wurde auch in Wien eifrig gerüstet. Es waren 80,000 Mann in Aussicht genommen. Gegen 30 neue Regimenter zu Fuß und zu Pferd wurden errichtet. Der tapfere Herzog Karl von Lothringen wurde zum Oberbefehlshaber des kaiserlichen Heeres ernannt.[1] Eben von schwerer Krankheit genesen, traf er im April 1683 aus Innsbruck, wo er Statthalter war, in Wien ein und verbesserte sofort die bisher ungenügenden Verteidigungsmaßregeln.
Bei Kittsee wurde am 6. Mai große Heerschau über 40,000 Mann deutscher und ungarischer Truppen abgehalten, welcher der Kaiser, die Kaiserin und der Kurfürst von Baiern beiwohnten.
Unterdessen hatte sich das türkische Heer, 200,000 Mann stark, in Bewegung gesetzt. Ein Wolkenbruch bei Adrianopel, der [587] viele Leute und Pferde fortriß, wurde von Manchen als eine unglückliche Vorbedeutung aufgefaßt, nicht so aber vom Sultan und Wesir. In Belgrad trafen am 12. Mai Gesandte Tököly’s mit den Türken zusammen und übergaben ihnen den Plan zum Vormarsche nach Wien. Feierlich überreichte dann der Sultan seinem Kara Mustapha die grüne Prophetenfahne, sowie den Säbel und Schmuck etnes Seraskiers, mit der Ermahnung, gegen die Feinde des Korans tapfer zu kämpfen und damit das Paradies zu verdienen.
In Ungarn angekommen, zogen die Türken, wie billig, auch ihren Freund Tököly zum Kriegsrathe bei, in welchem er sich jedoch gegen die sofortige Belagerung Wiens und vorerst nur für die Eroberung von ganz Ungarn aussprach, nach welcher die Einnahme Wiens leicht sein würde.
Ehe wir zur Schilderung der Belagerung selbst übergehen, werfen wir einen Blick auf das uns bildlich dargestellte Wien von 1683. Bekanntlich ist das Vindobona der Römer während der Stürme der Völkerwanderung zwar aus der Geschichte verschwunden, aber schwerlich ganz verödet gewesen. Wenn aber auch der feste Ort schon unter Karl dem Großen bestand und zur Zeit der Ungarneinfälle und ihrer Niederlage auf dem Lechfelde (955) eine Rolle spielte, so kommt er mit dem Namen „Wien“ doch erst in einer Urkunde von 1137 vor. Von Bedeutung muß gleichwohl die Stadt schon gewesen sein, sonst würde, als Kaiser Friedrich der Erste dem fürstlichen Geschlechte der Babenberger die Ostmark verlieh, der erste Herzog von Oesterreich, Heinrich Jasomirgott, dieselbe nicht zur bleibenden Residenz gewählt haben. Nach dem Aussterben der Babenberger benutzte König Ottokar von Böhmen seine kurze Herrschaft (1251 bis 1276), um die Befestigungen Wiens so weit hinauszurücken, daß die Innerstadt die Gestalt erhielt, die sie mehrere Jahrhunderte lang behalten hat.
Dasjenige Bauwerk, ohne welches Niemand heutzutage sich Wien vorstellen kann, der Stephansdom, verdankt seine Entstehung erst dem vierzehnten und die Vollendung des Thurmes dem fünfzehnten Jahrhundert (1433). In derselben Zeit war die Universität gegründet und die Burg zum Hauptsitz der gesammten herzoglichen Familie erhoben worden. Die Stadt hatte das Bedürfniß, sich auszubreiten. Da aber die Innerstadt noch in ihren alten Gürtel von Wallgräben, Mauern und Thürmen eingeschnürt war, so wagte man sich vor die Mauern und baute Vorstädte, deren Bewohner in Kriegsgefahr in der Innerstadt Schutz suchten.
In der langen Friedenszeit, die seit der Thronbesteigung Rudolph’s von Habsburg Wien genoß, genügte dies, und die Vorstädte wuchsen und manches Dorf schloß sich ihnen an. Als aber in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts Wien mehrmals (dreimal vom König Matthias Corvinus von Ungarn) belagert worden war, wobei die offenen Vorstädte ungeheuren Schaden gelitten hatten, suchte man diesem Uebelstande dadurch für die Zukunft abzuhelfen, daß man nicht nur die Mauern der innern Stadt erhöhte, mit einem Wallgang versah und nette Bastionen errichtete, sondern auch die Vorstädte mit Bollwerken ausrüstete.
So glaubte man sich vor jeder Gefahr gesichert, als Wien von einem Feind bedroht wurde, gegen dessen Heeresmassen und Kriegsausrüstung die gepriesene Befestigung nicht Stand halten konnte: Sultan Soliman der Zweite zog zur Unterjochung des Abendlandes heran und stand am 23. September 1529 vor der Stadt. Jetzt zeigte es sich, daß auch für die stärkste Besatzung die Vertheidigung der Stadt und der Vorstädte eine Unmöglichkeit sei, ja daß, um die Hauptstadt mit ihren Schätzen und ihrer Bedeutung als östlicher Schlüssel zum Reich zu retten, die Vorstädte geopfert werden müßten. Und so geschah es. Der ganze Kranz der Vorstädte mit ihren Palästen und Kirchen wurde niedergebrannt, aber durch dieses außerordentliche Opfer und den heldenmüthigsten Kampf Wien und Deutschland gerettet.
Die ungeheure Größe dieser Gefahr erweckte im ganzen Reiche zum ersten Male wieder den Gemeinsinn. Die Wichtigkeit Wiens als Bollwerk war erkannt und von allen Seiten brachte man Beisteuern, um diese Stadt in eine starke Festung zu verwandeln. Den neuen Bau leitete der Ingenieur Hirschvogel. die Kosten desselben beliefen sich auf anderthalb Millionen Gulden.
Trotz dieses Aufwandes war es nicht möglich, die Angst und Sorge vor den Türken zu mildern. Beide dauerten fort im ganzen sechszehnten und in’s siebenzehnte Jahrhundert hinein und forderten zu immer neuen Opfern für die Befestigung der Kaiserstadt auf. Und als während des Dreißigjährigen Krieges die Schweden zweimal bis an die Vorstädte Wiens vorgedrungen waren und neue Stürme der Türken bevorstanden, mußte endlich der letzte Schritt zur möglichsten Sicherung der Innerstadt gethan werden. Kaiser Leopold beauftragte den Feldmarschall Marquis Gonzaga mit den neuen Befestigungsarbeiten. Dieser aber hielt es für unweigerlich nothwendig, den Raum vor allen Bastionen frei von allen Bau-Anlagen zu halten. Und so wurden denn, auf des Kaisers Befehl, alle Gebäude, welche bis auf zweihundert Schritte von der Contrescarpe hinaus standen – es waren deren zweihundertdreißig – niedergerissen und jeder Neubau dort verboten.
