Die Gartenlaube (1886)/Heft 36
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No. 36. | 1886. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Sankt Michael.
Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen, was uns Beiden von Wichtigkeit ist,“ sagte Graf Steinrück nach Erledigung der dienstlichen Angelegenheiten. „Als wir uns das erste Mal
sahen, waren Zeit und Ort nicht geeignet dazu; heute sind wir ungestört. Wollen Sie mich hören?“
„Zu Befehl, Excellenz,“ lautete die kurze Antwort Michael’s.
„Ihre Haltung bei jenem Zusammentreffen hat mir gezeigt, daß Sie die Beziehungen, die zwischen uns obwalten, in ihrem ganzen Umfange kennen, und wir werden uns wohl über die Auffassung derselben von beiden Seiten verständigen müssen.“
„Ich halte es nicht für nothwendig, daß dieser Punkt überhaupt zwischen uns erörtert wird,“ sagte Michael kalt.
Der General sandte ihm einen finsteren Blick zu; er hatte für gut befunden, eine eisig ablehnende Haltung anzunehmen, um jede etwaige Vertraulichkeit bei dieser Unterredung von vornherein auszuschließen, und begegnete nun genau derselben Haltung, die fast ebenso hochmüthig war wie die seinige – hier gab es nichts zurückzuweisen.
„Aber ich halte es für nothwendig, daß wir darüber ins Klare kommen,“ erwiderte er mit scharfer Betonung. „Sie sind der Sohn der Gräfin Louise Steinrück“ (er sagte nicht: meiner Tochter). „Ich kann das selbstverständlich weder ableugnen, noch Sie hindern, diese ganz legitime Abkunft geltend zu machen. Sie haben bisher darauf verzichtet, haben die Sache sogar als Geheimniß behandelt, und das läßt mich hoffen, daß Sie selbst die Unzuträglichkeit einer Veröffentlichung einsehen –“
„Die Sie fürchten!“ ergänzte Michael.
„Die mir zum Mindesten nicht erwünscht ist. Ich will ganz offen gegen Sie sein. Durch Oberst Reval werden Sie erfahren haben, daß kürzlich ein Familienfest in meinem Hause gefeiert worden ist: mein Enkel, Graf Raoul, hat sich mit der Gräfin Hertha Steinrück verlobt, die Ihnen ja wohl auch bekannt ist.“
In dem Gesichte des jungen Officiers zuckte etwas auf, freilich nur einen Moment lang, dann war es wieder verschwunden und er entgegnete anscheinend mit vollkommener Ruhe:
„Ich habe es allerdings gehört.“
„Nun wohl. Die Vermählung wird in Kurzem stattfinden, und das junge Brautpaar wird sich im Laufe dieses Winters dem Hofe und der Gesellschaft vorstellen. Diese Verbindung der beiden letzten Sprossen meines Geschlechtes legt mir doppelt die Pflicht auf, den Namen und das Wappen dieses Geschlechtes rein zu halten von jeder – Verdunkelung. Ich will Sie nicht
[630] beleidigen, Lieutenant Rodenberg; aber ich darf wohl annehmen, daß Ihnen das Leben und die Vergangenheit Ihres Vaters bekannt sind?“
„Ja!“
Das Wort kam kurz und rauh von den bebenden Lippen, aber man hörte doch die innere Qual heraus.
„Es thut mir leid, dem Sohne gegenüber diesen Punkt erwähnen zu müssen, aber er läßt sich leider nicht umgehen. Sie sind ja völlig schuldlos daran, und Sie werden auch schwerlich darunter leiden. Ihr nahes Verhältniß zu dem Professor Wehlau deckt alle unbequemen Nachforschungen. Wie ich höre, gelten Sie für den Sohn seines Jugendfreundes, der in seinem Hause erzogen wurde – ein ganz vorzügliches Auskunftsmittel! Ueberdies ist Ihr Vater seit mehr als zwanzig Jahren todt und hat die letzte Zeit seines Lebens im Auslande zugebracht. Auch ist er – so viel ich weiß – nie in offenen Konflikt mit den Gesetzen gerathen.“
Schneideud scharf wie die Klinge eines Dolches war dies: So viel ich weiß! Michael war todtenbleich geworden, er antwortete nicht, aber ein unheilverkündender Blick schoß auf den Mann, der ihn so erbarmungslos folterte und der jetzt mit derselben kalten, überlegenen Ruhe fortfuhr:
„Die Sache liegt jedoch ganz anders, sobald Sie den Namen Ihrer Mutter nennen. Das wird selbstverständlich ein sehr großes Aufsehen geben, zumal in den Kreisen der Aristokratie und der Armee; es wird ein endloses Gerede entstehen, das peinlich, ja gefährlich werden kann, denn das Gerücht geht in solchen Fällen immer über die wirklichen Thatsachen hinaus, und was ein halbes Menschenalter in Vergessenheit gebracht hat, wird rücksichtslos wieder ans Tageslicht gezogen. Ich muß es Ihnen überlassen, ob Sie es ertragen können und wollen, wenn das Andenken Ihres Vaters dieser Vergessenheit entrissen wird. Was meine Stellung zu der Sache betrifft, so wende ich mich nur an Ihr Gerechtigkeitsgefühl, das Ihnen sagen wird –“
„Genug!“ unterbrach ihn der junge Officier dumpf, mit halb erstickter Stimme. „Ersparen Sie mir das Weitere, Excellenz. Ich sagte Ihnen ja bereits, daß diese ganze Erörterung überflüssig ist, denn ich habe nie auch nur einen Augenblick daran gedacht, Beziehungen geltend zu machen, die ich ebenso entschieden ablehne wie Sie. Ich sollte meinen, das müßte Ihnen schvn unsere erste Begegnung gezeigt haben, wo ich die mir angebotene ,Protektion’ zurückwies. Ich sehe jetzt erst, daß sie der Preis für mein Schweigen sein sollte.“
Die Worte Michael’s waren in tiefster Bitterkeit gesprochen, und seine Hand umklammerte krampfhaft den Griff des Degens; noch wahrte er seine Selbstbeherrschung, aber es geschah offenbar nur mit dem Aufgebot der äußersten Willenskraft. Auch der General mochte das sehen und fühlen, denn er sagte mit bedeutend gemilderter Stimme: „Das ist eine ganz irrthümliche Auffassnng. Ich wiederhole Ihnen, daß ich Sie nicht beleidigen wollte.“
„Nicht?“ brach Michael mit schneidender Heftigkeit aus. „Und was ist denn diese ganze Unterredung Anderes, als eine Beleidigung vom Anfang bis zum Ende? Oder wie nennen Sie es denn, wenn man einem Sohne dergleichen über seinen Vater anzuhören giebt und ihm zugleich in dieser schonungslosen Weise klar macht, daß auch er dadurch den Anspruch auf Ehre verwirkt hat? Ich kann meinen Vater nicht vertheidigen und nicht rächen, er hat mir die Möglichkeit dazu genommen, und Sie meinen, ich litte nicht unter diesem Bewußtsein! Es hat eine Zeit gegeben, wo ich fast daran zu Grunde gegangen bin, bis ich mich aufraffte, um den Kampf mit diesem Schatten zu wagen. Noch stehe ich im Anfange meiner Laufbahn, noch habe ich nichts geleistet; wenn einmal ein ganzes Leben voll ehrenhafter Arbeit und Berufserfüllnng hinter mir liegt, dann wird auch jener alte Schatten weichen. Die Menschen sind ja nicht alle so erbarmungslos wie Sie, Graf Steinrück, und sie haben, Gott sei Dank, auch nicht alle ein Wappenschild, das vor ,Verdunkelungen’ behütet werden muß!“
Der General erhob sich plötzlich; er nahm jene gebietende Haltung an, die ihm eigen war, wenn er irgend eine Anmaßung oder Ueberhebung in ihre Schranken zurückwies.
