Die Gartenlaube (1886)/Heft 35

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[609]

No. 35.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Hortense, durch den drohenden Klang der letzten Worte des Grafen gereizt, schien eine heftige Antwort auf den Lippen zu haben, als ihre Kousine, die den Zündstoff in der Familie hinreichend kannte, rasch ablenkte.

„Unsere jungen Damen scheinen noch nicht fertig zu sein,“ bemerkte sie. „Ich habe Hertha gebeten, Gerlinde in den Toilettenangelegenheiten ein wenig beizustehen; das arme Kind versteht ja nicht das Mindeste davon.“

„Das kleine Burgfräulein scheint überhaupt sehr beschränkter Natur zu sein,“ spottete Raoul. „Für gewöhnlich ist sie stumm wie ihre Ahnengruft, und sobald man auf die historische Feder drückt, fängt sie an, wie ein Papagei zu plappern. Dann schnurrt sofort ein ganzes Jahrhundert herunter, mit haarsträubenden Ritternamen und unendlichen Jahreszahlen, es ist wirklich grauenhaft!“

„Und doch bist Du es grade, der Gerlinde veranlaßt, sich immer wieder in dieser Weise lächerlich zu machen,“ sagte die Gräfin vorwurfsvoll. „Sie ist viel zu unerfahren, um hinter Deiner Artigkeit und Deiner scheinbaren Bewunderung ihrer Kenntnisse den schonungslosen Spott zu bemerken. Kannst Du sie denn nicht in Frieden lassen?“

„Sie fordert aber den Spott gradezu heraus,“ warf Hortense ein. „Mein Himmel, welche Toilette und welche Verbeugungen! Und wenn sie den Mund öffnet, ist es vollends aus. Nimm es mir nicht übel, liebe Marianne, aber es ist fast unmöglich, Deinen Schützling in die Gesellschaft einzuführen.“

„Das ist nicht die Schuld der armen Kleinen,“ sagte Marianne. „Sie hat das Unglück gehabt, schon in den ersten Kinderjahren ihre Mutter zu verlieren, hat nie etwas von der Welt gesehen, ist nie mit Menschen in Berührung gekommen, den Vater ausgenommen, und der alte Sonderling hat das Kind förmlich abgerichtet und untauglich gemacht für jeden anderen Umgang.“

„Ich bewundere Ihre Geduld, Marianne, daß Sie überhaupt noch mit Eberstein verkehren,“ sagte Steinrück. „Ich habe ihn früher einmal aufgesucht, weil er mir in seiner Vereinsamung leid that, mußte aber sofort hören, daß sein Geschlecht zweihundert Jahre älter sei als das

Spielkameraden. Nach dem Oelgemälde von F. Thöne.

[610] meinige. Ich glaube, er hat mir das sechsmal erzählt; es war überhaupt kein vernünftiges Wort mit ihm zu reden, so hatte er sich schon damals in seine Marotten verrannt, und jetzt scheint er beinahe kindisch geworden zu sein.“

„Er ist alt und krank, und es ist ein trauriges Schicksal, in Armuth und Einsamkeit zu verkümmern,“ entgegnete die Gräfin sanft. „Seit ihn sein Gichtleiden zwang, den Abschied zu nehmen, besitzt er nichts als seine kleine Pension und die alten Trümmer der Ebersburg. Wenn er nur wenigstens zu bewegen wäre, Gerlinde auf einige Zeit von sich zu lassen, ich nähme sie gern mit nach Berkheim oder nach der Stadt, da wir ja in diesem Winter auf einige Zeit dorthin gehen, aber das wird kaum zu erreichen sein.“

„Der alte Egoist!“ sagte der General ärgerlich. „Was soll denn aus dem armen Kinde werden, wenn er die Augen schließt? Aber unsere jungen Damen lassen in der That auf sich warten, es wird Zeit, daß sie erscheinen.“

Die jungen Damen hatten sich allerdings etwas verspätet, aber es waren nicht Toilettenangelegenheiten, die sie zurück hielten. Hertha befand sich schon völlig angekleidet in ihrem Zimmer; sie hatte ihre Kammerfrau fortgesandt und stand vor dem großen Spiegel, in den sie unverwandt hineinblickte. Man hätte glauben können, sie sei in die Bewunderung ihrer eigenen Schönheit versunken, aber die Augen hatten einen seltsam träumenden Ausdruck und sahen offenbar nichts von dem Bilde, welches das helle Glas zurück warf; sie schienen weit darüber hinauszublicken in unendliche Fernen.

Da wurde leise die Thür des Nebenzimmers geöffnet, und Gerlinde erschien. Die beiden jungen Mädchen hatten stets mit einander verkehrt, wenn die gräfliche Familie nach Steinrück kam; dennoch herrschte nicht die geringste Vertraulichkeit zwischen ihnen.

Gerlinde blickte mit scheuer Bewunderung zu der glänzenden Hertha empor, während ihr diese höchstens eine mitleidige Duldung gewährte und sie bisweilen sogar mit dem ganzen Uebermuthe des verzogenen Glückskindes verspottete. Auch heute ruhten die Augen des „kleinen Burgfräuleins“ mit neidloser Bewunderung auf der jungen Gräfin, die in der That bräutlich schön aussah in dem weißen Atlaskleide, das in weichen schweren Falten niederfloß. Das Haar schmückte nur eine einzige weiße Rose, und ein Strauß duftender, halberschlossener Rosenknospen lag auf dem Tischchen neben dem Spiegel.

„Wie schön Du bist!“ sagte Gerlinde unwillkürlich. Die junge Gräfin wandte sich um und lächelte, aber es war kein Lächeln befriedigter Eitelkeit.

„Ich kann Dir das Kompliment zurückgeben,“ erwiderte sie. „Du siehst heute allerliebst aus.“

Das junge Mädchen trug allerdings nicht mehr das graue Aschenbrödelkleidchen, die Gräfin hatte dafür gesorgt, daß ihr Pathenkind bei dem heutigen Feste in entsprechender Toilette erschien, aber Gerlinde fühlte sich offenbar bedrückt von der ungewohnten Pracht und verstand es nicht, sich darin zu bewegen. Sie mochte wohl fühlen, wie wenig sie überhaupt in diesen glänzenden Kreis paßte, und das verschüchterte sie noch mehr. Verlegen und ängstlich stand sie da und wagte kaum die Augen aufzuschlagen.

„Nur diese lächerliche steife Haltung mußt Du ablegen,“ kritisirte Hertha. „Du verlernst es auf der einsamen Ebersburg noch völlig, Dich unter Menschen zu bewegen. Du siehst ja Niemand dort, als Deinen Vater und höchstens die Bauern des benachbarten Dorfes, wo Du die Messe hörst.“

Gerlinde schwieg und senkte das Köpfchen. Niemand? Sie dachte an deu jungen Gast, der in Sturm und Unwetter gekommen und im hellen Sonnenschein wieder gegangen war, aber sie hatte das bisher noch mit keiner Silbe erwähnt, obgleich es ein Ereigniß in ihrem einsamen Leben war. Eine unbewußte Scheu schloß ihr die Lippen, und heute hätte sie nun vollends nicht davon sprechen können. Die Erinnerung an den sonnigen Morgentraum auf den alten Burgtrümmern gehörte nicht vor das Ohr der jungen Dame, welche die Jugendfreundin mit so kühler Ueberlegenheit hofmeisterte.

Hertha hatte sich wieder umgewandt, sie streifte dabei das Tischchen, wo der Rosenstrauß lag, und dieser fiel zu Boden, ohne daß sie es beachtete; Gerlinde hob ihn auf.

„Danke!“ sagte Hertha gleichgültig, indem sie die Blumen wieder in Empfang nahm. Sie schienen nur lose zusammengefügt zu sein, denn eine der Rosen hatte sich aus dem Kreise ihrer Schwestern gelöst und lag grade zu den Füßen der jungen Gräfin, die mit einem eigenthümlich herben Ausdruck darauf nieder schaute. Vielleicht kam ihr die Erinnernng an jenen Abend, wo auch solch eine duftende, halb erschlossene Knospe ihrer Hand entfallen war, um wenige Minuten darauf zu sterben unter einem eisernen Tritt, der sie zermalmte.

„Laß das!“ wehrte sie heftig, als Gerlinde sich von Neuem bücken wollte. „Was liegt denn an der einzelnen Rose, ich habe ja genug davon.“

„Es ist aber ein Geschenk Deines Bräutigams,“ bemerkte das junge Mädchen.

„Nun ja, ich werde es auch am heutigen Abend tragen, mehr kann Raoul doch nicht verlangen. Wenn nur erst die Ceremonie des Glückwünschens vorüber wäre! Es ist tödlich langweilig, von Jedem dasselbe zu hören und all diesen banalen Redensarten Stand halten zu müssen. Ich bin heute gar nicht in der Stimmung dazu.“

Die Worte klangen sehr ungeduldig und es lag auch eine nervöse Ungeduld in der Art, mit der sie jetzt im Zimmer auf und ab zu schreiten begann. Gerlindens Augen folgten erstaunt der stolzen, königlichen Erscheinung, der die schwere Atlasschleppe rauschend nachfolgte: sie begriff nicht, daß eine Braut an ihrem Verlobungstage nicht in der Stimmung sein könne, Glückwünsche zu empfangen, und mit naiver Verwunderung fragte sie: „Hast Du denn den Grafeu Raoul nicht lieb?“

Hertha blieb plötzlich stehen.

„Seltsame Frage, wie kommst Du darauf? Gewiß habe ich ihn lieb, wir sind ja für einander erzogen worden, ich wußte ja schon in meinen Kinderjahren, daß er mir zum Gemahl bestimmt war. Er ist schön, ritterlich, liebenswürdig, mir gleich an Namen und Geschlecht, weßhalb soll ich ihn denn nicht lieben? Du glaubst Wohl, es müsse bei einer Vermählung noch heute so romantisch zugehen wie in Deinen alten Chronikbüchern, wo immer erst um die Braut gekämpft und gestritten wird? Du hast uns ja gestern erst eine derartige Geschichte erzählt von einer Gertrudis –“

„Gertrudis von Eberstein und Dietrich Fernbacher,“ fiel Gerlinde schleunigst ein, als habe sie mit dem Namen ein Stichwort erhalten. „Aber sie durfte ihn nicht ehelichen, dieweil er nicht ritterlicher Abkunft, sondern nur der Sohn eines Kaufherrn war.“

„Sie durfte nicht?“ fragte Hertha, den Kopf aufwerfend. „Sie wollte vielleicht auch nicht, es widerstrebte ihr wahrscheinlich, den alten, edlen Namen ihres Geschlechtes gegen den einer reichgewordenen Krämerfamilie umzutauschen. Begreifst Du das nicht, Gerlinde? Was würdest Du thun, wenn Du zum Beispiel einen Bürgerlichen liebtest?“

„Das wäre schrecklich!“ sagte das kleine Burgfräulein, mit dem ganzen Entsetzen eines Sprößlings aus dem zehnten Jahrhundert, setzte aber dann mit voller Ueberzeugung hinzu:

„Mein Papa sagt, das dürfe nicht vorkommen.“

„Es ist aber doch vorgekommen, sogar in Eurem eigenen Geschlechte. Wie endete denn die Sache eigentlich, hat Deine Ahnfrau auf ihren Dietrich verzichtet?“

Die arme Gerlinde merkte es in der That nicht, daß sie während der ganzen Zeit ihres Hierseins nur das Stichblatt für den Spott Raoul’s und Hertha’s gewesen war, die sie bei jeder Gelegenheit veranlaßten, sich lächerlich zu machen. Sie wollte sich so gern dankbar zeigen für die gespendete Gastfreundschaft und glaubte in aller Unschuld und Harmlosigkeit, man interessire sich in Steinrück wirklich für die Geschichten, die ihr so unendlich wichtig erschienen. So faltete sie denn auch jetzt ernsthaft die Hände und begann wieder in der gewohnten Art einen Abschnitt ihrer Hauschronik herzubeten, der aber diesmal nicht mit einer fröhlichen Hochzeit endete wie bei Kunrad von Eberstein und Hildegund von Ortenau, sondern mit einer Trennung. Die Geschichte war sehr lang, und die Ritternamen und Jahreszahlen, die Raoul so haarsträubend fand, kamen wieder in unendlicher Menge vor, aber die junge Gräfin schien heute ihre Spottlust verloren zu haben. Sie war an das Fenster getreten und blickte unverwandt und regungslos hinaus, bis Gerlinde schloß:

[611] „Also ward Gertrudis vermählt an den edlen Herrn von Ringstetten, und Dietrich Fernbacher zog hinaus in den Kampf gegen die Ungläubigen und kam nimmer wieder.“

„Und kam nimmer wieder – nimmer!“

Hertha’s Lippen sprachen leise, wie traumverloren die Worte nach, und dabei nahmen ihre Augen wieder den seltsamen Ausdruck an wie vorhin, als sähen sie etwas, das in weiter Ferne lag, weit hinter dem Nebel und der Dämmerung, welche die Landschaft draußen zu verschleiern begann.

Es entstand ein längeres Schweigen, das Gerlinde nicht zu brechen wagte, aber endlich mahnte sie doch leise: „Hertha – ich glaube, es ist Zeit.“

Hertha sah auf, als werde sie aus einem Traume geweckt.

„Zeit – wozu?“

„Zu dem Feste, man erwartet uns.“

„Ja so – das hatte ich vergessen! Geh’ voran, Gerlinde, ich folge sogleich, ich will nur noch eine Kleinigkeit an meiner Toilette ändern. Ich bitte Dich, geh’!“

Die Aufforderung klang so bestimmt, daß das junge Mädchen ohne weiteres Zögern gehorchte, sie war aber kaum zu der Treppe gelangt, die in das untere Stockwerk führte, als ihr ein Diener entgegenkam, den der General abgesandt hatte. Excellenz ließen die junge Gräfin um ihre Gegenwart bitten, soeben sei der erste Wagen in den Schloßhof gefahren.

Gerlinde kehrte um, um selbst die Botschaft auszurichten; geräuschlos glitt ihr Fuß über den Teppich des Vorzimmers und ebenso geräuschlos öffnete sie die Thür, blieb aber betroffen auf der Schwelle stehen.

Hertha saß oder lag vielmehr in dem Armsessel am Fenster, die Hände krampfhaft in einander geschlungen, das Haupt zurückgelehnt, aber unter den geschlossenen Wimpern drängte sich Thräne um Thräne hervor, und die Brust hob und senkte sich unter einem wilden, leidenschaftlichen Schluchzen. Die junge Braut weinte, weinte so heiß und schmerzlich, wie einst das Kind geweint hatte, als die weißen Schneerosen, die man den zerstörenden kleinen Händen entrissen hatte, den Flammentod starben.

„Hertha, liebe Hertha, was ist Dir?“ rief Gerlinde erschrocken auf sie zueilend. Die Gerufene fuhr empor und ein Blitz des Zornes sprühte aus ihren Augen.

„Was willst Du? Weßhalb kommst Du zurück? Kann ich denn nicht eine Minute allein sein?“

„Ich wollte – ich kam nur, Dich zu holen,“ sagte das junge Mädchen scheu zurückweichend. „Graf Steinrück läßt Dich bitten zu kommen, die Gäste fahren bereits vor.“

Hertha erhob sich und fuhr mit dem Taschentuchs über das Gesicht. In einem Moment waren die Thränenspuren vertilgt, und die junge Gräfin trat anscheinend ganz ruhig vor den Spiegel, um noch einen prüfenden Blick auf ihre Toilette zu werfen, dann griff sie nach dem Rosenstrauß.

„Nun, so laß uns gehen!“

Sie gingen, das Atlasgewand rauschte über die Treppenstufen, und wenige Minuten später traten sie in den Empfangssalon, wo die Braut bereits mit Ungeduld erwartet wurde.

Im Schloßhofe fuhr jetzt Wagen auf Wagen vor und die Festräume begannen sich zu beleben, die Gäste trafen immer zahlreicher ein, und noch vor Ablauf einer Stunde war die ganze Gesellschaft versammelt, vor der General Steinrück nunmehr in aller Form die Verlobung seines Enkels mit der Gräfin Hertha verkündete.

Von Raoul’s Stirn war jede Wolke verschwunden, er schien heute nur Augen für seine Braut zu haben, die so schön, so stolz und siegesgewiß an seiner Seite stand und für jeden Glückwunsch, für jedes Kompliment ein Lächeln hatte. Man fand das sehr natürlich und begriff auch die strahlende Heiterkeit auf dem Antlitz des alten Grafen, dessen eigenstes Werk diese Verbindung war. Er hatte mit fester Hand zusammengefügt, was durch Geburt und Name, durch Glanz und Reichthum zusammengehörte, und es war ein so schönes, ein so glückliches Paar.


Ein trüber Oktoberhimmel lag über dem endlosen Häusermeer der Hauptstadt, das sich mit jedem Jahre weiter und mächtiger ausbreitete. In den Hauptstraßen fluthete der Verkehr wie gewöhnlich und das unaufhörliche Menschengewoge, der Lärm und das Wagengerassel hatten etwas Betäubendes für Jeden, der aus der stillen Einsamkeit der Berge kam und nun mitten in dies fluthende Leben gerieth.

