Die Gartenlaube (1885)/Heft 41

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[665]

No. 41.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Unterm Birnbaum.

von Th. Fontane.
(Schluß.)


17.

Hradscheck, sonst mäßig, hatte mit den Andern um die Wette getrunken, bloß um eine ruhige Nacht zu haben. Das war ihm auch geglückt, und er schlief nicht nur fest, sondern auch weit über seine gewöhnliche Stunde hinaus. Erst um acht Uhr war er auf. Male brachte den Kaffee, die Sonne schien ins Zimmer, und die Sperlinge, die das aus den Häckselsäcken gefallene Futterkorn aufpickten, flogen, als sie damit fertig waren, aufs Fensterbrett und meldeten sich. Ihre Zwitschertöne hatten etwas Heitres und Zutrauliches, das dem Hausherrn, der ihnen reichlich Semmelkrume zuwarf, unendlich wohl that, ja, fast war’s ihm, als ob er ihren Morgengruß verstände: „Schöner Tag heute, Herr Hradscheck; frische Luft; alles leicht nehmen!“

Er beendete sein Frühstück und ging in den Garten. Zwischen den Buchsbaum-Rabatten stand viel Rittersporn, halb noch in Blüthe, halb schon in Samenkapseln, und er brach eine der Kapseln ab und streute die schwarzen Körnchen in seine Handfläche. Dabei fiel ihm, wie von ungefähr, ein, was ihm Mutter Jeschke vor Jahr und Tag einmal über Farrnkrautsamen und Sich-unsichtbar-machen gesagt hatte. „Farrnkrautsamen in die Schuh gestreut …“ Aber er mocht’ es nicht ausdenken und sagte, während er sich auf eine neuerdings um den Birnbaum herum angebrachte Bank setzte: „Farrnkrautsamen! Nun fehlt bloß noch das Licht vom ungebornen Lamm. Alles Altweiberschwatz. Und wahrhaftig, ich werde noch selber ein altes Weib … Aber da kommt sie …“

Wirklich, als er so vor sich hinredete, kam die Jeschke zwischen den Spargelbeeten auf ihn zu.

„Dag, Hradscheck. Wie geiht et? Se kümmen joa goar nich mihr.“

„Ja, Mutter Jeschke, wo soll die Zeit herkommen? Man hat eben zu thun. Und der Ede wird immer dummer. Aber setzen Sie sich. Hierher. Hier ist Sonne.“

„Nei, loatens man, Hradscheck, loatens man. Ick sitt schon so veel. Awers Se möten sitten bliewen.“ Und dabei malte sie mit ihrem Stock allerlei Figuren in den Sand.

Hradscheck sah ihr zu, ohne seinerseits das Wort zu nehmen, und so fuhr sie nach einer Pause fort: „Joa, veel to dohn is woll. Wihr joa gistern wedder Klock een. Kunicke kunn woll wedder nich los koamen? Den kenn’ ick. Na, sien Vader, de oll Kunicke, wihr ook so. Man blot noch en beten mihr.“

„Ja,“ lachte Hradscheck, „spät war es. Und denken Sie sich, Mutter Jeschke, Klock zwölf oder so herum sind wir noch fünf Mann

Wer kriegt’s?{{}} Nach dem Oelgemälde von Hermann Bever.

[666] hoch in den Keller gestiegen. Und warum? Weil der Ede nicht mehr wollte.“

„Nu, süh eens. Un worümm wull he nich?“

„Weil’s unten spuke. Der Junge war wie verdreht mit seinem ewigen ‚et spökt‘ und ‚et grappscht‘. Und weil er dabei blieb und wir unsre Bowle doch haben wollten, so sind wir am Ende selber gegangen.“

„Nu, süh eens,“ wiederholte die Alte. „Hätten em salln ’ne Muulschell gewen.“

„Wollt’ ich auch. Aber als er so dastand und zitterte, da konnt’ ich nicht. Und dann dacht’ ich auch …“

„Ach wat, Hradscheck, is joa all dumm Tüg … Un wenn et wat is, na, denn möt’ et de Franzos sinn.“

„Der Franzose?“

„Joa, de Franzos. Kuckens moal, de Ihrd’ geiht hier so’n beten dahl. He moak woll en beten rutscht sinn.“

„Rutscht sinn“, wiederholte Hradscheck und lachte mit der Alten um die Wette. „Ja, der Franzos ist gerutscht. Alles gut. Aber wenn ich nur den Jungen erst wieder in Ordnung hätte. Der macht mir das ganze Dorf rebellisch. Und wie die Leute sind, wenn sie von Spuk hören, da wird ihnen ungemüthlich. Und dann kommt zuletzt auch die dumme Geschichte wieder zur Sprache. Sie wissen ja …“

„Woll, woll, ick weet.“

„Und dann, Mutter Jeschke, Spuk ist Unsinn. Natürlich. Aber es giebt doch welche …“

„Joa, joa.“

„Es giebt doch welche, die sagen: Spuk ist nicht Unsinn. Wer hat nu Recht? Nu mal heraus mit der Sprache.“

Der Alten entging nicht, in welcher Pein und Beklemmung Hradscheck war, weßhalb sie, wie sie stets zu thun pflegte, mit einem „ja“ antwortete, das ebensogut ein „nein“, und mit einem „nein“, das ebensogut ein „ja“ sein konnte.

„Mien leew Hradscheck,“ begann sie, „Se wullen wat weten von mi. Joa, wat weet ick? Spök! Gewen moak et joa woll so wat. Un am Enn’ ook wedder nich. Un ick segg’ ümmer, wihr sich jrult, för den is et wat, und wihr sich nich jrult, för den is et nix.“

Hradscheck, der mit gespanntester Aufmerksamkeit gefolgt war, nickte zustimmend, während die sich jetzt plötzlich neben ihn setzende Alte mit wachsender Vertraulichkeit fortfuhr: „Ick will Se wat seggen, Hradscheck. Man möt man blot Kourasch hebben. Un Se hebben joa. Wat is Spök? Spök, dat’s grad so, as wenn de Müüs’ knabbern. Wihr ümmer hinhürt, na, de slöppt nich; wihr awers so bi sich seggen deiht, ‚na, worümm salln se nich knabbern,‘ de slöppt.“

Und bei diesen Worten erhob sie sich rasch wieder und ging, zwischen den Beeten hin, auf ihre Wohnung zu. Mit einem Mal aber blieb sie stehn und wandte sich wieder, wie wenn sie ’was vergessen habe. „Hürens, Hradscheck, wat ick Se noch seggen wull, uns’ Line kümmt ook wedder. Se hett gestern schrewen. Wat mienens? De wihr so wat för Se.“

„Geht nicht, Mutter Jeschke. Was würden die Leute sagen? Un is auch eben erst ein Jahr.“

„Woll. Awers se kümmt ook ihrst um Martini ’rümm … Und denn, Hradscheck, Se bruken se joa nich glieks frijen.“


18.

„De Franzos is rutscht,“ hatte die Jeschke gesagt und war dabei wieder so sonderbar vertraulich gewesen, alles mit Absicht und Berechnung. Denn wenn das Gespräch auch noch nachwirkte, darin ihr vor länger als einem Jahr ihr sonst so gefügiger Nachbar mit einer Verleumdungsklage gedroht hatte, so konnte sie, trotz alledem, von der Angewohnheit nicht lassen, in dunklen Andeutungen zu sprechen, als wisse sie was und halte nur zurück.

„Verdammt!“ murmelte Hradscheck vor sich hin. „Und dazu der Ede mit seiner ewigen Angst.“

Er sah deutlich die ganze Geschichte wieder lebendig werden, und ein Schwindel ergriff ihn, wenn er an all das dachte, was bei diesem Stande der Dinge jeder Tag bringen konnte.

„Das geht so nicht weiter. Er muß weg. Aber wohin?“

Und bei diesen Worten ging Hradscheck auf und ab und überlegte.

„Wohin? Es heißt, er liege in der Oder. Und dahin muß er … je eher, je lieber … Heute noch. Aber ich wollte, dies Stück Arbeit wäre gethan. Damals ging es, das Messer saß mir an der Kehle. Aber jetzt! Wahrhaftig, das Einbetten war nicht so schlimm, als es das Umbetten ist.“

Und von Angst und Unruhe getrieben, ging er auf den Kirchhof und trat an das Grab seiner Frau. Da war der Engel mit der Fackel und er las die Inschrift. Aber seine Gedanken konnten von dem, was er vorhatte, nicht los und als er wieder zurück war, stand es fest: „Ja, heute noch … Was du thun willst, thue bald.“

Und dabei sann er nach, wie’s geschehn müsse.

„Wenn ich nur etwas Farrnkraut hätt’. Aber wo giebt es Farrnkraut hier? Hier wächst ja bloß Gras und Gerste, weiter nichts, und ich kann doch nicht zehn Meilen in der Welt herumkutschiren, blos um mit einem großen Busch Farrnkraut wieder nach Hause zu kommen. Und warum auch? Unsinn ist es doch.“

Er sprach noch so weiter. Endlich aber entsann er sich, in dem benachbarten Gusower Park einen ganzen Wald von Farrnkraut gesehn zu haben. Und so rief er denn in den Hof hinaus und ließ anspannen.

Um Mittag kam er zurück, und vor ihm, auf dem Rücksitze des Wagens, lag ein riesiger Farrnkrautbusch. Er kratzte die Samenkörnchen ab und that sie sorglich in eine Papierkapsel und die Kapsel in ein Schubfach. Dann ging er noch einmal alles durch, was er brauchte, trug das Grabscheit, das für gewöhnlich neben der Gartenthür stand, in den Keller hinunter und war wie verwandelt, als er mit diesen Vorbereitungen fertig war.

Er pfiff und trällerte vor sich hin und ging in den Laden.

„Ede, Du kannst heute Nachmittag ausgehn. In Gusow ist Jahrmarkt mit Karoussel und sind auch Kunstreiter da, das heißt Seiltänzer. Ich habe heut Vormittag das Seil spannen sehn. Und vor acht brauchst Du nicht wieder hier zu sein. Da nimm. Das ist für Dich, und nun amüsire Dich gut. Und is auch ’ne Waffelbude da, mit Eierbier und Punsch. Aber hübsch mäßig, nich zu viel; hörst Du, keine Dummheiten machen.“

Ede strahlte vor Glück, machte sich auf den Weg und war Punkt acht wieder da. Zugleich mit ihm kamen die Stammgäste, die, wie gewöhnlich, ihren Platz in der Weinstube nahmen. Einige hatten schon erfahren, daß Hradscheck am Vormittag in Gusow gewesen und mit einem großen Busch Farrnkraut zurückgekommen sei.

„Was Du nur mit dem Farrnkraut willst?“ fragte Kunicke.

„Anpflanzen.“

„Das wuchert ja. Wenn das drei Jahr in Deinem Garten steht, weißt Du vor Unkraut nicht mehr, wo Du hin sollst.“

„Das soll es auch. Ich will einen hohen Zaun davon ziehn. Und je rascher es wächst, desto besser.“

„Na, sieh Dich vor damit. Das ist wie die Wasserpest; wo sich das mal eingenistet hat, ist kein Auskommen mehr. Und vertreibt Dich am Ende von Haus und Hof.“

Alles lachte, bis man zuletzt auf die Kunstreiter zu sprechen kam und an Hradscheck die Frage richtete, was er denn eigentlich von ihnen gesehn habe?

„Bloß das Seil. Aber Ede, der heute Nachmittag da war, der wird wohl Augen gemacht haben.“

Und nun erzählte Hradscheck des Breiteren, daß der, dem die Truppe jetzt gehöre, des alten Kolter Schwiegersohn sei, ja, die Frau nenne sich noch immer nach dem Vater und habe den Namen ihres Mannes gar nicht angenommen.

Er sagte das alles so, wie wenn er die Kolters ganz genau kenne, was den Oelmüller zu verschiedenen Fragen über die berühmte Seiltänzerfamilie veranlaßte. Denn Springer und Kunstreiter waren Quaasens unentwegte Passion, seit er als zwanzigjähriger Junge ’mal auf dem Punkte gestanden hatte, mit einer Kunstreiterin auf und davon zu gehn. Seine Mutter jedoch hatte Wind davon gekriegt, ihn in den Milchkeller gesperrt und den Direktor der Truppe gegen ein erhebliches Geldgeschenk veranlaßt, die „gefährliche Person“ bis nach Reppen hin vorauszuschicken. All das, wie sich denken läßt, gab auch heute wieder Veranlassung zu vielfachen Neckereien und um so mehr, als Quaas ohnehin des Vorzugs genoß, Stichblatt der Tafelrunde zu sein.

„Aber was is das mit Kolter?“ fragte Kunicke. „Du wolltest von ihm erzählen, Hradscheck. Is es ein Reiter oder ein Springer?“

„Bloß ein Springer. Aber was für einer!“

Und nun fing Hradscheck an, eine seiner Hauptgeschichten zum Besten zu geben, die vom alten Kolter nämlich, der Anno 14 schon sehr berühmt und mit in Wien auf dem Kongreß gewesen sei.

[667] „Was, was? Mit auf dem Kongreß?“

„Versteht sich. Und warum nicht?“

„Auf dem Kongreß also.“

Und da habe der König von Preußen (denn Kolter sei ein geborner Preuße gewesen) zum Kaiser von Rußland gesagt: „Höre, Bruderherz, was Du von Deinem Stiglischeck auch sagen magst, Kolter ist doch besser, Parole d’honneur, Kolter ist der erste Springer der Welt, und was ihm auch passiren mag, er wird sich immer zu helfen wissen.“ Und als nun der Kaiser von Rußland das bestritten, da hätten sie gewettet, und wäre bloß die Bedingung gewesen, daß nichts vorher gesagt werden solle. Das hätten sie denn auch gehalten. Und als nun Kolter halb schon das zwischen zwei Thürmen ausgespannte Seil hinter sich gehabt habe, da sei mit einem Male, von der andern Seite her, ein andrer Seiltänzer auf ihn losgekommen, das sei Stiglischeck gewesen, und keine Minute mehr, so hätten sie sich gegenüber gestanden, und der Russe, was ihm auch Keiner verdenken könne, habe bloß gesagt: „Alles perdu, Bruder: Du verloren, ich verloren.“ Aber Kolter habe bloß gelacht und ihm was ins Ohr geflüstert, einige sagen einen frommen Spruch, andre aber sagen, es sei was Unanständiges gewesen, und sei dann mit großer Anstrengung und Geschicklichkeit zehn Schritte rückwärts gegangen, während der Andre sich niedergeduckt habe. Und nun habe Kolter einen Anlauf genommen und sei mit eins, zwei, drei über den Andern weggesprungen. Da sei denn furchtbares Beifallklatschen gewesen und Einige hätten laut geweint und immer wieder und wieder gesagt, „das sei mehr als Napoleon“. Und der Kaiser von Rußland habe seine Wette verloren und auch wirklich bezahlt.

„Wird er wohl, wird er wohl,“ sagte Kunicke. „Der Russe bezahlt immer. Hat’s ja … Bravo, Hradscheck; bravo!“

So war Hradscheck mit Beifall belohnt worden und hatte von Viertelstunde zu Viertelstunde noch vieles Andre zum Besten gegeben, bis endlich um elf die Stammgäste das Haus verließen.

*  *  *

Ede war schon zu Bett geschickt und in dem weiten Hause herrschte Todesstille. Hradscheck schritt auf und ab in seiner Stube, mußte sich aber setzen, denn der Aufregungen dieses Tages waren doch so viele gewesen, daß er sich, trotz fester Nerven, einer Ohnmacht nahe fühlte. So lang er drüben Geschichten erzählt hatte, munterer und heiterer, so wenigstens schien es, als je zuvor, war kein Tropfen Wein über seine Lippen gekommen, jetzt aber nahm er Kognak und Wasser und fühlte, wie Kraft und Entschlossenheit ihm rasch wiederkehrten. Er ging auf das Schubfach zu, drin er das Kapselchen versteckt hatte, zog gleich danach seine Schuhe aus und pulverte von dem Farrnkrautsamen hinein.