„Mäßigen Sie sich, Lieutenant Rodenberg! Sie vergessen, vor wem Sie stehen.“
„Vor meinem Großvater! Und der wird es wohl auf einige Minuten vergessen können, daß er zugleich mein General ist. Fürchten Sie nichts: es ist das erste Mal, daß ich Sie so nenne, und es wird auch das letzte Mal sein, denn für mich haftet nichts Theures und Heiliges an diesem Namen. Meine Mntter starb in Noth und Elend, in Jammer und Verzweiflung; aber sie öffnete nicht ein einziges Mal die Lippen zu einer Bitte an den, der sie und ihr Kind mit einem Worte hätte retten können – sie kannte ihren Vater!“
„Ja, sie kannte ihn!“ sagte Steinrück hart. „Als sie dem Vaterhause entfloh, um das Weib eines Abenteurers zu werden, da wußte sie, daß nunmehr jedes Band zerrissen war zwischen ihr und der Heimat, daß es keine Rückkehr und keine Versöhnung mehr gab. Will sich ihr Sohn jetzt anmaßen, die Strenge eines tiefbeleidigten Vaters zu richten?“
„Nein,“ entgegnete Michael, das Auge voll und finster auf ihn richtend. „Ich weiß, daß meine Mutter Ihnen offenen Trotz geboten, daß sie Heimat und Familie verwirkt hatte, und wenn das Herz des Vaters nicht mehr sprach, sondern nur sein Recht, so mußte er sie vielleicht verstoßen. Aber ich weiß auch, daß ihre schwerste Schuld die war, daß sie einem bürgerlichen Abenteurer folgte. Wäre es ein Standesgenosse gewesen, der verlorene und verkommene Sohn irgend einer Adelsfamilie, man hätte sie nicht so unerbittlich gerichtet, man hätte ihr im Unglück wieder die väterlichen Arme geöffnet, und ihrem Sohne würde das Andenken seines Vaters jetzt nicht wie ein Schimpf vorgehalten. Ich wäre ja doch der Erbe eines alten Nameus gewesen – alles Andere hätte man sorgfältig zugedeckt. Zum Mindesten hätte man mich nicht den Händen eines Wolfram überantwortet, in der Absicht, mich dort verkommen zu lassen!“
Die Augen des Generals sprühten, aber er gab es auf, den jungen Officier noch ferner als einen Fremden zu behandeln; er sprach jetzt im vollsten Zorne, aber er sprach zu seinem Enkel.
„Nicht weiter, Michael! Ich bin es nicht gewohnt, daß man in solchem Tone zu mir redet. Was wagst Du mir zu bieten!“
„Was ich vertreten kann, denn es ist die Wahrheit!“ erklärte Michael, den drohenden Blick fest erwidernd. „Es wäre Ihnen ein Leichtes gewesen, den verwaisten Knaben, den Sie nun einmal nicht vor Augen sehen mochten, in irgend eine ferne Erziehungsanstalt zu bringen, wo Sie nichts weiter von ihm sahen und hörten, wo er aber doch wenigstens tauglich für das Leben wurde, aber er sollte eben nicht dafür taugen. Darum wurde ich festgebannt in einem rohen und gemeinen Kreise, wo Mißhandlungen und Schimpfworte der einzige Unterricht waren, den ich empfing, wo jedes geistige Element unterdrückt, jede Anlage zertreten wurde, wo es eigens darauf angelegt war, mich zu dem rohen, blöden Buben zu machen, der sein Leben verdämmern und verdummen sollte in den Wäldern. Dann war ja die Gefahr ausgeschlossen, daß ich jemals dem edlen Steinrück’schen Kreise nahte; dann mußte ich dankbar sein, wenn man mir schließlich irgend eine Bauernexistenz gewährte! Eine fremde Hand entriß mich jenem Elend; einem Fremden danke ich die Erziehung, die Lebensstellung, in der ich jetzt vor Ihnen stehe – meinen Blutsverwandten hätte ich nur den geistigen Tod zu danken gehabt!“
Steinrück schien sprachlos zu sein über diese unerhörte Kühnheit, aber es war noch etwas Anderes, was ihm die Lippen schloß. Schon einmal, vor Jahren hatte er Aehnliches hören müssen; der Priester hatte ihm ernst und mahnend den gleichen Vorwurf gemacht. Jetzt wurde er ihm mit flammender Energie ins Gesicht geschleudert, und die Anklage kam aus dem Munde dessen, den er allerdings hatte unschädlich machen wollen durch eine „Bauernexistenz“. Graf Michael war sonst nicht der Mann, der einer Anmaßung oder Beleidigung gegenüber verstummte; hier fehlte ihm die Antwort, denn er fühlte die Wahrheit jener Vorwürfe. Wenn er sich damals seine Handlungsweise nicht völlig klar gemacht hatte, so wurde sie ihm jetzt wie in einem Spiegel gezeigt, und es war ein häßliches Bild, das dort erschien, ein Bild, welches des stolzen Grafen unwürdig war.