Der General Graf Steinrück hatte seine Wohnung in einem der militärischen Dienstgebäude, wo ihm die sämmtlichen Räume des ersten Stockwerkes zur Verfügung standen. Die Einrichtung war eine reiche, theilweise sogar luxuriöse, soweit sie die Zimmer der Gräfin Hortense betraf; Steinrück trug in diesem Punkte dem Geschmack seiner Schwiegertochter Rechnung und ließ ihr überhaupt freie Hand in Allem, was die Repräsentation betraf, während er andererseits die Zügel seines Hauses fest in Händen hielt. Seine Stellung erlaubte ihm immerhin auf größerem Fuße zu leben, wenn auch die Einkünfte des Familiengutes nicht bedeutend waren.

Die Wohnräume des Generals waren im Gegensatz zu denen seiner Schwiegertochter sehr schmucklos eingerichtet, und das Arbeitszimmer vollends war von einer beinahe spartanischen Einfachheit. Hier herrschte kein trauliches Halbdunkel, wie in jenen Salons; hier gab es keine weichen Teppiche und orientalischen Vorhänge, sogar der künstlerische Schmuck von Gemälden und Statuen fehlte. Durch die hohen Fenster drang das Tageslicht voll und scharf herein; auf dem Schreibtische waren Papiere, Briefschaften und Bücher sorgfältig geordnet, die Möbel von hellem Eichenholz ohne jede Schnitzerei oder sonstige Verzierung, mit dunklem Leder überzogen, konnten kaum schmuckloser sein, und die Bilder an den Wänden hatten offenbar nur einen persönlichen Werth für den Besitzer, als Familienandenken oder Erinnerungszeichen. Es war ein Gemach zum Arbeiten, nicht zum behaglichen Ausruhen, und es entsprach in seiner strengen, fast nüchternen Einfachheit völlig dem Charakter seines Bewohners.

Steinrück saß am Schreibtische und sprach mit seinem Enkel, der soeben von Berkheim zurückgekehrt war, wohin er seine Braut und deren Mutter begleitet hatte. Raoul schien wirklich ein glücklicher Bräutigam zu sein; auf seinem Gesichte lag heller Sonnenschein, als er von der Reise berichtete, auch um die strengen Züge des Grafen spielte ein Lächeln; die Erfüllung seines Lieblingswunsches machte ihn weit milder und zugänglicher als sonst.

Sie hatten von dem bevorstehenden Besuch Hertha’s und ihrer Mutter, von der Vermählung gesprochen, die im nächsten Sommer stattfinden sollte, und Raoul sagte endlich: „Du wirst mich jetzt wohl fortschicken müssen, Großpapa, es ist die Stunde Deines dienstlichen Empfanges.“

„Noch nicht,“ entgegnete der General mit einem Blick auf die Uhr. „Wir haben immerhin noch eine Viertelstunde Zeit, und überdies liegt für heute nichts Besonderes vor, nur einige Meldungen und Vorstellungen jüngerer Officiere.“

Er nahm ein Blatt vom Schreibtische und überflog es, auf einmal aber verfinsterte sich sein Gesicht und halblaut murmelte er: „Ah so! Also heute!“

Raoul, der neben dem Großvater stand, hatte gleichfalls einen Blick auf die Liste geworfen und dort einen bekannten Namen gefunden.

„Lieutenant Rodenberg? Ist der zum Generalstab kommandirt?“

„Kennst Du ihn?“ fragte Steinrück, sich rasch umwendend.

„Einigermaßen, ich war im vergangenen Jahre mit den Rodenbergs zu einer Jagdpartie geladen. Es ist doch einer der Söhne des Obersten, der in W. kommandirt?“

„Nein!“ sagte der General kalt.

„Nicht? Ich glaubte, es gäbe gar keinen anderen Träger des Namens in der Armee.“

„Ich glaubte es auch und war in demselben Irrthum befangen wie Du. Ich werde Dich wohl darüber aufklären müssen, Raoul, welche Bewandtniß es mit diesem Rodenberg hat. Du bist ja durch Deine Mutter längst eingeweiht in die Familiengeschichte unseres Hauses.“

Der junge Graf stutzte und richtete einen fragenden Blick auf den Großvater.

„Ich weiß allerdings, daß dieser Name noch eine andere, peinliche Bedeutung für uns hat, aber davon kann doch hier unmöglich die Rede sein. Es ist doch nicht etwa –?“

„Louisens Sohn!“ vollendete Steinrück finster.

„Um des Himmels willen, das fehlte nur noch!“ rief Raoul in voller Bestürzung. „Taucht diese unselige Geschichte wieder

[612]

Aus der Jubiläums-Kunstausstellung in Berlin:
Die Kaiserparade bei Lommersum im Herbst 1884.
Nach dem Oelgemälde von Emil Hünten.

[613] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [614] empor, die wir längst begraben und vergessen wähnten? Der Bube war ja davongelaufen, war gestorben und verdorben, wie es damals hieß. Wie kommt dieser Bursche, der Sohn des Abenteurers, zu einer solchen Lebensstellung?“

Der General runzelte die Stirn; in diesem Augenblick überwog bei dem alten Krieger der Korpsgeist alles Uebrige, selbst die Abneigung gegen den verleugneten und gehaßten Sohn des „Abenteurers“ trat davor zurück. Michael trug wie er den Degen an der Seite, beschimpfen ließ er ihn nicht in seiner Gegenwart.

„Mäßige Dich!“ sagte er streng. „Es handelt sich um einen Officier der Armee, einen sehr tüchtigen Officier sogar, von dem spricht man nicht in solchen Ausdrücken.“

„Aber, Großpapa, Du wirst doch zugeben, daß dieser Rodenberg uns im höchsten Grade lästig, ja noch mehr werden kann, gerade weil er Officier ist, denn das giebt ihm die Möglichkeit, unseren Kreisen zu nahen, und auf welchem Fuße sollen wir denn mit ihm verkehren? Und gerade jetzt kommt er zum Vorschein, wo meine Verlobung mit Hertha die Augen der ganzen Gesellschaft auf uns richtet! Er wird natürlich nichts Eiligeres zu thun haben, als seine Beziehungen zu uns aller Welt zu verkündigen.“

„Das bezweifle ich, sonst wäre es längst geschehen; es weiß aber bis zur Stunde Niemand darum, ich habe Erkundigungen eingezogen. Jedenfalls muß er wissen, daß wir nicht geneigt sind, diese Beziehungen anzuerkennen.“

„Gleichviel! Anerkannt oder nicht, er wird früher oder später als Enkel des Grafen Steinrück auftreten und den nöthigen Vortheil aus dieser Stellung zu ziehen wissen. Glaubst Du wirklich, daß ein bürgerlicher Officier diesem Vortheil entsagen und seine nahe Verwandtschaft mit dem kommandirenden General verschweigen wird?“

„Jedenfalls werde ich versuchen, das zu erreichen. Du hast Recht, grade jetzt muß dies Wühlen in der Vergangenheit, dies Hervorzerren alter, längst begrabener Geschichten um jeden Preis vermieden werden. Ich habe Rodenberg nur ein einziges Mal gesehen, aber wie ich ihn beurtheile, bleibt ein Appell an sein Ehrgefühl nicht vergeblich. Er wird sich einer Familie nicht aufdrängen, die ihn nun einmal nicht kennen will, und er hat mindestens ebenso viel Grund wie wir, das Andenken seines Vaters in der Dunkelheit und Vergessenheit zu lassen. Wie sich die Angelegenheit aber auch gestalten mag, Du schweigst unbedingt darüber gegen Deine Braut und deren Mutter. Sie sind durch Zufall mit Rodenberg bekannt geworden und haben ahnungslos mit ihm verkehrt.“

„Sagte ich es nicht, es ist ein Unglück, daß dieser Mensch gerade Officier ist!“ rief Raoul heftig. „In jedem anderen Lebenskreise könnte man ihn ignoriren, jetzt hat er bereits Gelegenheit gefunden, sich den Damen unseres Hauses zu nahen, und das wird in wohlberechneter Absicht geschehen sein. Selbstverständlich dürfen sie nicht erfahren, wer er ist. Wie würde die stolze Hertha mich anblicken, müßte ich mich vor ihr zu diesem Vetter bekennen! Das muß verhindert werden, koste es was es wolle, wir sind ja sicher zu jedem Opfer bereit, wenn –“

„Du vergißt immer, daß es sich jetzt um den Lieutenant Rodenberg handelt,“ unterbrach ihn der General mit voller Schärfe. „Einem Officier unserer Armee kann man sein Schweigen nicht abkaufen, man kann sich höchstens an seinen Stolz wenden. Er muß und wird begreifen, daß es keine Ehre ist, mit dem Sohne seines Vaters verwandt zu sein; wenn überhaupt etwas von ihm zu erreichen ist, so kann es nur auf diesem Wege geschehen.“

Raoul schwieg, aber seine Miene zeigte, daß er diese Ansicht nicht theilte. Zu einer weiteren Erörterung kam es nicht, denn der Erwartete wurde soeben gemeldet, und Steinrück winkte ihn eintreten zu lassen.

„Verlaß uns!“ sagte er halblaut zu seinem Enkel gewendet. „Ich will ihn allein sprechen.“

Raoul gehorchte, aber als er im Begriff war, das Zimmer zu verlassen, trat Rodenberg bereits ein und sie trafen an der Thür zusammen. Michael grüßte flüchtig den ihm unbekannten Herrn, aber dieser streifte ihn nur mit einem halb feindlichen, halb verächtlichen Blicke und wollte vorübergehen, ohne weiter Notiz von ihm zu nehmen. Da aber vertrat ihm der junge Officier plötzlich den Weg und maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen, ohne ein Wvrt zu sprechen, aber sein Auge und seine Haltung forderten so gebieterisch den Gegengruß, daß sich der Graf halb unwillkürlich dazu bequemte. Er neigte widerwillig das Haupt und zog sich dann zurück. Steinrück hatte die Scene, die nur einige Sekunden währte, schweigend beobachtet. So wenig er das Benehmen seines Enkels billigte, er zürnte ihm fast, daß er sich hatte zwingen lassen.

Michael trat jetzt näher, und selbst der schärfste Beobachter hätte nicht bemerken können, daß irgend ein engeres Band zwischen diesen beiden Menschen existirte. Der Untergebene stattete seine Meldung in streng vorschriftsmäßiger Weise ab, und der Vorgesetzte nahm sie in gewohnter Art entgegen, kühl, ernst und gemessen; keiner von Beiden verlor auch nur auf einen Moment die streng dienstliche Haltung. Als aber das Nöthige gesagt und beantwortet war und der junge Officier auf seine Entlassung wartete, nahm der General von Neuem das Wort.

(Fortsetzung folgt.)




Am Sedantage.
Von Rudolf von Gottschall.

Ein großer Tag, wo der Würfel fiel
In des Cäsars vermessenem Würfelspiel!
Herflog die Kunde mit Sturmesflug,
Ein Blitz, der in alle Herzen schlug.
Der Himmel strahlte vom Wiederschein …
Nicht Städte, von Flammen umwoben,
Die Lichter der Freude warfen allein
Den Glanz in die Wolken droben.

Gefangen der Kaiser, gefangen sein Heer,
Zermalmt von der deutschen Eisenwehr,
Zusammengepreßt in Angst und Noth
Und überschüttet mit Schrecken und Tod.
Die Maas vereint, was der Main getrennt,
Und Nord und Süd sind im Bunde:
Des Bundes heiliges Feuer brennt
Rings auf dem Hügelrunde.

Die Jahre schwanden, das Reich erstand,
Ein herrlicher Bau, aus des Krieges Brand,
Gegründet von deutschem Heldenmuth,
Gekittet mit deutschem Heldenblut.
Wir denken der Todten, die einst der Sieg
Bei besiegten Feinden gebettet;
Wir feiern das Herrliche, das aus dem Krieg
Wir dem Vaterlande gerettet.

Wir feiern nicht den Grimm und Haß,
Der die Völker entzweit ohn’ Unterlaß,
Und wahrt in den Herzen ewig jung
Des blutigen Kampfes Erinnerung.
O lieber zusammen des Friedens Saat
In fruchtbare Aecker streuen,
Wetteifernden Sinns durch geistige That
Gleichstrebende Geister erfreuen.

Was deutscher Ernst mit gesammelter Kraft
Tiefsinnig forscht und begeistert schafft,
Was drüben die Anmuth leichtbeschwingt,
Bahnbrechend der wagende Sinn erringt:
Das sei geflochten zum schönsten Kranz
Und schmücke der Menschheit Altäre;
Es werde der blutige Waffentanz
Zu einer verschollenen Mähre.

Doch anders, wenn, die Faust geballt,
Man drüben droht mit roher Gewalt,
Losläßt die Meute, die jetzt noch bellt
Am Seil, das ein wilder Jäger hält.
Dann, Tag von Sedan wirst sonnenhaft
Du als führende Leuchte uns flammen,
Und wieder breche vor deutscher Kraft
Der welsche Frevel zusammen.




[615]

Die Pöllatschlucht mit der Marienbrücke,
vom Schlafzimmer König Ludwig’s II. aus gesehen.

Aus den Schlössern König Ludwig’s II.

II. Neuschwanstein.

Unter den Schöpfungen König Ludwig’s II. von Bayern nimmt Schloß Neuschwanstein unbestritten den ersten Rang ein. Dieser prachtvolle Bau allein kann als vollkommenes Kunstwerk bezeichnet werden. Kunst und Natur sind hier zu einer seltenen Harmonie gebracht, welche im Beschauer einen großen und unvergänglichen Eindruck hinterläßt.

Unweit der bayerisch-tirolischen Grenze liegt das alte Städtchen Füssen mit grauen Häusern und verwitterten Thürmen; als Grenzwacht jener im Laufe der Geschichte viel umstrittenen Straße, welche am schäumenden Lechstrome entlang von hier aus in die Felsenthäler der Alpen führt. Eine kleine Stunde von diesem Städtchen, am Rande des Gebirges hinwandernd, sieht man hoch auf felsigen waldumbüschten Bergvorsprüngen zwei Burgen aufragen: Hohenschwangau und Neuschwanstein. Wo jetzt Neuschwanstein steht, auf schwindelnder Felswand über der finstern Pöllatschlucht, stand einst die älteste der drei Ritterburgen, die von diesen Höhen aus in das Alpenvorland hinauslugten: Burgen, die schon in den Tagen der Römer und der Ostgothen vom klirrenden Schritt Gewaffneter widerhallten. Die Jahrhunderte hatten den Bergwald längst wieder über die Trümmer wachsen lassen, als König Ludwig auf den romantischen Gedanken kam, hier ein neues Prachtschloß aus dem Felsengrunde zu zaubern.

Anregung hierzu fand der König in reichem Maße. Hatte er doch seinen schönsten Jugendsommer in dem benachbarten Schlosse Hohenschwangau zugebracht; fühlte er doch, wie die ganze prächtige Landschaft hier durchweht ist vom Geiste historischer Erinnerung. Denn Hohenschwangau hatte ja nicht allein die römischen Legionen und die gothischen Heerscharen geschaut, sondern auch die Träger deutscher Kaiserkronen hatten hier vom schweren Staatswerke gerastet; Ludwig der Bayer und der Habsburger Maximilian I. hatten in den Schluchten der Schwangauer Berge den flüchtigen Gemsbock gejagt, und [616] der Minnesänger Hiltebold von Schwangau hatte hier an waldumrauschtem Alpensee seine Liebeslieder ersonnen. Die ergreifendste Erinnerung aber, die dieses Thal durchzieht, ist jene an den unglücklichen Hohenstaufen Konradin, der, ehe er in das welsche Verderben ritt, hier von seiner edlen Mutter Abschied nahm.

Und so reich das Thal an Schattenbildern mittelalterlicher Romantik ist, so reich ist es auch an landschaftlicher Schönheit. Umrahmt von gigantischen Bergkolossen, von tiefdunklen Bergwäldern, glänzen hier die Seespiegel des Alpsees und des Schwansees. So schauen die beiden Königsburgen zum Theil in das geheimnißvolle Dunkel der innersten Bergwelt hinein, zum Theil hinaus in das endlose Flachland, wo in duftigen Fernen sich blaue Wälder und Hügel hinziehen, dazwischen blitzendes Wasser und weitentlegene Ortschaften. Im ganzen Umkreis des Bayernlandes ist keine Stätte zu finden, die besser geeignet wäre zu einer Heimstätte romantischer Schwärmerei, als das Thal von Neuschwanstein. Namentlich vom Neideckfelsen bietet sich die schönste Aussicht auf die Burgen und ihre Umgebungen.[1] Unter uns glänzt das unvollendete Schloß Neuschwanstein, aus der Tiefe tönt das wilde Brausen der Pöllat herauf; dann steigt der Hochwald empor. Links in der Ferne schimmern der Alpsee und die Gebäude von Hohenschwangau, hinter denen der Frauenstein aufsteigt. Der Schwansee und Weißensee, sowie ehrwürdige Häupter der Berge vervollständigen das großartige Panorama. Auf dem Neideckfelsen, der trotzig in die Landschaft hinausschaut, wurden alljährlich am Ludwigstage von den Bauern mächtige Freudenfeuer angezündet, Zeichen der Liebe, in welcher die Herzen der Bayern ihrem König zugethan waren.