So entstand das später sogenannte „Glacis“ – und so zeigt uns unsere Abbildung die Festung Wien, wie sie im Jahre 1683 den letzten Ansturm der Türken erwartete.[2]
Um das Andringen der Türken nach Möglichkeit aufzuhalten, bis die Hülfsvölker aus dem Reiche und aus Polen das Heer des Kaisers verstärkt hätten, stellte Herzog Karl seine Truppen gegen Ende Mai bei Komorn auf.
Der Herzog unternahm zuerst die Belagerung von Neuhäufel, wobei die ersten Zusammenstöße mit den Türken erfolgten, gab sie jedoch bald wieder auf, um dem Hauptheere des Feindes die Spitze besser bieten zu können. Er marschirte nun gegen Raab hin, um diese Stadt gegen die heranziehenden Türken zu schützen, welche, sengend und brennend, am 1. Juli im Angesichte der Kaiserlichen erschienen. Auf beiden Ufern der Raab standen sich 34,000 Kaiserliche und 310,000 Türken gegenüber, welche letztere Zahl aber durch die Truppen Tököly’s auf mehr als 400,000 vermehrt wurde. Als aber auch sogenannte Tataren aus Süd-Rußland sich den Türken anschlossen und in der ganzen Gegend mordeten und brannten, verzichtete Herzog Karl auf einen Kampf mit so ungleichen Kräften und trat den Rückzug an. Von Türken und Tataren verfolgt, welche ihrer Gewohnheit gemäß jedes passirte Dorf niederbrannten, aber bei jeder Wendung der Deutschen zur Flucht umkehrten und nur bei Petronell am 7. Juli einigen Erfolg hatten, kamen die Kaiserlichen ohne bedeutenden Verlust in Wien an.
Das türkische Hauptheer folgte nach, ließ sich aus Ofen alles zur Belagerung der Hauptstadt Nöthige nachführen und traf am 14. Juli vor Wien ein, das sie ohne Säumen von allen Seiten einschlossen. Herzog Karl hatte in der Stadt den größten Theil seiner Infanterie zurückgelassen und war mit der Reiterei auf das linke Donau-Ufer übergegangen, um hier den endlichen Anmarsch der äußerst langsam sich bildenden Hülfsvölker zu erwarten. Der Kaiser hatte sich nach Linz und dann nach Passau in Sicherheit begeben, verfolgt von dem Spott und Hohn des Landvolks.
Rastlos behielt Herzog Karl den Entsatz des bedrängten Wien im Auge. Mit tiefem Schmerze beobachtete er aus seinem Lager die Mord- und Brandthaten der Türken in der Umgebung Wiens und die Wegschleppung ganzer Bevölkerungen in die Sklaverei. Seiner Kühnheit gelang es, Preßburg der Uebermacht der Türken und Rebellen, die es überfallen und ausgeplündert hatten, wegzunehmen und sonst noch manche Vortheile über die Feinde zu gewinnen, während er zugleich Alles tat, den Anmarsch der Bundesgenossen zu beschleunigen.
Indessen erduldete die Stadt Wien schwere Tage. Viele Einwohner hatten schon vor Ankunft der Türken sich und ihre Habe nach auswärts geflüchtet, während dagegen die Landleute in Menge hinter den Wällen der Stadt Zuflucht suchten. Die äußerste Erbitterung herrschte gegen die Jesuiten, denen man mit Recht diese Bedrängniß zur Schuld anrechnete. Commandant der Stadt war Ernst Rüdiger Graf von Starhemberg, kaiserlicher Feldzeugmeister.
[588]
Zehntausend Meilen durch den Großen Westen der Vereinigten Staaten.[3]
Wir wandern weiter durch das Yellowstone-Land, um in die am Madisonfluß gruppirte Thermen- und Geyserwelt einzudringen, in welcher sich jetzt das ganze in wildester Leidenschaft fiebernde und rasende Herz dieser vulcanischen Großnatur und damit zugleich die überwältigend-ungeheuerliche Schlußdecoration des gesammten Wunderlandes vor uns aufthut!
Der bisjetzt zugleich die Hauptwagenroute des ganzen Nationalparks bildende Weg von den Mammuththermen nach dem großen Geyser-Becken des Madisonflusses mißt etwa dreißig Meilen. Die nichts weniger als bequeme und ungefährliche Wildstraße, welche dafür auch des Vorrechts genießt, nur von Felsengebirgspferden und -Kutschern befahren zu werden, von deren unscheinbarem Aeußeren man „draußen“ im Flachlande der alten und neuen Welt sich ebenso wenig etwas träumen läßt, wie von ihrer Unfehlbarkeit, leistet im Uebersteigen von steilen Graten, im ungenirten Hinführen an Abgründen und im Durchkreuzen brückenloser Gebirgsströme das Außerordentlichste.
Aber durch welchen Wechsel der Scenerien führt sie dafür auch hin! Das Wildeste giebt, fast übergangslos, dem Lieblichsten Raum, und idyllischste Naturparkstrecken lösen die grimmigste Hochwildniß oft so unvermittelt ab, daß man sich auf einer Traumfahrt zu befinden vermeint. Auch an einer Anzahl eigentlicher Naturmerkwürdigkeiten geht dieser Weg vorüber, welche man nur in einem solchen Reich der Wunderverschwendung auch mit einer lediglich vorübergehenden Erwähnung abthun darf. So an dem Gibbon-Cañon mit dem Gibbon-Fall, so an dem in smaragdne Wald- und Wiesenumgebung eingebetteten „Beaver-Lake“ mit seinen grün leuchtenden Biberdämmen; und so namentlich an der Riesenklippe aus schwarzschimmerndem Naturglas – Obsidian – aus welchem einst der Indianer dieser Gegenden seine Speer- und Pfeilspitzen anfertigte, während sein weißer Nachfolger aus ihren losgesprengten Abfällen die sich um das drohende Vorgebirge herumwindende Straße aufschüttete.
Endlich, nach einer vollen Tagefahrt, ist das erste große Thermenfeld der Madison-Region erreicht.