„Du scheinst Wolfram’s Erziehung doch nicht gänzlich vergessen zu haben,“ sagte er endlich herb. „Willst Du mir vielleicht wieder eine Scene machen, wie damals in Steinrück? Dein Aussehen ist ganz danach.“
Er hätte nichts Schlimmeres thun können als dies Andenken wachrufen. Zehn Jahre waren seitdem vergangen, aber Michael’s Blut siedete noch bei der Erinnerung, welche ihn nur zu neuer Empörung aufstachelte.
„Damals nannten Sie mich Dieb!“ stieß er hervor. „Ohne Beweis, ohne Untersuchung, auf einen haltlosen Verdacht hin! [631] Jedem Ihrer Bedienten hätten Sie die Vertheidigung gestattet, Ihr Enkel aber galt Ihnen ohne Weiteres für einen Verbrecher. Ja, ich griff damals nach dem Ersten, Besten, das mir als Waffe dienen konnte; ich wußte ja nicht, daß es mein eigener Großvater war, der mir den Schimpf anthat, aber von der Stunde an, wo ich das erfuhr, da lebte in mir nur das glühende Verlangen nach Vergeltung.“
„Michael!“ fiel ihm der General drohend in die Rede. „Nicht ein Wort mehr in diesem Tone, der weder dem Chef noch dem Vater Deiner Mutter gegenüber am Platze ist. Ich verbiete es Dir, und Du wirst gehorchen!“
Wenn Graf Steinrück in dieser Art sprach, hatte er noch stets Gehorsam gefunden; hier zum ersten Male versagte die Macht seiner Persönlichkeit. Selbst Raoul, der doch wahrlich nicht zu den Furchtsamen gehörte, beugte sich vor dem Zornesblitz dieser Augen, aber Michael beugte sich nicht. Wohl zwang er sich auf jene Mahnung hin gewaltsam zur Ruhe, aber wenn seine Stimme auch kälter und beherrschter klang, sie hatte nichts von ihrer Energie verloren.
„Zu Befehl, Excellenz! Ich habe diese Unterredung nicht gesucht, sie wurde mir aufgezwungen, aber ich denke, Sie sind jetzt von der Furcht befreit, daß ich jemals einen verwandtschaftlichen Anspruch geltend machen könnte. Sie dünken sich so erhaben über die gemeine Menschenwelt, mit Ihrem uralten Stammbaum; Sie haben das einzige Glied Ihres Hauses, das dem Ahnenstolz zu trotzen wagte, mit eiserner Hand ausgestoßen und ausgestrichen aus Ihrem Leben! Aber Ihr Wappenschild steht nicht so unerreichbar hoch wie die Sonne am Himmel; es kommt vielleicht ein Tag, wo es einen Flecken trägt, den Sie nicht auslöschen können. Dann werden Sie fühlen, was es heißt, mit einem glühenden, leidenschaftlichen Ehrgefühl in der Brust die Schuld und Schmach eines Anderen büßen zu müssen, wie Sie mich jetzt das Andenken meines Vaters büßen lassen; dann werden Sie es begreifen, welch ein erbarmungsloser Richter Sie meiner Mutter gewesen sind! – Darf ich mich nun als entlassen betrachten, Excellenz?“
Er stand wieder da, in der starren Haltung des Soldaten. Der General antwortete nicht, es wehte ihn wie ein Schauer an bei diesen Worten, die fast prophetisch klangen; einen Augenblick lang tauchte Etwas vor ihm auf, noch dunkel und gestaltlos, aber wie die Ahnung eines kommenden Unheils, dann sank es wieder zurück in die Nacht. Stumm winkte er dem jungen Officier, sich zu entfernen, und dieser ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen; in der nächsten Minute schloß sich die Thür hinter ihm.
Als Steinrück allein war, begann er heftig und ruhelos im Zimmer auf- und niederzugehen, aber dabei kehrte sein Auge immer wieder zu einem Bilde zurück, das ihm gegenüber an der Wand hing, und das ihn selbst als jungen Officier darstellte. Nein, es war keine Aehnlichkeit vorhanden zwischen diesem schönen Kopf mit den edlen, regelmäßigen Linien und jenen charakteristischen, aber unschönen Zügen, nicht die geringste! Und doch waren es dieselben Augen gewesen, die dem Grafen aus jenem Antlitz entgegenflammten, doch war es seine Stimme, die er aus jenem Munde gehört hatte, und sein war auch der unbeugsame Stolz, die eiserne Energie, die den Kampf mit dem Schwersten nicht scheute – nicht in den Zügen, im Blick und in der Haltung lag die Aehnlichkeit.
Das drängte sich mit unabweisbarer Gewalt dem Manne auf, der so düster und unverwandt auf sein Jugendbild blickte. Er war empört, beleidigt, und dennoch zog Etwas durch seine Seele, das er nie gekannt und das er oft genug schmerzlich vermißt hatte bei dem Sohne und Enkel, die seinen Namen und seine Grafenkrone trugen: das Bewußtsein, daß es einen Erben seines Blutes und Charakters gab. Er hatte sich vergebens gemüht, in Raoul auch nur einen Zug davon zu entdecken, umsonst! Aber der verleugnete Sohn der verstoßenen Tochter, der als ein Fremdling von der Schwelle ging, der hatte dies Blut in den Adern, und der Großvater fühlte durch all den Haß und Kampf hindurch, daß er ein Reis war von seinem Stamme.
Professor Wehlau bewohnte im westlichen Theile der Stadt eine nicht allzu große, aber sehr hübsche Villa, an die sich ein ziemlich ausgedehnter Garten schloß, und die behagliche und geschmackvolle Einrichtung derselben zeigte, daß sich die strenge Wissenschaft keineswegs ablehnend verhielt gegen die Annehmlichkeiten des Lebens.
Der Winter war zum größten Theile vergangen, man befand sich im Anfange des März und im Freien begannen sich schon die ersten Vorboten des Frühlings zu zeigen. Im Wehlau’schen Hause aber herrschte immer noch eine etwas gewitterschwüle Temperatur: die Spannung zwischen Vater und Sohn war noch keineswegs ausgeglichen und das „Donnergewölk“, wie Hans sehr respektwidrig die Stimmung seines Vaters nannte, hing oft genug drohend über ihm. Das war auch heute der Fall, wo der junge Künstler sich im Studirzimmer des Professors befand, der wieder einmal die volle Schale seines Zornes auf den ungehorsamen Sohn ausgeschüttet hatte.