Als König Ludwig II. den Plan faßte, hier ein Königsschloß zu erbauen, war er noch ganz von jenem Geiste germanischer Dichtung und Sage umfangen, der ihn auch aus Richard Wagner’s Meisterwerken anwehte. Ist es schon dieser deutsche Geist, welcher Neuschwanstein hoch über das Schloß zu Herrenchiemsee stellt, so ist es in noch viel höherem Grade der Umstand, daß der König, so lebhaft auch seine eigene Phantasie an dem Baue mitarbeitete, doch den schaffenden Künstlern jenen Spielraum für schöpferische Selbstthätigkeit ließ, welcher nothwendig ist, wenn wirklich Neues und Eigenartiges gestaltet werden soll. Das zeigt sich in der Architektur des Schlosses, wie in seinem Inhalt an Skulpturen, Gemälden und Gegenständen des Kunsthandwerks. Und auch das ist nicht genug zu rühmen, daß alle bildenden Künste und selbst das Handwerk, die hier zusammen arbeiteten, sich in eine wunderbare Uebereinstimmung brachten.

Die Architektur des Schlosses gehört dem romanischen Stil an. Auf einem gewaltigen, fast unzugänglich erscheinenden Kalkfelsen erhebt sich der gigantische Bau. Vollendet sind von demselben bis jetzt nur der „Palas“, allerdings die Hauptsache, und der Thorbau. Letzterer allein ist so umfangreich, daß er mit seinen mächtigen runden Wartthürmen eine Burg für sich darstellt. Zwischen dem Thorbau und dem Palas dehnt sich das ungeheure Baugerüst aus, mit dessen Hilfe die übrigen noch fehlenden Theile des Schlosses ausgeführt werden sollten. Edel und groß ist der Hauptbau in seiner äußeren Erscheinung. Fünf Stockwerke hoch baut er sich über einander mit gekuppelten Rundbogenfenstern, reich geschmückt mit zierlichen Erkern und Vorsprüngen, gekrönt von einem steilen goldschimmernden Kupferdache. Zwei Thürme, das letztere überragend, steigen zu wahrhaft schwindelnder Höhe empor; von den Zinnen des höheren dieser Thürme blickt man in einen grausenerregenden Abgrund.

Das erste und zweite Stockwerk des Schlosses sind für die Hofhaltung bestimmt. Das dritte bewohnte der König selbst; die obersten zwei Stockwerke enthalten Festsäle. In ihnen wie in den Zimmern des Königs sind die Wände mit Bildern geschmückt, welche mit zu dem Edelsten gehören, was die deutsche Freskomalerei hervorgebracht hat. Namentlich die aus der Hand des Münchener Meisters Spieß hervorgegangenen Bilder können in ihrer vollendeten Anmuth nur mit den Werken Schwind’s verglichen werden. Der damaligen Geschmacksrichtung des Königs entsprechend, sind die Gegenstände dieser Bilder meistens den Werken Richard Wagner’s entnommen, der Gralsage und dem Nibelungenring, aber auch der modernen bayerischen Geschichte und dem deutsch-französischen Kriege.

Unter den plastischen Arbeiten sind das prächtige Steinportal des Schlosses, ferner die schönen Steinmetzwerke an den zahllosen Thor- und Fensterbogen hervorzuheben.

Unbeschreiblich reich und durchweg vom lautersten Geschmack beherrscht ist die kunstgewerbliche Einrichtung der Königszimmer: die Vorhänge, Schränke und Polstermöbel, die Teppiche, Lüster, Uhren, Vasen und sonstigen Einrichtungsstücke. Was das Kunstgewerbe der letzten zwanzig Jahre an mustergültigen Werken schuf, findet sich hier vertreten. Neuschwanstein ist nicht bloß ein Prachtbau; es ist ein wirkliches, wenn auch fürstliches Heim. Großartig ist auch die Aussicht, welche sich unsern Augen aus den Fenstern der einzelnen Gemächer bietet. Unser Künstler giebt eine derselben in der Anfangsvignette wieder. Es ist die Pöllatschlucht, vom Fenster des königlichen Schlafzimmers aus gesehen, ein majestätisches Bild des steil herabstürzenden Pöllatfalles, über dessen schimmerndem Bande hoch in der Luft die Marienbrücke schwebt.

Den Erbauer ereilte der Anfang seines tragischen Endes in diesen stolzen Räumen. Liegt auch der Leib des Königs in der Münchener Michaelskirche: das Schloß Schwanstein ist das Grabmal seines Geistes und seines Glückes.


Was will das werden?

Roman von Friedrich Spielhagen.
(Fortsetzung.)

Ich dachte bei den letzten Worten Emil’s an all die jungen schwarzhaarigen Herren da draußen in den endlosen Sälen und die endlos vielen Briefe, die sie den Tag über kritzelten, und von denen sicher jeder der Firma Israel, Löbinsky u. Komp. etwas einbrachte, und fragte mich, ob die „neuen Principien“, nach denen hier gearbeitet wurde, sich wohl sehr wesentlich von den alten unterscheiden möchten? Aber ich hütete mich wohl, diesen Gedanken auszusprechen, und erkundigte mich dafür, ob Emil wirklich nicht wisse, wer der eigentliche Kreditgeber sei, der hinter der amerikanischen Firma stehe, wie er Ulrich Vogtriz gegenüber behauptet?

„Ich sehe nicht, welchen Vortheil Du davon hättest, wenn ich Dir nicht die Wahrheit sagte,“ erwiderte Emil. „Ich glaube, der Vater hat immer gewußt, wer Deine Mutter war, und daß sie noch einmal eine große Erbschaft machen könne, deßhalb hegte er auch immer den dringenden Wunsch, Du möchtest Kaufmann werden und in unser Geschäft eintreten. Jedenfalls mußte dem Vater die Lage klar werden, als Herr von Ruver für das ganze damalige Vermögen Deiner Mutter Wechsel auf London kaufte, die dann nach New-York gingen und dort von dem Advokaten der Missis Katharina Vogtriz-Gilmore-Franc einkassirt wurden. Der größte oder doch ein großer Theil des jetzigen Vermögens der Missis ist in unserem Geschäfte angelegt, und so ist der unbeschränkte Kredit keine Phrase, da Deine Mutter – denn Deine Mutter ist natürlich die Korrespondentin – recht gut weiß, daß Du eben nur entnehmen wirst, was Du brauchst. Wieviel darf ich Dir geben?“

„Du scheinst meine Antwort nicht bekommen zu haben?“

Emil machte ein verwundertes Gesicht und wollte auf einen Elfenbeinknopf in der Wand drücken. Ich verhinderte ihn daran. Die Sache werde jedenfalls noch bis zu ihm gelangen; sie sei aber diese:

Und ich theilte ihm meine Antwort mit.

Die Piraten waren, nach dem Ausdruck von Emil’s Gesicht zu schließen, bis dicht vor unsere Burg gekommen.

„Aber das kann doch nicht Dein Ernst – zum wenigsten Dein letzter Entschluß sein,“ stotterte er. „Bedenke –“

[617]

Neuschwanstein vom Neideckfelsen gesehen.
Originalzeichnung von Robert Aßmus.
1 Gasthof zur „Alpenrose“. 2 Frauenstein. 3 Hohenschwangau. 4 Kavalierbau. 5 Hofgärtner. 6 Alpsee. 7 Schwansee. 8 Weißensee. 9 Schwarzenberg. 10 Neuschwanstein, Hauptbau. † Schlafzimmer des Königs. 12 Gerüst für den Bau der Kemenate. 13 Kavalierbau und Verbindungsgang. 14 Gerüst für den Glockenthurm. 15 Thorbau, in welchem die Kommission gefangen saß.

[618] „Lieber Emil,“ unterbrach ich ihn, „glaube mir, ich habe Alles bedacht. Ich bin nun einmal der alte, unpraktische, dumme Junge geblieben, über den sich schon Dein seliger Vater so gründlich hat ärgern müssen. Da Du nach neuen Principien arbeitest, darfst Du das bei Leibe nicht auch, sondern mußt mich meines Weges ziehen lassen, der übrigens für den Augenblick zu Deiner Mutter und Deiner Schwester führt. Sie wohnen hier in demselben Hause?“

„Zwei Treppen rechts. Links wohnt mein Schwager. Aber darf ich Dich nicht erst zu meiner Frau – sie würde sich unendlich freuen – ich glaube, sie wird noch zu Hause sein – wenn Du erlaubst, werde ich Dich hinausbegleiten.“

Da ich sah, daß ich um diese Visite doch nicht herumkommen würde, so mochte sie gleich jetzt gemacht werden. Ich erklärte mich deßhalb bereit unter der Bedingung, daß Emil sich in seiner Arbeit nicht weiter stören lasse; ich hätte ihn nur zu lange schon von wichtigeren Dingen abgehalten.

Wir vereinigten uns dahin, daß er mir durch die Geschäftsräume das Geleit geben dürfe, was er denn nun auch zur Verwunderung sämmtlicher junger Herren in den Drahtlauben that.

„Deine Frau ist aus Warschau?“ fragte ich, während wir so dahiuschritteu.

„Lili ist eine Polin,“ erwiderte Emil mit Nachdruck; „sie spricht ein wunderbares Französisch, und englisch, wie eine Engländerin; aber auch deutsch.“

„Das Letztere ist mir eine große Beruhigung,“ sagte ich, „und ich sollte meinen, auch Dir. Mit Deinem Französisch und Englisch–“

„Es ist ein wenig besser damit geworden; übrigens mein Schwager – er besorgt die ausländische Korrespondenz – Polen – weißt Du – sprechen alle Sprachen – sind damit geboren.“

„Ein großer Vortheil. Und Lili heißt Deine Frau?“

„Ja, ihr eigentlicher Name ist – ist anders; aber Lili klingt so gut, meint sie. Du nicht?“

„Aber sicher. Und sie ist natürlich noch sehr jung?“

„Natürlich! sehr! achtzehn – kaum, trotzdem wir schon beinahe ein Jahr verheirathet sind.“

„Beneidenswerther Mensch!“

„Ich habe in der That ein großes unverdientes Glück gehabt.

Wenn nur meine Schwester – das arme Jettchen – aber Du wirst sie hernach aufsuchen? sie wird sich so sehr freuen – und die Mutter!“

„Sei versichert! Und nun keinen Schritt weiter!“

Wir waren bis zur Ausgangsthür gelangt. Emil übergab mich einem herbeigekliugelten Livreediener, der mich nach oben führen sollte.

„Die gnädige Frau ist doch zu Hause?“ fragte Emil.

Der in Livree bejahte mit einigem Zögern, wie mir schien.

„Allein?“

„Herr Simon ist oben.“

„Ah!“ sagte Emil. Und dann flüsternd zu mir: „Ein Schwager meines Londoner Schwagers. Sehr musikalisch! Pflegt um diese Zeit mit Lili zu musiciren – Alfred Simon – Lili spricht den Namen: Simmen – Mister Fred Simmen – damit Du nicht glaubst, daß es ein Anderer ist.“

Ich weiß nicht, warum, aber Emil’s fleischige Nase schien mir, wie er das sagte, noch länger, und seine Unterlippe zitterte, als ob die Drahtlauben Haselbüsche wären und in jedem statt der schwarzhaarigen kritzelnden Herren ein Pirat seinen Dolch wetzte.

Indessen ich hatte keine Zeit, dafür nach einer Erklärung zu suchen, drückte dem guten Jungen die Hand und folgte dem Manne in Livree nach oben.

6.

Die Zeiten hatten sich freilich sehr gewandelt, seitdem mich an der Thür des Giebelhauses auf den Ruf der klappernden Schelle I. I. selbst empfing und mich mit höflichsten Mienen und Gebärden die drei Schritte über den Flur mit den Weißen Scheuerdielen bis zu der Wohnstube linker Hand geleitete, wo ich die beiden schüchternen Frauen fand, die bei meinem Eintreten von ihren Sitzen auf- und in dem Zimmer herumhuschten. wie meine Kaninchen weiland, wenn ich die Thür zu ihrem Palais unversehens öffnete. Ich hätte mich in meine herzoglichen Zeiten zurückversetzt glauben können, nur daß es in keineni jener Schlösser so Prunkhaft ausgesehen wie hier.

Hätte ich mich nicht vor dem Manne in blau-roth-goldenem Frack, schwarzer Plüschhose mit weißen seidenen Strümpfen geschämt, ich wäre die Treppe hinab und zum Hause hinaus geflohen; aber schon hatte er mir meine Karte abgenommen, dieselbe auf einen bereit stehenden silbernen Teller gelegt und war so durch eine der vergoldeten Thüren verschwunden.

Nach einigen Minuten erschien er wieder: die gnädige Frau lasse bitten! und schritt mir voran über Teppiche, weich und elastisch wie ein Moosboden im Walde, durch eine Reihe von Gemächern, deren jedes ein Raritätenkabinett schien: so waren sie angefüllt mit kostbaren Möbeln, Gemälden, Marmorund Bronzesachen, Kunstgegenständen, Nippes aller Art – Herrlichkeiten, die ich allerdings mehr ahnen, als wirklich schauen und bewundern konnte, denn zu dem Letzteren bewegten wir uns zu schnell (trotz der würdevollen Langsamkeit der voranschreitenden Plüschhosen); überdies war der Winternachmittag schon zu tief. hereingesnnken und die hohen Fenster zu dicht mit seidenen Gardinen verhüllt.

Ich hatte im Allgemeinen nur den Eindruck einer noch nie geschauten Pracht, auf deren Herstellung mindestens eine halbe der von I. I. zusammengescharrten Millionen verwandt sein mußte. Meinetwegen eine ganze – es entzog sich jeder Berechnung, zumal der meinigen, da ich immer ein so schlechter Rechner gewesen war.

Der Livréemann hatte eine letzte Portiere zurückgeschlagen zu einem Gemache, aus welchem mir nun Musiktöne, die ich bereits seit einer kleinen Weile dumpfer vernommen, laut entgegenschallten: eine sehr hoch liegende weibliche Stimme mit einem eigenthümlich vibrirenden Klang, von dem ich mir sagte, daß er auf die Dauer manchen Nerven empfindlich, werden möchte, und Klänge eines Flügels, der vielleicht zu sonor war, um – zumal zur Begleitung eines Liedes – so rauschend gespielt zu werden.

„Nun muß sich Alles, Alles wenden!“ schmetterte die vibrirende Stimme, und die begleitenden Hände arbeiteten auf den Tasten, als ob ein Aeqninoktialsturm wüthete, dem Plötzlich eine feierliche Stille folgte.

Die Musicirenden mußten Text und Noten gut im Kopfe haben: in dem weiten Gemach war es noch dunkler als in den durchschrittenen, so dunkel, daß ich eben nur die Silhouetten eines Herrn und einer Dame auf dem etwas lichteren Hintergründe der Fensterwand sah.

„Sehr verbunden!“ sagte eine der Silhouetten.

Ich wußte nicht genau, ob die des Herrn oder der Dame; oder weun es, wie zu vermuthen stand, die der Dame war, lag ihre Sprechstimme eben so tief wie ihre Singstimme hoch und die R’s schnarrten, als ob sich Jemand, der mit einem starken Katarrh behaftet sei, räuspere.

„Erlauben Sie, daß ich Sie mit meinem Kousin, Mister Fred Simmen bekannt mache – Herr Lothar Lorenz, lieber Fred, von dem Emil heute beim breakfast so viel Gutes gesprochen hat.“

Es war also zweifellos die weibliche Silhouette, die nun auch, da der Diener mittlerweile verschiedene Lichter angezündet hatte – ein Geschäft, das er noch eine Weile fortsetzte – aus dem Dämmer Plastisch heraustrat: ein sehr junges, sehr kleines, sehr zierliches Persönchen in einer sehr kleidsamen, aber auch sehr koketten Toilette, mit einer Uebersülle von sehr dunklem, gekraustem Haar, unter dessen Gewirr über der niedrigen Stirn zwei sehr dunkle und sehr lebhafte Augen flackerten. Mit ihr zugleich wurde nun auch „Mister Simmen“ sichtbar: ein stattlicher Herr, etwa zehn Jahre älter als die Dame, aber ebenso schwarz wie sie, so daß man in ihm den Engländer wohl nur an der Kleidung erkennen mochte, die von etwas ausländischem Schnitt und gewiß nach der neuesten Mode war. Wir verbeugten uns stumm vor einander; ich bat Frau „Lili“ um Entschuldigung, daß ich gestört habe.

„Das thut ganz und gar nichts,“ erwiderte sie; „wir hatten schon zwei Stunden musicirt, ohne die geringste Pause – nicht wahr, Fred: ohne eine Sekunde Pause.“

Ich glaubte deutlich gehört zu haben, daß die Musik erst ganz kurz vor meinem Eintreten und zwar mit dem Schluß des Liedes eingesetzt hatte; es mußte eine Täuschung gewesen sein, denn Mister Fred murmelte bestätigend: „Ohne eine Sekunde: indeed!“

„Sie lieben die Musik natürlich auch,“ fuhr Frau Lili fort; „sie ist die Kunst aller Künste. Nicht wahr, Fred?“

Indeed,“ murmelte Fred.

„Sie müssen nämlich wissen, daß mein Kousin ein großer Künstler ist“, rief Frau Lili. „Er hat Stunden, in denen er es getrost mit Bülow aufnehmen kann, oder mit Rubinstein. Ich darf sagen, daß er die Vorzüge beider vereinigt.“ [619] „Sie sind ja selbst eine ausgezeichnete Künstlerin, gnädige Frau“ sagte ich.