„So!“

Und nun stand er wieder in seinen Schuhen und lachte.

„Will doch mal die Probe machen! Wenn ich jetzt unsichtbar bin, muß ich mich auch selber nicht sehen können.“

Und das Licht zur Hand nehmend, trat er vor den schmalen Trumeau mit dem weißlackirten und mit dünnen Goldlinien eingefaßten Rahmen und sah hinein und nickte seinem Spiegelbilde zu. „Guten Tag, Abel Hradscheck. Wahrhaftig, wenn alles soviel hilft, wie der Farrnkrautsamen, so werd’ ich nicht weit kommen und bloß noch das angenehme Gefühl haben, ein Narr gewesen zu sein und ein Dummkopf, den ein altes Weib genasführt hat. Die verdammte Hexe! Warum lebt sie? Wäre sie weg, so hätt’ ich längst Ruh’ und brauchte diesen Unsinn nicht. Und brauchte nicht …“ Ein Grusel überlief ihn, denn das Furchtbare, was er vorhatte, stand mit einem Male wieder vor seiner Seele. Rasch aber bezwang er sich. „Eins kommt aus dem Andern. Wer A sagt, muß B sagen.“

Und als er so gesprochen und sich wieder zurecht gerückt hatte, ging er auf einen kleinen Eckschrank zu und nahm ein Laternchen heraus, das er sich schon vorher durch Ueberkleben mit Papier in eine Art Blendlaterne umgewandelt hatte. Die Alte drüben sollte den Lichtschimmer nicht wieder sehn und ihn nicht zum wievielsten Male mit ihrem „ick weet nich, Hradscheck, wihr et in de Stuw or wihr et in’n Keller“ in Wuth und Verzweiflung bringen. Und nun zündete er das Licht an, knipste die Laternenthür wieder zu und trat rasch entschlossen auf den Flur hinaus. Was er brauchte, darunter auch ein Stück alter Teppich, aus langen Tuchstreifen geflochten, lag längst unten in Bereitschaft.

„Vorwärts, Hradscheck!“

Und zwischen den großen Oelfässern hin ging er bis an den Kellereingang, hob die Fallthür auf und stieg langsam und vorsichtig die Stufen hinunter. Als er aber unten war, sah er, daß die Laterne, trotz der angebrachten Verblendung, viel zuviel Licht gab und nach oben hin, wie aus einem Schlot, einen hellen Schein warf. Das durfte nicht sein, und so stieg er die Treppe wieder hinauf, blieb aber in halber Höhe stehn und griff bloß nach einem ihm in aller Bequemlichkeit zur Hand liegenden Brett, das hier an das nächstliegende Oelfaß herangeschoben war, um die ganze Reihe der Fässer am Rollen zu verhindern. Es war nur schmal und kaum mannsbreit, aber gerade breit genug, um unten das Kellerfenster zu schließen.

„Nun mag sie sich drüben die Augen auskucken. Meinetwegen. Durch ein Brett wird sie ja wohl nicht sehn können. Ein Brett ist besser als Farrnkrautsamen …“

Und damit schloß er die Fallthür und stieg wieder die Stufen hinunter.


19.

Ede war früh auf und bediente seine Kunden. Dann und wann sah er auch nach der kleinen, im Nebenzimmer hängenden Uhr, die schon auf ein Viertel nach acht zeigte.

„Wo der Alte nur bleibt?“

Ede durfte die Frage schon thun, denn für gewöhnlich erschien Hradscheck mit dem Glockenschlage sieben, wünschte guten Morgen und öffnete die nach der Küche führende kleine Thür, was für die Köchin allemal das Zeichen war, daß sie den Kaffee bringen solle. Heut aber ließ sich kein Hradscheck sehn, und als es nah an neun heran war, steckte statt seiner nur Male den Kopf in den Laden hinein und sagte:

„Wo he man bliewt, Ede?“

„Weet nich.“

„Ick will geihn un en beten an sine Dhör bullern.“

„Joa, dat dhu man.“

Und wirklich, Male ging, um ihn zu wecken. Aber sie kam in großer Aufregung wieder. „He is nich doa, nich in de Vör- un ook nich in de Hinner-Stuw. Allens open un keene Dhör to.“

„Un sien Bett?“ fragte Ede.

„Allens glatt un ungeknüllt. He’s goar nich in ’west.

Ede kam nun auch in Unruhe. Was war zu thun? Er, wie Male, hatten ein unbestimmtes Gefühl, daß etwas ganz Absonderliches geschehen sein müsse, worin sie sich durch den schließlich ebenfalls erscheinenden Jakob nur noch bestärkt sahen. Nach einigem Berathen kam man überein, daß Jakob zu Kunicke hinübergehn und wegen des Abends vorher anfragen solle; Kunicke müss’ es wissen, der sei immer der Letzte. Male dagegen solle rasch nach dem Krug laufen, wo Gendarm Geelhaar um diese Stunde zu frühstücken und der alten Krügerschen, die manchen Sturm erlebt hatte, schöne Dinge zu sagen pflegte. Das geschah denn auch alles, und keine Viertelstunde, so sah man Geelhaar die Dorfstraße herunter kommen, mit ihm Schulze Woytasch, der sich, einer abzuhaltenden Versammlung halber, zufällig ebenfalls im Kruge befunden hatte. Vor Hradscheck’s Thür trafen beide mit Kunicke zusammen. Man begrüßte sich stumm und überschritt mit einer gewissen Feierlichkeit die Schwelle.

Drin im Hause hatte sich mittlerweile die Scene verändert.

Ede, der noch eine Zeit lang in allen Ecken und Winkeln umhergesucht hatte, stand jetzt, als die Gruppe sich näherte, mitten auf dem Flur und wies auf ein großes Oelfaß, das um ein Geringes vorgerollt war, nur zwei Fingerbreit, nur bis an den großen Eisenring, aber doch gerade weit genug, um die Fallthür zu schließen.

„Doa sitt he in,“ schrie der Junge.

„Schrei nicht so!“ fuhr ihn Schulze Woytasch an. Und Kunicke setzte mit mehr Derbheit, aber auch mit größerer Gemüthlichkeit hinzu: „Halt’s Maul, Junge.“

Dieser jedoch war nicht zur Ruh zu bringen, und sein bischen Schläfenhaar immer mehr in die Höh schiebend, fuhr er in demselben Weinertone fort: „Ick weet allens. Dat’s de Spök. De Spök hett noah em grappscht. Un denn wull he ’rut un kunn nich.“

Um diese Zeit war auch Eccelius aus der Pfarre herüber gekommen, leichenblaß und so von Ahnungen geängstigt, daß er, als man das Faß jetzt zurückgeschoben und die Fallthür geöffnet hatte, [668] nicht mit hinuntersteigen mochte, sondern erst in den Laden und gleich darauf auf die Dorfgasse hinaustrat.

Geelhaar und Schulze Woytasch, schon von Amtswegen auf bessre Nerven gestellt, hatten inzwischen ihren Abstieg bewerkstelligt, während Kunicke, mit einem Licht in der Hand, von oben her in den Keller hineinleuchtete. Da nicht viele Stufen waren, so konnt’ er das Nächste sehn: unten lag Hradscheck, allem Anscheine nach todt, ein Grabscheit in der Hand, die zerbrochene Laterne daneben. Unser alter Anno-Dreizehner sah sich dabei doch seiner gewöhnlichen Gleichgültigkeit entrissen, kletterte nach und kroch, unten angekommen, in Gemeinschaft mit Geelhaar und Woytasch auf die Stelle zu, wo hinter einem Lattenverschlag der Weinkeller war. Die Thür stand auf, etwas Erde war aufgegraben, und man sah Arm und Hand eines hier Verscharrten. Alles andre war noch verdeckt. Aber freilich, was sichtbar war, war gerade genug, um alles Geschehene klar zu legen.

Keiner sprach ein Wort, und mit einem scheuen Seitenblick auf den entseelt am Boden Liegenden stiegen alle drei die Treppe wieder hinauf.

Auch oben, selbst als Eccelius sich ihnen wieder gesellt hatte, blieb es bei wenig Worten, was schließlich nicht Wunder nehmen konnte. Waren doch alle, mit alleiniger Ausnahme von Geelhaar, viel zu befreundet mit Hradscheck gewesen, als daß ein Gespräch über ihn anders als peinlich hätte verlaufen können. Peinlich und mit Vorwürfen gegen sich selbst gemischt. Warum hatte man bei der gerichtlichen Untersuchung nicht besser aufgepaßt, nicht schärfer gesehn? Warum hatte man sich hinters Licht führen lassen?

Nur das Nöthigste wurde festgestellt. Dann verließ man das durch so viele Jahre hin mit Vorliebe besuchte Haus, das nun für jeden ein Haus des Schreckens geworden war. Kunicke schritt quer über den Damm auf seine Wohnung, Eccelius auf seine Pfarre zu. Woytasch war mit ihm.

„Das Küstriner Gericht,“ hob Eccelius an, „wird nur wenig noch zu sagen haben. Alles ist klar und doch ist nichts bewiesen. Er steht vor einem höheren Richter.“

Woytasch nickte. „Höchstens noch, was aus der Erbschaft wird. Er hat keine Verwandte hier herum und die Frau, so mir recht is, auch nich. Vielleicht, daß es der Pohlsche wiederkriegt. Aber das werden die Tschechiner nich wollen.“

Eccelius erwiderte: „Das alles macht mir keine Sorge. Was mir Sorge macht, ist bloß das: wie kriegen wir ihn unter die Erde und wo? Sollen wir ihn unter die guten Leute legen, das geht nicht, das leiden die Bauern nicht und machen uns eine Kirchhofs-Revolte. Und was das Schlimmste ist, haben auch Recht dabei. Und sein Feld wird auch keiner dazu hergeben wollen. Eine solche Stelle mag Niemand auf seinem ehrlichen Acker haben.“

„Ich denke,“ sagte der Schulze, „wir bringen ihn auf den Kirchhof. Bewiesen ist am Ende nichts. Im Garten liegt der Franzos, und im Keller liegt der Pohlsche. Wer will sagen, wer ihn da hingelegt hat? Keiner weiß es, nicht einmal die Jeschke. Schließlich ist alles bloß Verdacht. Auf den Kirchhof muß er also. Aber seitab, wo die Nesseln stehn und der Schutt liegt.“

„Und das Grab der Frau?“ fragte Eccelius. „Was wird aus dem? Und aus dem Kreuz?“

„Das werden sie wohl umreißen, da kenn’ ich meine Tschechiner. Und dann müssen wir thun, Herr Pastor, als sähen wir’s nicht. Kirchhofsordnung ist gut, aber der Mensch verlangt auch seine Ordnung.“

„Brav, Schulze Woytasch!“ sagte Eccelius und gab ihm die Hand. „Immer ’s Herz auf dem rechten Fleck!“

*  *  *

Geelhaar war im Hradscheckschen Hause zurückgeblieben. Er hatte den Polizei-Kehrmichnichtdran und machte nicht viel von der Sache. Was war es denn auch groß? Ein Fall mehr. Darüber ging die Welt noch lange nicht aus den Fugen. Und so ging er denn in den Laden, legte die Hand auf Ede’s Kopf und sagte: „Hör’ Ede, das war heut ein böses Geschäft. So zwei Todte gleich Morgens um neun! Na, schenk mal ’was ein. Was nehmen wir denn?“

„Na, ’nen Rum, Herr Geelhaar.“

„Nei, Rum is mir heute zu schwach. Gib erst ’nen Kognak. Und dann ein’ Rum.“

Ede schenkte mit zitternder Hand ein. Geelhaar’s Hand aber war um so sicherer. Als er ein paar Gläser geleert hatte, ging er in den Garten und spazierte drin auf und ab, als ob nun alles sein wäre. Das ganze Grundstück erschien ihm wie herrenloser Besitz, drin man sich ungenirt ergehen könne.

Die Jeschke, wie sich denken läßt, ließ auch nicht lang auf sich warten. Sie wußte schon alles und sah mal wieder über den Zaun.

„Dag, Geelhaar.“

„Dag, Mutter Jeschke … Nu, was macht Line?“

„De kümmt to Martini. Se brukt sich joa nu nich mihr to jrulen.“

„Vor Hradscheck?“ lachte Geelhaar.

„Joa. Vör Hradscheck. Awers nu sitt he joa fast.“

„Das thut er. Und gefangen in seiner eignen Falle.“

„Joa, joa. De oll Voß! Nu kümmt he nich wedder rut. Fien wihr he. Awers to fien, loat man sien!“

*  *  *

Was noch geschehen mußte, geschah still und rasch, und schon um die neunte Stunde des folgenden Tages trug Eccelius nachstehende Notiz in das Tschechiner Kirchenbuch ein:

„Heute, den 3. Oktober, früh vor Tagesanbruch, wurde der Kaufmann und Gasthofsbesitzer Abel Hradscheck ohne Sang und Klang in den hiesigen Kirchhofsacker gelegt. Nur Schulze Woytasch, Gendarm Geelhaar und Bauer Kunicke wohnten dem stillen Begräbnißakte bei. Der Todte, so nicht alle Zeichen trügen, wurde von der Hand Gottes getroffen, nachdem es ihm gelungen war, den schon früher gegen ihn wach gewordenen Verdacht durch eine besondere Klugheit wieder zu beschwichtigen. Er verfing sich aber schließlich in seiner List und grub sich, mit dem Grabscheit in der Hand, in demselben Augenblicke sein Grab, in dem er hoffen durfte, sein Verbrechen für immer aus der Welt geschafft zu sehn. Und bezeugte dadurch aufs Neue die Spruchweisheit: ‚Es ist nichts so fein gesponnen, ’s kommt doch alles an die Sonnen.‘“

Aus der schwäbischen Türkei.

Zwei ungarische Villeggiatur-Briefe.

Von Karl Braun-Wiesbaden.
I.

So behaglich es auch in der täglich schöner und größer werdenden ungarischen Hauptstadt Budapest ist und so viel Interessantes die dortige Landesausstellung bietet – ein alter Mann wie ich giebt schließlich doch einem schönen stillen, grünen Erdenwinkel den Vorzug, wo er in Frieden seinen Wein trinkt, der da an Ort und Stelle gewachsen. Mögen Andere sich auf der großen, viel betretenen Landstraße bewegen; ich habe nun genug auf flüchtigen Sohlen drei Welttheile – Europa ganz, Asien und Afrika zum kleineren Theile – durchlaufen: der Massen-Konsum ist zu Ende; man muß sich jetzt für die wenigen Tage, die uns noch vergönnt sind, die Leckerbissen aussuchen. Einen solchen habe ich gefunden auf einer großen Herrschaft an der Grenze des Komitats Baránya und Samogy, auf dem rechten Ufer der hier nach Süden fließenden Donau, von welcher man ausgeht, und zwar von Mohács, wo die Türken den König Ludwig II. besiegten, nach Szigetvár (auf Deutsch: Wasserburg oder Inselburg), wo Zrinyi dem mächtigen Soliman einen zwar vergeblichen, aber heldenmüthigen Widerstand geleistet. Von da ging ich zu Wagen nach der Herrschaft, einer Einladung ihres verehrten Besitzers Folge leistend.

Den Namen der Herrschaft will ich nur auf Deutsch wiedergeben. Denn wie er auf Ungarisch lautet, das würdest

[669]

Ein Tänzchen.
Nach dem Oelgemälde von W. Zimmer.
Photographie im Verlage von Fr. Hanfstängl in München.

[670] Du doch nicht aussprechen können, oder wenigstens nicht ganz richtig; und der Ungar hat ein hoch entwickeltes Sprachgefühl; wenn ich in der Aussprache des Ungarischen einen Fehler mache, dann lacht mich der gemeine Mann aus, und der Vornehme unterläßt es niemals, mich in höflicher und schonender Weise zu belehren, indem er die betreffenden Worte mit einigem Nachdruck wiederholt, und zwar richtig.