„Sieh Dir Michael an!“ schloß er endlich seine Rede. „Der weiß, was Arbeit heißt, und der kommt auch vorwärts im Leben. Mit neunundzwanzig Jahren ist er schon Hauptmann geworden – was bist Du dagegen?“
„Ich wollte, Michael machte einmal einen grenzenlos dummen Streich!“ sagte Hans mißvergnügt, „dann brauchte ich nicht immer und ewig von seiner Vortrefflichkeit zu hören. Du siehst in dem neugebackenen Hauptmann schon den künftigen Generalfeldmarschall, der die sämmtlichen Schlachten unseres Landes gewinnt, und Deinem eigenen leiblichen Sohn, der doch zweifellos ein angehendes Genie ist, traust Du gar nichts zu. Papa, eigentlich ist das himmelschreiend.“
„Schweig’ mit Deinen Possen,“ unterbrach ihn Wehlau in übelster Laune. „Und dabei willst Du mir noch einreden, daß Du ‚fleißig‘ seist! Jawohl, was die Herren Künstler so nennen! Den halben Tag lang umherlaufen und sich amüsiren, unter dem Vorwande Studien zu machen, und während der anderen Hälfte allerhand Tollheiten in den Ateliers treiben! Dazu kommt dann die unvermeidliche Reise nach Italien, wo das Amusement mit frischen Kräften fortgesetzt wird, natürlich auch nur zum Studium! Und das heißt bei Euch arbeiten! Aber dies Leben ist gerade so recht nach Deinem Geschmack; es ist überhaupt wohl das einzige, wozu Du taugst.“
Die Vorwürfe brachten leider gar keine Wirkung hervor. Hans setzte sich wieder rittlings auf einen Stuhl und erwiderte ganz unbekümmert:
„Zanke nicht, Papa! Oder ich male Dich in Lebensgröße, schenke das Portrait der Universität und lasse mir eine Dankadresse votiren. Ich habe Dich schon längst fragen wollen, ob Du mir nicht einmal sitzen willst.“
„Das fehlte noch!“ brauste der Professor auf. „Ich verbitte es mir ernstlich, daß Du Deine Farbenkleckserei an meiner Person versuchst.“
„So sieh Dir wenigstens einmal mein Atelier an, Du hast ja noch keinen Blick auf die ‚Farbenkleckserei‘ geworfen.“
„Nein,“ grollte Wehlau. „Ich will mich nicht von Neuem ärgern: verrückte idealistische Richtung – abgeschmacktes sentimentales Zeug – höchstens einmal eine Karikatur, über die man sich dann auch wieder ärgert – etwas Anderes bringst Du nicht zu Stande, das weiß ich im Voraus. Ich will nichts sehen und hören von der ganzen Geschichte.“
„Nun, gehört hast Du doch schon davon!“ triumphirte der junge Künstler. „Als ich das Portrait meines Lehrers, des Professor Walter, im Kunstverein ausstellte, sprachen sämmtliche Zeitungen darüber, und eine derselben brachte sogar eine höchst wohlthuende Variation auf das stehende Thema von dem ‚Sohne unseres berühmten Forschers‘, sie sagte: ‚der geniale Sohn eines berühmten Vaters!‘ – gieb Acht, Papa, ich werde einst noch Deinen ganzen naturwissenschaftlichen Ruhm verdunkeln. Aber, darf ich mich jetzt beurlauben? Mir ist hoher Besuch angesagt.“
Wehlau zuckte spöttisch die Achseln.
„Das wird was Rechtes sein!“
„Bitte, die Gräfinnen Steinrück.“
„Und die kommen zu Dir?“ Der Professor maß seinen Sohn mit einem höchst erstaunten Blick.
„Natürlich! Man fängt an berühmt zu werden, man empfängt die Aristokratie in seinem Atelier, man ist ja nicht umsonst der geniale Sohn eines ausgezeichneten Vaters – willst Du mir wirklich nicht zu einem Bilde sitzen, Papa?“
„In des Kuckucks Namen, nein!“ schnaubte der Professor.
„Gut, dann male ich Dich hinterrücks, ohne Dein Wissen, und schicke Dich meuchlings auf die Ausstellung. Adieu, Papa!“
Und mit dem liebenswürdigsten Lächeln, als ob zwischen ihm und dem Vater das beste Einvernehmen herrsche, entfernte er sich. Draußen vor der Thür traf er mit Michael zusammen.
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Unter den Schlössern, welche der unglückliche König Ludwig II. von Bayern hinterließ, hat jedes einen scharf ausgeprägten Charakterzug. Linderhof ist ein barockes Märchen: mit all seinem Zubehör zusammen ein seltsames Gemisch der verschiedensten Stilgattungen, der bizarrsten Launen. An seinen übrigen Schlössern hat der König eigentlich bloß gebaut; hier hat er wirklich gelebt.
Schloß Linderhof liegt im obersten Ammerthal, unweit der bayerisch-tirolischen Grenze. Nicht die Großartigkeit der Umgebung war es, welche den König diesen Platz wählen ließ; denn das Ammerthal ist einförmig; die weltverlorene Einsamkeit war’s, die den König anzog. Ehe Schloß Linderhof hier entstand, dachte
[633][634] niemals ein neugieriger Tourist daran, das Ammerthal bis zu den Quellen seines Flüßchens hinauf zu durchwandern; die Reisehandbücher schwiegen es todt; nur ein Verirrter mochte ab und zu im Jagdhaus Linderhof ein Unterkommen finden.
Felsgekrönte Berge, der Brunnenkopf und Scheinberg, die Klammspitze und die Geierköpfe umschließen das Thal, dessen nördlicher Vorbau in den scheinbar endlosen Waldeinöden der „Halbammer“ sich nach dem Flachlande zu senkt. Wer in diesen Waldeinöden den Pfad verlor, dem kann es wohl begegnen, daß er tagelang im hochstämmigen Fichtenwalde umherirrt, bis er endlich wieder an eine Holzknechthütte kommt, von welcher ihm eine rauhe Stimme den Weg weist, auf dem er nach Stunden wieder den ersten Kirchthurm erblickt. So einsam ist die Umgebung von Schloß Linderhof, welches in der „Gartenlaube“ (S. 104) schon früher, als der Schleier des Geheimnisses noch über den Schlössern König Ludwig’s lag, geschildert wurde.