„Sie schmeicheln mir,“ rief Frau Lili. „Mein kleines Stimmchen! Ein wenig Routine – die ich Madame Artot verdanke – ein wenig interprétationexpression – wie sagt man auf Deutsch?“

„Ah ja – Ausdruck! o, das Deutsche ist so furchtbar schwer!“

„Aber Sie sprechen es ja vollkommen.“

„Mein Gott, wir Polen sprechen ein wenig alle Sprachen. In meinem elterlichen Hause in Warschau wurden tagtäglich sieben oder acht Sprachen durch einander gesprochen: polnisch, russisch, tschechisch, deutsch, französisch - wann waren Sie zuletzt in Paris?“

„Ich war noch nie dort, gnädige Frau“

Est-ce possible? aber in London?“

„Ebensowenig.“

That´s strange! Isn´t, Fred?“

Very!“ murmelte Mr. Fred.

Ich glaubte, daß die durch mich verursachte Pause in den gemeinschaftlichen Hebungen der beiden Musikschwärmer reichlich lange gedauert habe, und erhob mich. Mr. Fred folgte sogleich meinem Beispiel: er hatte offenbar nichts dagegen, wenn ich ging. Frau Lili wollte davon nichts wissen oder höchstens unter einer Bedingung, daß ich für den Rest des Winters zu jedem ihrer Empfangsabende komme, welche des Donnerstags stattfänden und wo ich tout Berlin antreffen würde, von dxn Herzögen und Fürsten – hier folgte eine Reihe erlauchter Namen – bis zu dem Virtuosen im letzten Singakademie-Koncert und dem Verfasser des letzten interessanten Feuilleton. Nicht als ob sie nach Berühmtheiten jage! - Sie kämen aber von selbst, weil sie wüßten, daß sie hier, so zu sagen, unter sich wären - tout en famille - sans prétention de quelque sorte - in aller Bescheidenheit, wie es sich für ihre bescheidene Häuslichkeit zieme. Darauf müsse ich mich gefaßt machen. Es würde mir freilich schwer werden, denn sie höre von Emil, daß ich ein sehr verwöhnter Herr, sei; aber auch Herr von Vogtriz komme regelmäßig, und das sei doch gewiß ein verwöhnter Herr. Isn’t he, Fred?

Mr. Fred murmelte etwas, das ich nicht verstand. Ich war freilich bereits in der Nähe der Thür, an welcher ich mich nun zum letzten Male vor der redseligen Dame, die mich trotz meiner Abwehr begleitet hatte, verbeugte, um in dem Vorzimmer erleichtert aufzuathmen. Es mochte ja ein großes unverdientes Glück sein, das der gute Emil sich mit Frau Lili, geborene Löbinska aus Warschau erobert. Aber ich meinte, das Glück würde nicht kleiner sein, wenn es etwas weniger laut wäre und etwas weniger eifrig mit englischen Vettern in der Dämmerung musicirte. Wie um Alles in der Welt hatten sich diese beiden so grundverschiedenen Wesen finden können? Mir schien das so unerklärlich, wie es mir seiner Zeit unbegreiflich gewesen sein würde, wenn Emil den festen Entschluß ausgesprochen hätte, unter die Piraten gehen zu wollen. Was würde der selige I. I. zu solcher Schwiegertochter gesagt, und wie mochte sich die gute scheue Frau Israel, das liebe bescheidene Jettchen zu der Schülerin der Madame Artot gestellt haben?

In so seltsamen und nicht durchaus erfreulichen Gedanken folgte ich dem Goldbetreßten durch die Gemächer, in denen jetzm hier und da Lampen brannten, und dann die zweite der Treppen hinauf zu dem oberen Korridor, der nicht annähernd so prunkvoll ausgestattet war wie der untere und in welchem der Betreßte an einer Thür schellte, die auch alsbald von einer kleinen weiblichen Person geöffnet wurde, welche ich in dem Halbdunkel, um so weniger erkannte, als der Diener die Thür sofort wieder hinter mir geschlossen und so das wenige Licht, das von dem Treppenhause hereingefallen war, ausgesperrt hatte.

Aber ich hatte kaum nach den Damen gefragt und meinen Namen genannt, als die kleine ruschlige Person neben mir einen leisen Schrei ausstieß und, meine Hand ergreifend, dieselbe wiederholt schluchzend an ihre Lippen führte, bevor ich es verhindern konnte.

„Mein guter Herr Lorenz, mein lieber Herr Lorenz! Kommen Sie endlich! Gott sei gelobt!“

Es war Frau Israel.

Ich war durch diesen Empfang in tiefe Verlegenheit gesetzt. Wollte ich ehrlich sein, so hatte mich mehr ein Anstandsgefühl als ein Herzensdrang hierher geführt; der Wunsch, einer alten Schuld ledig zu werden, mehr, als der nach Erneuerung des alten Verhältnisses. Und hier wurde ich begrüßt wie ein Hochwillkommener, Längsterwarteter, ja, als ein Retter und Heiland.

„Ist Jettchen schwerer krank?“

Ich wußte nicht, wie ich zu der Frage kam, mit der ich es so eilig hatte, daß sich zu dem „Fräulein“ keine Zeit fand.

„Ach nein,“ sagte die Mutter; „sie ist nicht kränker als gewöhnlich, aber seitdem Emil, heute Morgen hat heraufsagen lassen, daß sie Wohl in den nächsten Tagen, vielleicht schon heute vorsprechen würden, kann sie die Zeit nicht erwarten.“

Ich murmelte etwas von Verhältnissen, die es mir bis vor kurzem unmöglich gemacht hätten; brauchte die Phrase aber glücklicherweise nicht zu Endst zu bringen, da Frau Israel jetzt die Thür zu einem Gemache öffnete, das wohl ein wenig höher und weiter war als die Familienwohnstube in dem Giebelhause, aber sonst völlig dasselbe Bild bot: die zwei Fenster, in denen hinter den grünen Gazevorhängen die Rosen- und Resedatöpfe blühten, der alte Nußbaumschrank zur Linken, zur Rechten das schwarze Sofa mit den beweglichen Rücken- und Seitenkissen, und weiter das klappernde Klavier; in der Mitte des Zimmers der runde Tisch mit dem plumpen Fuß und der rothbraunen baumwollenen Decke, die vier braunen unbequemen Stühle mit der schwarzen Leyer in der Rückenlehne - Alles, Alles. Nur den einen großen Lehnstuhl kannte ich nicht, welcher mit dem Rücken nach mir in einem der Fenster stand, und aus dem sich jetzt ein weibliches Wesen aufrichtete, vielmehr aufrichten wollte, denn es sank sofort wieder in die Kissen zurück.

„Liebes, liebes Jettchen!“

Ich war zu ihr geeilt und hatte ihre schmale durchsichtige Hand ergriffen – nicht ohne Schauder – sie war so wachsbleich und durchsichtig - ohne daß ich gewagt hätte, ihr ins Gesicht zu sehen. Und jetzt mußte ich doch und erschrak in tiefster Seele. War das Jettchen? War es ein Engel? Der Engels der sie immer gewesen, und den nur die fürchterliche Krankheit auch dem sterblichen Auge enthüllt hatte: Züge von einer Reinheit und kindlichen Anmuth, wie sie zu schaffen auch des zartsinnigsten Bildners Hand verzweifeln würde, Augen von einem magischen Glanz, wie sie ein Maler für seine Himmelskönigin träumt, aber nicht zu schaffen vermag.

Ich war erschüttert neben ihrem Sessel auf einen Stuhl gesunken, welchen die Mutter geschäftig herangerückt hatte, und saß so lange, in ihren Anblick verloren, während sie mich unverwandt mit Blicken einer ganz unsäglichen Freude und grenzenlosen Liebe betrachtete. Hier bedurfte es keiner Erklärung. Die Geschichte dieses Herzens, von der ich blöder Thor bis zu diesem Augenblick keine Ahnung gehabt hatte, brauchte mir Niemand mehr zu erzählen; und daß diese Geschichte so ganz offenbar bis zu ihrem letzten Kapitel gekommen war, nahm ihrem Inhalt alles kleinlich persönliche und hätte demselben auch in den Augen eines Fremden, meine ich, etwas seltsam Feierliches geben müssen.

So saßen wir still neben einander, während die Mutter noch ein paarmal leise ab- und zuging und dann in einem Nebengemache verschwand, lautlos, wie sie auch damals, so oft verschwunden war.

„Die arme Mutter!“ sagte die Kranke mit einer leisen, wie Schwalbengesang süßen Stimme; „aber ich weiß, Du wirst Dich ihrer, wenn ich todt bin, freundlichst annehmen und gute Worte des Trostes für sie haben. Sie verdient es wohl um Dich.“

Ich hatte nicht das Herz, ihr in das bleiche Gesichtchen zu sagen, daß sie nicht sobald sterben werde, sondern versprach ihr nur, was sie von mir wünschte.

„Ich danke Dir,“ sagte sie, „und ich weiß auch, daß es Dir keine Mühe macht, gut zu sein. Das ist es ja, weßhalb Mutter und ich Dich so lieb gehabt haben. Du warst der Sonnenschein in unserm Hause und in unserm Leben. Ich weiß nicht, was wir ohne Dich gewesen wären. Uns wird das Gutsein nicht so leicht. Eigentlich sollen wir die Christen nicht lieben. Wir thun auch Manches, weßhalb sie uns nicht lieben können. Für Dich war das Alles nicht da. Für Dich waren wir keine häßliche, verachtete Juden, für Dich waren wir Menschen; Und wenn sie von dem Messias sprachen, der Jsrael erlösen soll, so dachte ich [620] immer, er müßte sein wie Du, vielmehr, Du seiest der Messias, denn mehr als glücklich kann er uns doch nicht machen und uns erlösen aus unserm Elend, als Juden geboren zu sein, und das hast Du für mich gethan.“

„Ich verdanke Dir auch viele gute Stunden,“ flüsterte ich.

„Nicht viele,“ erwiderte sie lächelnd, „ein paar, wenn Du Dich einmal besonders hilflos und verlassen fühltest und dann zu uns kamst, wie ein Königssohn, dem gelegentlich auch das Butterbrot bei einem seiner Dienstleute schmeckt. Ach, ich spotte nicht. Ich sage es auch ganz offen: unsre Nähe, der Umgang mit uns haben Dir wohlgethan, sie haben Dich zu dem machen helfen, wozu Du die Bestimmung in Dir trugst: ein Mensch zu werden, dem nichts Menschliches fremd ist, der durch die Masken der anderen Religion, des anderen Volksthumes, des anderen Standes immer wieder das Menschliche erkennt, hervorsucht, liebt und verehrt. Solche Menschen giebt es ja so wenig. Das weiß wohl Niemand besser als wir Juden, wenn wir es auch meistens leider dabei bewenden und uns lieber bemitleiden lassen, anstatt uns geistig und moralisch in eine Lage zu bringen, wo wir des Mitleids nicht mehr bedürfen würden.“

Auf den bleichen Wangen waren zwei brennend rothe Punkte hervorgetreten; ich blickte ihr ängstlich in die strahlenden Augen; sie lächelte und sagte:

„Laß mich immer sprechen! Wenn man so viele Jahre geschwiegen hat, und es zu Ende geht, und ein unendliches Glück uns den zuführt, dem wir verdanken, daß wir uns aus dem Wust des Aberglaubens und Vorurtheils retten durften, sollen wir da nicht sprechen?“

Und ein völlig seliger Blick war es, der in den großen Augen schimmerte, wie das Leuchten einer Sonne im Momente des Untergehens.

Und über den, wie ich noch anbetend hineinblickte, die Lider mit den langen dunklen Wimpern sanken, einer Wolke gleich, die sich über die scheidende Sonne deckt und Duft und Farbe weglöscht von der eben noch schimmernden Welt. Ich erschrak heftig, denn ich glaubte, dies wachsbleiche Gesicht mit den doch nicht ganz geschlossenen Augen sei der Tod. Aber das Gewand über der Brust hob und senkte sich noch, und da stand plötzlich die Mutter hinter ihrem Stuhl und winkte mir. Ich erhob mich leise und so folgte ich der Mutter aus dem Gemach in den Flur, in welchem inzwischen Licht angezündet worden war. Der alten Dame – sie war in den paar Jahren ganz alt geworden – liefen die hellen Thränen über die runzligen Wangen, als sie mich jetzt zu der Ausgangsthür geleitete und dabei fortwährend in ihrer durch das Weinen noch schwerer verständlichen Weise murmelte. Ich glaubte nur zu vernehmen, daß „ich sie bald wieder beehren möchte, trotzdem eine alte verlassene Frau und ein krankes Kind keine Ansprüche an einen so feinen Herrn machen könnten,“ und daß „sie hoffe, ich werde fortfahren ihrem armen Sohne ein guter Freund zu sein.“

Während ich die Marmortreppe hinabstieg, die jetzt im Licht der Kandelaber strahlte, dachte ich mit Verwunderung, welch sonderbarer Menschenboden dieser jüdische doch sei, der so unschmackhafte Früchte bringe und dann wieder andere von so berauschender Süßigkeit, gerade wie in ihrem heimischen Orient hart am Rande der steinigen Wüste die Zweige der Dattelpalme wehen.

Ich aber hatte im Schatten der Palmexr wonnevoll geruht und mich an ihren Früchten wundersam gestärkt zu dem Kampf des Lebens, von dem mir mein ahnendes Gemüth sagte, daß er mir jetzt hereindrohe, grimmiger als je zuvor, zu einer Entscheidung, in der es sich für mich um nichts Geringeres handelte, als um Sieg oder Tod.

7.

Es war gekommen, wie ich vorausgesehen: der Oberst hatte die Einladung zu Tante Isabella abgelehnt. Die officielle Entschuldigung war ein Unwohlsein, welches in der That vorhanden war, ihn aber nicht verhindert haben würde, hinzugehen, hätten ihn nicht andere Gründe abgehalten, die er mir nicht verschweigen wollte.

„Ich habe,“ sagte er, „nachdem ich Ellinor fünf Jahre so gewähren ließ, das Recht verloren, mich in ihre Angelegenheiten zu mischen und nun gar mir eine Entscheidung in denselben anzumaßen. Wenn ich recht bedenke, gehörte sie mir schon nicht mehr, als ich sie damals, beim Beginn der Kampagne, nothgedrungen aus den Händen gab : vielleicht hat sie mir im rechten Sinne nie gehört; sie so wenig wie ihre Mutter.

Das klingt sehr hart und lieblos, aber wie die Menschen über eine gräßliche Verstümmelung ihres Körpers zuletzt ruhig sprechen lernen, so spricht man auch endlich mit Ergebung über ein tiefstes Seelenleid. Und welches Leid ist tiefer und schmerzlicher für die Seele eines .frauenhaft gesinnten’ Mannes – um mich eines Goethe’schen Wortes zu bedienen – als die Gewißheit, sich in der Wahl einer heißgeliebten Gattin völlig geirrt zu haben. Es war mein Fall.

Ein hoffnungsloser. Ich wußte es nach wenigen Monden, ich möchte sagen: Tagen, und daß die Jahre daran nichts ändern und bessern würden, im Gegentheil: nur die tiefe Differenz des Denkens und Empfindens, welche nun einmal zwischen uns bestand, aufdecken müßten, So war es denn fast ein Trost für mich, daß sie starb, ohne, leichtlebig und gedankenlos, wie sie war, sich der innerlichen Trennung, unter der ich bereits so fürchterlich gelitten, auch nur bewußt geworden zu sein.“

Ahnte der Treffliche, als er mir diese Mittheilungen und Bekenntnisse machte, während ich bereits im Gesellschaftsanzuge vor ihm stand, wie es in meinem Herzen aussah, und daß ich nur von Kopf bis zu Fuß gewappnet die Gefahr bestehen mochte, der ich entgegenging? Wollte er mir sagen, daß er ein für allemal auf den Besitz des Kleinods verzichtet habe, welches der Riese inmitten seines Schildes trägt; ich mithin um seinetwillen keinen Schritt abzuweichen brauche von dem sicheren Wege, dem zu Seiten der Spuk des Zauberwaldes beginnt?

Zwar von einem Zauberwald spürte ich nichts, als ich zum ersten Male – ich war, als ich meine Visite machen wollte, nicht empfangen worden – die Gesellschaftsräume der vielgenannten Jsabella, verwittweten Generalin von Westen-Burgsdorf, Excellenz, betrat: drei oder vier recht große, recht nüchterne, im dürftigen Geschmack der zwanziger Jahre ausgestattete Räume, in welchen eine, wie mir schien, ebenfalls recht nüchterne, jedenfalls auffallend stille, ziemlich zahlreiche Gesellschaft sich nicht sowohl bewegte, als mit den Theetassen in den Händen herumstand. Uni so dichter, je mehr ich mich dem letzten Zimmer näherte, in welchem ich schon aus einiger Entfernung die alte Excellenz in einem Armstuhl, umgeben von ihren Vertrautesten, erblickte.

Freilich nicht ihr Gesicht, das von einem großen grünen Schinn bedeckt war und von dem ich auch nur ein langes spitzes Kinn und ein paar Runzeln zu sehen bekam, als ich nun von Ulrich, der mir im zweiten Zimmer entgegengekommen war, zu ihr geführt und ihr vorgestellt wurde: Herr Lothar Lorenz, Großtante, ein lieber Jugendfreund von mir, der jetzt mit Onkel Egbert arbeitet – weißt Du!“

„Wo ist der Oberst?“ fragte die alte Dame.