Der Madison ist der südlichste der drei Quellflüsse des Missouri. Wie er weiter nördlich mit seinen beiden Gefährten, Jefferson und Gallatin, zu ihrem Hauptfluß zusammenströmen soll, so sind es auch drei Quellarme, die sich zu seiner Bildung vereinigen. Der mittelste derselben aber, der eigentliche, dem 7200 Fuß hoch gelegenen Madisonsee entspringende Madison, führt den von den Indianern überkommenen Namen des „Fire hole river“ (Feuerloch-Flusses). Dieser Name ist nicht gerade schön, aber er ist so bezeichnend und schließt so sehr ein ganzes Programm in sich, daß die ersten weißen Männer, welchen hier in den Jahren 1870 und 1871 die verschiedenen officiellen Taufacte oblagen, thatsächlich nichts Besseres thun konnten, als in diesem Falle die von ihren rothhäutigen Vorgängern instinctiv gewählte Bezeichnung beizubehalten. Es ist in der That ein einziges ungeheures Feuerloch, über welches sich hier auf Quadratmeilen und Quadratmeilen eine kalkige Erdkruste aufgewölbt hat, die, gleich einem gigantischen Siebe durchlöchert, die Gluthgeheimnisse des Erdinnern in allen nur denkbaren Aeußerungsformen wasservulcanischer Thätigkeit zu Tage treten läßt. Wie ein unabsehbarer grauweißer Kochherd stellt sich diese nach allen Richtungen der Windrose qualmende und dampfende Kraterwelt auf beiden Seiten des eiskalten Madison dar, um in jenem „Oberen Bassin“ ihren jüngsten Gerichtsabschluß zu finden, neben dessen tobenden Geyserheerschaaren das gepriesene [590] Naturmirakel Islands in seiner Vereinzeltheit ebenso verschwindet, wie in seinem Umfang.
Die drei großen, die Wunderwelt des Feuerloches bildenden Geyserbecken liegen, in unregelmäßiger Umrandung von Wald- und Wiesenland eingefaßt und durch breite Querstreifen desselben getrennt, nur wenige Meilen von einander. Das „Untere Bassin“ ist räumlich das größte. Es bedeckt dreißig englische, etwa anderthalb deutsche Quadratmeilen, und man will Alles in Allem zwölfhundert thätige Krater darauf gezählt haben. In allen Größen und Thätigkeitsstadien treten sie auf. In sieben verschiedene Hauptgruppen gesondert, wachsen sie vom handbreiten Schmutzspeier bis zum ausgewachsenen Geyser; vom farbigen Schlammvulcan, der sich in die zartesten Rosa- und Violettinten kunstvoll gefärbten Mörtels hüllt, bis zum zerbröckelnden Sinterkegel, dessen versiegende Fluth längst erkaltet ist; vom schüsselgroßen, aber darum nicht weniger siedendheißen Sprudel bis zu jenen märchenartigsten aller heißen Quellen, welche mit ihren ungeheuren mit azurner Fluth angefüllten Kratern wie die endlich gefundene blaue Blume der Romantik vor dem Wunderlandpilger daliegen.
Doch wer wollte an dieser Stätte den Geheimnissen der Romantik nachsinnen, wer in diesem Augenblick ihrer blauen Blume nachträumen? Läßt uns doch die schneeweiße Wand, welche eben über dem südlich vor uns liegenden Tannenstreifen emporsteigt, zu keinem Sinnen und Träumen überhaupt kommen! Diese schneeweiße Wand, von der es einen Moment lang scheint, als wolle sie den ganzen Horizont überströmen, ist eine einzige, compacte Masse wirbelnden Dampfes. Und es ist das Hauptwunder – oder sollen wir es nicht lieber den Hauptspuk nennen? – des mittleren, des Norris-Geyserbassins, was uns in dieser zum Himmel sich wälzenden Dampf- und Qualmlawine seine Grüße herübersendet. Sie kündigt uns an: daß eben der unter dem verdient infernalischen Namen von „des Teufels halbem Acker“ („Devil’s half acre“) bekannte heiße See einen jener alle neunzig Minuten wiederkehrenden Ausbrüche hat, bei welchen sich die unterirdischen Wasserkünstler des Feuerlochs nicht mehr damit begnügen nur einen Strahl des siedenden Elements in die Luft zu schleudern, sondern das ganze, nicht nur halb-, sondern in Wirklichkeit mehr als ackergroße[4] Gewässer in geschlossener Masse bis zu fünfzig Fuß emporheben!
Und mit solcher kopfgroße Steine und Erdstücke wie Kinderbälle mit sich reißender Furie geschieht dies, daß von den zurücksinkenden Fluthen ein ganzer zweiter Fluß über die grauweiße Sinterwand in den hier dicht vorüberfließenden Fireholefluß geworfen wird, in dessen Bett man fortan auf ein paar Meilen die grünlichen, kochenden vulcanischen Fluthen neben den dunkelkalten Gebirgsstromwassern verfolgen kann.
Muß man diesem „halben Acker Beelzebubs“ unter den Phänomenen des Nationalparks den Preis der Unheimlichkeit zuerkennen, so ist ihm in unmittelbarster Nachbarschaft ein anderes Wassergebilde gesellt, welchem man gleich mit derselben Hand die Palme aller Lieblichkeit zu reichen hat: das Feengewässer des „Crystal Lake“.
Der Krystallsee – kein Zweifel, daß die Bezeichnung von ihren Urhebern auf’s Beste gemeint war. Aber wie wenig besagt sie, was sie sagen oder doch zum Mindesten andeuten sollte! Nirgends in der Wasserwunderwelt des Yellowstonegebietes entfalten sich die Farbenzauber, welche bereits an den Mammuth-Thermen den ganzen Cultus des Beschatters herausforderten, blendender, verschwenderischer und nachhaltiger, als in diesem zehn Acker großen und dort, wo seine heißen Fluthen aus der Tiefe emporwallen, dreihundert Fuß tiefen Seekrater.