Jene interessanten Mittheilungen vervollständigen wir heute durch die trefflichen Ansichten der einzelnen Bauten. Auf dem Breling’schen Gruppenbilde erblicken wir zunächst in der Mitte den Eingang und die Vorderfaçade des Schlosses, vor welchem der berühmte Rokokowagen hält; nur einmal wurde er benutzt, als die Prinzessin Gisela nach der Hochzeit ihren Einzug in München hielt. Links oben steht der kleine Venustempel mit der reizenden, von Hautmann in München modellirten Bildsäule der Göttin, rechts der marokkanische Kiosk, welchen der König auf der Pariser Weltausstellung gekauft hatte. Unten die vielgenannte blaue Grotte, deren nähere Beschreibung wir uns für den letzten Artikel vorbehalten.
Die übrigen Bauten, welche zu Schloß Linderhof gehören, liegen zerstreut in der Umgebung, stellenweise sogar, wie der „Hubertuspavillon“, auf österreichischem Boden. Auch die „Hundinghütte“ ist weit vom Schlosse entfernt; etwa anderthalb Stunden, hart an der tiroler Grenze in tiefer Waldesnacht. Sie ist ein mäßig großer Bau aus rohen Baumstämmen und spiegelt sich in einem kleinen dunklen Waldsee, auf welchem ein uralter morscher Nachen, aus einem einzigen Stamm gezimmert, schwimmt. In diesem Fahrzeuge pflegte der König, wenn er die Hütte besuchte, über den Waldweiher zu rudern. Dunkelbraun vor Alter sind die Holzwände der Hundinghütte; hellschimmernd heben sich davon die als Thüreinfassungen und Wandstützen angebrachten Birkenwände ab, auch die Fenster sind mit Birkenästen umrahmt. Ein großer Schwan, aus rohen Aesten zusammengestellt, dient der Außenwand als Zierat. Tritt man in den Innenraum, so fällt der Blick zunächst auf den Stamm eines riesigen Baumes, um welchen die Hütte erbaut ist. In diesem steckt ein Schwert, eine Erinnerung an das berühmte Hundingschwert der nordischen Sage.
Eine Hängematte mit roher Malerei hängt vom Dachstuhl nieder; die Zimmerung der Wände ist mit Auerochsenköpfen und geweihtragenden Hirschschädeln geschmückt; auch mit Trophäen aus Beilen, Jagdspeeren und Trinkhörnern.
Ueber den Boden ist eine breit geflochtene Bastdeckc gelegt. Inmitten der Hütte ist die Feuerstätte, über welcher an eiserner Kette ein rußiger Kessel hängt; der Tisch besteht aus einer unförmigen von knorrigen Wurzeln getragenen Holzplatte; als Stuhl davor ein abgesägter Baumstumpf. Die Leuchter sind aus Wurzeln zusammengestellt, der Kronleuchter über dem Tische ist der Schädel eines Hirsches mit vielfach verschlungenem Geweih, an eisernen Ketten hängend. Statt der Tapeten hängen Fischernetze an der Wand. Zu beiden Seiten des Hauptraumes finden sich kleinere Nebenränme, in dem einen derselben uralte Majoliken, auch Gläser und Teller für den Gebrauch des Königs; der andere dient als Schlafgemach.
Die ganze Hütte ist bis auf die kleinste Einzelheit als das Bild einer uralten Jäger- und Fischerhütte mit vollendetem künstlerischen Geschmacke durchgearbeitet. Wer sie betritt, den umfangen Eindrücke und Gestalten, die in graue Vorzeit zurückreichen, in eine Zeit, von welcher uns noch keine Geschichte meldet, sondern nur schwankende Sage. – Hier saß der König bei seinen Ausflügen vom Linderhofe aus in mancher Nacht, einsam mit seinen Gedanken, mit diesen Erinnerungen der Vorzeit und mit der schweigenden Hochgebirgsnatur, durch welche nur hier und da der Schrei eines Hirsches oder eines Nachtvogels scholl. Unfern der Hundinghütte, vielleicht tausend Schritte, liegt die [635] „Klause“; eben so ganz aus rohen Stämmen gezimmert, mit einem Rindendach und Glockenthürmchen. Die Wände sind mit Malereien auf rauher Packleinwand geschmückt; aus gleichem Stoffe sind auch die Vorhänge der winzigen Fenster. Der Hausrath besteht aus Fischernetzen und alten Thongefäßen, aus einem alten rohen Betschemel und einem dunklen Krucifix darüber. So erscheint die „Klause“ wie eine Erinnerung an jene dunklen Zeiten, als in diesen Thälern zum ersten Male das Christenthum eindrang. Man fühlt sich zurückversetzt in die Tage der Völkerwanderung, und wenn man hinaustritt in den schweigenden Bergwald, Abends nach Sonnenuntergang, kommt man unwillkürlich auf den Gedanken, als müßte von jenen schroffen Felszacken, den „Geierköpfen“, die dort über den dunklen Fichten in den Abendhimmel starren, Wodan der alte Heidengott mit seinem wüthenden Heer niederfahren zum nächtlichen Ritte durch das Grenzgebiet.
Der Raub in der Thierwelt.
(Schluß.)
Wir waren im ersten Theil dieses Artikels den Wieseln und
Mardern auf ihren Raubzügen in dem Dickicht der Büsche
und Bäume, zwischen Felsen und dem Gemäuer von Burg und
Haus gefolgt; wir besuchen jetzt unsere Teiche und Seen, Bäche
und Flüsse, um anderen Erscheinungen in der Ausführung des
Raubes zu begegnen. Der Fischotter, der „Marder der Gewässer“,
wie man ihn treffend bezeichnet, hat dieselben zu seinem Jagdrevier
erkoren. Sein plattgedrückter, aalartig glatter und geschmeidiger
Leib mit den Schwimmfüßen, sein außerordentlich
scharfes Gebiß, welches sich durch das feste Einpassen der Köpfe
der beiden Unterkieferäste in die Pfannen auszeichnet, wie seine
breite, drüsenreiche, gummiartige Schnauze befähigen diesen Feind
der Edelfische zum ausgiebigsten Fischer. Hierbei wird das
Thier durch das Geschick des Tauchens unterstützt. Der einmal,
wenn auch etwa knapp gepackte Fisch kann der mörderischen Beißzange
des Otterrachens meist nicht mehr entrinnen, und wenn
dies auch glückt, hinterläßt der Entwischte doch zwischen den Zähnen
des Räubers den Zehnten seines Körpers, was gewöhnlich sein
Verderben herbeiführt. Obgleich Nachtthier, benutzt der Otter doch
auch die Tageszeit, besonders die Frühe zu seinen Fischereien.