Der Oberst hatte sich bereits brieflich entschuldigt, ich mußte nun die Ausrede mündlich wiederholen.

„Was sagte er?“ rief die alte Dame ungeduldig.

„Du mußt lauter sprechen!“ raunte mir Ulrich zu.

Ich brachte also die Lüge zum zweiten Male vor, was in Anbetracht der zehn oder fünfzehn wildfremden Gesichter, die sämmtlich mit starr auf mich gerichteten Augen dem Verhör beiwohnten, nicht eben behaglich war.

„Glaub’ ich nicht,“ sagte die alte Dame. „Aber der Oberst ist ja der Einzige in der Familie, der mich nicht braucht; so hat er auch das Recht, zu thun und zu lassen, was ihm gefällt.“

Bei dem letzten Worte schlug das falsche Gebiß zusammen, daß es jenen lauten, schnappenden Ton gab, bei dem es selbst dem muthigen Ulrich nach seiner Aussage kalt über den Rücken lief. Ich durfte das nicht länger für eine Uebertreibung halten, während ich im Stillen Gott dankte, daß ich nicht zu denen gehörte, welche die alte Dame „brauchten“.

„Ich habe schon sehr viel von Ihnen gehört,“ fing sie wieder an, „ich weiß aber nicht mehr was: Gutes und Schlechtes durch einander; das Gute kam von Ellinor, däucht mir, und das Schlechte von Astolf. Es kann aber auch umgekehrt sein.“

„Es ist sicher umgekehrt gewesen, Großtante,“ sagte eine helle Stimme hinter mir.

Ich wandte mich und erblickte Astolf. Er war in Uniform, selbstverständlich, und mit dem Eisernen Kreuz geschmückt, an welches sich noch eine lange Reihe anderer Orden und Ehrenzeichen schloß.

Sein schönes Gesicht hatte sich wenig verändert, außer daß es

[621]

 Pfalzgräfin Susanna.       Kurfürst Otto Heinrich.   Universitätswagen.   Bauwagen.
Gruppe aus dem Heidelberger Festzug: Pflege der Kunst und Wissenschaft durch Kurfürst Otto Heinrich 1556–1559.
Originalzeichnung von H. Kley.

[622] einen freundlicheren Ausdruck zu haben schien, wenigstens jetzt hatte, als er mir lächelnd die Hand reichte, hinzufügend: „Jedenfalls bin ich mir keiner Schuld bewußt.“

„Die ich dann nicht ohne weiteres auf einen Anderen schieben würde,“ sagte Ellinor.

Ich wandte mich abermals und verbeugte mich vor der jungen Dame, die ich ebenfalls heute Abend noch nicht gesehen hatte und – ganz in der alten Zauberweise – noch nie so schön gesehen zu haben glaubte, als wie sie jetzt herantrat, ein lebhafteres Roth als sonst auf den zarten Wangen, während die dunklen Augen den fast in heftigem Tone gesagten Worten einen Blitz nachsandten, vor dessen Wirkung den jungen Kriegsmann selbst das Eiserne Kreuz nicht schützte. Ich sah deutlich, wie er sich verfärbte, wenn er auch sein Lächeln festhielt und im höflichsten Tone sagte: „Verzeihe! die Großtante hatte mich provocirt.“

„Macht das unter Euch ab!“ rief die alte Dame; „ich habe mehr zu thun, als Eure tausend und eine Häkeleien zu schlichten.“

Zum Glück für mich kamen andere Gäste, welche empfangen sein wollten und mir erlaubten, mich wieder zu Ulrich zu wenden, den ich bat, mich ein wenig in der Gesellschaft zu orientiren, vor allem mich zu seinen Eltern zu bringen.

Wir fanden dieselben in einem anderen Zimmer zusammen mit Fräulein Drechsler. Herr von Vogtriz schien wirklich erfreut mich zu sehen; wenigstens reichte er mir lebhaft die Hand, welche nicht annähernd mehr die derbe Festigkeit von ehemals hatte, wie denn auch der breite rothblonde Bart inzwischen stark angegraut war. Auch Frau von Vogtriz ließ es an Freundlichkeit nicht fehlen; ich aber hatte nicht die Ueberzeugung, daß sie ohne die leisen Zuflüsterungen der Drechsler sich meiner noch erinnert haben würde. Desto genauer war die Erinnerung der Gouvernante: ich sah noch genau so aus, wie an jenem Morgen, als ich die Familie in die Kirche zu der Predigt von Pastor Renner nicht begleiten konnte oder – wollte? Das sei ihr entfallen. Sie vermuthe das Letztere. Wenigstens erinnere sie sich, daß die gnädige Frau sehr unglücklich über mein Wegbleiben gewesen sei.

„Sie erlauben, Drechslerchen, daß ich Ihnen für diese gefällige Reminiscenz gelegentlich einmal einen Gefallen erweise, den Sie auch nicht so leicht vergessen sollen,“ sagte Ulrich, mich am Arm nehmend und weiter gehend.

„Die Sache ist,“ sagte er, „die alte Spinne hat als langjährige ehemalige Duenna Ellinor’s und designirte Major-Domus des zukünftigen ehelichen Haushaltes das intimste Interesse an dem Zustandekommen der Verbindung und sieht in Dir den geborenen Störenfried desselben. Sie behauptet, Du seiest damals sterblich verliebt in Ellinor gewesen, und darin läge die Erklärung der Extravaganzen Deines Betragens, auf welche anzuspielen sie sich vorhin erlaubte. Das wäre nun nicht schlimm. Aber sie hat in meiner Gegenwart Ellinor ins Gesicht gesagt, daß sie – erschrick nicht! ,sie' ist natürlich Ellinor, nicht etwa die Drechsler! – Gleiches mit Gleichem vergolten, das heißt: sich nicht minder sterblich in Dich verliebt gehabt und sich in Folge dessen nach Deiner Flucht passabel unsinnig und besonders gegen Astolf, milde ausgedrückt, sehr unfreundlich betragen habe. Das Letztere kann ich bestätigen; ich leugne nur die Veranlassung, es wäre denn, daß eine schöne Fischerin es nun einmal übelnimmt und Andere entgelten läßt, wenn ihr ein besonders stattlicher Fisch durch die Maschen geht. Aber weißt Du denn, wer das ist?“

Ulrich winkte mit den Augen nach einem mittelgroßen, etwas beleibten Herrn, der ein langes, ziemlich stark ergrautes Haar aus dem glatt rasirten Gesicht nach hinten über den Schädel gestrichen hatte und jetzt, nach rechts und links lächelnd, mit der Hand grüßend, so rasch durch die Gesellschaft geschritten kam, daß das Eiserne Kreuz, welches er am Friedensbande im Knopfloch seines Frackes trug, hin-, und hergeschaukelt wurde.

„Pastor Renner!“

So leise mein verwunderter Ausruf gewesen, er mußte denselben gehört haben, aber er erkannte mich offenbar nicht wieder, sondern lächelte nur und schritt, freundlich mit dem Kopf nickend, unaufhaltsam weiter.

„Lieber Udo, lieber Hinrich, wollt Ihr erlauben –“ rief Ulrich und stellte mich zwei Herren, seinen Vettern, vor, die ein paar Jahre älter sein mochten als wir – der eine, wie ich hörte, bereits seit längerer Zeit Assessor, der andere erst seit einem Vierteljahr – und auf die, wenn sie denn schon Vogtriz waren, der Ausspruch Ulrich’s, daß die Mitglieder dieser Familie entweder auffallend schön oder auffallend häßlich seien, zweifellos nicht zutraf: ganz gewöhnliche blonde Dutzendgesichter, die sich durch ein paar Schmarren, aber auch sonst durch gar nichts als Leute, welche studirt hatten, auswiesen, mit kurzgeschorenen glatten Haaren, goldenen Kneifern auf den Nasen und einem zugleich faden und arroganten Lächeln auf den mit einem hellen ausgezogenen Bärtchen verzierten Durchschnittsmündern. Ihre erste Frage war, in welchem Korps ich gewesen? und die zweite: ob ich gedient habe und in welchem Regimente? Ulrich’s Antwort, daß ich durch seine Schuld um beide Vergnügungen gekommen sei, entlockte den Herren einige unsichere Ah’s und Oh’s, wie sie denn auch sonst augenscheinlich mit mir nichts anzufangen wußten und erst lebendiger wurden, als Axel von Blewitz zu der kleinen Gruppe herantrat – ganz der alte Axel, wie er noch so frisch in meiner Erinnerung lebte: lang, dürr, mit dem heiser krähenden Sümmchen in der langen Kehle und dem Monocle in dem blaßblauen Auge. Er war glücklich, mich wiederzusehen; er hatte sich bei aller Welt nach mir erkundigt – wa'rhaftig! hundertmal hatte er gesagt: aber wo steckt denn nur der Herr Lorenz – wah’haftig! noch heute Vormittag bei Hiller zu Renten. „Sie können’s mir bezeugen, Renten, wah’haftig!“

Es war eine seltsame Empfindung, als ich in diesem Augenblick meinen puppenäugigen Mentor vom herzoglichen Hofe auf mich zutreten sah, glücklicherweise für mich nicht ganz unerwartet – hatte doch Ulrich bei seinem Besuche von ihm als einem der Kourmacher Ellinor’s und Ellinor selbst von ihm in derselben Eigenschaft gesprochen. Jedenfalls war er durchaus auf mein Wiedersehen vorbereitet, oder der Diplomat, auf den er sich damals schon so gern herausspielte, zum vollen Durchbruch gekommen, wie sich das für den goldenen Kammerherrnknopf schickte, der die Rückseite seines Frackes zierte. Von den Umstehenden hätte wohl keiner, der nicht bereits eingeweiht worden war, aus seinem Wortschwall die Beziehungen errathen, in denen ich zu dem herzoglichen Hofe gestanden haben mochte. Es schien, daß ich mich eine unbestimmte Zeit in einer unbestimmten Eigenschaft zu einem unbestimmten Zweck dort aufgehalten, um dann aus einem unbestimmten Grunde unbestimmte Verhältnisse, die ich dort angeknüpft, aufzugeben. Unbestimmte, aber sehr angenehme Verhältnisse! das sagten die blauen Puppenaugen, die während der ganzen Scene so achtungsvoll zu mir aufblickten; sagte das Lächeln, das fortwährend den kleinen Mund mit dem blonden gekräuselten Bärtchen und den weißen Zähnen (den berühmten Renten-Zähnen) umspielte; sagten die hellen Glacehandschuhe, welche wiederholt meine Hände so freundschaftlich drückten. Es war gewiß nicht die Schuld des Mannes, daß ich es als eine Erlösung ansah, als plötzlich Ellinor in den Kreis, welcher sich immer dichter um uns geschart hatte, hereintrat und mich bat, ihr zu einem alten Freunde zu folgen, von dem ich sehnlich erwartet würde.

„Es ist der Kammerherr,“ sagte sie zu mir, während ich so neben ihr her schritt; „er ist eben gekommen und hat sich nur bis ins erste Zimmer bringen lassen. Er fürchtet, daß er später keine Gelegenheit haben würde, mit Ihnen zu sprechen; und doch ist er bloß um Ihrethalben gekommen.“

Sie hatte das hastig gesagt, in einem unsicheren und, wie mir schien, eigenthümlich erregten Tone. Auch ließ sie mir keine Zeit zu einer Antwort, sondern fuhr ebenso fort: „Werden Sie gegen ihn unfreundlich sein, wie gegen –“

Sie brach ab, die Begrüßungen von ein paar Herren entgegenzunehmen, die eben eintraten. Ich wußte nicht, ob ich weiter gehen oder auf sie warten sollte; aber nach wenigen Sekunden war sie bereits wieder an meiner Seite.

„Wie gegen wen?“ fragte ich.

„Gegen mich zum Beispiel.“

„Also auch gegen Andere?“

„Gegen uns Alle.“

„Ich hoffe, Sie thun mir Unrecht, gnädiges Fräulein. Wäre es nicht der Fall, würde ich in sonderbarer Weise die Absicht verfehlt haben, in der ich hierhergekommen bin.“

„Ich weiß! Der Papa hat der Großtante ausführlich geschrieben; und daß wir Ihr Erscheinen, da Sie sein volles Vertrauen hätten, ansehen möchten wie sein eigenes. Ich wundere mich nur, daß Sie, gerade Sie sich zu einer solchen Mission hergeben.“ [623] Der Vorwurf war ein Pfeil, gegen den ich wehrlos war, da ich den einzigen Beweggrund, mit welchem ich meine Handlungsweise vor mir selbst entschuldigte, auch nicht einmal andeuten durfte. Und dann, warum um Alles in der Welt hatte sie dann auf meinem Kommen bestanden, wenn nicht um des von mir angedeuteten Grundes willen? So fing ich denn in meiner Bestürzung an, etwas von Pflichten zu murmeln, die man wider Willen auf sich nehmen müsse, und brach jäh ab, da ich merkte, daß ich eben das sagte, was ich nicht sagen wollte. Ich wünschte mich tausend Meilen weit von dieser Stelle.

Wieder kamen ein paar verspätete Gäste, und glücklicherweise waren es diesmal ein paar ältere Damen, die Ellinor nicht so schnell abfertigen konnte, wie vorhin die jungen Herren. Auch waren wir bereits im vordersten Zimmer, und ich sah den Kammerherrn oder doch wenigstens einen Rollstuhl, der in das sehr tiefe Fenster geschoben war und in welchem Jemand kauerte, der ja kein Anderer als der Kammerherr sein konnte. Er war von ein paar Herren umgeben, die, als ich mich nun rasch näherte, zurücktraten, jedenfalls dazu von dem Kammerherrn selbst, der mich hatte kommen sehen, aufgefordert. Er winkte mir mit der weißen Hand entgegen; es schien dies die einzige Bewegung, über die er noch mit einiger Freiheit verfügte. Ich hatte diese Hand ergriffen, indem ich zugleich auf dem Sessel Platz nahm, welcher neben dem Rollstuhl stand. Der Kranke mußte in meinen Mienen gelesen haben: „Ich bin wirklich noch nicht mein Gespenst,“ sagte er mit einem Anflug seines alten satirischen Lächelns.

Es bedurfte fast dieser Versicherung: man konnte nicht leicht etwas Gespenstischeres sehen als diese in fürchterlicher Weise verkrümmte, zur Mumie zusammengeschrumpfte Gestalt mit dem nun unverhältnißmäßig großen Schädel, von welchem langes, völlig Weißes Haar über ein kleines, verzerrtes Gesicht fiel, das einem Todten gehört haben möchte, wäre das Auge nicht gewesen. Nur eines – von dem zweiten, wie ich nachher bemerkte, mußte er, wollte er es gebrauchen, erst mit dem Zeigefinger das Lid heben –und in diesem einen schwarzen Auge hatte sich Alles, was von Leben in der Mumie war, koncentrirt – Flackerleben, das jetzt verlöschen zu wollen schien, um im nächsten Moment mit unheimlichem Glanze dämonisch aufzuglühen. Die immer schon gebrochene Stimme, die aber damals noch so ergreifend zu singen und so wunderbar vorzutragen vermochte, war zu einem heiseren Flüstern geworden, welches zu verstehen mir anfänglich um so schwerer wurde, als die seltsame Scene, welche ich eben mit Ellinor gehabt hatte, noch in mir nachzitterte.