Um also alle diese Schwierigkeiten zu vermeiden, übersetze ich das Wort gleich in das Deutsche. Es heißt Linden-Grund oder Linden-Bette, und zwar mit gutem Grund. Einer der früheren Besitzer, die einem glorreichen Grafengeschlecht angehörten, hat überall in der ganzen Herrschaft, in den Waldungen, in den Gründen und in den Schluchten, längs der Wege und Triften, einen Lieblingsbaum angepflanzt. Es ist eine edele, hohe, weitästige Linde mit eigenthümlichen großen Blättern, die auf der einen Seite eine dunkelgrüne und auf der andern eine silberne Farbe zeigen und, je nachdem die Blätter stehen oder hängen, und je nachdem der Wind sie bewegt, entweder diese oder jene Farbe zeigen, oder beide gleichzeitig in kaleidoskopischer Abwechselung uns vor die Augen führen. Es ist ein wahrer Hochgenuß für einen Unglücklichen, der das ganze Jahr durch verurtheilt ist, in dem Ruß und dem Schmutz einer großen Stadt zu leben, hier in dieser schönen Einsamkeit und in dieser frischen gleichmäßigen, windbewegten Luft unter dem wechselnden grünen und silbernen Glanze dieser Riesenbäume zu bummeln, mit nichts beschäftigt, als mit dem Studium einer Natur, welche allen Reiz der Wildniß und alle Wohlthaten der Kultur mit einander vereinigt.

Sogar der wandernde Zigeuner schien dies zu empfinden. Er ist in Ungarn zahlreicher als in andern europäischen Ländern. Denn der Ungar ist gutmüthig und weit entfernt, stets bei der ersten kleinen Unbequemlichkeit die Polizei zu Hilfe zu rufen. Er behandelt den Zigeuner besser, als wir, oder sagen wir lieber, um nicht zu viel zu sagen: weniger schlecht. Und auch beim Zigeuner finden wir dieselbe Erscheinung, wie bei den Thieren, welche in Gesellschaft der Menschen zu leben pflegen. Behandelt man sie gut, dann sind sie gut und vernünftig; behandelt man sie schlecht, dann sind sie dumm und boshaft. In Deutschland, wo der Zigeuner gehetzt und von einem Lande in das andere gejagt wird, pflegt er zu betrügen, zu stehlen und andere kulturfeindliche Künste zu treiben. In Ungarn macht er sich nützlich, – nach Kräften. Er ist das subsidiäre Geschöpf, das heißt: er übernimmt diejenigen Verrichtungen, welche die in besserer Lage befindlichen Menschen verschmähen. Er flickt die Hosen und Stiefel, welche die Andern, die deutschen oder die ungarischen Meister, gemacht haben. Er begleitet zu Fuß den Reiter, um das Pferd zu besorgen, und leistet alle möglichen untergeordneten Dienste. Den Kegeljungen spielt er mit Vergnügen, selbst wenn er längst über die Zeit der Jugend hinaus ist. Er macht, ohne jemals eine Note kennen gelernt zu haben, jene berauschende Musik, die seit einigen Jahren die Aufmerksamkeit von ganz Europa auf sich gelenkt, deren größte Virtuosen Rácz Pál und Berkes János waren, und deren Verständniß Franz Liszt auch dem verwöhnten und verbildeten westeuropäischen Ohre eröffnet.

Der Zigeuner führt aber nicht nur die Geige, sondern auch das Schnitzmesser. Er geht mit Löffeln und anderen nützlichen Instrumenten, die er aus Holz schnitzt, hausiren.

Hierher, nach der Herrschaft „Linden-Grund“, wälzte sich eines Tages eine Zigeuner-Karavane. Ihr Häuptling, den man mit dem polnischen Namen „Woiwode“ bezeichnet, begab sich direkt nach dem Herrschaftshaus, welches man auf Oesterreichisch das „G’schloß“ (Schloß) und auf Ungarisch das „Kastell“ zu nennen pflegt. Was wollen diese Stiefkinder des Glücks in dem vornehmen Landsitz der Herrschaft? Dies Mal nichts Schlimmes. Weder betteln noch stehlen, sondern nur für gutes ehrliches Geld ein paar dieser schönen großen Silberlinden erwerben. Man giebt ihnen einige ab. Nicht aus den prachtvollen Alleen, welche unversehrt bleiben müssen; denn sie bilden den Stolz und die Zierde der Herrschaft. Aber da unten in dem einsamen Grunde, welcher sich zwischen zwei jener wellenförmigen Hügelzüge, die der Gegend ihren Charakter geben, hinzieht, tritt man ihnen die Silberlinden ab. Da gründen die Zigeuner ihre Kolonien. Sie graben Löcher in die Erde und schlagen über jedem Loche ein Zelt auf. Das ist das Haus des Zigeuners. Er befindet sich so wohl darin, wie der Graf in seinem Kastell. Dann geht er an die Arbeit. Er fällt die prachtvollen Bäume, die er ehrlich bezahlt hat. Und dann schnitzt er alles Mögliche aus denselben. Am liebsten große Mulden für Bäcker und Fleischer. Aus dem kleinen Abgefälle werden dann große dreizackige hölzerne Heugabeln, welche leichter sind und besser packen als die schweren aus Eisen, oder Schaufeln, oder Rechen, oder Löffel und anderes Küchengeräth. Sind die erkauften Baumriesen in solche kleine Menschengeräthe verwandelt, dann zieht der Zigeunertrupp weiter, nachdem er seine Zelte abgebrochen und die Löcher, worüber er dieselben errichtet, wieder zugeworfen hat. Zuerst verschwinden die Bäume, und dann der Zigeuner. Wir wünschen dem Zigeuner alles Gute auf die Reise. Aber wir sind froh, wenn er nicht wieder kommt und wenn ihm die Herrschaft keine Silberlinden mehr opfert. Es ist ein schöner Weg von Szigetvár nach dem Kastell von Lindengrund, den wir in einem leichten Wagen, gezogen von raschen Pferden, in einer guten Stunde zurücklegen. Notabene: im Sommer, wo der Weg hart ist. Im Winter oder zur Regenzeit ist der Weg grundlos. Da braucht man vier Stunden statt eine. Der Weg führt vorüber an endlosen Feldern. Die Getreidefelder sind schon leer, nur hin und wieder ist man mit dem Einbringen des letzten Hafers beschäftigt. (In Ungarn habe ich die Beobachtung gemacht, daß der Magyar und der Deutsche mit der Sense mähen, der Slave und der Walache dagegen mit der Sichel arbeitet, indem er mit der linken Hand hält und mit der Rechten, die Sichel führend, schneidet.) Auf der andern Seite des Weges stehen endlose Mais- oder wie man hier sagt: „Kukurutz“-Felder. Sie sind üppig in die Höhe geschossen; der Stock zeigt den Ansatz zu zwei, drei oder gar noch mehr Kolben; aber damit die Kolben sich runden und füllen, bedarf es noch Regen, nach welchem alle Welt schreit. Ungarn ist das Land der unvermittelten Extreme, der seltsamen Gegensätze. Entweder hat es zu viel oder zu wenig. Das gilt auch vom Wetter und von dem Regen. Man kann diesem Wetter nicht trauen, wie unserem gemüthlichen, langsamen, soliden, deutschen Wetter. Hier kommt alles plötzlich, stoßweise, explosiv. Hier kann man die Ernte nicht behaglich und in aller Ruhe nach und nach einheimsen. In vierzehn Tagen muß alles fertig sein. Après ça le déluge. Und hier ist die Sündfluth keine Redensart, sondern eine Wahrheit. Entweder ist des Wassers zu viel oder zu wenig. Hier ist Dürre, dort ist Überschwemmung. Man wendet alle Kraft und alle Mittel an, um diese Sprünge der Natur durch Menschenwerk und Menschenkünste auszugleichen oder zu mildern. Aber oft ist diese ungestüme, vollkräftige, unerschöpfliche, ich möchte fast sagen: vulkanische Natur mächtiger als die Menschen.

Hier in dem Barányer, dem Tolnaer und dem Samogy-Komitat, worin wir uns befinden, ist zwar das Alles viel besser als da unten, wo eine furchtbare Dürre oder eine Wassersnoth mit einander abwechseln. Ich habe im Banat große klafterlange Spalten oder Klüfte in dem von der Hitze zerrissenen Boden gesehen, und an der Theiß, von der man – allerdings mit einiger Uebertreibung – sagt, daß sie mehr Fische habe als Wasser, habe ich erlebt, daß unabsehbar weit ringsum Alles überschwemmt war. Wir Deutsche sagten: „Die Theiß ist groß.“ Unser Ungar aber sagte schmerzlich lächelnd: „O nein, sie ist zu klein, sie kann das viele Wasser nicht alles fassen.“

Die drei genannten Komitate – unser „Kastell Linden-Grund“ liegt im Komitat Samogy – bilden ein an Abwechselung reiches Bergland, das sich nach der Drau und Donau zu allmählich absenkt und nur kleinere Flüsse und Bäche aufweist. Es hat vielleicht einmal zu wenig Wasser, aber nie zu viel, und seine zahlreichen Wälder und Berge und Hügel schützen es vor jenem verheerenden Sonnenbrand, der das Land in Staub auflöst, oder zu einer Masse verhärtet, welche selbst dem schärfsten Pfluge Widerstand leistet. Nur zuweilen rauscht ein Wolkenbruch hernieder, der die muldenförmigen Terrainfalten in Seen verwandelt.

Auf dem Wege von Szigetvár nach unserem Kastelle, in welchem wir jenen ungarische Gastfreundschaft genießen, die man in keinem Lande Europas in gleicher taktvoller Herzlichkeit wieder findet, haben wir Gelegenheit, uns über die Kulturverhältnisse des Landes zu unterrichten und zugleich die verschiedenen Rassen zu studiren. Hier in diesem Lande, das man vormals die „schwäbische Türkei“ nannte – ein Ausdruck, der jedoch den gegenwärtigen Bewohnern ganz unbekannt zu sein scheint und der [671] sich nur noch in Büchern wiederfindet, z. B. in dem, einem jeden das Ungarland bereisenden Deutschen auf das Wärmste zu empfehlenden Buche „Die Deutschen in Ungarn und Siebenbürgen“ von Professor Dr. J. H. Schwicker in Budapest – finden wir drei Völker vertreten: Magyaren, Deutsche und Bosniaken oder Serben. Die Bosniaken sind ein Niederschlag jener Türkenherrschaft, welche sich von der unglücklichen Schlacht bei Mohács – am 28. August 1526 – bis zur glücklichen bei dem nämlichen Mohács – den 12. August 1687, also länger als anderthalb Jahrhunderte über den größeren Theil von Ungarn erstreckt hat.

In allen Ländern, in welchen der Türke vormals geherrscht und dann, als er seine expansive Eroberungs- und Beherrschungskraft verloren, das Regiment an eine christliche Dynastie und an die eingeborene Bevölkerung hat abgeben müssen – in Griechenland, in Serbien, in Rumänien etc. – finden wir dieselbe Erscheinung. (Nur Bosnien-Herzegowina, wo Oesterreich das türkische Element der Bevölkerung mit kluger Rücksicht behandelt, macht eine Ansnahme.) Sonst geht der Türke, sobald er aufhört zu herrschen. Auf Negroponte z. B. wohnten viele Türken. Sie hatten dort großen Grundbesitz. Aber als das Land griechisch wurde, schnürte Einer nach dem Andern das Bündel und ging nach dem Lande seiner Väter, obgleich ihm die Gleichheit vor dem Gesetze garantirt war. Er konnte es nicht vertragen, daß ihm, der bisher hoch über Allen gestanden hatte, die Uebrigen gleichgestellt wurden – jene Uebrigen, welche er bis dahin die „Rajah“ (das ist die Menge oder das Gesindel) oder „die christlichen Hunde“ genannt hatte. So sind denn auch aus diesem Lande, als es wieder christlich und ungarisch wurde, die Türken, und namentlich die vornehmen Türken, abgezogen; man findet hin und wieder noch die Ueberreste einer Dschamiah (so heißt die Moschee auf Türkisch) oder einer Türbeh (das ist eines runden Grabmals) oder eines Minareh (die Schreibart „Minaret“ ist grundfalsch!); hin und wieder sieht man auch bei der jetzt lebenden Generation noch ein kühn geschwungenes türkisches Profil; auch giebt es noch Leute, welche den Namen Török (Türke) führen. Sonst sind alle Spuren der anderthalbhundertjährigen Türkenherrschaft in der „schwäbischen“ Türkei gänzlich verschwunden. Nur die Bosniaken, die Hintersassen, die erbunterthänigen kleinen Besitzer, welche mit den Türken gekommen, haben es vorgezogen, ihren Herren nicht zu folgen, sondern zu bleiben. Sie sprechen heute noch eine mit türkischen Worten versetzte slavische Sprache unter einander. Aber daneben sprechen sie Alle auch ungarisch. Kein Deutscher und kein Ungar hat es bis jetzt der Mühe werth erachtet, diese bosnische Sprache zu erlernen. Auch finden Heirathen zwischen Bosniaken auf der einen und Deutschen oder Ungarn auf der andern Seite nicht statt. Die Religion würde kein Hinderniß bilden. Denn sie sind heutzutage alle katholisch; die Bosniaken so gut als die Deutschen und die Ungarn; nur einige bosnische Familien sind dem griechischen Glauben, der in dem vormals byzantinischen Reiche herrschte, treu geblieben.

Was nun die Deutschen und die Ungarn in hiesiger Gegend anlangt, so sind dieselben auch äußerlich auf den ersten Blick zu unterscheiden, und zwar die Männer an der Form der Beinkleider. Nicht an dem Stoffe und nicht an der Farbe. Denn beide Nationen tragen weiß Leinen. Die „Gathjen“ genannten Beinkleider der Ungarn aber sind außerordentlich weit und kurz, so daß der Unkundige die Zweitheilung übersieht und meint, es sei ein weiblicher Unterrock oder eine griechisch-albanesische Fustanella, wie sie weiland König Otto von Griechenland auch noch in Bayern bis an sein Ende getragen. Der Deutsche aber trägt lange und enge Beinkleider wie wir im deutschen Reiche oder überhaupt im mittleren oder westlichen Europa. Deutsche wie Ungarn tragen kurze Jacken oder Kamisole, besetzt mit zahlreichen runden Knöpfen.

Auch die deutschen Frauen kommen in Schnitt und Farbe der Kleider den unsrigen näher. Die ungarischen Bäuerinnen dagegen lieben die lebhaften Farben. Namentlich Sonntags ist das Roth in allen möglichen Schattirungen vorherrschend. Auch sind sie so patriotisch, daß sie es lieben, die Landesfarben selbst in ihrer Kleidung in Anwendung und Ausdruck zu bringen, z. B. Grün das Kopftuch, Weiß die Jacke (oder das Hemd) und Roth den Rock. Oder umgekehrt. Die deutschen Frauen tragen meist schwarze oder dunkelblaue Kleider.

Die Deutschen sind von Körperbau breit und kräftig, die Ungarn schlank und zierlich. Auch die Bäuerinnen haben bei den Ungarn eine schöne, lebhafte und elastische Gangart. Freilich tragen sie auch keine dolchartigen Absätze auf der Mitte ihrer Schuhsohlen, wodurch der Gang erschwert und die ganze Figur aus ihrem natürlichen Gleichgewichte gebracht wird.