Wo bleibt die schöne, aber doch nur weiße Leuchtkraft des Krystalls neben dem bunten Bachanal aller nur denkbaren Tinten und Schattirungen, welches sich in der steten Bewegtheit dieser Wasser entfesselt? Und so intensiv ist das hier der Fluth innewohnende Farbenleben, daß es sich, fast ungeschwächt, auch den über ihrem Spiegel aufsteigenden Dampfgewölken mittheilt, auch in ihnen ein rastloses Weben und Wallen buntschimmernder Phantome wachruft, wie es selbst dem glücklichsten Maler in seinen glücklichsten Visionen noch nicht aufgegangen,
Aber an dem, was hier eine wie vom eigenen Dämonismus und der eigenen Schönheit zugleich berauschte Natur für die Grenze des ihr Möglichen erachtet, sind wir doch noch nicht angelangt. Dieses Letzte und Größte hat sie auf dem kaum vier englische Quadratmeilen messenden Allerheiligsten des Oberen Geyserbassins zusammengedrängt. Da reihen sie sich, ein vollkommener Herrscherolymp ihres Geschlechts, fast Seite an Seite, der „Fächer“-, der „Grotten“-, der „Riesen“- und der „Kometen-Geyser“, der „Große“ und der „Sägenmühlen-Geyser“; die „Löwin“, die „Riesin“, der „Bienenkorb“ und wie sie alle heißen, diese königlichen Fluthvulcane, die, wenn ihre Stunde schlägt, ganze Gebirge kochenden Wassers zur Höhe von 100, 150, 200 und 250 Fuß emporjagen und, wie sie die Luft umher mit Dampfgewölken anfüllen, so die Erde unter den Triumphdonnern des in ihnen frei werdenden Inferno rollen und zittern lassen.
Am äußersten Südrande dieses Waldes von Geysern aber steht als der getreue Eckard desselben der „Old Faithful“, der alte Zuverlässige, der mit der Pünktlichkeit einer wirklichen Schildwacht genau alle Stunden für fünf bis sechs Minuten sein bis zur Höhe von 150 Fuß auftürmendes Springfluthenspiel entfaltet. Woher diese Pünktlichkeit, wer will das sagen? Wer wird es überhaupt wagen, diesen oder irgend einen anderen dieser Geyser-Granden zu beschreiben? Sicherlich derjenige am letzten, der ihren Ausbrüchen selbst gegenüber gestanden, verloren in Staunen.
Unser Streifzug durch den Nationalpark des Yellowstone findet hier seinen Abschluß. Nahezu zwei Wochen hat er in Anspruch genommen und doch nur eben hingereicht, die vornehmsten Prachtstücke dieser natürlichen Schatzkammer im Herzen der Rocky Mountains einer eingehenden Kenntniß zu erobern. Von Norden her betraten wir sie, und zwei Mal haben wir sie von Norden nach Süden durchstreift. Unser Austritt aber aus ihrem allen Beschwerlichkeiten und Mühseligkeiten seiner einstweiligen Befahrung zum Trotz nur zu schwer zu verlassenden Bereich erfolgt jetzt nach Westen hin, über die Hauptkette der Felsengebirge, welche sich hier gegen die endlosen Hochsteppen und Wüsteneien des großen inneren Continentalbeckens des Salzsees vorlagert.
Und hier, schon auf dem Boden des Territoriums Idaho und somit auch bereits jenseits der Grenze des Nationalparks selber, aber noch immer inmitten der Gras- und Waldflächen des letzteren, machen wir noch einmal Halt, um uns noch einer, der letzten Ueberraschung bewundernd zu erfreuen. Keine Geyser stürmen hier mehr den Himmel, keine heißen Quellen entfalten ihre Farbenherrlichkeit, und keine Riesenschlünde klaffen in die Erde. Das Alles liegt hinter uns. Die Landschaft zeigt wieder ein gewöhnliches Gebirgsgesicht – ja, wäre das unfehlbare Barometer nicht, welches uns sagt, daß wir uns noch immer in einer Höhe von mehr als achttausend Fuß befinden, wir würden gerade an dieser Stelle des zu wiesenthalartiger Paßeinsattelung eingesunkenen Hochgebirgskammes uns am wenigsten auf ein neues Absonderliches oder Sensationelles gefaßt halten. Und doch kostet es uns gerade hier nur ein paar Schritte vom Wege, nach jener geringfügigen Erhöhung in dem breiten Hochwiesengürtel, um uns an einen der merkwürdigsten Punkte der ganzen Welt zu versetzen.
Ein kleiner Wiesensee mit einem sich aus ihm thalwärts windenden, kaum grabenbreiten Wasserlaufe im Nordwesten, ein zweites, kaum breiteres Wasserrinnsal im Osten – beide vom Gipfel dieser einen Erhöhung aus mit einem Blicke zu übersehen: das ist das Schauspiel, welches uns hier selbst nach der Wunderwelt des Yellowstone fesselt. „Wenig genug nach so Vielem und Großem!“ wird der Leser unwillkürlich ausrufen. Aber er gedulde sich mit seinem Achselzucken, bis ihm der Name dieser beiden winzigen Bäche genannt sein und damit Das, was dieselben in aller ihrer neugeborenen Winzigkeit eigentlich zu bedeuten haben, aufgegangen sein wird. Der kleine See und sein Flußsprößling zu unserer Linken sind der Henry’s-Lake und der den nördlichsten Quellarm des Snake River – des großen, früher als der Lewis-Fork[5] des Columbia bekannten Schlangenflusses – bildende Henry’s-Fork. Der winzige Wasserlauf zur Rechten ist der westlichste Quellfluß jenes Madisonflusses, dessen Haupttributar wir in dem von allen Dämonen der vulcanischen Unterwelt aus der Taufe gehobenen Firehole-River kennen gelernt haben. Wie aber der Henry’s-Fork durch den Snake River dem Columbia und somit dem Stillen Ocean zueilt, so strömt die silberne Quellfluth des Westarms des Madison durch diesen letzteren erst dem Missouri, dann dem Mississippi, und endlich im Golf von Mexico [591] dem Atlantischen Ocean zu. Und so steht man auf dieser niedern, unscheinbaren Wiesenerhebung auf einer der merkwürdigsten, stolzesten und weithin gebietendsten Wasserscheiden der Welt, kann man von ihr aus – wohl ein würdiger Abschluß der amerikanischen Wunderlandfahrt! – mit einem Blicke und fast in einem Athem seine Grüße jedem der beiden Weltmeere entsenden, welche diesen gewaltigen, hier mehr als dreitausend Meilen breiten nordamerikanischen Continent bespülen.
Vermißte. (Fortsetzung von Nr. 28):
35) Der Brauergeselle Heinrich Fröhlig, geboren in Langenbielau in Schlesien, welcher seit fünf Jahren in Neumünster in Holstein in Arbeit gestanden, ist am 11. April 1862 von Neunmüster nach Flensburg gereist, soll am 14. April von da nach Neumünster zurückgekehrt sein, ist aber dort bis heute noch nicht eingetroffen. Derselbe hatte circa 2400 Mark baar bei sich. Alle diejenigen, welche Fröhlig in dieser Zeit gesehen oder seinen jetzigen Aufenthalt wissen, werden dringend ersucht, uns darüber Mittheilung zu machen.