„Ja, ja,“ flüsterte die Mumie, „sehen Sie mich nur dreist an, mein junger Freund! Das wird schließlich aus einem, wenn man zu dumm oder zu feig ist, dem elenden Dasein bei Zeiten ein Ende zu machen, nämlich: so lange man unter den anderen schönen sieben Sachen die Scham noch nicht verloren hat. Hernach ist es zu spät, und man vegetirt so schamlos weiter, wobei gar kein Spaß ist, außer daß man die Leute durch sein Dasein ärgert. Das hat man noch vor dem Hund voraus, sonst nichts – ein Strohhalm, aber man klammert sich daran. Sind wir unbelauscht, liebes Kind?“

Er versuchte jetzt, das rechte Augenlid zu heben; ich beeilte mich, ihn zu versichern, daß Niemand sonst ihn hören könne, was gewiß der Fall war, da ich, der ich dicht an ihn herangebeugt saß, noch immer einige Mühe hatte, seine leisen, durch ein trockenes Hüsteln vielfach unterbrochenen Worte zusammenzubringen. Und hüstelnd fuhr er fort:

„So geschmacklos bin ich nämlich noch nicht, Sie zu diesem tête-á-têtetête-á-tête ist gut: wir haben ja die Köpfe so dicht zusammen, – wenn ich ein schönes Mädchen wäre, Sie könnten mir einen Kuß geben, ohne daß es Jemand merkte. Seien Sie ruhig! ich meine es gut mit Ihnen – Sie werden es gleich sehen. – Also: ich habe Sie nicht zu mir gebeten, um Ihnen vorzulamentiren wie ein altes Weib, obgleich das Gewerbe, das ich bei Ihnen anzubringen habe, allerdings Altweibersache ist: Kuppelei, junger Freund, Kuppelei! Ach, die liebeu naiven erschrockenen Augen! Was gäbe ich, könnte ich noch einmal solche Augen machen! Aber nun ernsthaft! Und hören Sie genau zu, was ich Ihnen sage! Und unterbrechen Sie mich nicht, wenn auch, was ich Ihnen zu sagen habe, höchst wunderlich und theilweise sogar passabel toll ist. Ich weiß, wer Sie sind! Still! Ich meine nicht das, was hier so ziemlich Jeder weiß und Keiner mehr besagen kann, als ich, der ich so gern Ihr Vater gewesen wäre. Ihre Frau Mutter dachte anders darüber; ich mußte froh sein, wenn ich ihr einmal die schöne Hand küssen durfte. Sie hat mir das bitterste Leid meines Lebens bereitet; ich will mich dafür an ihr rächen, indem ich ihr zu dem verhelfe, wovon sie mir schreibt, daß es der letzte und höchste Wunsch in ihrem Leben sei. Still! Sie haben es mir versprochen! Ich trage den Brief bei mir; er soll mit mir begraben werden; es ist meine Ehrenrettung. So schreibt man an keinen verschmähten Liebhaber, den man nicht trotz alledem für einen ehrlichen Kerl hält. Sie schreibt aber – nicht aus Amerika, sondern bereits aus London – erstens Alles, was ich wissen mußte, um au courant zu sein – Alles, verstehen Sie! auch, daß ein Brief von ihr an Sie unerbrochen zurückgegangen ist und sie in London getroffen hat. Sie wendet sich nun an mich, von dem sie allerdings nicht zu wissen scheint, in welcher miserablen Verfassung ich bin, und verlangt meinen Rath, meinen Beistand. Was sie thun soll, um zu einer Verständigung, einer Aussöhnung mit Ihnen zu gelangen, nachdem Sie ihr Entgegenkommen so schroff zurückgewiesen haben? Ich wußte, daß ich Sie heute hier treffen würde. So konnte ich ihr telegraphiren, sie möge vorläufig einmal das Resultat dieser unserer Unterredung abwarten. Still! ich bin noch nicht zu Ende. Ich muß Ihnen erst noch sagen, wie ich darüber denke. Ich denke, daß die Welt ein einziges großes Narrenhaus ist, in das aus Versehen zu ihrem Unglück auch einige wenige Vernünftige gesperrt sind, zu welchen ich Sie zu zählen mich beehre. Die Narren dokumentieren sich dadurch, daß sie an jeden beliebigen Zopf von Vorurtheil, er sei so dick und so dumm wie immer, gierig beißen; die Vernünftigen durch das Gegentheil, indem sie muthig ihrer Einsicht folgen, ohne sich durch das Geschrei der Menge beirren zu lassen. Nun ist eines der allerdummsten Vorurtheile, daß sie die Menschen für die Sünden ihrer Eltern verantwortlich machen, als ob nicht Jeder an seinen eigenen genug zu tragen hätte! Mit diesem Satze haben Sie die Richtschnur für Ihr künftiges Verhalten. Nehmen Sie jeden Vortheil wahr, den Ihnen die Situation Ihrer Eltern bietet, und lachen Sie Jedem ins Gesicht, der Miene macht, Ihnen das zu verargen. Bisher haben Sie nicht so gehandelt; aber das macht mich an Ihnen nicht irre. Auch die Vernunft will, wie jedes gute Ding, Weile, bis sie zum Durchbruch kommt; die Hauptsache ist, daß sie zum Durchbruch kommt, bevor das Spiel verloren ist. Ihres ist noch nicht verloren – im Gegentheil: es liegt für Sie so günstig wie möglich. Sie lieben Ellinor. Still! unterbrechen Sie mich nicht! Ich wußte es schon damals, und Sie würden sie jetzt abermals nicht so miserabel behandeln, wenn Sie nicht noch immer abgöttische Liebe zu ihr hegten. Ergo: heirathen Sie Ellinor, da das Vorurtheil der Ehe unter den Menschen auch besteht und so bald nicht auszurotten sein dürfte. Hindernisse giebt es nicht. Aus Andeutungen Ihrer Mutter glaube ich entnehmen zu dürfen, daß eine Aussöhnung, respektive ein passendes Arrangement zwischen ihr und dem Herzog im Werk ist. Kommt es zu Stande – bon! Kommt es nicht zu Stande – auch gut: die Millionen Ihrer Mutter schnellen alle legitime Nücken und Velleitäten, wie sie hier in diesen Räumen – ich gebe es zu – massenhaft im Schwange sind, hoch in die Luft. Und jetzt bitte, sagen Sie dem Kerl von Diener, der da herumlungert, er solle mich zu meiner alten Freundin kutschiren, deren Consens zu erwirken ich übrigens auf mich nehme; und dann gehen Sie hin und sagen Sie Ihrer jungen Freundin mit einem schönen Gruß von mir, daß ich Ihnen den Kopf zurecht gesetzt habe, und daß Sie sie zum Rasendwerden lieben und in vier Wochen heirathen wollen.“

Ein Husten, welcher schon lange gedroht und die Rede des Alten zuletzt fast unverständlich gemacht hatte, brach herein, und wenn der Anfall auch schnell vorüberging, blieb mir keine Zeit zu fragen, worauf mir jetzt Alles ankam: ob denn Ellinor von unserm verwandtschaftlichen Verhältniß unterrichtet sei? Bereits hatte der herbeigewinkte Dieuer den Rollstuhl in Bewegung gesetzt; ich mußte zurückbleiben, da nun auch ein Herr, welcher nur auf die Beendigung der langen Audienz gewartet zu haben schien, jetzt schnell an mich herantrat und sich mir als Präsident von Vogtriz zu erkennen gab. Er habe schon so viel von mir gehört, und daß ich bei seinem Bruder Egbert in so hohem und, wie er nicht zweifle, gerechtem Ansehen stehe. Er [624] sehe in letzter Zeit den Oberst seltener in Folge gewisser politischer Meinungsverschiedenheiten, die sich zwischen ihm und dem Bruder herausgestellt, von denen er aber hoffe, daß dieselben jetzt schwinden, wenigstens für den Oberst nicht länger verhängnißvoll sein würden, seitdem – heute – der famosen ersten Broschüre eine zweite gefolgt sei, in welcher sich der Verfasser genannt und sich zugleich zu der Autorschaft der ersten bekannt habe: ein gewisser Adalbert von Werin, jedenfalls der Sohn eines excentrischen Officiers, dessen er sich wohl erinnere und der auch ein Jugendfreund des Obersten gewesen sei. Damit sei dem Oberst ein großer Dienst erwiesen. Nachdem der Verdacht, der so lange auf ihm gelastet und den er durch sein hartnäckiges Schweigen bestärkt, von ihm genommen, habe er es in der Hand, sich durch ein nur einigermaßen versöhnliches Auftreten, wenn er nur wolle, vollständig zu rehabilitiren. Und er müsse es ja wollen. Mein Gott, was solle daraus werden, wenn nun gar ein Vogtriz, noch dazu in solcher Stellung, sich zu den Königsfeinden schlüge! Die ganze Familie sei ja dadurch auf das Heilloseste kompromittirt, die Dutzende von Vogtriz in der Armee und im Civildienst in ihrer Karrière gefährdet. Und was solle aus der Verbindung zwischen Ellinor und Astolf werden, die doch nun einmal beschlossene Sache sei, obgleich er für sein Theil kein wesentliches Interesse an dem Zustandekommen derselben habe – im Gegentheil! Die Universalerbschaft Ellinor’s stehe und falle mit dieser Verbindung; mithin könnten bei einem eventuellen Zurücktreten Astolf’s die Chancen für ihn und seinen Sohn nur steigen. Womit er nicht gesagt haben wollte, daß er das Zurücktreten wünsche – Gott bewahre! Dazu habe er einen zu ausgeprägten Familiensinn! Er spreche über das Alles ganz offen mit mir, weil meine Anhänglichkeit an die Familie so allgemein bekannt sei, daß man mich fast zu derselben rechnen dürfe, und ich speciell das Ohr des Bruders habe, dem ich nicht verfehlen möchte, mitzutheilen, was er (der Sprecher) ihm selbst gesagt haben würde, hätte er dazu heute Abend die erhoffte und nun leider verfehlte Gelegenheit gehabt.

Ich hatte während dieser langen Auseinandersetzung dem Präsidenten scharf in das bartlose, hagere, von diplomatischen Falten durchschlängelte Gesicht gesehen und die Ueberzeugung gewonnen, daß er aus Herzensgrunde zweierlei wünschte, einmal: es möchte der Oberst einen decenten Abschied nehmen, der die Familie nicht bloßstellte, und zweitens: es möchte so oder so zu einem Bruch zwischen Ellinor und Astolf kommen und einer seiner Söhne an des Letzteren Stelle treten. Aber was ging das mich an? Was hatte ich hier zu suchen, wo Jeder gegen Jeden intriguirte und Einer nach dem Anderen geschäftig war, mich in das Netz hineinzuspinnen, in welches ich mich schon so weit hatte hineinspinnen lassen, daß es mir wie ein Alp auf der Brust lag und ich ersticken zu müssen meinte? Aber wer oder was konnte mich halten, wenn ich mich nicht halten lassen wollte? Und konnte ich mich halten lassen wollen, ohne zum Verräther zu werden an mir selbst?

(Fortsetzung folgt.)




Aus Heidelbergs Jubeltagen.
Mit Illustrationen von H. Kley.


Auffahrt des Großherzogs von Baden und des Kronprinzen des Deutschen Reiches vor der Festhalle.

Herrliche, unvergeßliche Tage waren es, die vom 2. bis 9. August in Heidelberg gefeiert wurden. Die Augen der civilisirten Welt waren auf die kleine Stadt am Neckarstrande gerichtet, wo eine Woche lang das Herz Deutschlands schlug. Ist ja doch Heidelberg Allen ins innerste Herz gewachsen, Allen, denen es vergönnt war, auf seinen Bergen und in seinen Straßen zu Wandeln und die wunderbare Harmonie von Natur und Kunst, von Geist und Geselligkeit, die seinen Hauptvorzug bildet, auf sich wirken zu lassen. Aber auch solche, die Heidelberg nie betraten, haben doch so viel von ihm gehört, daß ihre sehnsüchtige Aufmerksamkeit fortan darauf gerichtet blieb und daß sie es uns Dank wissen werden, wenn wir eine Reihe von Jubiläumsbildern vor ihren Augen entrollen.

Eine Kette von Kleinodien, so könnte man die Tage der Festwoche betiteln, von Kleinodien, jedes besonders in seiner Art, aber keines gern dem andern die Palme des Glanzes und der Pracht zugestehend. Zehntausend Gäste aus allen Gauen Deutschlands und auch aus den benachbarten Ländern kamen nach Heidelberg, und durch die festlich geschmückten Straßen flutheten und drängten die Massen nach der Festhalle auf dem Lauerplatz, vor deren Eingang wir auf dem ersten unserer Bilder die höchsten der Gäste, den Kronprinzen des Deutschen Reiches in Begleitung des Großherzogs erblicken. Die rothen Livréen der Hofkutscher und Lakaien geben dem Empfang einen farbenbunten Anstrich, während die nach Hunderten zählende Volksmenge es nicht an begeisterten Hurrahs fehlen läßt. Von dem Entrée bis zur Front der Halle im Hintergrund zieht sich der mächtige, von Rasen umsäumte und mit Wimpeln, Wappen, Guirlanden, Lampions und stattlichen Studentenfiguren gezierte Vorplatz, und dann erscheint die Westfront, architektonisch einen ebenso imposanten wie harmonischen Eindruck hervorrufend. Die hochragenden Thürme mit ihren vergoldeten Dächern, ihren von Putten getragenen Wappen, ihrem Spruch „Fröhlich Pfalz, Gott [625] erhalt’s“ und ihren Medaillons des Großherzogs und der Großherzogin zeigen so viele dekorative und architektonische Details, daß die Feder erlahmen würde, wollte sie Alles aufzeichnen. Die den Thorbogen entsprechenden Thüren geleiten zum Innern, das uns staunen läßt über die Kunst des Baumeisters, der für 5000 Menschen ein zugleich das Gepräge der Großartigkeit und Gemüthlichkeit tragendes Riesengebäude geschaffen hat. Wappen, Guirlanden, Fahnen, Schilder, Figuren, Blumen, Grünzeug, Kränze in geschmackvollster Anordnnng erhöhen den festlichen Eindruck, und über das Ganze spannt sich eine hellblaue, sternenbesäete Decke aus Stoffzeug, die bei der Sonnenbeleuchtung des Tages wie bei der elektrischen der Nacht eine wunderbare Wirkung hervorruft.

Montag Abends wurden hier die Festgäste durch den Oberbürgermeister begrüßt, aber die erste der Feierlichkeiten fand Dienstag Vormittag in der Universität selbst statt: der Empfang der Deputationen in der Aula, dem großen Sitzungssaale der Universität, der, von dem Architekten Durm in Karlsruhe aufs Schönste renovirt, mit den Inschriften berühmter Heidelberger Professoren aus alter und neuer Zeit geziert und mit dem farbenreichen Oelbilde Keller’s, den Einzug der Pallas Athene in Heidelberg darstellend, geschmückt ist. Hier sprach der Großherzog, hier hielt der Kronprinz des Deutschen Reickes seine zündende, die Presse aller Länder durcheilende, gemüths- und gedankentiefe Festrede, hier mahnte er zur Arbeit und zur Mäßigung mitten im glänzendsten Erfolg. Hier nahm der Prorektor Becker die Ansprachen der deutschen und auswärtigen Deputationen entgegen, jede in geistvoller Weise beantwortend, hier entfaltete sich ein Bild geistiger Größe und nationaler wie universeller Bedeutung, das allen Theilnehmern unvergeßlich bleiben und in Jahrhunderten vielleicht nicht wiederkehren wird.

Festrede des Professor Kuno Fischer in der Heiliggeistkirche.

Abends nahm das Schloß – neben der Heiliggeistkirche am innigsten und längsten mit der Alma mater Ruperta verwachsen – in strahlendem Festglanz die Gäste auf. Schloßgarten, Schloßbrücke, Schloßhof, Altan, Bandhaus, Stückgarten sind mit Fahnen, Wimpeln, Wappen, Guirlanden, elektrischen Lampen, Gaskandelabern, Tausenden von bunten Jlluminationsgläsern großartig geschmückt und taghell erleuchtet. Im Bandhaus, dessen Tropfsteindecke mit buntem Holzgetäfel überzogen und dessen Kalkwände mit reichen Gobelins, Rüstungen, Waffen, Wappen etc. geziert sind, hielten der Kronprinz, der Großherzog und die Großherzogin Kour ab. Keine kleine Aufgabe, die nach Hunderten zählende Menge hervorragender Männer Revue passiren zu lassen und von Jedem etwas Interessantes zu erfahren oder ihm etwas Verbindliches zu sagen.

Endlich um zehn Uhr betreten, nach beendigter Vorstellung, die Fürstlichkeiten, mit lauten Hochrufen empfangen, die tannenholzgezimmerte über anderthalb Meter breite Verbindungsbrücke zwischen Bandhaus und Stückgarten. Die Menge drängt nach und staunt über das solide Bauwerk, das aus dem thurmhohen Hirschgraben aufragt und mit Schonung der uralten Baumriesen aus Balkenwerk errichtet ist. Die Dunkelheit des längstverlassenen Grabens trotzt dem Angriffe der elektrischen Flammen, Fackeln und Lampions, und so wird es der Phantasie nicht schwer, ihn wieder mit all den Löwen, Bären, Hirschen und anderen Thieren zu bevölkern, die einst darin gehaust haben.

Doch nun wieder zu der specifisch akademischen Feier!

Am 4. August folgt die Festrede des Professors der Philosophie, Geheimrath Dr. Kuno Fischer. Schon um acht Uhr fängt die Kirche an sich zu füllen; all die schöngeputzten Damen und Herren rechnen es sich zur Ehre an, eine Karte erhalten zu haben für diesen geistigen Weihe-Akt des ganzen Festes. Bis halb neun Uhr ist die Kirche in ihren nicht reservirten Theilen bereits bis zum letzten Stuhl gefüllt. Um dreiviertel neun Uhr setzt sich der akademische Festzug von der Aula aus unter Vorantritt eines Musikkorps in Bewegung. An der Spitze marschirt die Studentendeputation mit dem von den Heidelberger Professorendamen gestifteten Banner der Universität. Es folgen die Pedelle, der Prorektor und Senat. Diesem schließen sich die Deputirten der ausländischen und deutschen Universitäten und Akademien, der Polytechniken Deutschlands, die Heidelberger akademische Körperschaft, der Studentenausschuß an. Dabei hatte man bequemste Gelegenheit, goldene Ehrenketten, Ordensbänder und Sterne aller Form und Farben, prächtige Ornate, Roben und Barette in Hülle und Fülle kennen zu lernen und zu bewundern. Nach Aufstellung des Zuges in der Kirche erschienen die fürstlichen Herrschaften, von einem nicht endenwollenden Jubel der vor dem Gotteshause aufgepflanzten Volksmenge begrüßt. Sie nehmen Platz, akademischer Gesang ertönt, und der Festredner Kuno Fischer besteigt die mit Palmen und Lorbeer geschmückte Rednerbühne, wie unser Bild es darstellt. Man gewahrt die imponirende Figur des Redners, die hochragenden, mit Fahnen gezierten Säulen, im Hintergrunde Orchester und Sängerchor. Vor diesem Heidelbergs Professoren und Docenten. An der Säule gegenüber dem Redner prangt das Banner der Universität, von Studiosus Klaus gehalten. Unter der Kanzel erblickt man den Kronprinzen und den Großherzog mit Familie, hinter ihnen das Gefolge und im Vordergrunde die Deputirten fremder Universitäten und Akademien. Wahrlich, eine großartige Scenerie!