Auf dem Wege von Szigetvár nach dem Kastell Lindengrund passirten wir verschiedene deutsche und ungarische Dörfer, welche hier mit einander abzuwechseln pflegen und deren Bewohner sich vortrefflich mit einander vertragen. Nur in einem Falle gab es zuweilen Streit. Nämlich bei den Tanzlustbarkeiten. Da befehlen die deutschen Bursche den Zigeunern, einen Walzer zu spielen, und die jungen Ungarn verlangen den „Csárdas“ (sprich Tschardasch), jenen ungarischen Nationaltanz, den man schon so oft beschrieben – aber immer vergeblich; denn keine Beschreibung vermag einen Begriff von der Kraft und der Grazie dieses Tanzes zu geben, namentlich wenn er von den Damen in der Nationaltracht getanzt wird. Und doch ist es von Haus aus ein bloßer Bauerntanz. Er hat seinen Namen von der Csárda, der Straßen- oder Dorfschenke, in der er getanzt wird. Ja, wenn ich meine Wahrnehmungen über das Tanzen bei den verschiedenen Nationen Europas vergleiche, dann möchte ich sagen: Ueberall tanzt das Volk schöner, als die Vornehmen; überall ist der Tanz in der Schenke schöner, als der im Salon. Aber ich fürchte, man wird das für eine Schrulle oder gar für eine Unhöflichkeit halten. Und deßhalb will ich meine Bemerkung unterdrücken und nur so viel sagen:

Wenn hier zu Lande die jungen Bursche deutscher und österreichischer Nation auf dem Tanzboden über die große Frage: „Ob Walzer, ob Csárdas?“ mit einander raufen, dann wird der Besiegte depossedirt, das ist: an die Luft gesetzt. In der neueren Zeit aber kommt es nicht mehr zu Thätlichkeiten. Man pflegt sich im Guten zu vertragen und mit ungarischen und deutschen Tänzen abzuwechseln. Ein alter deutscher Bauer aber meinte, im Tanzen seien die Ungarn und im Raufen die Deutschen dem Gegner überlegen gewesen.

Auch die ungarischen und die deutschen Dörfer lassen sich auf den ersten Blick von einander unterscheiden, ebenso leicht wie die Form der Beinkleider ihrer Bewohner. Die ungarischen Dörfer sind unregelmäßig, die deutschen sehr regelmäßig gestaltet, und zwar in Gestalt der vielgliedrigen fränkisch-bajuvarischen Hufe. Ich muß dies für Diejenigen, welche die Geschichte der deutschen Agrarverfassung nicht studirt haben, näher erläutern und damit zugleich ein anschauliches Bild von den Dörfern der hiesigen Deutschen zu geben versuchen.

Sämmtliche Bauernhöfe reihen sich in den deutschen Ortschaften gleich einer Schnur an beiden Seiten der unmenschlich breiten Ortsstraße auf. Jedes Haus steht mit dem Giebel nach der Straße und erstreckt sich mit dem andern Ende in die Tiefe des Hofraums. Der Hofraum ist von den Oekonomiegebäuden umgeben und bildet ein Quadrat. Das Ganze ist eingeschlossen von Palissaden oder von einer lebendigen Hecke. Die Wohnhäuser sind alle ebenerdig. Sie haben eine Küche und zwei Wohnräume. Daneben zuweilen noch eine Altentheils- oder Aushaltstube für die Alten, die sich zur Ruhe gesetzt haben. Neben dem „trockenen Aushalt“ bedingt sich aber hier der alte Bauer, in dieser mit Wein gesegneten Gegend, auch noch einen nassen, nämlich jährlich 20 bis 30 Eimer Rebensaft (der Eimer hält 56 Liter). Es ist eine wahre Wohlthat, diese schönen alten „weingrünen“ (richtiger rosenfarbenen) Bauerngesichter zu sehen mit ihren lebhaft blitzenden großen Augen. So was vermag der heilige Gambrinus doch nicht zu leisten!

Zwischen und in den einzelnen Hofraithen stehen mächtige volllaubige Bäume: Maulbeeren, Akazien, Nuß und Zwetschen. Die Bäume schützen gegen den Wind, der hier oft mit solcher Heftigkeit auftritt, daß er die Dächer abdeckt, und gegen das Feuer, welches dadurch verhindert wird, auf den Nachbarhof überzuspringen.

Zum Häuserbau verwendet man keine Steine, welche hier rar sind, sondern Lehm, nichts als Lehm. Man stampft denselben zwischen zwei Brettern so lange, bis die Wand zu Stockwerkshöhe hinaufgestiegen. So wird das Haus in acht Tagen fertig, und erst nach der Fertigstellung der Wände schneidet man in dieselben die Löcher für Thüren und Fenster. Oben drauf kommt ein mächtiges, mit Lehm versetztes Strohdach, das im Sommer gegen die Hitze schützt und im Winter gegen die Kälte.

[672] Jeder Bauernhof bildet mit dem dazu gehörigen Areal einen mächtigen langen Streifen – ich möchte sagen: in Gestalt eines Handtuchs – welcher sich erstreckt von der Dorfstraße, auf welche er mit dem einen schmaleren Ende aufstößt, bis nach dem Wald hinauf oder bis an die Wiesen oder die Viehweide hinunter, auf welche er mit dem andern Ende aufstößt. Von der Straße an gerechnet, kommt also zuerst der Zaun, dann das Haus, dann der Hofraum mit den Wirthschaftsgebäuden, dann der Hausgarten, dann das Baumstück, endlich der Acker und dann der Wald oder die Hutfläche. Wald und Hut sind gemeinsam. Das Uebrige ist persönliches privates, frei vererbliches und frei theilbares Eigenthum. Jeder für sich und Gott für uns Alle. Die „Haus- oder Familienkommunionen“ der Kroaten und Serben sind unbekannt in diesem freien Lande.

Die Gemarkung ist getheilt in drei Gewannen, welche zugleich die Grundlage der hier herrschenden Dreifelderwirthschaft bilden. In jeder dieser drei Gewannen, an dem Winterfeld, an dem Sommerfeld und an dem Brachfeld, hat jeder Bauer seine ihm eigenthümliche Fläche. Als vierter Komplex kommt dazu noch der Weinberg, und ein jeder Bauer trinkt einen Theil seiner „Fechsung“ selbst und mit seinen Freunden. Davon will ich im nächsten Kapitel erzählen.


Verdächtig.

Von E. Werner.

Nun sitzen wir schon drei volle Tage hier und warten auf das Attentat, und die Mordsgeschichte will noch immer nicht losgehen! Herr Sebald, ich glaube wahrhaftig, man hat Sie genarrt und Seine Excellenz den Herrn Hofmarschall dazu!“

„Still, Haller, nicht so laut! Sie vergessen immer, daß wir Vorsicht zu beobachten haben, die äußerste Vorsicht – merken Sie sich das!“

Die beiden Sprechenden befanden sich in dem Gärtchen eines Dorfwirthshauses, das die Aussicht auf einen bergumkränzten See gewährte. Es war eine kleine anmuthige Ortschaft, tief in den Bergen gelegen, wohin der Strom der Reisenden den Weg noch nicht gefunden hatte. Das einzige sehr bescheidene Wirthshaus war größtentheils auf den Verkehr aus der Umgegend angewiesen und beherbergte nur hin und wieder einzelne Touristen, die von der großen Heerstraße ablenkten, aber auch bald wieder gingen, um berühmtere und großartigere Landschaftspunkte aufzusuchen. Der Herr, der seit mehreren Tagen hier wohnte, hatte sich dem Wirthe gegenüber gleichfalls als einen Vergnügungsreisenden bezeichnet, der in Begleitung seines Dieners eine Tour durch das Gebirge machte, das Gespräch aber, das die Beiden mit vorsichtig gedämpfter Stimme führten, schien auf einen ganz anderen Reisezweck zu deuten.

Herr Sebald warf einen argwöhnischen Blick ringsum, obgleich sich auf dem offenen Rasenfleck, den nur einige Obstbäume zierten, kein Lauscher verbergen konnte, und fuhr dann im Flüstertone fort:

„Wir werden möglicher Weise die ganze Woche hier bleiben müssen, bis sich irgend etwas Verdächtiges zeigt, und zeigen wird es sich, das ist zweifellos. Excellenz sagten mir beim Abschiede ausdrücklich: ,Es ist eine sehr wichtige Angelegenheit, die ich in Ihre Hände lege, lieber Sebald, sie erfordert die höchste Geschicklichkeit und vor allen Dingen die höchste Diskretion. Ich bin leider nicht in der Lage, Ihnen nähere Informationen geben zu können, aber es wird genügen, Ihren Eifer anzuspornen, wenn ich Ihnen sage, daß es sich um ein Attentat gegen das durchlauchtige Fürstenhaus handelt, das um jeden Preis verhindert werden muß’ – das war mir genug.“

„Das ist aber verdammt wenig,“ meinte Haller bedenklich. „Wie sollen wir denn den Attentäter fassen, wenn wir nicht einmal sein Signalement haben?“

„Wir sollen ihn überhaupt gar nicht fassen, sondern vorläufig nur beobachten. Der Herr Hofmarschall scheint sich die eigentliche Leitung der Sache persönlich vorbehalten zu wollen. Er weilt nur drei Stunden von hier im Bade, wir haben sofort Bericht zu erstatten, wenn irgend etwas Verdächtiges passirt, und dann die Ordre abzuwarten.“

„Es passirt aber absolut nichts in diesem elenden kleinen Bergnest, wo Jeder den Anderen von Kindesbeinen an kennt. Wenn man nach Jemand fragt, bekommt man die ganze Lebensgeschichte bis zum Urgroßvater hinauf zu hören, und was wir in den drei Tagen an Fremden zu sehen bekamen, war auch nicht der Rede werth. Ein Pferdehändler, zwei Bauern und ein Reisender für Kognak und Spiritussen – schauderhaft solide Leute! Nicht einen Einzigen davon konnte man beim Kragen nehmen.“

Die letzten Worte klangen sehr wehmüthig, aber der Vorgesetzte schüttelte unzufrieden den Kopf.

„Beim Kragen nehmen! Das ist das A und O Ihrer Weisheit, und das kann doch schließlich jeder Gendarm. Observiren sollen wir, vigiliren, kombiniren, um den Verbrecher herauszufinden, das Ergreifen versteht sich dann von selbst. Excellenz haben ausdrücklich gewünscht, daß ich einen sicheren, zuverlässigen Mann mitnehme, für alle Fälle, und ich habe Sie gewählt, Haller, ich hoffe, Sie werden mein Vertrauen rechtfertigen.“

„An mir soll’s nicht fehlen!“ brummte Haller, „wenn wir nur erst irgend etwas Verdächtiges in Sicht bekämen!“

Er blickte mit äußerst gelangweilter Miene auf den See hinaus, die anmuthige Landschaft interessirte ihn nicht im Mindesten, da sie leider nicht verdächtig war.

„Halt – da kommt etwas!“ rief Sebald plötzlich und deutete auf die Straße, die sich von den Bergen in das Thal herabsenkte. „Ein Reisewagen!“

„Ja, aber es sind nur zwei Damen darin.“

„Gleichviel, wir dürfen auch den kleinsten Umstand nicht außer Acht lassen – observiren wir!“

Er zog ein kleines Fernglas hervor und begann eifrig den Wagen und dessen Insassen zu beobachten. Es war ein einfacher offener Landauer, dem die hinten aufgeschnallten Koffer ein noch harmloseres Aussehen gaben, und die beiden Damen, welche den Vordersitz einnahmen, eine ältere und eine jüngere, hatten augenscheinlich keine Ahnung davon, daß sie der Gegenstand einer so angestrengten Aufmerksamkeit waren, sie führten ein lebhaftes Gespräch mit einander.

„Ich begreife Dich wirklich nicht, Valeska,“ sagte die Aeltere. „Wie kannst Du Dich bei einer solchen Kleinigkeit so erregt und verletzt zeigen? Wenn Herr von Below nun auch wirklich unseren Reiseplan kennt –“

„So wird er uns folgen und mir wie gewöhnlich nicht von der Seite weichen! Du weißt, daß mir dies Mal unendlich viel daran lag, unsere Reise überhaupt nicht bekannt werden zu lassen, es sollte Niemand darum wissen, ich habe Dich ausdrücklich darum gebeten – und jetzt erst erfahre ich, daß Du es ihm trotzalledem verrathen hast.“

Die junge Dame, die in ziemlich erregtem Tone diesen Vorwurf aussprach, war eine schlanke, auffallend schöne Erscheinung, in einem einfachen, aber sehr gewählten Reise-Anzuge. Das zarte, etwas bleiche Antlitz besaß jenen Reiz, den die Schönheit allein nicht zu geben vermag, den Reiz des Seelenvollen, und die dunklen Augen hatten einen eigenthümlich ernsten sinnenden Ausdruck, wie man ihn selten bei einem Mädchen von zwanzig Jahren findet.

„Aber wie kann ich denn einen Reiscplan verrathen, den ich selbst nicht kenne?“ vertheidigte sich die Begleiterin. „Bis zu dieser Minute weiß ich noch nicht, wohin wir eigentlich gehen, ich weiß nur, daß der Wagen uns nach Seefeld bringen wird, das doch jedenfalls nur eine Reisestation ist, und das habe ich allerdings Herrn von Below mitgetheilt. Er war so bestürzt über die plötzliche Abreise, so trostlos, daß ich es wirklich nicht über das Herz bringen konnte, ganz zu schweigen, und er hatte sich schon in aller Morgenfrühe aufgemacht, um selbst den Blumenstrauß zu bringen, den Du beim Erwachen auf dem Balkon finden solltest.“

„Leider! Denn bei dieser Gelegenheit sah er den Wagen vor der Thür stehen und erfuhr die Abreise. Nun, hoffentlich folgt er uns nicht auf dem Fuße, und wir haben wenigstens für [673] den Augenblick Ruhe vor ihm. Später – mag er meinetwegen kommen.“

„Wirklich? Also hast Du nichts dagegen, wenn er uns dann folgt?“

„Nein, liebe Tante.“

„Gott sei Dank!“ sagte die Tante aufathmend. „Ich fürchtete schon, Du wolltest mit dieser Flucht in die Berge es ihm unmöglich machen, seine Bewerbung fortzusetzen. Valeska, bedenke, welches Los Du mit der Hand dieses Mannes zurückweisest! Er ist reich und unabhängig, ist Freiherr von altem Adel, Majoratsherr –“

„Und Du möchtest um jeden Preis einen Freiherrn von altem Adel zum Neffen haben,“ warf Valeska lachend ein.

Die alte Dame gerieth etwas in Verlegenheit bei dieser wohlgegründeten Behauptung, faßte sich aber rasch und entgegnete mit großer Würde: „Ich möchte das einzige Kind meines seligen Bruders geliebt und glücklich sehen!“

„Geliebt – vielleicht! Aber glücklich mit einem Manne wie Kuno von Below –?“

„Weßhalb nicht? Er ist ein guter Mensch.“

„Von Muttern“.0 Nach dem Oelgemälde von Robert Warthmüller.
Photographie im Verlage von Fr. Hanfstängl in München.

„Gewiß, aber auch nichts weiter. Harmlos und gutmüthig wie ein Kind und dabei unglaublich hartnäckig in seinen Neigungen, wie alle beschränkten Menschen. Wenn ich ihn zweimal fortschicke, so kommt er zum dritten Male wieder und fängt genau da wieder an, wo er das lezte Mal aufgehört hat. Solche Männer liebt man nicht.“

„Aber man heirathet sie bisweilen.“

„Wenn man um jeden Preis eine sogenannte Partie machen will, allerdings. Ich habe meine eigenen Ansichten in diesem Punkte.“

„Ja, das weiß der Himmel!“ seufzte die alte Dame. „Thörichte überspannte Ansichten, die niemals der Wirklichkeit Rechnung tragen. Weil Du eine gefeierte Künstlerin bist und das Publikum Dich auf Händen trägt, bildest Du Dir ein, es müsse im Leben zugehen, wie in Deinen Rollen. Du träumst von irgend einer idealen, romantischen Liebe, und weil der arme Below diesem Jdeal nicht entspricht, wird er verächtlich bei Seite geschoben, und doch ist er von allen, die Dich umschwärmen und Dir huldigen, der Einzige, der Dir mit einem wirklich ernsten Antrage naht.“

„Ich bedaure trotzdem, die Ehre dieses Antrages ablehnen zu müssen. Gieb Dir keine Mühe, Tante! Ich weiß es, Du bist im Komplott mit Below, er hat an Dir eine unermüdliche Bundesgenossin, aber es ist umsonst, ich bleibe bei meinem Nein.“

Die Erklärung klang entschieden genug, aber die alte Dame ließ trotzdem ihren Lieblingsplan nicht fahren. Sie hatte es sich nun einmal in den Kopf gesezt, die Tante des besagten Majoratsherrn zu werden, und da weder das Majorat noch der alte Adel sonderlichen Eindruck auf die eigensinnige Nichte machten, so wurde der Angriff von einer anderen Seite versucht.