36) Der Klempnergeselle Fr. Oswald Gläß, geboren 1837 in Siebenlehn in Sachsen, ging im Juni 1858 auf die Wanderschaft, schrieb im August desselben Jahres aus Leipzig und soll 1859 in Magdeburg gearbeitet haben. Seitdem haben die alten Eltern vergebens auf irgend eine Nachricht von ihm gewartet.
37) Eine Tochter sucht ihren im Jahre 1857 von Ostrowo nach Brasilien ausgewanderten Vater Ernst Traugott Fiscal. Derselbe schrieb 1860 von Bahia, daß er in einer Fabrik arbeite, durch die Explosion des Dampfkessels verwundet, aber wieder hergestellt worden sei. Seit dieser Zeit fehlt jedes Lebenszeichen von ihm.
38) Heinrich Henkel, Schlossergeselle aus Lauterbach in Oberhessen, ist seit 1874, wo er in Leipzig einen kleinen Geldbetrag empfing, verschollen. Er wird von seiner Mutter, welche schon mehrere Jahre Wittwe ist, gesucht.
39) Henry Greiffenhagen, geboren 1846 zu Berlin, ist 1866 nach Brasilien gegangen. Sein letzter Brief datirt aus Rio de Janeiro (1868), in welchem er mittheilt, daß er sich in Brasilien, Colonie Brusque, Provinz St. Catharina, angekauft. Trotz vieler an ihn unter dieser Adresse abgesandter Briefe, trotz Inanspruchnahme des auswärtigen Amtes, der Brasilianischen Gesandtschaft, Consulate etc., ist bis jetzt noch nichts über den H. Greiffenhagen in Erfahrung zu bringen gewesen.
40) Der Sattler und Tapezierer August Hoferichter, geboren 1851 zu Neudorf in Schlesien, ist seit August 1878, zu welcher Zeit er von Berlin weggewandert ist, verschollen.
41) Andreas Ludwig Jensen aus Ellhöfft, Kreis Tondern, ging im Frühjahr 1863 nach Australien. Seit September 1880 hat er seine Schwester ohne Nachricht gelassen. In dem letzten Briefe aus Queens Land schrieb A. Jensen, daß er nach den Goldfeldern zu gehen gedenke.
42) Eine arme, sich mühsam mit Waschen ernährende Wittwe, deren einziger Sohn auf der Wanderschaft verschollen ist, hofft auf diesem Wege Nachrichten über dessen Verbleib zu erhalten. Franz Jaksch, geboren 1862 zu Graudenz, lernte Buchdruckerei und ging October 1881 auf die Wanderschaft. Seit seiner Abreise hat die Mutter kein Lebenszeichen mehr von ihm gehört. Als einzige, nicht ganz zuverlässige Nachricht gab ein Dachdecker an, daß er mit ihm in Köslin im November 1861 zusammengetroffen sei. „Darnach habe ich,“ schreibt uns die brave Mutter, „trotzdem ich bei jedem mir zu Gesicht kommenden Handwerksburschen flehentlich nach dem Verschollenen geforscht, nicht die leiseste Spur von demselben gesunden.“
43) Albert Heuduck, geboren 1834, wanderte 1862 unter dem Namen Charles Smidt nach New-Jersey aus; im Jahre 1870 soll er in Hamburg gesehen worden sein; sonst ist jede Spur von ihm verloren. Seine greise, von Kummer gebeugte Mutter bittet Alle, die von ihm gehört, ihr Nachricht zu geben.
44) Friedrich Karl Krauß, Kaufmann aus Dresden, verließ 1855 Bremen, ging nach Amerika, hielt sich 1858 in Philadelphia, 1859 in Baltimore als Buchhalter auf und trat 1662 in die Nordarmee ein. Sein letzter Brief datirt vom 21. November 1862 aus Alexandria Virginien; seitdem sind seine Angehörigen ohne Nachricht von ihm geblieben.
45) Friedrich Krieg, geboren zu Althof bei Doberan, begann 1866 seine Seemanns-Carriere; reiste nach Dublin, Petersburg, Constantinopel. Von hier schrieb er 1871 seinen Eltern, daß er sich auf einem Harburger Schooner befinde, der nach Amsterdam bestimmt sei. Seitdem ist er verschollen.
46) Hans Nicolay Jochimsen, geboren 1624 in Soholmbrück in Schleswig-Holstein, reiste nach Melbourne 1859. Sein letzter Brief kam 1870 aus New-Seeland. Seine noch lebenden sechs Geschwister bitten um Nachricht von ihm.
47) Franz Klug aus Niederlahnstein diente 1880 bis Juni 1881 als Commis und Reckender bei Herrn Th. Bilstein in Köln. Seit dem 15. Juni, an welchem er sich auf der Reise nach Opladen befand, ist er spurlos verschwunden.
48) Johannes H. Kuyper, geboren 1629 auf Terschelling in Nederland, fuhr als Seemann nach Malta, Constantinopel, Palermo, New-Orleans. Sein letztes Schreiben datirt aus dem Jahre 1850 aus Texas. Nach dieser Zeit hat sein ihn suchender Bruder nichts mehr von ihm vernommen.
49) Der Seemann Bernhard Karl Ludwig Gabbert ging im Jahre 1876 von Schwerin fort. Seit 1870 sind seine Eltern ohne Nachricht von ihm. Sein letzter Brief kam aus Falmouth in England. Angestellte Nachforschungen über seinen Verbleib hatten bisher keinen günstigen Erfolg. Gabbert soll sich zuletzt in Southampton aufgehalten haben.
50) Hermann Schulz aus Berlin, am 23. Juli 1854 geboren, gelernter Schlosser, zuletzt dritter Maschinist an Bord des Schiffes „Katharina II. (der St. Petersburger Dampfschifffahrtsgesellschaft gehörig), verließ Ende Juli 1881 in Antwerpen seinen Posten und gab seiner alten Mutter seit dieser Zeit keine Nachricht. Ihr heißester Wunsch ist, zu erfahren, ob er noch am Leben ist.
51) Der Schiffer Karl Wonde, 1824 geboren, hat vor 15 Jahren seine Schwester in Crossen besucht, reiste dann nach Stettin und hat seitdem nichts von sich hören lassen.