Er schwimmt, ohne Geräusch in die Tiefe tauchend, stromaufwärts;
von Zeit zu Zeit, gewöhnlich nach einer, auch wohl zwei Minuten,
erhebt er die Nase über die Wasserfläche und schöpft mit oft
vernehmlichem Brausen Athem. Sein Fang ist verschieden. Bald
jagt er die Fische im vollsten Sinne des Wortes, indem er die
vor ihm fliehenden ereilt und packt, bald wittert er sie mittelst
seines scharfen Geruchs und Gesichts hinter hohlen Ufern oder unter
Steinen und Blattpflanzen aus und ergreift sie in ihren Schlupfwinkeln.
Kleine Fische fängt er sehr leicht, gewöhnlich rasch hinter
einander deren mehrere, und verzehrt sie im Wasser, den Kopf
über die Oberfläche desselben erhebend. Mit großen Fischen
begiebt er sich auf seinen „Steigen“ (Pfaden) ans Ufer. Er reißt
der Beute, während er sie zwischen den Vorderpfoten hält, die
Rückentheile bis zum Schwanz an, verschmäht aber Kopf und
Schwanz. Im flachen Wasser und in Tümpeln und Buchten
trübt er durch Schlagen mit dem kräftigen Schwanze („Ruthe“)
das Wasser, um die in die Verstecke eilenden Fische sicher aufzuspüren.
Hier sucht er die still stehende Forelle oder den Hecht
von unten her zu packen; dort schießt er mit Gewalt des Blitzes
unter versammelte Fische, die sein Anblick verwirrt und die
eine leichte Beute für ihn werden. Seine große Raublust
läßt ihn oft und weit über Bedürfniß jagen, namentlich unedle,
ihm weniger mundende Fische. Den größeren Edelfischen, wie
z. B. dem Lachs, stellt er sogar gemeinschaftlich mit seines Gleichen
nach, denn es ist beobachtet worden, daß zwei Otter, der
eine in der Tiefe, der andere oben, den Lachs verfolgen. In
kurzer Zeit entvölkert dieser Verwüster ein Gewässer merkbar
und empfindlich von edlen Fischen. Uebrigens dienen zu seiner
Nahrung auch andere Wasserthiere, wie Frösche, Krebse, Wasserratten,
ferner auch kleinere Vögel und selbst großes Geflügel, wie
Enten. Auch dehnt der Otter seinen Raub aufs Land aus. Die
kleinen in Ufergewächsen schlafenden Vögel beschleicht er, die auf
dem Wasser schwimmenden zieht er, geräuschlos tauchend, von
unten ins Wasser. So haust verwüstend das Schreckbild der
Wasserthiere in großer Ausdehnung; denn der unermüdliche Räuber
tummelt sich in einem großen Jagdreviere.
Gleich nach den marderartigen Thieren tritt auf die Schaubühne des Raubes der vielgenannte und doch in so manchen Charakterzügen und Lebensäußerungen noch unbekannte oder auch verkannte Fuchs. In welcher Art der Diebs- und Mordkunst wäre der Allem sich bequemende Lumpaci Vagabundus nicht Meister!? Selbst das Klettern hat er sich im niederen Grade angeeignet. Seiner Gaunerstreiche und Mordthaten sind so viele, sie begreifen den thierischen Raubsport in einem so vielseitigen, ausgedehnten Maße, daß wir uns nur auf Skizzirung einiger Hauptzüge seiner Raubmanier beschränken müssen. Charakteristisch für ihn sind vornehmlich das Beschleichen und das Lauern. Letzteres wendet der alte erfahrene Fuchs besonders [636] im Sommer an. Er hat sich die betretenen Pfädchen durch Getreide, Wiesen, Au und Wald wohl gemerkt, auf welchen der Hase in den Dämmerstunden der Frühe und des Abends „von“ oder „zu Holz“ oder „zur Aesung rückt“. Wie auf unserem beigegebenen Bilde lauert der rothe Freibeuter als echter Wegelagerer unter Benutzung der Windrichtung ausdauernd, um den endlich heran „hoppelnden Lampe“ durch einen gewandten Gegensprung zur rechten Zeit zu fassen und zu würgen. Geduldiges Abwarten führt ihn im Walde gleichfalls zum Ziele, wenn er den Augenblick ausspürt, in welchem die alte Rehgeis ihr Kitzchen einmal auf einer Blöße des Holzes oder auf einer Wiese unbewacht lassen sollte. Vom sicheren Versteck einer Halde, eines Hages, vom Waldrande aus erspäht er die Augenblicke, wo der Hirtenjunge die sichere Hut der Gänse auf der Weide vernachlässigt, um dann wie der Blitz über das junge Volk der Gänse herzufallen. Ebenso liegt er im Hinterhalte des Feldwachsthums in der Nähe des Gehöftes, das Gebell des Hofhundes, den der Schlaue an der Kette weiß, nicht achtend. Er hat den Spaziergang des Hofgeflügels ins einladende Getreide oder in die nahe Wiese ausgekundschaftet und ertappt wie der Wind mit ein paar flüchtigen Sätzen die herausgetretenen Hühner am Acker oder im Wiesengrunde, die Enten am benachbarten Graben oder Bache. Besonders thätig zeigt sich die Füchsin zur Zeit der Jungenpflege auf der Schaubühne des Raubwesens, bald durch Lauern, bald auf dem Schleichwege oder in der geschickten Verknüpfung beider Raubmethoden. Zu dieser Zeit übt sie nicht selten auch den Akt des Jagens aus, besonders nach jungen Hasen. Gerade auf den Lebenswegen der Fuchsmutter zeigt sich am meisten das vielseitige Wesen dieses geweckten Räubers, dessen Thaten sich in Bezug auf Schaden und Nutzen in der Thierwelt gegenseitig die Wage halten. Denn er vertilgt nicht ausschließlich alle möglichen Kleinthiere der Jagd und des Hauses und Hofes; der aufmerksame Blick des Beobachters bemerkt auch die unzähligen Beweise jenes Raubes an unseren schädlichen Nagern in Flur und Wald. Zu jeder Tageszeit des Vorsommers kann man das Raubthier auf den Blößen der jungen Hegen, den Waldwiesen und selbst in der Nähe der Dörfer und Weiler unermüdlich, dem Mäusefange obliegen sehen. Bald lauert dann der Fuchs an den Gängen und Höhlen der Mäuse geduldig wie die beste Katze, um mit einem raschen Zufahren die aus der Erde hervorkommende Maus zu erhaschen und mit ein paar Bissen zu verschlucken; bald geht sein Lauern in ein Schleichen über, plötzlich durch einen hohen Bogensprung eine im Wachsthum sich regende oder aus dem Versteck huschende Maus mit fast nie versagender Geschicklichkeit zu packen. Stunden, ja halbe Tage lang geht auf diese Weise der Mäusefang fort, und wenn das Lauschen ohne Erfolg bleibt, so legt sich der Listige, um Diebes- und Raubkünste nie Verlegene auf ein Mittel, das wir der alten Füchsin manchmal im Verborgenen abgesehen. Sie verursacht mit den Vorderpfoten am Eingang der Mauslöcher ein Poltern, auf welches nicht selten einer oder der andere Insasse der Erdhöhlen aus den Röhren herausfährt in den Rachen des behenden Freibeuters. Und wie hier im Sommer, so Winters auf den schneebedeckten Feldern zeichnet der Fuchs – wenn ihn das körperliche Auge des Beobachters auch nicht gewahrt – unseren geistigen Blicken in seiner Spur den Abdruck seines Wirkens vor. Ja, auf der vielberedten Zeichenschrift seines Spurganges kann der Blick des Kundigen alle die listigen Streiche und die Abenteuer des verschlagensten, kühnsten Raubes dieses merkwürdigen, begabten Thieres ablesen. Es würde zu weit führen, wollten wir auch nur einige Blätter dieser bewegten Zeichenschrift des Fuchswandels auf dem schneeigen Plane entziffern.