„Mein liebes Kind, ich habe ja doch nur Dein Glück, Deine Zukunft im Auge. Ich weiß es ja, wie wenig Du mit Deinem reizbaren Stolze, mit Deinen idealen Anschauungen für dies Leben geschaffen bist, das Vielen so beneidenswerth erscheint und unter seinen Blumen doch so viele Dornen birgt. Ich fürchte, Du hast das längst selbst eingesehen und stehst doch erst im Anfange Deiner Künstlerlaufbahn. Du besitzest nichts als Dein Talent und daß auch dies nicht im Stande ist, Dich vor Kränkungen [674] und Anfendungen zu bewahren, das, dächte ich, hättest Du im letzten Winter erfahren, als Prinz Leopold Dich in so entschiedener Weise auszeichnete.“

„Tante, ich bitte Dich!“ unterbrach das junge Mädchen sie mit glühenden Wangen.

„Ja, ich weiß, Du willst nichts mehr davon hören, die Sache ist ja längst zu Ende, ich erwähne sie auch nur, um Dich daran zu erinnern, wie schutzlos, wie gefährdet Deine Stellung nach allen Seiten hin ist, trotz des unangetasteten Rufes, den Du Dir bewahrt hast. Die Welt glaubt es selten, daß eine junge Schauspielerin zu stolz ist, um die Liebe eines Fürsten anzunehmen, der ihr seine Hand nicht bieten kann. Auch Seine Durchlaucht der Herzog schien ernstliche Besorgnisse zu hegen, er schickte seinen Bruder Hals über Kopf auf Reisen und Du warst eine Zeit lang in völliger Ungnade bei den höchsten Herrschaften.“

„Was Dir jedenfalls schmerzlicher gewesen ist, als mir,“ warf Valeska mit leisem Spotte ein.

„Ja, Du nahmst die Sache unglaublich leicht und die Ungnade war doch augenfällig. Wärst Du nicht so unersetzlich beim Schauspiel gewesen, ich glaube, es hätte Dir Deine Stellung am Hoftheater gekostet. Erst als man sah, daß Du in Deiner Zurückhaltung beharrtest, und daß der Prinz keinen Versuch zu einer Wiederannäherung machte, wurdest Du theilweise wieder zu Gnaden angenommen, aber mit der einstigen Vorliebe des Hofes für Dich ist es vorbei.“

„Das habe ich erfahren,“ sagte Valeska mit aufwallender Bitterkeit. „Früher wurde ich überall geschätzt und bevorzugt, jetzt läßt man jeder Kränkung, jeder Intrigue gegen mich freien Spielraum, und bisweilen ist es mir vorgekommen, als wünsche man meine freiwillige Entfernung. Nun, vielleicht ist dieser Wunsch seiner Erfüllung näher, als man glaubt.“

„Willst Du etwa Deinen Kontrakt lösen?“ fragte die alte Dame. „Das wäre eine Uebereilung, die Bedingungen sind glänzend, das Publikum vergöttert Dich und wohin Du auch gehen magst, Du findest überall neue Intriguen und neue Kämpfe. Kind, Du verzehrst Dich so in einem solchen Leben, ich weiß, wie sehr Du darunter leidest, und es kostet Dir doch nur ein Wort, Dich von dem allen frei zu machen. Wie glücklich würde Herr von Below sein, wenn er Dich der Bühne entführen dürfte!“

Sie war glücklich wieder bei dem alten Thema angelangt, aber diesmal zuckte Valeska nur ungeduldig die Achseln, und sich abwendend blickte sie in die Landschaft hinaus. Der Wagen rollte jetzt in schnellem Trabe bergabwärts, in der Tiefe schimmerte die klare Fluth des Bergsees, die kleine Ortschaft schmiegte sich malerisch an die grünen Vorberge des Ufers, und in dem hellen Sonnenschein leuchteten die weißen Mauern eines Kirchleins, das auf einer Anhöhe über denn Dorfe lag und soeben seine helle Glockenstimme erhob, um sie weit hinauszuschicken in die stille Bergeseinsamkeit. Wie grüßend stiegen die Klänge empor zu dem jungen Mädchen, dessen Augen auf jenen weißen Mauern hafteten, und das weit vorgebeugt den Tönen lauschte, und dabei strahlten die schönen dunklen Augen plötzlich auf, als sei es wirklich ein Gruß aus theurem Munde, der dort emporklang.

Die alte Verwandte gab, als sie keine Antwort erhielt, mit einem Seufzer das Thema auf, das so gar keinen Anklang fand, und wandte ihre Aufmerksamkeit gleichfalls denn Thale zu.

„Das ist also Seefeld!“ begann sie von Neuem. „Wie kommst Du nur auf diesen weltentlegeneu Ort? Das kleine Gasthaus da unten sieht mehr als bescheiden aus, es wird uns kaum eine passende Unterkunft für die Nacht gewähren können.“

„Das ist auch nicht nöthig, denn wir werden im Pfarrhause absteigen.“

„Bei dem Pfarrer von Seefeld? Mein Gott, woher kennst Du ihn denn?“

„Durch Zufall, und ich denke jetzt von seiner freundlichen Einladung Gebrauch zu machen, wenn auch nur für einige Stunden.“

Die alte Dame richtete sich empor und maß ihre Nichte mit einem argwöhnischen Blick.

„Valeska, Du verbirgst mir etwas! Ich habe Dich stets begleitet und müßte von dieser Bekanntschaft wissen. Was soll überhaupt dieser ganze geheimnißvolle Ausflug bedeuten? Wir sitzen ruhig in der Sommerfrische und richten uns auf wochenlangen Aufenthalt ein, da auf einmal beschließest Du die Abreise, die in aller Stille und Heimlichkeit vor sich geht. Niemand soll davon wissen, Niemannd unfer Reiseziel erfahren, Du bist ganz außer Dir darüber, daß Herr von Below es kennt, und jetzt hast Du hier, in diesem kleinen Bergdörfchen, Beziehungen, von denen ich nie etwas gehört habe. Dahinter steckt irgend etwas und mir verbirgst Du es, mir, die Mutterstelle bei Dir vertritt, die Dich liebt wie ein eigenes Kind! Womit habe ich das verdient?“

Sie schien sich die Sache in der That zu Herzen zu nehmen, denn es glänzten Thränen in ihren Augen, aber Valeska lächelte nur und legte beschwichtigend die Hand auf ihren Arm.

„Meine liebe Tante, ich weiß es, Du bist herzensgut und hast überhaupt nur einen einzigen Fehler – Du kannst nicht schweigen! Das hat sich wieder gezeigt, als Below Dich mit Fragen und Bitten bestürmte. Also mußt Du wenigstens mir gestatten, zu schweigen. Du wirst ja schließlich erfahren, um was es sich handelt. Laß Dich immerhin überraschen.“

Sie hatten jetzt das Thal erreicht, und der Wagen rollte durch die Dorfstraße. Die Damen bemerkten beim raschen Vorbeifahren kaum die beiden Fremden im Garten des Wirthshauses, und diese, die wohlweislich das Fernglas bei Seite gelegt hatten, schienen auch ihrerseits den Wagen nicht zu beachten, kaum aber war er vorüber, so blickten sie sich mit dem Ausdruck der Ueberraschung an, und Haller sagte halblaut. „Das war ja – Fräulein Blum!“

„Valeska Blum,“ bestätigte Sebald, „der gefeierte Stern unseres Hoftheaters! Wie kommt sie hierher in dies abgelegene Bergdörfchen? Das ist doch merkwürdig.“

„Der Wagen hält drüben vor dem Pfarrhause,“ berichtete Haller, der an den Gartenzaun getreten war, „und da erscheint auch Seine Hochwürden in eigener Person, um die Damen zu ennpfangen.“

„Noch merkwürdiger! Was hat die junge Schauspielerin bei dem Pfarrer zu thun? Das ist kein Verwandtschafts- oder Freunndschaftsbesuch, der Empfang des geistlichen Herrn ist ja ungemein respektvoll. Wahrhaftig, sie treten in das Haus, die Koffer werden abgeladen – Haller, das müssen wir observiren!“

„Aber eine herzogliche Hofschauspielerin und ein hochwürdiger Priester können doch nicht verdächtig sein,“ wandte der Untergebene ein, „die helfen sicher nicht bei einenn Attentat gegen das fürstliche Haus. Ich glaube, Seine Durchlaucht und Seine Excellenz nähmen uns selber beim Kragen, wenn wir Fräuleln Blum zu nahe kämen! Sie steht in großer Gunst bei Hofe, zumal bei der Frau Herzogin.“

Sebald zuckte mit überlegener Miene die Achseln.

„Nichts ist unverdächtig, Alles muß observirt werden – merken Sie sich das! Und was die Gunst der höchsten Herrschaften betrifft, so ist es vorbei damit, seit Prinz Leopold der schönen Valeska in so auffallender Weise huldigte, daß man bei Hofe ernstlich besorgt wurde, die ganze Residenz sprach ja davon.“

„Nun ja, der Prinz war verliebt – das ist doch am Ende kein Unglück.“

„Bei einem Fürsten, der sich eben standesgemäß vermählen soll, ist es allerdings ein Unglück, wenn er sich ernstlich verliebt, und Prinz Leopold war auf dem besten Wege dazu. Es ist ja ein offenes Geheimniß, daß er sich entschieden geweigert hat, die längst beschlossene Brautfahrt an den verwandten königlichen Hof zu machen, daher die allerhöchste Ungnade! Der Herzog schickte ihn schleunigst auf Reisen, das heißt in die Verbannung, es drohte ein unheilbares Zerwürfniß in der fürstlichen Familie – und das Alles um dieser Valeska Blum willen.“

„Nun, hübsch genug ist sie, daß auch ein Prinz ihretwegen einen dummen Streich machen kann,“ erlaubte sich Haller zu bemerken, aber diese unpassende Aeußerung zog ihm eine Rüge seines Vorgesetzten zu.

„Haller, ich zweifle nicht an Ihrer Loyalität, aber ich bitte mir aus, daß Sie Ihre Ausdrücke geziemender wählen. Man spricht nicht von ‚dummen Streichen‘, wenn von einem Mitgliede des Fürstenhauses die Rede ist. Uebrigens war diese Passion des Prinzen sehr vorübergehend, er ist selbstverständlich zur Besinnung gekommen und wird sich dem Befehl des Herzogs fügen, seine Vermählung mit der Prinzessin Marie ist beschlossene Sache.“

„Und Fräulein Blum?“

„Nun, sie wird natürlich den fürstlichen Verehrer sehr ungern verloren haben, übrigens soll sie sich in der ganzen Angelegenheit sehr taktvoll benommen haben, so heißt es wenigstens, aber ich traue dieser jungen Dame mit ihrer gefährlichen Schönheit nicht, mir ist sie verdächtig, sehr verdächtig. Zuerst versucht sie, einen [675] Prinzen des regierenden Hauses in ihre Netze zu ziehen, und als ihr dies nicht gelingt, taucht sie urplötzlich hier in Seefeld auf, gerade hier, wo das Attentat gegen das Regentenhaus gesponnen wird. Ich ahne da einen geheimnißvollen Zusammenhang – die Sache kann sich furchtbar enthüllen.“

„Gott steh’ uns bei! Sie glauben doch nicht, daß sie selbst die Attentäterin ist?“ rief Haller entsetzt.

„Ich glaube nichts, ich kombinire nur. Man hat Beispiele in der neueren Geschichte – haarsträubende Beispiele! Blicken Sie nur nach Rußland hinüber! Jedenfalls werde ich mit aller Energie observiren.“

Und damit trat Herr Sebald gleichfalls an den Gartenzaun und begann das Pfarrhaus zu beobachten, als habe er die Gabe, durch geschlossene Thüren und Fenster hindurch zu sehen.

Er konnte sich jedoch nicht lange dieser Beschäftigung hingeben, denn jetzt kam ein zweiter Wagen von der anderen Seite her, wo die Straße am See entlang führte, ein leichtes offenes Gefährt, in dem sich nur ein einzelner Herr befand. Der Wagen hielt vor dem Gasthause und der Reisende stieg aus; es war ein noch ziemlich junger Mann, der trotz seiner Civilkleidung in Haltung und Aussehen den Soldaten nicht verleugnen konnte, aber entschieden den vornehmeren Ständen angehörte. Er streifte mit einem raschen, scharfen Blicke die beiden Fremden, kehrte ihnen dann aber gleichgültig den Rücken und verlangte in kurzer, befehlender Art ein Zimmer von dem herantretenden Wirth, dem er gleich darauf in das obere Stockwerk folgte, wo die Gastzimmer lagen.

Kaum war er verschwunden, so richtete sich Sebald, der beim Herannahen des Wagens seinen Platz unter dem Apfelbaume wieder eingenommen hatte, empor und sagte halblaut, aber mit Nachdruck: „Haller – der Mensch ist verdächtig.“

„Ja, Herr Sebald, aber vornehm. Das ist kein Pferdehändler, und der reist auch nicht für Kognak und Spiritus.“

„Um so schlimmer – um so besser, wollte ich sagen, denn die Sache fängt jetzt endlich an, sich zu entwickeln. Gehen Sie auf Ihren Posten und bringen Sie mir so bald als möglich Nachricht.“

Der Untergebene gehorchte, er hatte regelmäßig bei der Ankunft von Fremden den Wirth auszufragen, was ihm auch bei der Redseligkeit desselben ohne große Mühe gelang. Als angeblicher Diener durfte er eher Neugier zeigen, als sein Chef, bei dem jede Erkundigung aufgefallen wäre. Auch jetzt entledigte er sich seines Auftrages zur Zufriedenheit und kehrte nach kaum zehn Minuten mit dem Rapport zurück.

„Nun?“ fragte Sebald gespannt. „Was ist mit dem Fremden? Woher kommt er? Wohin geht er? Was will er hier? Berichten Sie!“

„Er hat sich vorläufig ein Zimmer geben lassen.“

„Das ist unverdächtig – nun weiter.“

„Dann hat er nach einem andern Herrn gefragt, mit dem er hier zusammentreffen will und den er hier zu finden glaubte.“

„Das ist sehr verdächtig! Jedenfalls ein Helfershelfer! Und dann?“

„Zuletzt hat er sich nach dem Pfarrhause erkundigt und die Absicht ausgesprochen, dem Herrn Pfarrer einen Besuch zu machen.“

Sebald fuhr vom Stuhle auf mit triumphirender Miene.

„Haller – ich glaube, wir haben ihn!“

„Den Attentäter?“

„Wenigstens einen von der Bande, denn hier handelt es sich zweifellos um eine ganze Verbrecherbande. Es kann unmöglich Zufall sein, daß ein einfacher Dorfpfarrer in ein und derselben Stunde zwei so räthselhafte Besuche empfängt. Vielleicht ist er ein blindes Werkzeug der Verschwörer, dem man die Augen öffnen muß, vielleicht auch nicht, jedenfalls findet im Pfarrhause eine verdächtige Zusammenkunft statt. Haller – ich sage Ihnen, wir werden einen großen Fang thun!“

„Ja, und dann nehmen wir sie allesammt beim Kragen!“ ergänzte Haller mit großer Befriedigung, indem er seinem voranschreitenden Chef in das Haus folgte. – Es war inzwischen Mittag geworden, auf der Fluth des Sees flimmerte es wie von tausend leuchtenden Funken, und heiße Sonnengluth lag auf den Bergen ringsum, sogar in den Wäldern, welche die Höhenzüge bedeckten, machte sich die Schwüle der Mittagsstunde geltend.

Unter dem schattigen Laubdache schritten zwei Wanderer dahin, sie verfolgten einen schmalen Waldpfad, der in ziemlich steiler Windung bergabwärts führte und nur bisweilen, wenn die Bäume sich lichteten, einen Blick auf den See gewährte, der noch in ziemlicher Tiefe lag.