52) Der Schuhmacher Gustav Winkelmann, 32 Jahre alt, zu Woxhollaender[WS 1] im Warthebruch geboren, der zuletzt vor 13 Jahren von Pommern aus Nachricht von sich gegeben hat, wird gebeten, von seinem Aufenthalte seiner Mutter, die nun Wittwe ist, Mittheilung zu machen.
63) Anna Maria Waldhaus, geboren zu Rödelheim, Provinz Hessen-Nassau, später in Wiesbaden wohnhaft, reiste im Jahre 1859 mit einer polnischen Familie nach Paris, ohne seit jener Zeit irgend welche Nachricht von sich gegeben zu haben. Wer über den Aufenthaltsort oder das Schicksal derselben etwas Näheres mittheilen kann, wird gebeten, die Redaction der „Gartenlaube“ hiervon zu unterrichten.
54) Der Conditorgehülfe Richard Wack aus Magdeburg, 19 Jahre alt, schrieb seinem Vater zuletzt am 7. Juni 1882. Da seitdem alle Nachrichten ausgeblieben sind, und da er auch seinen Koffer mit unentbehrlichen Effecten bei seinem Bruder in Köln bis jetzt noch nicht abgefordert hat, sind seine Angehörigen in größter Besorgniß über das Schicksal des jungen unerfahrenen Menschen.
55) Anton Ullmann, geboren 1839 in Tost in Schlesien, Pharmaceut, ist 1861 ausgewandert; schrieb in diesem Jahre zuletzt aus Paris, daß er über Marseille nach einem überseeischen Lande reisen würde. Um Nachricht über ihn bittet seine Mutter.
56) Ein Sohn sucht seinen verschollenen Vater! Dieser, Fr. Wilhelm Textor aus Memel, verließ 1862 seine Familie. Seit dieser Zeit hat er nichts von sich hören lassen. Da man mit Bestimmtheit glaubte, daß er nach Rußland gegangen sei, reiste sein Sohn jahrelang in diesem Lande herum, ohne eine Spur von ihm zu finden.
57) Lebt der Schiffsofficier Johannes Scherl noch, eventuell wo? Er lief im Jahre 1881 mit der „Caprera“ von Havre aus – seitdem keine Nachricht.
58) Jacob Stern aus Sassendorf bei Soest, geboren 1851, Israelit, war bei dem Kaufmann Schönstedt in Marsberg in der Lehre. 1866 entfernte er sich von dort, wurde kurze Zeit darauf im Franziskaner Kloster zu Paderborn und 1876 in Utrecht gesehen. Seitdem verschollen.
59) Klas Stelck, aus Pessade (?) in Holstein, geboren 1788, soll in den vierziger Jahren in Brüssel gestorben sein. Auskunft über sein Ende ist von Wichtigkeit für die Angehörigen.
Nur ein Komma. Kleine Ursachen – große Wirkungen! Ist das zuweilen der Fall in den großen Haupt- und Staatsactionen der allgemeinen Weltgeschichte, warum nicht auch einmal im stillen Alltagsleben? Warum soll nicht auch ein Komma, oder vielmehr die Auslassung eines solchen, dem Leben eines gewöhnlichen Sterblichen ein oder mehrere Jahre verbittert haben?
Nachfolgend der Beweis davon.
Ich hatte bis vor etwa zwei Jahren eine angenehme, ziemlich freie und lohnende Stellung in der Redaction einer der größten Verlagsbuchhandlungen Deutschlands inne. Durch etwas zu ausgedehnten Gebrauch meiner Freiheit verlor ich die Stellung, fand dann eine andere in einem gleich großen Concurrenzgeschäft, die ich aber, da sie mir in mancher Beziehung nicht sehr zusagte, meinerseits bald wieder aufgab. Nun suchte ich lange, ohne etwas Passendes finden zu können, sodaß ich Anfang vorigen Jahres, entrüstet, daß die alte Welt mich nicht zu schätzen verstand, beschloß, die neue Welt mit meiner Persönlichkeit zu beglücken, schnell nach Hamburg fuhr und dort ein Billet nach New-York löste.
Das Erste, was die meisten nach Amerika auswandernden jungen und bisweilen auch ältere Leute in New-York thun, ist gewöhnlich, ihr Geld so schnell wie möglich durchzubringen; daß ich keine Ausnahme bin, bewies ich glänzend, denn von den 50 Dollars (etwa 210 Mark), mit denen ich New-York betrat, hatte ich nach acht Tagen kaum noch sechs! Ich wünschte jetzt, mein wahrscheinlich etwas langes Gesicht zu sehen, als sich dies Resultat meines „Cassemachens“ herausstellte. Noch an demselben Tage wurde eifrig die Zeitung studirt, ob denn keine passende Stellung sich darin fände, und richtig, wie für mich gemacht:
„Gesucht ein Corrector, welcher der deutschen, englischen und lateinischen Sprache mächtig ist. Schriftliche Gesuche sind zu richten an St. u. Comp.“
Ich ging in die erste beste Papierhandlung, kaufte mir Briefbogen und Couverts und frug nach der nächsten Gelegenheit, um einen Brief schreiben zu können. Mit Zuvorkommenheit brachte mir der Besitzer Tintenfaß und Feder, sodaß ich mein Gesuch gleich im Stehen auf dem Ladentisch niederschrieb, dann faltete und couvertirte ich es, schrieb die Adresse und brachte [592] es, um ganz sicher zu gehen, selbst in die betreffende Buchhandlung (eine der größten New-Yorks). Obwohl ich mir mit der Abfassung meines Gesuchs nicht besondere Mühe gegeben hatte, ferner auch wohl anzunehmen war, daß sich sehr viele Bewerber um die betreffende Stellung melden würden, war ich doch der besten Hoffnung, dieselbe zu erhalten, denn die Orthographie ist gleichsam Fleisch und Blut von mir selbst. Es verging jedoch ein Tag nach dem andern, ohne daß ich die erwartete Einladung erhielt, noch auch sonstwie Beschäftigung fand, und so ging ich denn etwa vierzehn Tage nach Absendung meiner Offerte, nachdem ich unterdessen natürlich Werthsachen etc. verkauft hatte, persönlich zu Herrn St. Ich wurde in einen kleinen, abgesonderten Raum des mächtigen Saales gewiesen, wo ich denn auch den von mir gesuchten Herrn fand und mich ihm vorstellte. Herr St. sagte, mein Name käme ihm bekannt vor, und als ich ihm erwiderte, ich hätte mich vor zwei Wochen zu der ausgeschriebenen Corrector-Stellung gemeldet, ging er an ein Seitentischchen, wühlte in einem Haufen dort liegender Papiere und zog eins davon hervor, indem er sagte: „Richtig, jetzt erinnere ich mich. Ja, Herr Sch., Sie kann ich nicht brauchen, Sie sind zu leichtfertig.“
Mir fielen alle meine Sünden bei, ich war wie vom Donner gerührt. Daß ich in Betreff meines Lebenswandels und Charakters bisher etwas leichtfertig war, wußte ich gut genug, wie aber die Kenntniß davon aus Deutschland schon bis zu den Ohren des Herrn St. in New York gedrungen sein sollte, war mir ein vollständiges Räthsel. Ich stammelte blos:
„Wie wissen Sie –“
„Nun, wenn Sie in Ihrem Gesuche, das man doch gewöhnlich mit besonderer Aufmerksamkeit abfaßt, gleich in der ersten Zeile, bei der Datum-Angabe eine Nachlässigkeit begehen, so ist man wohl zu der Schlußfolgerung, die ich machte, berechtigt.“
Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entquoll meiner gepreßten Brust; also nicht moralisch leichtfertig, sondern nur schriftlich, nun, das konnte nicht so schlimm sein, dessen war ich gewiß.