Athemlos lauscht die Menge der sonoren Stimme und den schwungvollen Ausführungen des berühmten Redners, der in so denkwürdiger Zeit und an so denkwürdiger Stelle die dankbare Aufgabe übernommen hat, die interessantesten Momente der 500jährigen Geschichte der Universität in ihren Beziehungen zu Stadt und Land zu schildern. Nahezu drei Stunden spricht Kuno Fischer, manchmal erhebt sich die Stimme zu Seraphklängen sanftester Begeisterung über die Schönheit Heidelbergs, dann wieder sinkt sie zu dumpfem Grabeston herab, wenn er die Nachtseiten Pfälzer Geschichte zu malen beginnt, ja man glaubt die Donner des jüngsten Gerichtes aus ihren Klängen hervorgrollen zu hören, wenn er die Gräuel verthierter Kriegerhorden und die Bilder der Zerstörung unserer Musenstadt vor den Zuhörern entrollt.

Nach Schluß der Festrede und Beendigung des Chorgesanges verweilten die Fürstlichkeiten noch ein Halbstündchen, dem und jenem Professor die Hand drückend, und unvergeßlich wird für Jeden der Augenblick sein, wo die heldenhafte Gestalt des Kronprinzen so viel Helden des Geistes wohlwollend gegenübertrat.

Wir übergehen das Festmahl im Museum, dessen Verlauf und Reden in der Tagespresse sattsam geschildert wurden, und wenden uns [626] zum Fackelzug, den die gesammte Studentenschaft dem Rector magnificentissimus darbrachte.

Abends neun Uhr fuhren Kronprinz, Großherzog und Familie zum festlich geschmückten Rathhaus, um den 3000 Fackeln zählenden, von vielen Musikkorps begleiteten Zug an sich vorüberziehen zu lassen. Großartig war der Lichteffekt. Der Großherzog brachte, als die Studentendeputationen vor ihm aufzogen, mit weithinschallender Stimme ein zündendes, von donnerndem Applaus begleitetes Hoch auf den Kronprinzen als den Vertreter des Kaisers. Ueber eine Stunde lang zogen immer neue farben- und nicht farbentragende Korporationen mit Hurrah und Vivat vorüber. Die ersten Fackelträger waren schon am Ort ihrer Bestimmung angelangt, als die letzten, den Neckar mit rothem Flammenschein beleuchtend, erst längs der Neuenheimer Seite von Handschuchsheim her der alten Brücke zu zogen. –

Am nächsten Tage, dem 5. August erfolgte Morgens um 9 Uhr die ernste Feier der Ehrenpromotion in der Heiliggeistkirche, bei der außer vielen verdienstvollen Männern der Wissenschaft der Großherzog den theologischen, der Erbgroßherzog den juristischen, Minister Turban den philosophischen und Exminister Jolly den medicinischen Ehrendoktor erhielten. Die Dekane der vier Fakultäten motivirten jede einzelne Ernennung in feierlichen Ansprachen. Der Großherzog wohnte der Feier bei, und der Prorektor Geheimrath Becker, in der vom Großherzog gestifteten Prorektorenkette von schwerem Gold erscheinend, redete der Jugend gewaltig ins Gewissen. „Wir Alten,“ meinte er, „leisten eben, was wir noch können, aber an Euch Jüngeren ist es, auf unseren Schultern weiter zu steigen.“

Endlich erschien der Freitag, von soviel Zehntausenden mit Sehnsucht erwartet, der Tag des Festzuges, der zwei Jahre lang den Gesprächsstoff innerhalb und außerhalb von Heidelberg gebildet, auf den hin einundeinhalb Jahr lang angestrengt war gearbeitet worden, für den viele Künstler, von Gelehrten unterstützt, Pläne entworfen, für den die Bahnlinien Süddeutschlands eine fieberhafte Thätigkeit entfalteten, die Stadt Heidelberg ihre Physiognomie durch Errichtnng unzähliger Tribünen auf freien Plätzen, in Gärten, Thorbogen, Thüren, Mauern etc. bis zur Unkenntlichkeit entstellt hatte.

Wagen der Ruperta Carola.

Ein herrliches Wetter hatte eine zahllose Menge von Zuschauern herbeigelockt, die gleichwohl wegen der Masse von Tribünen und der Besetzung der Häuser längs der ausgedehnten Zuglinie kein Gedränge auf den durch Seile abgesperrten Straßen verursachten.

Nach 9 Uhr verläßt der Großherzog mit seiner Familie in langer prächtiger Kavalkade, von den Adjutanten, Hofchargen, Ministern und Spitzen der hiesigen Behörden geleitet, das Palais und fährt zu der für ihn errichteten Fürstenloge, die reichgeschmückt, mit Fenstern und wohnlichem Gemach versehen, dem Landesherrn und seiner Umgebung bequemen Aufenthalt bietet und durch Aufstellung von Blattpflanzen verschiedenster Art wie eine Oase aus der Bretterwüste der Tribünen hervorleuchtet. Der Fürst wird mit donnerndem Hurrah begrüßt, tritt in die Loge und unterhält sich mit den von ihm geladenen Gästen.

Endlich geht ein Brausen durch die Menge, helle Fanfaren ertönen und der Festzug, in der von Hoff und Kley entworfenen Ordnung, geht dem Auge vorüber.

Unmöglich ist es, die gehobene Stimmung zu schildern, in die jeder Beschauer versetzt wird.

In diesem großartigen Aufzug ist nichts von dem Geflirr und Flitterwerk, von dem Firlefanz und falschen Gepränge einer Fastnachtsaufführung. Alles ist echt, gediegen, edel in Stoff, Farbe und Form. Die Täuschung ist eine vollkommene und – was das Merkwürdigste ist – eine Täuschung löst immer die andere ab. Von einer Geschichtsperiode gerathen wir in die andere, Alles mitdurchlebend, Alles mitfühlend. Kindlich fromm angehaucht sind wir mit dem Zeitalter Ruprecht’s, kriegerisch kühn mit dem Sieger von Seckenheim, tiefster Weisheit theilhaft mit Otto Heinrich, von Hoheit, Glanz und Pracht geblendet mit Friedrich V., niedergebeugt mit den Perioden des Dreißigjährigen und des Orleans’schen Krieges. Das tändelnde Hofleben des 18. Jahrhunderts erfaßt uns mit Karl Philipp, gewinnt sinnlich bestrickende Gewalt über uns mit Karl Theodor, im Kontrast dazu fühlen wir uns zu erneutem Aufschwung emporgehoben mit Karl Friedrich und mit den schönsten Hoffnungen für die Zukunft erfüllt bei dem farbenfrischen Aufzug der modernen Studentenschaft. Dazwischen hingestreut ist so manche herrliche Gestalt, so manche gebietende Persönlichkeit, so manche herzgewinnende weibliche Figur, so manche lusterweckende, echt pfälzische Erscheinung.

Doch was vermögen alle, auch die begeistertsten Worte gegen die lebendige Anschauung und Darstellung? Diese Nonnen, diese Krieger, diese Fürsten, diese Damen des Hofes, diese Pagen, diese Pferde mit ihren abwechselungsreichen Sätteln und bunten Schabracken, diese Wagen mit ihrem herrlichen Zierat, ihren lebendigen und allegorischen Figuren, ein Künstler muß sie Dir zeichnen, zeigen in ihrer harmonischen Anordnung, ihrer naturwahren Haltung, ihrem Zusammenwirken zu der Idee des Ganzen, und erst dann hast Du den vollen Genuß des Festzuges. – Und so führt Dir denn unser Künstler vors Auge zwei herrliche Gruppen: „Die Pflege der Kunst und Wissenschaft durch Kurfürst Otto Heinrich“ und den „Wagen der Ruperto Carola“. Die erste (vgl. S. 621), welche die Glanzzeit Heidelbergs unter dem ruhmvollen Förderer von Wissenschaft und Kunst darstellen soll, eröffnen berittene Bannerträger und Herolde, dann folgt der Kurfürst mit der Pfalzgräfin, von glänzendem Hofstaat umgeben; hinter diesem der einfache Wagen der Universität von Studenten umgeben, und zum Schluß Bürger Heidelbergs mit dem Bauwagen, auf welchem Werk- und Zimmerleute ein emsiges Treiben entwickeln. Vor der anderen Gruppe, dem Wagen der Ruperto Carola, zieht ein Ritter, zwei Pferdeführer folgen, rechts und links gewahrt man Scholaren. Die Pietas und die Sapientia sehen dem Beschauer entgegen, Justitia und Veritas sind ihm abgekehrt. Der Wagen ist mit einem Baldachin geschmückt und mit gothischen Zieraten aufs Reichste versehen. Hinter ihm gewahrt man Ritter, Studenten und den Schlußherold …

[627] Hatten am Morgen und gegen Mittag Phantasie und Sinne geschwelgt in Genüssen, wie sie nur die edle Kunst zu bieten vermag, hatte am Nachmittag die festlich geschmückte Stadt ein buntbelebtes Bild des Wogens und Treibens von Menschenmassen, wie vielleicht nie seit ihrer Entstehung, geboten, so folgte am Abend ein Geist und Gemüth erquickendes Fest: der allgemeine Studentenkommers. Denke man sich die Festhalle mit Ehrengästen, Professoren und Studenten bis auf den letzten Sitzplatz gefüllt, in elektrischem Lichte strahlend Tausende von bunten Mützen und Zehntausende leuchtender Menschenaugen: da erscheint der Rector magnificentissimus, der Großherzog, von seinem Gefolge umgeben. Alles erhebt sich, donnerndes Hoch empfängt ihn; in echt studentischer Weise wird der Kommers durch einen Riesensalamander eröffnet, den der Vorsitzende Stud. Klaus kommandirt und der mit unerhörter Präcision – ein treffliches Omen für die akademische Einigkeit! – exercirt wird. Dann folgt das Scheffel-Lachner’sche Festlied, ein allgemeiner Cantus, und darauf der Trinkspruch des Großherzogs auf den deutschen Kaiser. Unbeschreiblich ist die Wirkung dieser sonoren, in die entferntesten Winkel des Saales und der Herzen dringenden Worte. Tiefernst und patriotisch warm stellen sie der studirenden Jugend das erhabene Beispiel des pflichterfüllten greisen Helden vor Augen.

Ein dreimaliges, markerschütterndes Hoch auf Wilhelm den Siegreichen durchdringt die Halle und mischt sich mit dem Vivat der draußen harrenden Volksmenge. Es folgen, immer abwechselnd, Lieder und Toaste auf den Großherzog, das Ministerium, die Stände, die Gäste, Fürst Bismarck, die Studentenschaft, Altheidelberg, die Professoren, die Armee, die Studenten in Waffen – aber keiner von allen ist mehr im Stande, eine so mächtige Wirkung zu erzielen, wie der des Rector magnificentissimus, der bis Mitternacht den Ehrensitz unter seinen lieben jungen und alten Studenten behauptet.

Am Sonnabend folgten verschiedene Ausflüge der einzelnen Korporationen nach allen Richtungen der Windrose. Neckarsteinach, der Kümmelbacherhof, Kohlhof, Ziegelhausen, Wolfsbrunnen werden per Bahn, zu Wagen und zu Fuß aufgesucht. Besonders aber die „Tante Felix“ in Handschuchsheim, eine in weitesten Kreisen bekannte, unverheirathete Studentenmutter, zu der Füchse, bemooste Häupter und „alte Herren“ gleichgern wallfahrten, und der die Väter und Großväter der jetzigen Musensöhne schon die Hand geschüttelt haben. Aber trotzdem ist die Menschenmasse in den Straßen Heidelbergs noch so groß, daß an kein Durchkommen zu denken ist. Flüchten wir in ein Café, eine Wein- oder Bierstube, so müssen wir lange antichambriren, bis wir zum Altar des Bacchus oder Gambrinus, oder bis die Priester und Priesterinnen dieser Gottheiten zu uns gelangen. Ueberall wird noch pokulirt und kommersirt, immer noch treffen wir alte Bekannte und erfahren mit Erstaunen, daß sie uns besucht, aber nicht angetroffen haben. Wir machen uns indeß auf zum Kostümfest auf dem Schlosse.

Alles zieht hinauf zu der ehemaligen Residenz der Kurfürsten, die ihre feenhaften Räume noch einmal öffnet, um das stimmungsvollste aller Stimmungsbilder ins Leben zu rufen. Wir finden hier wieder die einzelnen Gruppen des Festzuges im Schloßhof, dem Otto Heinrichsbau, dem Ruprechtsbau, um die Fontaine, die Cisterne, im Bandhaus etc. gelagert, der Großherzog erscheint mit seiner Familie, eine Ehreneskorte von Farbenstudenten in Koller und Kanonen geleitet die hohen Gäste. Weihevoll und freudig bewegt wird die Stimmung.

Nicht eine Feder, Hunderte müßten uns zu Gebote stehen, wollten wir die Herrlichkeit dieses Schlußaktes der ganzen Jubiläumsfeier genugsam preisen, die malerischen Gelage auf dem Altan, die harmonische Gruppirung im Bandhaus, den grotesken Zug über die Brücke des Hirschgrabens, die großartigen Bilder in den Zimmern und den Sälen der Schloßruine, die Erscheinung des Fürsten Otto Heinrich auf dem Treppenaufgangsplateau des nach ihm genannten Baues, umgeben von seinem gesammten märchenhaft prangenden Hofstaat, herunterwinkend in die buntkostümirte Menge, welche ihn mit vielstimmigem Hurrah begrüßt. Dann wieder die schlichten Herren im Professorenrock der Neuzeit, auf der Burgtreppe gelagert, ein Gläslein Weines trinkend und ein Schinkenbrot essend, von dem die Runde machenden Fürstenpaar angeredet, wobei sie kauend ihre Reverenz stammeln. Wollten wir gar niedersteigen zum großen Faß und in den darangrenzenden ungeheuren Faßsaal mit seinen Hunderten zechender, rauchender und singender junger und alter Herren (mit dazwischen gestreuten Damen) in Civil, Uniform und Kostüm aller Jahrhunderte, wahrlich, wir müßten mit den Worten so umgehen können, wie Meister Hoff mit den Farben, Stoffen und Menschengestalten, um der Wirklichkeit auch nur annähernd gerecht zu werden. Hellebardiere und Gamaschenknöpfe der Neuzeit sitzen Arm in Arm. Drei Nonnen bewegen sich in der Gesellschaft eines biderben Landsknechtes; Ruprecht der ältere zündet sich eine Cigarette an, und Marsilius ab Inghen, der erste Rektor der Universität Heidelberg, zieht die Uhr, um nachzuschauen, ob es noch zu einem Viertelchen langt.

So fand die Jubelfeier an dieser denkwürdigen Stätte ihren glänzenden Abschluß; hier erlosch der letzte Festtag und verlor sich der letzte Jubelruf. Aber in tausend alten Herzen klingt noch die Freude nach, Tausende junger Köpfe hebt der Stolz in die Höhe, denn das ist die goldene Frucht solcher Jnbeltage, daß sich an ihnen das Volk gelobt, an dem Errungenen festzuhalten und neue Siege des Geistes zu erkämpfen. H. Waltz. 


Blätter und Blüthen.

Die neue Spieloper. Auch die Operette findet neuerdings ihre begeisterten Apostel: allerdings nicht die von Frankreich herübergekommene Operette Offenbach’s, welche mit ihrer kecken Verspottung der alten Götter und Helden die Runde über alle Bühnen der Welt machte, sondern die neue Wiener Operette, diejenige der Milloecker und Strauß. Ein eifriger Vorkämpfer derselben, Franz Josef Brakl, sucht in seiner Schrift: „Moderne Spieloper“ (Franz’sche Verlagshandlung, München und Leipzig) nachzuweisen, daß diese Operette eigentlich nur eine Wiedergeburt der älteren Dittersdorf’schen Spieloper ist, und während er den Geigenkankan der Offenbachiaden preisgiebt, verherrlicht er die Wiener Operettendichter, theilt ihre Lebensbeschreibungen mit, ein Verzeichniß ihrer Werke, ihre Portraits, ihre Autographen, kurz er behandelt sie so gewissenhaft, wie König in seiner Litteraturgeschichte die altdeutschen Dichter. Es ist wahr, die neue Spieloper ist anständiger geworden, als die eigentlichen Offenbachiaden waren, in denen die hunderttausend Teufel des musikalischen Champagners schäumten und sprudelten, ihre lustigen Purzelbäume schlugen und dabei der guten Sitte oft genug ein Bein stellten. Gegen „Bettelstudent“ und „Feldprediger“ wird auch die strengste Sittenrichterei nichts einzuwenden haben; aber vor einer Ueberschätzung der ganzen Gattung, die weder in dramatischer noch musikalischer Hinsicht vollgültig ist, muß doch gewarnt werden: die großen Erfolge der Textdichter und der Komponisten stellen dem Zeitgeschmack kein günstiges Zeugniß aus. Seitdem auch die größeren Stadttheater ihre Pforten der Operette geöffnet und an ihren Kasseneinnahmen die bedeutende Zugkraft derselben schätzen gelernt haben, hat sie ein bedenkliches Uebergewicht auf dem Repertoire erhalten, und die begeistertsten Vorkämpfer derselben werden nicht in Abrede stellen können, daß dies Uebergewicht nicht dem Aufschwung unseres Bühnenwesens zu Gute kommt.