Die beiden jungen Männer mochten in dem gleichen Alter stehen, am Ende der Zwanzig. Der Eine, eine kräftige Gestalt, mit einem hübschen, unendlich gutmüthigen, aber ziemlich einfältigen Gesicht, trug einen eleganten Touristenanzug, schien aber sehr erhitzt und ermüdet zu sein. Er trocknete sich wiederholt mit dem Taschentuche die Stirn und sagte ärgerlich: „Dieser verwünschte Wald! Eine volle Stunde bin ich darin umher geirrt, ohne Weg und Steg zu finden, Gott sei Dank, daß ich wenigstens einen Menschen fand, der sich meiner annimmt und mich zurechtweist. Der Kukuk hole diese grüne Wildniß, die noch immer kein Ende nehmen will!“

Der Gefährte lächelte. Es war eine hochgewachsene Erscheinung, mit blondem Haar und Bart und einem Antlitz, das freilich nicht so hübsch wie das seines Begleiters, aber dafür um so anziehender war. Trotz seiner Jugend zeigte es feste, männlich ernste Züge, und Haltung und Sprache machten den gleichen Eindruck.

„Die grüne Wildniß ist trotzdem sehr romantisch,“ erwiderte er, mit einem Blick auf den sonnendurchleuchteten Wald, der in träumender Mittagsstille ruhte.

„Ja, aber man verläuft sich in dieser Romantik, man arbeitet sich durch die Gebüsche, stolpert über Baumwurzeln und kommt dabei immer weiter ab vom Ziele. Nennen Sie das etwa ein Vergnügen? Hätte ich nur die Fahrstraße verfolgt, dann wäre ich jetzt längst in Seefeld, aber ich scheute die Sonnengluth, und der Kutscher behauptete, daß der Waldweg viel näher und angenehmer sei. Er hat natürlich geschlafen, was ich allerdings auch that, und da passirte dann das Unglück. Wir lagen plötzlich im Graben sammt dem Wagen, der ein Rad gebrochen hatte, während wir mit dem bloßen Schrecken davon kamen.“

„Es war jedenfalls eine Nachlässigkeit des Kutschers. Waren Sie allein mit ihm?“

„Ja, ich habe meinen Diener bei diesem Ausfluge nicht mitgenommen. Dabei fällt mir ein, daß ich mich Ihnen noch nicht genannt habe: Freiherr Kuno von Below, Majoratsherr auf Waltersberg.“

Er gab diese Erklärung mit einer gewissen Feierlichkeit und schien befremdet, daß sie so wenig Ehrfurcht erweckte. Der Fremde nahm in der That nicht viel Notiz davon, er neigte nur leicht das Haupt und sagte artig, aber sehr ruhig: „Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr von Below. Jedenfalls war es ein Glück, daß der Unfall droben auf der Höhe stattfand, wo die Straße eben hinläuft, bei der Hinabfahrt hätte er verhängnißvoll werden können.“

„Wenn die Geschichte nur nicht gerade heute passirt wäre!“ seufzte der Majoratsherr. „Ein Sturz in den Graben – ein zerbrochener Wagen – Verirren im Walde – das sind Alles schlimme Vorbedeutungen, und die kann ich gerade jetzt nicht brauchen. Ich bin nämlich auf der Brautfahrt!“

„Ah so! Ich gratulire!“

„Ich danke! Das heißt, eigentlich kann ich den Glückwunsch noch nicht annehmen, denn die Sache ist noch keineswegs in Ordnung.“

„Wieso? Stellen sich der Verbindung Hindernisse entgegen?“

„Ja, das größte Hinderniß ist die Braut selbst – sie will mich nämlich nicht.“

Um die Lippen des Reisegefährten zuckte es bei diesem naiven Geständniß wie mühsam unterdrücktes Lachen, aber er bezwang sich und entgegnete ernsthaft:

„Das ist aber unglaublich!“

„Nicht wahr?“ fragte Herr von Below treuherzig. „Und ich lege ihr doch Alles zu Füßen, was ein Mädchenherz nur wünschen kann. Waltersberg ist eine der schönsten Besitzungen, mit Schloß und Park und Waldungen, ich würde meiner Frau keinen Wunsch versagen, ich würde sogar die Wintermonate mit ihr in der Residenz zubringen, wenn sie sich von ihren gewohnten Umgebungen nicht trennen will.“

„Dann lebt Ihre Auserwählte also in der Residenz? Vermuthlich eine Dame des Hofes?“

[676] Herr von Below gerieth einen Moment lang in Verlegenheit bei dieser mit voller Sicherheit ausgesprochenen Voraussetzung, faßte sich aber schnell und antwortete tapfer: „Nein – eine Künstlerin!“

Jetzt stutzte der junge Fremde und blieb plötzlich stehen.

„Eine Künstlerin? Doch nicht etwa vom Hoftheater?“

„Ganz recht. Sie werden sie jedenfalls kennen, da Sie in unserer Residenz bekannt zu sein scheinen. Fräulein Valeska Blum, der Abgott des Publikums, ein Talent ersten Ranges und dabei eins der liebenswürdigsten Mädchen – kurz ein Engel!“

(Fortsetzung folgt.)

Die Gründung der französischen Kolonie in Berlin.

In den Septembertagen des Jahres 1685 herrschte ungewöhnliche Aufregung in der stillen Gemeinde, welche eine kleine Anzahl in Berlin lebender französischer Protestanten schon seit Jahren gegründet hatte. Die Mitglieder derselben waren zum Theil freiwillig nach Deutschland gekommen, um hier im Dienste des Hofes oder als Gewerbetreibende Unterhalt zu finden, zum Theil hatten sie nothgedrungen vor etwa 15 Jahren ihre Heimath verlassen, um den Verfolgungen zu entgehen, die sie dort um ihres Bekenntnisses willen erleiden mußten. Unter dem gerechten Scepter des protestantischen Fürsten durften sie hier in Ruhe und Frieden ihren Gottesdienst abhalten und ungehindert ihren Beschäftigungen nachgehen. Jetzt aber ergriff bange Sorge ihre Gemüther; vom alten Vaterlande drang schlimme Kunde in ihre neue Heimath. Am 25. September des genannten Jahres saßen die Mitglieder der Gemeinde in ernster Berathung beisammen und trugen folgende inhaltschwere Zeilen in ihre Protokolle ein: „Das Konsistorium war heute ausnahmsweise versammelt, um für die Bedürfnisse der armen französischen Flüchtlinge zu sorgen, die täglich in großen Massen ankommen und wahrscheinlich noch zahlreicher werden durch die heftige Verfolgung, der unsre Brüder ausgesetzt sind.“

Kostüm einer Réfugié-Dame.

Was die im Rath Versammelten befürchteten, sollte sich bald bewahrheiten. Denn was ihre Glaubensbrüder einst in blutigen Kämpfen errungen: die dürftige Anerkennung ihrer Menschenrechte, welche in dem Edikte von Nantes den gesetzgeberischen Ausdruck gefunden hatte, war rettungslos verloren. Wieder einmal schritt die Macht vor dem Rechte in der Weltgeschichte, und ein Gesetz, das Hunderttausende schützen sollte, hatte in den Augen der Stärkeren nur die Bedeutung eines vergilbten Pergamentstreifens. Als die Mitglieder der damaligen Berliner Gemeinde Frankreich verlassen hatten, waren die Bedrückungen, mit denen man den Nachkommen der Hugenotten das Leben schwer machen wollte, noch recht kleinlicher Art. Es waren lauter Chikanen, die damals der Stärkere ins Werk setzte. Man verbot den Reformirten, ihre Psalmen zu singen, sowohl in ihren Werkstätten als auch vor den Thüren ihrer Häuser. Ja, ihr Gesang mußte selbst in der Kirche verstummen, wenn eine Procession vorüberging; ihre Beerdigungen durften nur bei Tagesanbruch oder spät am Abend stattfinden, und nie mehr als zehn Personen sollten das Leichengefolge bilden. Ihre Hochzeiten durften nur in den durch das Römische Kirchenrecht festgesetzten Zeiten abgehalten werden, und der Hochzeitszug sollte nur aus zwölf Personen bestehen.

Durch diese Vorschriften, auf deren Handhabung streng geachtet wurde, konnten jedoch nur die Schwächsten eingeschüchtert werden. Darum stieg bald das Maß der Verfolgung, bis diese endlich zu einer wahren Hetzjagd ausartete. Wo das Wort des Priesters die Ketzer nicht zu bekehren vermochte, wo das Geld zur Verleugnung des Glaubens keine rechte Lockung abgab, dorthin wurde als letztes Mittel die rohe Soldateska der damaligen Zeiten geschickt. Und das half schon mehr, die Dragoner Ludwig’s XIV. brachen bei Tausenden und aber Tausenden den Widerstand; denn sie wußten in kürzester Zeit Haus und Hof zu Grunde zu richten, sie schleppten die bei ihrem Glauben beharrenden Männer ins Gefängniß, eskortirten die Frauen ins Kloster. Diesen schauerlichen Spuren des religiösen Fanatismus folgten gemeine Leidenschaften und niedrige Habgier. Schrieb doch am 21. September 1681 eine der berüchtigten Damen Frankreichs, Frau von Maintenon, an ihren Bruder, der soeben eine Gratifikation von 800 000 Livres erhalten hatte: „Lieber Bruder, ich bitte Dich, wende dieses erhaltene Geld nützlich an. In Poitou kann man jetzt Land für nichts haben; die Verzweiflung der Hugenotten wird bald zwei Drittel der Provinz zum Verkauf bringen. Du kannst Dir daher mit Leichtigkeit ein gar schönes Besitzthum in Poitou erwerben.“[1]

Während die Sieger also die Beute theilten, flohen Scharen der Bedrängten in die benachbarten Länder, und viele lenkten ihre Schritte nach der Hauptstadt des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, von dessen edler Gesinnung ihre in der Mark weilenden Genossen ihnen schon früher berichtet hatten. Aber die Meisten von ihnen hatten nur das nackte Leben gerettet, und die kleine französische Gemeinde in Berlin sah sich bald der nöthigsten Hilfsmittel entblößt. In dieser Bedrängniß beschloß das französische Konsistorium in Berlin am 25. September 1685, dem Kurfürsten ein Gesuch zu unterbreiten, in welchem dasselbe die Noth der Gemeinde darlegte und unterthänigst um Ueberweisung von leer stehenden Wohnungen an die Flüchtlinge bat. Schon in wenigen Tagen, am 1. Oktober 1685, erfolgte eine gnädige Antwort, in der mehr bewilligt wurde, als das Gesuch forderte. Friedrich Wilhelm ertheilte dem französischen Konsistorium die Erlaubniß zu einer Hauskollekte und erließ gleichzeitig an das deutsche Konsistorium den Befehl, die Geistlichen der Mark aufzufordern, von den Kanzeln herab ihren Gemeinden das große Elend der ihres Glaubens wegen Vertriebenen zu schildern und sie zur Mildthätigkeit zu ermahnen. Er selbst gab 2000 Thaler zur Berliner Hauskollekte.

Während in dieser menschenfreundlichen Weise ein deutscher Fürst für das Wohl der französischen Flüchtlinge sorgte, beschloß Ludwig XIV. den Federzug zu führen, der allein genügte, ewige Schande an seinen Namen zu ketten. Das vergilbte Pergament, das den Namen eines seiner königlichen Vorgänger trug, war ihm, dem Hüter des Rechts, im Wege; es vertrug sich nicht mit den rechtlosen Zuständen, die in Frankreich herrschten, und so unterzeichnete er am 18. Oktober 1685 den Widerruf des Ediktes von Nantes.

Der Pöbel verstand es, das königliche Wort in praktische That zu übersetzen, und noch an demselben Tage wurde die

[677]

Auf der Plattform des Straßburger Münsters.
Originalzeichnung von Adolf Schlabitz.

[678] reformirte Kirche zu Charenton niedergerissen. Nun waren die Hugenotten rechtlos, vogelfrei.

Die Ausübung des reformirten Kultus ward in ganz Frankreich untersagt und der Privatgottesdienst bei Todesstrafe und Güterkonfiskation verboten. Alle nicht von katholischen Geistlichen eingesegneten Ehen wurden für nichtig erklärt und die Kinder aus solchen gewaltsam in die Klöster gebracht. Dazu kam die harte Bestimmung, nach welcher die reformirten Prediger binnen 14 Tagen das Land verlassen, oder zwischen Bekehrung und Galeerenstrafe wählen sollten, das Auswandern der Protestanten selbst war aber bei lebenslänglicher Galeerenstrafe und Güterkonfiskation verboten. Den jedes Rechtsschutzes beraubten Unglücklichen blieb nur die Wahl zwischen Unterwerfung, heimlicher gefahrvoller Flucht bei Zurücklassung ihres ganzen Besitzes, oder Verfolgung und Tod. Die Grenzen, Meeresküsten und Häfen wurden auf das Schärfste bewacht, man zwang die Landleute, ihre Arbeit mit Häscherdiensten zu vertauschen; mit Hunden wurden die Flüchtlinge gehetzt. Das grausame Geschäft der Verfolgung wurde um so lieber betrieben, als für jeden Fang bei der Ketzerjagd eine Belohnung ausgesetzt war. Tausende und aber Tausende endeten ihr Leben auf dem Schaffot, in den Galeeren oder dumpfen Gefängnissen, wenn sie nicht als edles Wild an der Grenze niedergeschossen worden waren – ein Schrei der Entrüstung ging durch das ganze protestantische Europa.

Aber das Unrecht sollte nicht leichten Kaufes triumphiren, es sollte beschämt werden vor dem Richterstuhl der Weltgeschichte, durch eine That, die weit hinausleuchtet über Menschenalter und Jahrhunderte. Wenige Tage nach dem Widerruf des Ediktes von Nantes erschien am 29. Oktober 1685 ein anderes, das Edikt von Potsdam, durch welches der große Kurfürst den bedrängten Glaubensgenossen gastfrei seine Staaten öffnete.

Im Hinblick auf die mangelhaften Kommunikationsmittel jener Zeit erscheint es wunderbar, mit welcher Schnelligkeit dieser kurfürstliche Erlaß in ganz Europa bekannt wurde. Trotz aller Verbote und der von gegnerischer Seite ausgehenden Behauptung, das Potsdamer Edikt sei eine Fälschung, wurde es hauptsächlich von der Schweiz aus in vielen tausend gedruckten und geschriebenen Exemplaren durch Frankreich verbreitet, und von den Verfolgten zweifelte Niemand an seiner Echtheit.

Zur Kennzeichnung des Geistes, von welchem das Potsdamer Edikt beseelt ist, möge die Einleitung zu demselben hier Platz finden.

„Wir Friedrich Wilhelm,“ heißt es darin, „thun kund und zu wissen, nachdem die harten Verfolgungen und rigoureusen proceduren, womit man eine zeithero in dem Königreich Frankreich wider Unsere der Evangelisch-reformirten Religion zugethane Glaubens-Genossen verfahren, viel Familien veranlasse, ihren Stab zu versetzen, und aus selbigen Königreich in andere Lande sich zu begeben, daß wir dannenher aus gerechten Mitleiden, welches wir mit solchen Unsern, wegen des heiligen Evangelii und dessen reiner Lehre angefochtenen und bedrengten Glaubensgenossen billig haben müssen, bewogen werden, vermittels von Uns eigenhändig unterschriebenen Edickts denselben eine sichere und freye retraite in alle unsere Lande und Provincien in Gnaden zu offeriren, und ihnen daheneben kund zu thun, was für Gerechtigkeiten, Freyheiten und Praerogativen Wir ihnen zu concediren gnädigst gesonnen seyen, umb dadurch die große Noth und Trübsal womit es dem Allerhöchsten nach seinem allein weisen unerforschlichen Rath gefallen, einen so ansehnlichen Theil seiner Kirche heimzusuchen, auf einige Weise zu subleviren und erträglicher zu machen.“

Die „Gerechtigkeiten, Freyheiten und Prärogativen“, welche den Fremdlingen geboten wurden, waren so ungewöhnliche und reiche, daß die Brandenburger theilweise mit Neid und Mißgunst auf die französischen Einwanderer blickten, indeß hatte der edle Kurfürst in dem Edikt angeordnet, daß den Glaubensgenossen „Frantzösischer Nation nicht das geringste Uebel, Unrecht oder Verdruß zugefügt, sondern vielmehr im Gegentheil alle Hilfe, Freundschaft, Liebes und Gutes erwiesen werden solle.“

In Frankfurt am Main, Amsterdam und Hamburg waren auf Anordnung Friedrich Wilhelm’s allgemeine Sammelplätze eingerichtet, von wo man die Flüchtlinge weiter dirigirte. An der brandenburgischen Grenze wurden sie von besonders dazu ernannten Kommissaren in Empfang genommen und mit Allem versehen, was sie bis an den Ort ihrer künftigen Niederlassung bedurften. Sie erhielten „wüste Plätze“ mit allen dazu gehörigen Gärten, Wiesen, Aeckern und Weiden, „ruinirte Häuser“ und „Holz, Kalk und andere Materialen zur Reparirung“ und eine sechsjährige Befreiung von allen „Auflagen, Einquartierungen und andern oneribus publicis“. Es war ein glücklicher Gedanke des großen Kurfürsten, die 20000 in Brandenburg eingewanderten Franzosen nicht einzeln im Lande ansiedeln zu lassen, sondern sie zu Kolonien zu vereinigen; so entstanden deren in Königsberg in Preußen, Magdeburg, Brandenburg, Halle, Prenzlow, Frankfurt an der Oder, Stendal, Cleve und Wesel.