„Ja, aber was für einen Fehler habe ich denn gemacht?“
„Gleich im Datum, nach New-York, haben Sie das Komma ausgelassen.“
„Herr St., darüber ließe sich doch streiten –“
„Was, Sie wollen das noch bestreiten?“ ereiferte sich der leicht erregbare Herr, mein Gesuch mir fast unter die Nase haltend, „hier sehen Sie!“
„O, Sie mißverstehen mich, ich bestreite nicht die Thatsache, daß ich das Komma ausgelassen habe, sondern ich sage nur, daß man über dessen Existenzberechtigung doch verschiedener Meinung sein könne.“
„Nein, Herr Sch., das kann man nicht; so ein Komma ist ein sehr wichtiges Ding. Lassen Sie z. B. bei 10000,00 Dollar das Komma weg, dann heißt es eine Million Dollar, statt zehn Tausend.“
„Ja, Herr St., das stimmt, aber bei einem Datum ist das doch etwas Anderes, ob da zwischen New-York, Leipzig oder Constantinopel und dem Monatstage ein Komma –“
„Wenn das auch am Sinn nichts ändert, indeß es doch stehen, und ein sorgfältiger Corrector wird es nicht auslassen.“ Herr St. wurde immer erregter, ich dagegen, da mir plötzlich einfiel, was auf dem Spiele stand, wurde nun sehr ruhig, sehr höflich und sogar etwas wehmüthig.
„Bitte, Herr St.,“ suchte ich sachte einzulenken, „Sie werden mir doch zugeben, daß die einzelnen Herren Verleger und Drucker ihre einzelnen, besonderen Bestimmungen hinsichtlich der Orthographie haben und –“
„Aber die Interpunction hat ihre allgemeinen Regeln. Ich will Ihnen ganz ruhig sagen“ (er war aber nichts weniger als ruhig), „von den vielen Bewerbern um den Platz hätte ich Sie engagirt, Ihre Handschrift gefällt mir, Ihr sonstiger Brief ebenfalls, das Zeugniß, von dem Sie einne Abschrift beigelegt haben, ist gut, und das Haus selbst, in dem Sie angestellt waren, ist eine noch bessere Empfehlung. Aber das Komma“ (er meinte natürlich das Nichtvorhandensein des Komma) „bricht Ihnen das Genick. Ich kann Sie absolut nicht brauchen.“
Das Herz, oder war es der Magen, sank mir sozusagen bis in die Stiefeln. Das war allerdings deutlich gesprochen und nichts dagegen zu machen, wie sich bald herausstellte; denn obwohl ich es in allen möglichen Tonarten versuchte, Herrn St. umzustimmen, so blieb dieser doch bei seinem Ultimatum, drehte mir schließlich schweigend den Rücken zu und wandte sich zu seiner früheren Beschäftigung an seinem Pulte. Das war ebenfalls deutlich; ich machte also meine Abschiedsverbeugung, die freilich, wie ich fürchte, nicht ganz so ausfiel wie die zur Begrüßung, und ging.
Trotzdem ich an jedem Morgen aus den Zeitungen nur alle möglichen Stellungen ausschrieb und dieselben ablief, trotzdem ich selbst mehrere Dollar für Inserate ausgab, trotzdem ich mich in jedem größern Geschäfte, Laden, Fabrik etc. anbot, bekam ich doch keine feste Stellung. Hin und wieder erhielt ich auf einige Tage, auch auf einige Wochen Arbeit, was man drüben Arbeit nennt, das heißt ich war eine Zeit lang Fensterputzer in einer Apotheke, Stiefelwichser, wandelnder Reclameträger, Eisenbahnarbeiter, Holzspalter, Schneeschaufler, Eiscrememacher, Laufbursche, Küchenauswäscher, Hafenarbeiter, Kutscher.
Endlich schien Fortuna mir lächeln zu wollen. Mein „Baas“ (Principal), bei dem ich als Kutscher einen kleinen Unfall hatte, fühlte mir betreffs meiner „Bildung“ etwas auf den Zahn, und da er sah, daß diese für einen Kutscher etwas ungewöhnlich war, fragte er mich, ob ich auch Buchführung verstände. In Deutschland würde natürlich Jemand, der noch nie ein Hauptbuch in der Hand gehabt und noch nie ein Cassabuch weder für Andere noch für sich selbst geführt hat, die Unverschämtheit nie besitzen, auf obige Frage eines „Baas“ mit Ja zu antworten; in Amerika ist das anders. Und so antwortete auch ich frischweg bejahend. Er führte mich zu seinen Büchern und sagte mir, es hätten sich da mehrere Irrthümer und Uebelstände eingeschlichen, die sollte ich aussuchen und gut machen, das Weitere fände sich dann.
Nun, mit etwas gutem Willen und gesundem Menschenverstande bringt man so Manches fertig, und so fand ich mich auch bald in seiner allerdings ziemlich einfachen Buchführung zurecht. Ich sah die Uebelstände, verbesserte sie nach besten Kräften, schlug vor, zur bessern Uebersicht ein paar weitere Bücher anzulegen, und so wurde ich wohlbestallter Buchhalter. Jetzt glaubte ich das Glück an allen vier Zipfeln zu haben – ja, hat sich was! Die Stellung war freilich nicht schlecht, ich hatte zwar angestrengt zu arbeiten, von früh sechs fast ununterbrochen bis Abends acht, manchmal zehn Uhr, aber dafür 18 Dollar (75 Mark) wöchentliches Gehalt (in Amerika werden alle Privatstellungen wöchentlich bezahlt) und Board, das heißt Essen, Trinken und sogar Cigarren[6] frei.