Den nahen Verwandten des Fuchses, den Wolf, können wir füglich ebenso gut übergehen wie den Luchs. Beide Großräuber sind an der Grenze ihrer gänzlichen Ausrottung in unserem Vaterlande angelangt, an dessen äußersten Marken sie nur noch höchst vereinzelt vorkommen. Sie gehören, wie der Elch, zu unseren heimischen Thierruinen, von welchen bald nur noch die Ueberlieferung sprechen wird. Auch nur dieser könnten wir folgen, wenn wir die Bethätigungen beider Räuber vorführen wollten, und da wir wesentlich nur Selbstbeobachtetes aus der Thierwelt schildern, so wenden wir uns von den beiden Genannten der heimischen Wildkatze zu, welche so ziemlich das verkleinerte Bild des Luchses vergegenwärtigt.
Wenn dieser hauptsächlich sein räuberisches Unwesen von hoher Warte der Bäume oder Felsen durch den Absprung ausübt, so beschränkt sich die charakteristische Jagd der Wildkatze im Wesentlichen auf das Beschleichen und Erhaschen der Beute mittelst Sprungs auf der Erde; nur ausnahmsweise raubt dies Thier lauernd in der Höhe von Baum und Fels.
Der Wildkatze natürliche Raubbefähigung erstreckt sich über ein großes Thierkontingent. Zwar ist ihre gewöhnliche Jagd auf die kleinen Säugethiere und Vögel gerichtet; allein sie vergreift sich nicht selten an jungen und alten Rehen und erbeutet unsere größeren Waldhühner mit Kraft und Geschick. Zum Glück der heimischen Thierwelt, insbesondere der Wildgehege entbehrt sie des feineren Witterungssinnes, in dessen Besitz ihr empfindliches Raubwesen sich zur wahren Verwüstung ausdehnen würde. Indessen ist ihr Vorkommen auch lange nicht so häufig, als das der schon geschilderten Raubsäuger; ihr Erscheinen ist vereinzelt.
Aus unserm Bilde der Wildkatze – nach welchem sie ein Volk kaum flugbarer Haselhühner bei der alten Henne beschleicht und eben den Raubsprung auszuführen sich anschickt – ergiebt sich das Wesentliche ihrer Raubart. Irgend eine Deckung weiß das lauernde oder dahinschleichende, sehr scharfsichtige und fein hörende Thier zu benutzen, um den geschmeidigen Körper, auf den natürlichen Socken ihrer Pfoten niedergeduckt und stetig fortschiebend, dem ausersehenen Opfer zu nähern. Dabei spricht die „Ruthe“ (Schwanz) in Schlangenwindungen, der Gesichtsausdruck in dem Feuer der Augen die Sprache der großen Erregung des Thieres, dessen Seelenspannung mit dem Bestreben nach Behutsamkeit und Vorsicht kämpft. Auf eine Entfernung von fünf und mehr Schritten weiß der sprungfertige Leib der Katze die flüchtigste Beute wohl zu erhaschen. Sind Fuchs, Wiesel und Marder sicher und wuchtig im Fassen mit dem scharfen Gebiß im dehnbaren Rachen, so ist dies die Wildkatze in noch erhöhterem Grade mit den ausgiebigsten Waffen der Krallen an ihren Tatzen. Diese „Fänge“ sind einziehbar in eine Scheide der Zehen und üben eine furchtbare Gewalt aus beim Einkrallen in den Körper der Beute, indem sie sich bei Befreiungsversuchen derselben nur um so fester einhaken.
[637]
Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.
Für die Bewohner der Riesenstädte der Neuzeit bildet eine rasche und zugleich wohlfeile Beförderung von einem Punkte der Stadt zum andern eine Lebensfrage. Man hat dem Bedürfnisse auch überall zu entsprechen gesucht, und es erfreuen sich jetzt alle größeren Orte eines Pferdebahnnetzes, welches anfangs den gesteigerten Ansprüchen zu genügen schien. Doch stellte es sich in den Weltstädten bald heraus, daß das Fahren auf diesen Bahnen zu viel von der kostbaren Zeit verschlingt und daß sie den ohnehin schwierigen Verkehr der gewöhnlichen Fuhrwerke erheblich beeinträchtigen, weil sie den größten Theil des Fahrdammes einnehmen.