Berlin bildete den Sammel- und Durchzugspunkt aller dieser Unglücklichen, und oft drohte in Anbetracht der großen Bedürfnisse der Wohlthätigskeitssinn zu erlahmen, stets aber wurde er von Neuem angefacht durch die edle Gesinnung, mit welcher der große Kurfürst Trost und Hilfe zu spenden wußte. Als einmal Herr von Grumbkow dem Herrscher gegenüber die gänzliche Erschöpfung der Mittel und die Unmöglichkeit, neu angekommenen Réfugiés Hilfe zu gewähren, betonte, soll Friedrich Wilhelm die denkwürdigen Worte gesprochen haben: „Nun, dann möge man lieber mein Silberzeug verkaufen, ehe man diese armen Leute ohne Unterstützung läßt.“

Unter dem Schutze eines so hochherzigen Fürsten wuchs die kleine französische Gemeinde zu jener französischen Kolonie in Berlin heran, die alle ihre gleichnamigen Schwestern bald an Bedeutung überragte. Friedrich Wilhelm sollte es selbst nicht vergönnt sein, die goldenen Früchte dieser Saat zu ernten. Die von ihm Geretteten sollten erst seinen Nachfolgern den schuldigen Dank mit Thaten entrichten.

Welchen Einfluß die französischen Kolonien auf Kunst, Wissenschaft, Handel und Industrie in der durch den Dreißigjährigen Krieg verwüsteten Mark ausgeübt haben, ist durch die Geschichte längst festgestellt. Friedrich der Große sagt in seinen „Denkwürdigkeiten“: „Sie (die Hugenotten) halfen unsere verödeten Städte wieder bevölkern und verschafften uns die Manufakturen, welche uns mangelten“, und in einem Briefe des großen Königs an d’Alembert vom Jahre 1770 heißt es: „Erlauben Sie mir über den Widerruf des Ediktes von Nantes anders zu denken als Sie; ich danke Ludwig XIV. sehr dafür und würde seinem Enkel sehr danken, wenn er es ebenso machte.“

Diese Worte des weit hinausschauenden Staatsmannes können wir heute noch durch viele kleine kulturhistorische Züge bekräftigen, in denen sich der gute Einfluß der Eingewanderten widerspiegelt. Die damaligen Réfugiés sind keineswegs mit den französischen Emigranten auf gleiche Stufe zu stellen, die nach dem Sturze des bourbonischen Thrones hundert Jahre später Deutschland überschwemmten. Diese waren von der Verderbniß des Pariser Hofes und der Sittenfäulniß der höheren Klassen angekränkelt, jene aber waren ernste Männer, die um ihrer Ueberzeugung willen Noth und Leid im Leben, dabei aber Zucht und Sitte im Herzen trugen.

Die Herren und Damen aus besseren Familien, die lange noch ihre eigenartige Tracht beibehielten, waren gern am Hofe und in der vornehmen Gesellschaft gesehen und nahmen bald hohe Stellungen ein, während die Handwerker und Landbauer an vielen Orten neue Industrien, Gemüsezucht etc. ins Leben riefen.

Die französische Lieblingsspeise, die Suppe, war damals in der Mark, wo man stets Bier trank, so gut wie unbekannt; die Réfugiés haben ihr unter den Berlinern das Bürgerrecht verschafft. Sie führten auch das Weißbrot, das oft noch Franzbrot genannt wird, ein, und lange Zeit waren die kleinen Würste (saucisses, Saucißchen) beliebt, die ein Réfugié Braconnier fabricirte, während die Blutwürste zuerst „Französische Würste“ hießen. Die alte Dame Foucaut konnte sich später rühmen, die Hoftafel unter drei Regierungen mit frischen französischen Leberwürsten versorgt zu haben. Die französischen Kolonisten gründeten auch ein früher in Berlin unbekanntes Gewerbe, Speisewirthschaften, in denen stets verschiedene Braten, Geflügel und Wildpret fertig gehalten wurden, und wirkten reformirend auf die noch im Argen darniederliegenden Gasthöfe ein, indem sie z. B. zur Gründung des seiner Zeit berühmten Hôtels „Die Stadt Paris“ in der Brüderstraße Veranlassung gaben.

Getragen von dem Wohlwollen aller brandenburgischen Fürsten, gefestigt durch unzerreißbare Bande innerer Zusammengehörigkeit ist die französische Kolonie im Laufe zweier Jahrhunderte zu einem kräftigen mächtigen Baume herangewachsen, dessen Aeste und Zweige wegen der stattgefundenen Vermischung der Nationalitäten zwar nicht mehr den ausgeprägten ursprünglichen Typus zeigen, der aber noch lebenskräftig genug ist, viele Generationen in seinen Schatten zu nehmen.

[679] Ueber die aus dem Schoße der Kolonie hervorgegangenen Wohlthätigkeitsanstalten ließe sich eine besondere Geschichte schreiben, wir begnügen uns nur mit dem Hinweis auf die wichtigsten der jetzt bestehenden elf Anstalten, die einerseits der Erhaltung der Kirche, zum größten Theil aber der Fürsorge für die Armen aller Lebensstufen, vom Säugling bis zum Greise, dienen. Auf dem umfangreichen Terrain, Große Friedrichsstraße Nr. 129, erhebt sich inmitten herrlicher, von uralten Bäumen bestandener Gärten das im Jahre 1878 vollständig neugebaute Hospital, an dessen Eingangspforte die Statuen des Großen Kurfürsten und Friedrich’s des Großen prangen.

Das Hospital ist schon vor 1687 gegründet und verdankt seine wesentliche Förderung der Kurfürstin Dorothea, Gemahlin des Großen Kurfürsten, es bietet alten, schwachen und kranken Personen lebenslänglich ein freundliches Heim. Zu nennen ist ferner: das Pensionat, eine seit 1857 bestehende Anstalt, in welcher ältere Damen aus besseren Ständen (augenblicklich beträgt die Zahl 40) gegen Entrichtung eines Eintrittsgeldes Aufnahme bis an ihr Lebensende finden.

Unweit des Hospitals, ebenfalls in idyllischer, fast ländlicher Umgebung, erhebt sich fern vom Geräusch der Großstadt, das Hospiz. Diese Erziehungsanstalt vereinigt seit 1844 in sich das Waisenhaus (eröffnet 1725), Ecole de charité (eröffnet 1745) und das Kinderhospital; in diesen drei Instituten haben bis zur Gegenwart etwa 2500 Kinder, vom Säuglingsalter bis zum 16. Lebensjahre Unterricht und Erziehung erhalten.

Getreu den alten Traditionen, wird in diesen Anstalten die französische Sprache besonders gepflegt, indeß weht durch die ganze Kolonie ein von reinem Patriotismus getragener echt deutscher Geist, der in Dankbarkeit für das preußische Königshaus das Vaterland der alten Réfugiés längst vergessen hat.

Jetzt werden nach zwei Jahrhunderten an demselben Tage, an welchem das Edikt von Potsdam erlassen wurde, die Nachkommen der Flüchtlinge zu einer Festfeier zusammentreten, der auch das gesammte deutsche Volk mit ernster Theilnahme folgen wird. Denn unvergeßlich bleiben stets die Tage, an welchen der Geist der Nächstenliebe und der Duldung die Wunden heilte, welche der Haß geschlagen. Leuchtende Marksteine des Fortschrittes sind sie für Jeden, der mit forschenden Augen zurückschaut in die Nacht der vergangenen Jahrhunderte, und in den Jahrbüchern der Weltgeschichte gelten sie als hohe Festtage der Menschheit und Triumphtage des Lichts. G. Schubert.     


Blätter und Blüthen.

Die besten Leistungen im Schwimmen. Vor einigen Wochen durchschwamm Herr Jos. Frey aus Landsberg am Lech bei heftigem Nordostwinde und starkem Wellengange den Ammersee in zwei Stunden und einer Minute. Mehrere Journale des In- und Auslandes haben Berichte über diese Schwimmtour veröffentlicht, und einzelne derselben haben sie als eine geradezu phänomenale bezeichnet. Nun lehrt eine reiche Erfahrung, daß derartige, nicht von fachmännischer Seite ausgehende Journalberichte mit großer Vorsicht aufzunehmen sind, da dem Laienauge leicht auch solche Leistungen als außerordentliche erscheinen, die nicht entfernt an bereits früher gebotene hinanreichen. Wir wären wohl nicht in die Lage gekommen, uns mit der genannten Schwimmtour zu beschäftigen, wenn wir nicht zahlreiche Zuschriften aus unserem Leserkreise erhalten hätten, die, Herrn Frey’s Leistung besprechend, uns gleichzeitig auffordern, auch über die besten bekannten Schwimmleistungen in derselben Weise authentische Aufschlüsse zu geben, wie wir das in Nr. 36 der „Gartenlaube“ mit Rücksicht auf verschiedene athletische Uebungen gethan haben. Diesem Wunsche wollen wir nun gern, soweit wir es vermögen, entsprechen.

Man kann vom Schwimmsport nicht sprechen, ohne des Kapitäns Webb, eines der phänomenalsten Schwimmer aller Zeiten, zu gedenken. Er wurde in England im Jahre 1848 geboren und bot im Juli 1875 seine erste sensationelle Leistung. Er schwamm in der Themse 20 englische Meilen in 4 Stunden, 52 Minuten und 44 Sekunden. Ein noch weitaus hervorragenderes Stück brachte er wenige Wochen darauf zu Wege. Am 25. August 1875 um ein Uhr Nachmittags sprang er von dem Admirality-Molo zu Dover in die See, um von England nach Frankreich zu schwimmen. Die ungeheure Aufgabe wurde von ihm gelöst, allerdings mit Anstrengung und unter Aufbietung all seiner seelischen und körperlichen Kräfte. Am 26. August um 10 Uhr 41 Minuten Vormittags betrat er französischen Boden. Er hatte den Kanal in einem Zuge durchschwommen; 40 engl. Meilen in 21 Stunden und 41 Minuten! Im Jahre 1879 siegte Kapitän Webb in einem Sechs-Tage-Schwimmen gegen seine beiden Gegner Willie Beckwith und George Fearn. Bei täglich vierzehnstündiger Arbeit brachte er damals in sechs Tagen 74 Meilen hinter sich. Doch nun beginnt sein Stern auch schon zu sinken. Bei einem zweiten Sechs-Tage-Schwimmen ein Jahr später besiegte ihn Willie Beckwith, der bei einer Arbeitszeit von zehn Stunden täglich in diesem Match 94 Meilen zurücklegte. Zwar gelang es Webb noch einmal, am 11. Juni 1881, über diesen gewaltigen Gegner in einem Wettschwimmen über 16 Meilen zu triumphiren, aber es war sein letzter Sieg. Ein drittes Sechs-Tage-Schwimmen in demselben Monate gegen denselben Gegner endete unglücklich für Webb. Noch einmal setzte er alle Kraft ein, um diesem Konkurrenten gegenüber aufzukommen. Am 30. April 1883 sollte ein Kampf auf 20 Meilen zwischen Beiden ausgetragen werden. Beckwith siegte leicht, Kapitän Webb stieg völlig erschöpft aus dem Wasser und warf Blut aus. Es schien, als sei nun seine Kraft für immer gebrochen durch die ungeheuren Anstrengungen der Kämpfe und namentlich der Trainirung. Was die letztere zu bedeuten hat, mag man daraus ersehen, daß Webb für gewöhnlich 89 Kilo wog, daß er aber im Training für die Konkurrenzen sein Körpergewicht auf 78 Kilo zu reduciren pflegte. Webb erholte sich bald wieder so weit, um nun an ein geradezu wahnwitziges Unternehmen denken zu können. Er proponirte, „die Stromschnellen unterhalb des großen Niagarafalles hinabzuschwimmen, an den weiter unten befindlichen Wirbeln vorbeizukommen und dann an einer beliebigen Seite des mächtigen Stromes wieder ans Land zu steigen.“

Mehrere amerikanische Eisenbahngesellschaften, die durch die Inscenirung dieses Schauspieles viel Geld zu verdienen hofften, hatten ihm einen Preis von 10000 Dollars für die Lösung dieser Aufgabe ausgesetzt. Im letzten Augenblicke regte sich zwar auch bei diesen Direktoren das Gewissen, und sie wollten Webb bewegen, daß er von dem Versuche abstehe, allein dieser glaubte sich in seiner Ehre engagirt und bestand darauf, daß er das Wagestück versuchen wolle. Am 24. Juli 1883 Nachmittags 4 Uhr, im Beisein einer vieltausendköpfigen Zuschauermenge, ward das frevelhaft verwegene Spiel begonnen. Mit übermenschlicher Anstrengung kämpfte Webb gegen das wüthende Element, das ihn in fünf Minuten genau 1¼ Meile weit warf. Da gerieth er in einen Wirbel, der ihn wie mit eisernen Klammern festhielt. Mit der Kraft der Verzweiflung suchte er sich der tödlichen Umarmung zu entwinden – vergeblich! Der Wirbel gab ihn nicht frei, der Mann war verloren.

Nachdem wir so der Leistungen Kapitän Webb’s gedacht, können wir daran gehen, die hervorragendsten bisher bekannten Records (beste Leistungen) im Schwimmen zu verzeichnen, und es sei vorher nur noch bemerkt, daß wir lediglich die in stehendem Wasser erzielten Records anführen. Es sind zwar auch solche festgestellt, die mit der Strömung oder mit der Fluth erzielt worden sind, allein da diese bei der großen Verschiedenheit in der Stärke der Strömungen und selbst der Fluthbewegung doch immer nur von relativer Bedeutung sein können und eine absolute Beurtheilung nicht zulassen, wollen wir auf sie lieber gar nicht eingehen. 100 Ellen = 91,4 Meter legte W. Cole in Serpentine, Hyde Park, London am 29. Juli 1872 in 1 Min. 15 Sek. zurück; ½ Meile = 804½ Meter D. Ainsworth im Welsh Harp Lake zu Hendon, am 14. Juli 1883 in 14 Min. 23½ Sek.; 1 Meile = 1609 Meter J. J. Collier im Hollingworth See, am 23. August 1884 in 28 Min. 193/4 Sek. (der Rivale Webb’s, W. Beckwith, brauchte für dieselbe Strecke 29 Min. 59½ Sek.); 2 Meilen = 3218 Meter im Royal Aquarium zu Westminster 1883 W. Beckwith in 54 Min. 39 Sek.; 3 Meilen = 4827 Meter A. P. Douglas am 24. Juni 1876 im Flat Rock Dam zu Philadelphia in 1 St. 53 Min. 30 Sek.