Die Herrlichkeit dauerte nur leider nicht allzu lange; nach einigen Monaten kam ein, wie ich jetzt merkte, längst erwarteter Schwager meines „Baas“, und nun hieß es natürlich, der Mohr hat seine Arbeit gethan, der Mohr kann gehn, und zwar ohne Kündigungszeit, wie das drüben leider so Sitte oder vielmehr Unsitte ist. Voller Geigen hatte mir der Himmel gehangen, was hatte ich nun? Höchstens noch ein Stückchen Resonanzboden, das heißt ein paar Dollar Ersparnisse. Jetzt ging die Hetzjagd von Neuem los; ich will den geneigten Leser aber nicht mit der Erzählung davon ermüden, sondern nur kurz mittheilen, daß ich von Amerika (drüben nennt’s der Volkswitz sehr bezeichnend Malörika) mehr als genug hatte, mein Bündel schnürte und über England nach Deutschland zurückfuhr.
Unterwegs hatte ich Muße genug, über mein Amerikaleben nachzudenken, und sehr erbaulich fiel das Resultat gerade nicht aus. Mit reichlichem Gelde und vielen schönen Hoffnungen war ich damals nach Hamburg gekommen, um mich nach Amerika einzuschiffen; ohne Geld, fast ohne Sachen kam ich von da nach Hamburg zurück, fast keine Hoffnung hatte sich erfüllt. Ja, wenn ich in New-York jene Correctorstellung erlangt hätte, wenn ich jenes Komma nicht ausgelassen hätte! O, das Komma!!
Höhensenatorien für arme Lungenkranke. Unsere Leser werden sich erinnern, daß wir in Nr. 34 des vorigen Jahrganges einen Arlikel über Lungenschwindsucht und Höhenklima brachten, in welchem der Verfasser, Herr Dr. med. Driver, für die Errichtung von Höhensanatorien für arme Lungenkranke eintrat. Wie wir erfahren, hat dieser Aufruf bereits Früchte getragen. Außer kleinen Beiträgen, welche zinstragend angelegt sind, wurden jüngst dem genannten Herrn zu dem Zwecke der Errichtung einer derartigen Anstalt in Bad Reiboldsgrün in Sachsen 25,000 Mark ausgezahlt, als Legat des in der Blüthe seiner Jahre an der Lungenschwindsucht verstorbenen Herrn Franz Bernhard Brückner aus Zwickau. Damit ist wieder ein Anfang zu einem guten Werke gemacht und auch die Stelle gefunden worden, an welche Beiträge geschickt werden können.
Kleiner Briefkasten.
A. M. in P. Lesen Sie gefälligst den Artikel „Ueber die Erlernung fremder Sprachen aus Büchern“ von Prof. Dan. Sanders in Nr. 21 dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“.
J. Sch. in G. Herzlich gern, – aber leider ist uns bis heute noch kein einziges Clavier zur Verfügung gestellt.
M. L. in Berlin. „Frauenlob“. Gutgereimte Verse, die zwar nichts Neues, aber viel Ueberschwängliches enthalten.
F. H. in Offenbach a. M., A. B. 12. und Hartw. in Hamburg. Schwindel!
P. Sch. in Chemnitz. Jahrgang 1865, S. 673.
R. L. in Ungarn. Wenn Sie nicht durch Ihre Glaubensgenossen nach Paris sicher empfohlen werden können, so sollten Sie es vorziehen, Ihre französischen Sprachstudien in der Schweiz zu machen. Unsere Verbindungen in Paris sind nicht der Art, daß wir zeitraubende und dabei verantwortungsvolle Gefälligkeiten von ihnen beanspruchen könnten.
A. G. in B. bei Paris. Wenden Sie sich an die deutsche Gesandtschaft.
Herrn oder Frl. Dinguh. „Aller guten Dinge sind drei“, – nur bei Gedichten trifft das Sprüchlein nicht immer zu, und so müssen auch Blätter mit dem reizendsten Goldrand in das Ungeheuer Papierkorb fliegen.
Johannes Aye („Eine Jugenderinnerung“) ersuchen wir um gefällige Angabe seiner Adresse.
Inhalt: Ueber Klippen. Von Friedrich Friedrich (Fortsetzung). S. 577. – Fischotterjagden in England. S. 580. Mit Illustration von L. Beckmann. S. 581. – Bilder aus der Hygiene-Ausstellung. Nr. 3. Ein Tag in der Hygiene-Ausstellung (Schlußartikel). S. 583. Mit Abbildung von A. von Roeßler. S. 585. – Wien vor zweihundert Jahren. Ein Ruhmeskranz der alten Kaiserstadt. S. 585. Mit Illustration von J. Kirchner. S. 588. – Zehntausend Meilen durch den Großen Westen der Vereinigten Staaten. Von Udo Brachvogel. IV. S. 589. Mit Illustration von Rudolf Cronau. S. 589. – Blätter und Blüthen: Vermißte. – Nur ein Komma. S. 591. – Höhensanatorien. – Kleiner Briefkasten. S. 592.
- ↑ Ueber König Joh. Sobieski, Herzog Karl und Graf Starhemberg fügen wir Ausführlicheres dem Schlusse dieses Artikels an. D. Red.
- ↑ Auf unserer Abbildung sehen wir die Bastionen und Ravelins von der Löwelbastei bis zum Biber–Ravelin. Um die Uebersicht der Befestigungen zu vervollständigen, führen wir hier noch als auf der andern Stadtseite zwischen den beiden genannten Werken liegend an, von der Löwelbastion beginnend: die Melkerbastei, das Schottenthor und das Schotten Ravelin, die Elendbastei, das Neuthor und die Neuthorbastei, das Wasser–Ravelin, die Gonzagische Bastei, die Biberbastei und das Judenschänzel, das wieder an das Biber–Ravelin anschließt.
- ↑ Unter Meilen sind in diesen Artikeln stets englische Meilen verstanden, von denen 46/10 auf die deutsche Meile gehen.
- ↑ Der amerikanische Acre ist etwas über zwei Morgen groß.
- ↑ Fork gleichbedeutend mit Quellfluß, Quellarm
- ↑ In Amerika eine bedeutende Ausgabe, denn die billigste, einigermaßen rauchbare Cigarre kostet 10 Cents (24 Pfenig).
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Woxhallaender