Was für wunderliche Blasen die Begeisterung für die Operette treibt, das erfahren wir aus einer Anekdote, mit welcher die Lebensbeschreibung des Walzerkönigs Johann Strauß ausgeschmückt ist. In einer Vorstadt Wiens lebte eine wohlhabende einfache Bürgersfrau, die kein größeres Vergnügen kannte, als Strauß’sche Tanzmusik zu hören, das hat sie in jeder Lage des Lebens heiter und zufrieden gestimmt. Doch ihr Strauß-Kultus reichte noch bis über ihren Tod hinaus; sie verfügte testamentarisch, daß bei ihrem Begräbniß die Strauß’sche Kapelle ihre Lieblingswalzer spielen solle, und bestimmte dafür jedem Musiker einen Dukaten. Dieser Auftrag war in so dringender entschiedener Weise ausgesprochen, daß die Erben trotz einiger religiöser Skrupel sich ihm nicht entziehen konnten. Johann Strauß erschien mit seiner Kapelle pünktlich zur angesetzten Begräbnißstunde im Hause der Verstorbenen. Nachdem der Geistliche oben die Einsegnung der Leiche vollzogen hatte, wurde der Sarg hinabgetragen und in dem geräumigen Hausflur niedergestellt. Die Musiker bildeten einen Kreis um denselben und spielten ihre Strauß’schen Walzer; dann erst wurde der Sarg aufgehoben und zur letzten Ruhestatt begleitet. Ohne Frage war jene Bestimmung ein wunderlicher Einfall, der mit den religiösen Gefühlen wenig im Einklang steht und die Operette an einer Stelle zeigt, wo sie wirklich nicht hingehört: am Sarg einer Verstorbenen.  

Eine jüdische Proselytin. Von einem der merkwürdigsten Schicksale wurde die Gräfin Anna Konstanze von Cosel (von Cossell schrieb sie sich selbst), die Geliebte des Königs August des Starken, betroffen: fünfzig Jahre saß sie gefangen auf der kleinen sächsischen Festung Stolpen. Von schleswig-holsteinischem Adel, hatte sie sich im Jahre 1699 mit dem Freiherrn von Hoymb vermählt, der sie aber auf seinem Schlosse verborgen hielt aus Furcht, ihre glänzende Schönheit könne bei Hofe Unheil anrichten oder erfahren; doch bei einem Trinkgelage ließ sich der Gatte zu einer Wette hinreißen, seine Gattin übertreffe alle Damen des Hofes an Schönheit und Anmuth. Der König war Schiedsrichter in dieser Wette, und damit war auch das Geschick der schönen Dame mit der hohen schlanken Gestalt, den wunderbar glänzenden schwarzen Augen entschieden. Von ihrem Gatten getrennt, wurde sie die Gunstdame des Königs und bald allmächtig bei Hofe, setzte Minister ab und ein, bis sie selbst dem Hasse der Staatslenker und den wandelbaren Neigungen des Königs zum Opfer fiel, der in der Gräfin Dönhoff bereits eine reizvolle Nachfolgerin an ihrer Stelle erkoren hatte. Lange weilte die Cosel in Pillnitz; sie weigerte sich, Briefe und Dokumente herauszugeben. Sie floh von Pillnitz nach Berlin, dann nach Halle, wo sie 1716 verhaftet und auf die Festung Stolpen gebracht wurde. Wir wollen hier nicht die romanhaften Abenteuer schildern, welche der langen Haft vorausgingen, nicht diese selbst, die schon wegen ihrer fünfzigjährigen Dauer merkwürdig ist – wenige der historisch beglaubigten Gefangenschaften haben ein halbes Jahrhundert gewährt: wir wollen nur als Kuriosität die Aufzeichnungen aus den letzten Jahren ihres Lebens erwähnen, denen zufolge die Gräfin eine auffallende Neigung zum Judenthum an den Tag gelegt. Die Gräfin Cosel beschäftigte sich in ihrer Einsamkeit fortwährend mit Lektüre. Da studirte sie denn vor Allem das Alte Testament; sie verkehrte viel mit Juden; so war das Judenthum ihre Passion geworden. Sie forderte unter dem Pseudonym Lobgesang den Pfarrer Bodenschatz in Bischofswerda auf, hebräische Traktate ins Deutsche zu übersetzen; dann wurde dieser zu dem geheimnißvollen Briefsteller selbst berufen. Derselbe enthüllte sich ihm als die Gräfin Cosel, die ihm in dem Anzuge eines jüdischen Hohenpriesters entgegentrat. Sie verlangte von ihm Aufschlüsse über Talmudstellen, jüdische Gebetbücher und andere rabbinische Dinge, brachte aber dabei allerlei aufs Tapet, was gegen die Lehre Christi und seine heilige Person gerichtet war.

Der officielle Bericht des Amtmanns Gülden über den Glauben der Gräfin Cosel lautet:

„Der Glaube, auf welchen die Gräfin verstorben, ist schwer zu determiniren; es ist wahr, vor dem letzten Kriege hat die Verstorbene mit verschiedenen Juden, [628] die aus Böhmen und anderen Gegenden zu ihr gekommen, stärkere Connexion, als seit der Krieg geendet und Friede worden, gehabt; dann und wann sind wohl auch zeither Juden zu ihr gekommen, jedoch nicht in so großer Menge wie sonst. Sie hat bei ihren Lebzeiten sehr fleißig in der Bibel gelesen und sich das Jüdisch-deutsch, vielleicht mit Vorsatz, angewöhnt; es ist ferner wahr, daß sie den Sonnabend jeder Woche vor ihren Sabbath gefeiert und den Christen, wenn sich diese dazu brauchen ließen, am Sonntag gern etwas zu schaffen gemacht, auch ist wahr, daß sie kein Schweinefleisch, keinen im Blut erstickten Vogel oder ander dergleichen Federvieh noch einen Fisch ohne Schuppen gegessen; es besteht ferner in Wahrheit, daß sie zwar anfänglich, da sie als Arrestantin nach Stolpen gebracht worden, den hiesigen Gottesdienst besucht, seit vielen Jahren aber nicht mehr in unsere Kirche gekommen.“

So ist diese in ihrer Jugend wegen ihres Geistes gefeierte Dame, welche später alle Schriften der französischen Freidenker, eines Voltaire und Rousseau mit Eifer durchgelesen hatte, am Ende ihres Lebens auf die sonderbare Grille gekommen, den Talmud zu studiren, sich in ein hohenpriesterliches Gewand zu werfen, die jüdischen Ritualgesetze zu beobachten, kurz, wenn auch nicht in aller Form zum Judenthume überzugehen, doch in wesentlichen Hauptpunkten als fromme, glaubenstreue Jüdin zu leben: eine Kuriosität, für welche die Geschichte kein ähnliches Beispiel aufzuweisen vermag.  

Die Bestattung des Herzens König Ludwig’s II. in Alt-Oetting. Das uralte niederbayerische Wallfahrtskirchlein, dessen hochberühmtes schwarzes Madonnenbild von frühen Zeiten an gläubige Herzen von nah und fern beizog, ist seit zwei Jahrhunderten zum seltsamen Mausoleum erhoben worden für die todten Herzen der wittelsbachischen Kurfürsten und Könige. In einer kleinen Rotunde der reichgeschmückten Gnadenkapelle stehen in Mauervertiefungen die silbernen Urnen, welche jeweils nach dem Tode der Fürsten in feierlicher Procession hierhergebracht wurden, und in den ersten Augustwochen drängte sich hier die Menge vor der leeren Nische, die bestimmt war, das Herz des Königs aufzunehmen, dessen ungekannter Persönlichkeit und schrecklichem Ende das Volk in ganz Bayern den leidenschaftlichsten Antheil widmet. Zur selben Zeit drängten sich in München die Menschen vor dem Schaufenster des Silberarbeiters Wollenweber, wo die herzförmige silberne Urne ausgestellt war. Sie mißt 60 Centimeter und ist im Stile Ludwig’s XIV. verziert. An beiden Seiten mahnen außerdem noch Sträußchen von Alpenrosen und Edelweiß an die Lieblingsneigungen des unglücklichen Königs.

Am 16. August wurde durch eine Kommission das einbalsamirte Herz in eine Zinkkapsel gelegt und diese in das silberne Behältniß eingefügt, hierauf durch den Stiftsdekan Türk in sechsspännigem Wagen mit großem Geleite von Hatschieren, Militär und den Wagen der hohen Kronbeamten nach dem Münchener Ostbahnhof gebracht. Von allen Thürmen tönte das Trauergeläute, massenhaft standen die Menschen in den Straßen, entblößten ehrfurchtsvoll die Häupter und schritten vielfach laut betend hinter dem Zuge drein.

Alt-Oetting, der Begräbnißort der Herzen der bayerischen Könige.0(† Gnadenkapelle.)
Originalzeichnung von R. Püttner.

Der Weg, welcher mit den Herzen früher verstorbener Könige langsam, im Schritt, von Ort zu Ort zurückgelegt werden mußte, nahm nun durch den Eisenbahnzug nur zwei Stunden in Anspruch, um neun Uhr früh erfolgte die Ankunft in Neu-Oetting, wo eine große Menschenmenge bereit stand, das Königsherz nach dem nahen Alt-Oetting zu geleiten. Am Portal der Wallfahrtskirche erwartete dort der Bischof von Passau im großen Ornat, umgeben von seiner Geistlichkeit, die in mehreren Wagen herannahende Kommission, der große Platz vor der Wallfahrtskirche war dichtgedrängt von Scharen ländlicher Bevölkerung, die nebst ihrer Geistlichkeit hereingeströmt waren, der Ort selbst war mit Kränzen, Trauerfahnen und Bildnissen des Königs aufs Reichste geschmückt, die tiefe, allgemeine Theilnahme zeigte sich überall. Vor dem Hochaltar war der prachtvolle Katafalk errichtet mit Krone, Scepter und Wappenschildern, in welchem nun der Bischof die Urne barg, bis das feierliche Hochamt vorüber war, dem eine große Menge von hohen Beamten, Militärs und Geistlichen anwohnten, dann wurde das Königsherz in großer feierlicher Procession in die Gnadenkapelle zur letzten Ruhe getragen. Stiftsdekan Türk hielt eine einfache, ergreifende Rede, segnete das Gefäß und stellte es unter den Schutz der Gnadenmutter, bis zum Tag der Auferstehung. Ueber dem Eingang der Kapelle befand sich das Bild des Königs in der Tracht seines Hubertus-Ordens, darunter lateinisch die Inschrift: „Ludwig, König von Bayern, geboren zu München 1845, starb 1886 zu Berg, von hier kamen seine Gebeine nach München, das Herz in diese Kapelle, die Seele in den Himmel.“ Mit dieser Feier schließt die Tragödie des unglücklichen Königs. A. 

Von der Kaiser-Parade. (Mit Illustration S. 612 u. 613.) Auf der diesjährigen Jubiläums-Kunstausstelluug in Berlin befindet sich ein Oelgemälde des Malers Hünten nach einer von ihm im Jahre 1884 während der Kaisermanöver am Rhein aufgenommenen Skizze.

Wir geben in unserem Holzschnitte (S. 612 u. 613) das Bild wieder, das eine Episode aus der Kaiserparade des achten Armeekorps bei Lommersum, Kreis Euskirchen, zum Gegenstand hat und den Moment darstellt, in welchem Kaiser Wilhelm, umgeben von einer glänzenden Suite, das in der Parade stehende vierte Garde-Grenadier-Regiment (Königin Augusta) aus Koblenz besichtigt, auf dessen rechtem Flügel die Kaiserin Augusta, als Chef des Regiments, in ihrer Equipage hält.

Der Künstler selbst schreibt uns über sein Bild unter Anderem:

„Unser Kaiser, als er an den rechten Flügel der Parade-Aufstellung ritt, begrüßte zuerst seine hohe Gemahlin durch kräftigen Handdruck, worauf beide Majestäten die Front abritten, respektive fuhren.“

Die charakteristische Gestalt des fest und gerade im Sattel sitzenden Kaisers ist überaus gelungen wiedergegeben, auch fesselt das Bild der Kaiserin Augusta durch die große Aehnlichkeit.

Die sämmtlichen anderen auf dem Bilde befindlichen Personen sind ebenfalls Portraits. Beginnt man auf der äußersten Linken (vom Zuschauer aus), so bemerkt man in zweiter Reihe General von Strubberg (früher Oberst des Regiments), in erster Reihe den kommandirenden General des 8. Armee-Korps, Graf Loë; neben diesem von Pape, den kommandirenden General des Garde-Korps. Zwischen Beiden links General von Sobbe, Chef des Stabes des 8. Armee-Korps, General von Kaltenborn, Chef des Stabes des Garde-Korps, dieser nur halb sichtbar; dann, ebenfalls in zweiter Reihe, Generallieutenant von Oppell, Generalmajor Graf von Roon, beide vom Garde-Korps; ferner den Kabinetsrath der Kaiserin von dem Knesebeck, daneben Graf Beißel. Hinter dem Kaiser Fürst Wied, Oberst von Schauroth, Oberstlieutenant von Redern, Regiments-Adjutant von Strubberg jun. Dann die hohe, ritterliche Gestalt des deutschen Kronprinzen, salutirend auf seine kaiserlichen Eltern zusprengend; ferner Prinz Wilhelm in Husarenuniform, und endlich zum Schluß, ganz rechts, Generalfeldmarschall Graf von Moltke. Auch der riesige Flügelmann des unter den Klängen des Präsentirmarsches mit präsentirtem Gewehr in Linie stehenden Regiments ist Portrait.

Das Bild nimmt vermöge seiner Naturtreue das Interesse in außerordentlicher Weise in Anspruch und veranschaulicht zugleich eines jener großen militärischen Schauspiele, durch welche die deutsche Armee die Bewunderung aller übrigen Nationen auch im Frieden auf sich lenkt. H. 

Wirkung einer Riesensprengung in 385 Kilometer Entfernung. Der erste Direktor der Harvard-College Sternwarte in Boston, Professor William Bond, that einst den Ausspruch, daß der riesige Fundamentstein, auf welchem der große Reflektor aufgerichtet ist, nicht einmal durch ein Erdbeben erschüttert werden könne. Gelegentlich der Sprengung des Flood Rock in der Hell-Gate-Einfahrt des New-Yorker Hafens am 10. Oktober 1885 wurde diese Behauptung durch Beobachtungen des Professors W. A. Rogers als unrichtig erwiesen, der die Schwingungsdistanz durch ein auf den massiven Kellerboden gestelltes Schälchen voll Quecksilber ermittelte. Auf der blanken Quecksilberfläche war ein fleckiger Punkt, über welchem ein 750 Mal vergrößerndes Mikroskop so aufgestellt wurde, daß die Spinngeweblinie genau über dem Pünktchen lag. Die erste wahrgenommene Schwingung durch die Explosion betrug ungefähr ein Tausendstel Zoll und kehrte in Pausen etwa zwei Minuten hindurch wieder; die größte Erschütterung des Quecksilbers dehnte sich über ein Fünfhundertstel Zoll aus.

Die Luftlinie zwischen dem Hell-Gate und der Sternwarte beträgt 385 Kilometer. An beiden Punkten war genaueste Uebereinstimmung der Zeit. Diese Explosion von 150000 Kilogramm der kräftigsten Sprengstoffe, deren Hebekraft auf 2 1/3 Trillionen Pfund berechnet wurde, ist in dem illustrirten Artikel „Eine Riesensprengung“, Jahrgang 1885, S. 711 der „Gartenlaube“ ausführlich beschrieben. R. 



Kleiner Briefkasten.

P. K. in Berlin. Sie müssen sich an einen Specialarzt wenden; vergleichen Sie gefälligst unseren Artikel „Briefliche Kuren“ S. 138 dieses Jahrgangs.


Inhalt: Sankt Michael. Roman von E. Werner (Fortsetzung). S. 609. – Spielkameraden. Illustration. S. 609. – Am Sedantage. Gedicht von Rudolf von Gottschall. S. 614. – Aus den Schlössern König Ludwig’s II. II. Neuschwanstein. S. 615. Mit Illustrationen, S. 615 und 617. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 616. – Aus Heidelbergs Jubeltagen. Von G. Waltz. S. 624. Mit Illustrationen S. 621, 624, 625 und 626. – Blätter und Blüthen: Die neue Spieloper. S. 627. – Eine jüdische Proselytin. S. 627. – Die Bestattung des Herzens König Ludwig’s II. in Alt-Oetting. Mit Illustration S. 628. – Von der Kaiserparade. S. 628. Mit Illustration S. 612 und 613. – Wirkung einer Riesensprengung in 385 Kilometer Entfernung. S. 628. – Kleiner Briefkasten. S. 628.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Auf Seite 617 bieten wir unseren Lesern eine vollkommen genaue Ansicht der beiden Burgen, welche von unserem eigens nach Hohenschwangau und Neuschwanstein gesandten Zeichner an Ort und Stelle naturgetreu ausgeführt wurde, während auf unserem Bilde Seite 513, welches hauptsächlich den Charakter der Landschaft sehr gut wiedergiebt, der Künstler nach den photographischen Einzelaufnahmen, welche ihm als Vorlage dienten, die Lage von Neuschwanstein in eine früher von Püttner aufgenommene Ansicht der Gegend nicht richtig eingezeichnet hat. D. Red.