An der letztgenannten Leistung läßt sich der von dem eingangs erwähnten Herrn Frey erzielte Record am besten messen. Wie uns brieflich mitgetheilt wird, beträgt die von ihm zurückgelegte Strecke 4000 Meter. Sicher ist auch seine Leistung eine ganz anerkennenswerthe, und es mag vielleicht unter hundert vorzüglichen Schwimmern kaum einen oder zwei geben, die sie ihm nachmachen werden, aber sie steht doch noch sehr beträchtlich hinter den bekannten besten Records.

Manchmal gefällt es der öffentlichen Meinung, mit irgend einer Leistung viel Aufhebens zu machen, während sie viel hervorragendere unbeachtet läßt. Wie ist nicht Fritz Käpernick als Schnellläufer gerühmt worden, sogar sein Bildniß ist von illustrirten Journalen gebracht worden, und doch kann weder seine Schnelligkeit, noch seine Ausdauer neben der von geschulten und trainirten Läufern überhaupt nur in Betracht kommen. – Zum Schluß nur noch eine Bemerkung: die berühmte Schwimmpartie Lord Byron’s über den Hellespont, von der einige Briefschreiber aus unserem Leserkreise mit so tiefem Respekt sprechen, ist längst überholt und von gar keiner sportlichen Bedeutung. B. Gr.     


Auf der Plattform des Straßburger Münsters. (Mit Illustration S. 677.) Langsam, aber stetig vollzieht sich gegenwärtig die nationale Wiedereroberung des wiedergewonnenen Elsaß-Lothringen, und Straßburg wird wie einst zu einer Burg des deutschen Geistes. Darum begrüßt man so freudig jede Nachricht von den Kundgebungen deutscher Wissenschaft in der Hauptstadt des Reichslandes, welche mit vollem Rechte im Volksliede „die wunderschöne“ genannt wird. Erst vor Kurzem tagten in ihren Mauern die aus allen deutschen Gauen zusammen geströmten Naturforscher und Aerzte. Mancher von ihnen wird wohl in Bewunderung gestanden haben vor dem Schönsten, was die Schöne aufzuweisen hat, vor dem herrlichen „steinernen Epos“, des Meisters Erwin von Steinbach, vor dem Straßburger Münster. Und Viele haben sich die Mühe nicht verdrießen lassen, über 330 Stufen zur 66 Meter hohen Plattform des Münsters emporzusteigen, und sahen sich durch das, was es so hoch da oben zu schauen giebt, reichlich für ihre Anstrengung belohnt.

[680] Vor Allem wird hier der Blick gefesselt durch die architektonischen Schönheiten des schlank aufsteigenden, die Plattform um 76 Meter überragenden Thurmes. Welch ein Geist spricht aus diesen wunderbaren Konstruktionen und Gliederungen der Riesenfensterbogen wie der überaus reichen Ornamente, welche, bis ins kleinste Detail fein ausgearbeitet, stets wechseln, so daß keines dem andern vollständig gleicht! Welche schöpferische Erfindungskraft gehörte dazu, alle diese Verbindungen von Säulen, Pfeilern, Stab- und Maßwerken zu ersinnen, alle diese wundersamen Verschlingungen und Lösungen der Ornamente, insbesondere an der prachtvollen Pyramide auszudenken!

Hat man sich aber sattgesehen an dem Wunderwerke, so lasse man die Blicke schweifen über die tief unten liegende alterthümliche Stadt mit ihren gekrümmten, engen Straßen und über die Mauern und Wälle der weit hinausgeschobenen Festungswerke auf das herrliche, von dem schimmernden Rheinstrom durchzogene Thal mit seinen grünen Wiesen und fruchtbaren Feldern, seinen gewerbreichen Städten und blühenden Dörfern. Man schaue hin nach dem im Süden mitten in diesem Thale isolirt aufsteigenden Kaiserstuhlgebirge und der das linke Ufer des Stromes begleitenden schön-geformten Vogesenkette mit ihren hin und wieder durch eine Ruine, ein Schloß, ein Kirchlein geschmückten malerischen Kuppen. Man sehe endlich nach dem jenseits des Rheines das Thal begrenzenden Schwarzwalde, der fast in seiner ganzen Länge von Basel bis zu den Thälern der Oos und Murg sichtbar die gewaltigen Gipfel des Feldberg, des Belchen und des Kandel zeigt, ferner den schönbewaldeten Staufenberg mit seinem gleichnamigen Schloß, die kahle Hornisgrinde und den Knibis, und endlich im nördlichen Theile des Gebirgszugs den unfern der Heimath des Meisters Erwin, bei Steinbach gelegenen Yberg mit den Trümmern der Yburg, den Fremersberg und den hinter Baden-Baden emporsteigenden Gipfel des Mercuriusberges.

Ueber hundert Jahre sind verstrichen, seit der junge Wolfgang Goethe zum ersten Male (4. April 1770) diese Plattform betrat und mit Entzücken „die ansehnliche Stadt, die weit umherliegenden, mit herrlichen dichten Bäumen besetzten und durchflochtenen Auen vor sich sah“. Damals war das Elsaß ein Theil des französischen Reichs, ein „Halbfrankreich“, wie sich Goethe ausdrückt. Heute ist alles Land, was man von der Plattform des Straßburger Münsters überblickt, deutsch. Und daß es deutsch bleiben wird, dafür bietet eine sichere Bürgschaft die „neue Wacht am Rhein“, die starke Festung Straßburg selbst, das dahinter stehende geeinigte Deutschland und sein Volk in Waffen. M. B.     


Ein Tänzchen. (Mit Illustration auf S. 669.) Nicht bloß im sonnigen Thüringen, auch in anderen Gegenden unseres deutschen Vaterlandes können wir es sehen, wie wenig Vorbereitungen zu solch einem Tanze nöthig sind. Ein Geiger, ein Flötenspieler, Einer, der die Trompete zu blasen oder mit der Handharmonika umzugehen weiß, ist leicht und an jedem Orte zur Hand; und etliche Burschen und Dirnen finden sich gleichfalls überall zusammen. Weiter ist aber nichts vonnöthen. Der erste Ton der Geige oder welches Instrumentes immer – und wie ein Ruck geht es durch die Reihen, wie auf Kommando erstrahlen die Gesichter noch einmal so hell, setzen sich allsogleich die Füße in Bewegung. Fehlt’s an Burschen, so tanzen die Mädchen unter sich; sind die ersteren zu linkisch, zu schüchtern, gehen ihnen die letzteren mit ermunterndem Beispiel voran.

So auch auf unserem Bilde. Der Frohsinn lacht den beiden Tänzerinnen, welche den Reigen eröffnen, aus den Augen; daneben der Schalk. Ob’s aber hilft, ob sie sich jetzt ein Herz fassen, diese zaghaften Burschen? Freilich, ein Paar kommt bereits, andere werden folgen.

Die anmuthigen Gestalten unseres Bildes – ihre engere Heimath ist die Gegend zwischen Inselsberg und Eisenach – gehören ihrer kleidsamen Tracht nach in den Anfang dieses Jahrhunderts: was thut’s? Die Zeiten gingen, die Namen wechselten, auch die Trachten wurden andere; Waldesgrün und Sonnenschein, Jugend und Frohsinn aber blieben dieselben. – th.     


„Von Muttern.“ (Mit Illustration S. 673.) Eine Scene aus dem Kriegsleben des vorigen Jahrhunderts ist es, die uns der Maler hier im Bilde vorführt. Zwei Reitersleute aus des großen Friedrich’s Heer, eben ins Quartier gerückt, haben Federhut, Mantel und Pallasch abgelegt, zum Zeichen der Besitzergreifung auch schon das Bildniß ihres königlichen Feldherrn an die Wand genagelt und machen sich’s nun bequem.

Der Eine hat sich ein Pfeifchen angezündet und auf einen Stuhl niedergelassen; die Beine weit abgestreckt, die Ellbogen aufgestützt, beobachtet er neugierig das Thun des Kameraden, der auf dem Tische am Fenster seine Habseligkeiten auspackt. Er bringt ein ansehnliches Päckchen, sorgfältig in zahllose Papierumschläge gewickelt, zum Vorschein, und wie er die schützenden Hüllen eine nach der andern abschält, entpuppt sich ein fetter geräucherter Schinken, den er mit dem freudigen Ausrufe: „Von Muttern!“ dem Genossen hinhält. Man sieht es seinem lachenden Gesichte wohl an, daß ihn die mütterliche Vorsehung ebenso rührt, wie überrascht.

Der Andere aber hat bei dem Anblicke die Pfeife aus dem Munde genommen, sein Zopf richtet sich sichtlich in die Höhe, zärtlich schlau hängt sein Blick an dem saftigen Gegenstande und aus den unter dem schwarzen Schnurrbarte hervorblitzenden Zähnen redet ein gesunder Appetit. Der hat vielleicht keine Mutter mehr, oder mindestens keine, die in der Lage ist, ihn mit solchen Leckerbissen zu regaliren. Aber das thut nichts, unter Quartierkameraden wird redlich getheilt, und wenn wir den Gedanken des Malers weiter ausspinnen, so sehen wir bald den kleinen Tisch vom Fenster abgerückt und von dem Schinken nur noch das Skelett. Mit den Düften aber, die ihm entströmen, ziehen Erinnerungen aus der fernen Heimath durchs Gemach, und die beiden Krieger, die am Tische sitzen, erzählen sich alte Geschichten von Freund und Liebchen und, wie bei der Veranlassung nicht mehr als billig, hauptsächlich „von Muttern“.

„Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu,“ und auch in unserem Jahrhundert hat sich dieselbe Scene schon oft abgespielt; wer den letzten großen Krieg mitgemacht: erinnert er sich nicht mit Rührung manches ähnlichen Päckchens, das ihm die Feldpost „von Muttern“ gebracht? Gerade jetzt aber, wo unsere Truppen im Manöver draußen Krieg im Frieden spielen, zeigt wohl manche niedrige Bauernstube, vom Kostüm abgesehen, dasselbe Bild. Wir wünschen von Herzen guten Appetit, an dem’s sicher nicht fehlt heute, wie damals. C. H.     


Die Schulsanatorien. Schon seit Jahren haben Laien, Lehrer und Aerzte für Gründung von Schulsanatorien zu wirken gesucht, also für Lehr- und Erziehungsanstalten, die in klimatisch besonders bevorzugten Orten der Jugend nicht blos Unterricht, sondern vor allen eine individuelle hygieinische Erziehung geben. Wenn einige dieser Anstalten eingegangen sind, z. B. die des verstorbenen Dr. Fresenius in St. Blasien, so haben sich andere ausgezeichnet entwickelt, wie z. B. das Fridericianum in Davos (Schweiz) und das Schulsanatorium in Meran (Tyrol). Davos besitzt bereits zahlreiche interne und externe Schüler, die unter Leitung des Dr. Scharschmidt trefflich erzogen werden. Das Schulsanatorium in Meran hingegen, welches in den Händen des Dr. P. Liman liegt, ist noch eine junge Anstalt, die aber ebenfalls aufs Beste empfohlen werden kann. Wie wir hören, beabsichtigt man auch in Görbersdorf (Schlesien) ein derartiges Knabenpensionat zu gründen. Jedenfalls verdienen solche Erziehungsanstalten die weiteste Verbreitung, sowohl durch Gründung neuer, als durch Empfehlung der schon bestehenden. Dr. –é.     


Das Zwingli-Denkmal in Zürich. Die Stadt Zürich und mit ihr das ganze reformirte Schweizerland zahlte am 25. August dieses Jahres in ebenso sinniger als großartiger Weise eine mehr als dreihundertjährige Schuld durch die Enthüllung eines bereits vor fünfzehn Jahren projektirten Ulrich Zwingli-Denkmales. Das Denkmal selbst, die einzige und erste Erzstatue Zürichs, erhebt sich dicht am rechten Ufer der Limmat, nicht weit von ihrem Ausflusse aus dem Zürichsee, vor dem Chore der sogenannten Wasserkirche (jetzige Stadtbibliothek) und ist die Schöpfung des Bildhauers Heinrich Natter aus Wien, welcher im Juni 1882 mit seinem Entwürfe unter 41 Preisbewerbern den Sieg davon getragen hatte.

Die in Ueberlebensgröße ausgeführte Statue – gegossen in der Erzgießerei des Herrn Turbain in Wien – stellt den großen Schweizer dar als Reformator sowohl der Kirche als auch des politischen Lebens seiner Wirkungsstätte, in der Rechten die Bibel und in der Linken das Schwert, um so das gewaltige Wirken Zwingli’s zu kennzeichnen, welches wir in der „Gartenlaube“ (1883, Nr. 52) bereits ausführlich geschildert haben.

Das Postament des Denkmales ist nach den Angaben des Bildhauers durch die Anstalt von Hergenhahn in Bensheim (Hessen) aus Syenit hergestellt worden; es trägt auf seiner Vorderseite den Namen des Reformators und die Angaben seines Geburts- und seines Todestages. Das ganze Denkmal erhebt sich auf einer einfach, aber freundlich angelegten Terrasse, und obwohl der äußere Chor der Wasserkirche als architektonischer Hintergrund etwas einfach und altersgrau aussieht, so kommt er doch der historischen Auffassung des Denkmals zugute, und das ganze Bild, belebt durch freundliches Grün und zur Linken des Beschauers begrenzt durch die silbernen Wellen der Limmat, gewährt einen recht stattlichen Anblick. E. L.     


Vermißten-Liste. (Fortsetzung aus Nr. 31.)

11) Wo befindet sich der Weißgerber Karl Naß aus Halberstadt? Im Jahr 1849 geboren, machte er den Krieg in Frankreich unter Prinz Friedrich Karl mit, wurde im Herbst 1871 entlassen, arbeitete 1877 in einer Weißgerberei zu Osterwiek. Die Fabrik ging ein, Naß wurde brotlos. Da äußerte er, er wolle zum russisch-türkischen Kriegsschauplatz, um bei der russischen Armee Soldat zu werden. Seit jener Zeit, also 1877, fehlt jede Nachricht über ihn.

12) Von seiner hochbetagten Mutter wird gesucht der Seifensieder Georg Gustav Freytag aus Nürnberg, 47 Jahre alt. Sein letztes Schreiben kam 1875 aus Tomsk in Sibirien. Er meldete, nach Archangel reisen zu wollen, um sich dort auf ein Schiff zu begeben.

13) Ernst Töpfer aus Schwarzwald bei Ohrdruf, 23 Jahre alt, wird von seiner alten, fast erblindeten, völlig mittel- und verdienstlosen Mutter, die er im September 1880 verlassen hat, gesucht. Sein letzter bekannter Aufenthaltsort ist Schönfeld bei Perleberg, woselbst er im Frühjahr 1881 in einer Ziegelei gearbeitet hat.

14) Robert Louis Schmidt, geboren zu Lauban 26. April 1831, ging im August 1861 von Schmiedeberg aus nach Brasilien, wo er in Donna Franziska eine Stelle als Lehrer fand. Im Jahre 1865 schrieb er, er müsse mit in den Paraguay’schen Krieg. Seit jener Zeit fehlt jede direkte Nachricht von ihm. Ein Herr Leuschner, der mit ihm von Schmiedeberg abgereist, schrieb, Schmidt sei nach dem Kriege nach Rio gekommen, habe dort ein deutsches Mädchen geheirathet und sich in der Kolonie Blumenau niedergelassen, wo er von Cigarrenhandel lebe. Sein Vater starb 1882; seine alte bekümmerte Mutter möchte dem einzigen Sohn, der ein schweres Dasein gehabt, gern noch gute Tage bereiten.


[ Inhaltsverzeichnis dieser Nr., hier z. Zt. nicht dargestellt.]


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Vergl. die hochinteressante Festschrift: „Geschichte der französischen Kolonie in Brandenburg-Preußen“. Von Dr. Ed. Muret. In derselben ist auch eine ganzseitige Reproduktion des Kostüms einer Réfugié-Dame (Stadtanzug) enthalten, das wir in verkleinertem Format unsern Lesern vorführen. Das Originalkostüm befindet sich im königlichen Nationalmuseum zu München und ist Eigenthum des Prof. Dr. Paul von Roth in München.