Es haben unter diesen Verhältnissen einsichtige Männer, unter denen unser berühmter Landsmann, Dr. Werner Siemens, die erste Stelle einnimmt, längst erkannt, daß die Lösung der Frage der weltstädtischen Verkehrsmittel weniger in dem Ausbau des Pferdebahnnetzes als in der Schaffung einer zweiten Verkehr-Etage, eines zweiten erhöhten Fahrdammes liegt, welcher den unteren Damm entlastet und, weil hier auf entgegenkommende Wagen keine Rücksicht zu nehmen ist, eine angemessene Geschwindigkeit der sich darauf bewegenden Fahrzeuge gestattet. Es gilt keiner als Prophet im eigenen Lande, und so war es dem eben genannten großen Forscher und Industriellen nicht vergönnt, bisher seine Lieblingsidee leichter und wohlfeiler elektrischer Hochbahnen im Zuge der Hauptverkehrsader der Großstädte zu verwirklichen. Die in Berlin und London gebauten Stadtbahnen verwirklichen nämlich das Ideal in keiner Weise. Die Stadtbahn der Reichshauptstadt ist eine viergeleisige Riesenanlage, die mehr eine Verlängerung der Außenbahnen bildet und obendrein eine wichtige strategische Rolle spielt. Ueberdies hält sie sich meist von den verkehrsreicheren Stadtgegenden fern. Die Londoner Bahnen aber sind unterirdisch angelegt, ungemein kostspielig gewesen und können ebenso wenig wie die Berliner die Pferdebahn und den Omnibus entbehrlich machen.
Zweckentsprechender sind allerdings die New-Yorker Stadtbahnen. Sie liegen im Zuge der Straßen selbst und wurden nicht durch den Ankauf von Grund und Boden übermäßig vertheuert. Ihnen blieb jedoch der Vorwurf nicht erspart, daß sie, weil zweigeleisig und nach der alten Schablone angelegt, von dem Straßendamme ein zu großes Stück in Anspruch nehmen und den Anwohnern Luft und Licht entziehen. Wohl zum Theil aus diesem Grunde wurde das Stadtbahnsystem des Bostoner Ingenieurs Meigs in den Vereinigten Staaten günstig aufgenommen, und erhielt derselbe, nachdem das berühmte Franklin Institut in Philadelphia sich zustimmend geäußert hatte, die Erlaubniß zum Bau eines Netzes von solchen Bahnen ertheilt, welches sämmtliche Stadttheile seiner Vaterstadt mit dem Verkehrsmittelpunkt sowohl wie unter einander verbinden soll.
Die nebenstehende Abbildung eines Zuges der ersten Probestrecke der Meigs’schen Hochbahn spricht für sich selbst.
Was zunächst den Unterbau anbelangt, so springen die Vortheile desselben in die Augen. Er nimmt von dem Straßendamm nicht viel mehr Raum ein, als etwa eine Telegraphenlinie; er verunstaltet die Straße nicht allzusehr, schmiegt sich den Unebenheiten des Bodens trefflich an und kann unmöglich sehr kostspielig sein. Nicht minder sinnreich sind die Wagen und Lokomotiven gebaut, deren äußere Gestalt allerdings ein künstlerisches Auge nicht gerade ansprechen möchte. Wenn Meigs aber die Walzenform für seine Fahrzeuge wählte, so geschah es deßhalb, weil diese der Luft den geringsten Widerstand bietet. Eigenthümlicher noch sind die Radgestelle. Die Anwendung von zwei Schienen, die aber über einander liegen, bedingte die schräge Lage der Laufräder an Wagen und Maschine. Letztere ist aber außerdem, wie aus der Abbildung deutlich hervorgeht, mit wagerechten Triebrädern versehen, welche sich an die obere Schiene anschmiegen und mit den Dampfcylindern in üblicher Weise verkuppelt sind. Der Zug bewegt sich also auf ebenen Strecken lediglich durch die Druckkraft dieser Triebräder auf die Seite der oberen Schiene. Sobald es aber bergauf oder bergab geht, hat diese Schiene die Gestalt einer doppelten Zahnstange, wie sie bei Alpenbahnen üblich ist und in welche besondere, auf unserer Abbildung nicht sichtbare, gezahnte Triebräder eingreifen. Daß eine Entgleisung der Meigs’schen Züge geradezu unmöglich ist, und daß sie sehr scharfe Krümmungen befahren können, leuchtet dem Leser sicherlich gleich ein. –
Für den Verkehr auf weite Entfernungen, für die Schnellzüge, die von Stadt zu Stadt durch die Länder jagen, ist die zweite Erfindung bestimmt, die wir mit wenigen Worten erklären können: die Riesenlokomotive von Estrade, deren Räder den Durchmesser von 2,50 Meter besitzen. Die Lokomotive unterscheidet sich sonst wenig von unseren heutigen Dampfwagen; die Einführung der großen Räder bei den Personenwagen brachte dagegen den französischen Mechaniker auf die Idee, dieselben zweistöckig zu bauen, wie dies durch die untenstehende nach der Zeitschrift „La Nature“ entworfene Abbildung veranschaulicht wird. Mit Hilfe seiner Riesenräder hofft Estrade die Geschwindigkeit der Eilzüge[WS 1] auf 120 Kilometer in der Stunde erhöhen zu können, und wird auf einer der französischen Bahnlinien demnächst Versuchsfahrten anstellen, auf deren Ergebniß man mit Recht gespannt sein darf.
[638]
Was will das werden?
Ich fühlte mich als Verdammter und schalt mich Feigling und Narr, während ich, dem glattzüngigen Präsidenten endlich glücklich entronnen, hätte gehen können und doch nicht ging, sondern so weiter durch die Gesellschaft schweifte, die inzwischen vollzählig versammelt war und die großen Räume im Uebermaß füllte: mit Orden bedeckte hohe Officiere, weniger reich dekorirte Würdenträger vom Civil, mit ihren Frauen, die sich einander in zum Theil wunderlichen Toiletten und steifer Haltung überbieten zu wollen schienen; aber auch viele jüngere Leute: Herren in Uniform oder Frack, und die betreffenden Damen, unter welchen letzteren einige wenige anmuthige Gesichter. Das stand nun in dichten Gruppen oder schob sich unter höflichen Ausbiegungen durcheinander mit dem stereotypen Lächeln auf den abgespannten Gesichtern, denn in den nicht eben hohen Räumen herrschte eine kaum erträgliche Temperatur und – „bei Tante Isabella wird nicht früher soupirt, als bis zwei oder drei in Ohnmacht gefallen sind,“ sagte Ulrich, der plötzlich neben mir war.
„Es ist natürlich Büffet,“ fuhr er fort, „das nebenbei gar nicht so übel zu sein pflegt. Hast Du Dich schon engagirt?“
„Ich wüßte nicht, mit wem,“ erwiderte ich, „auch habe ich nicht die Absicht zu bleiben.“
„Davon kann keine Rede sein,“ sagte Ulrich lebhaft, „ich habe den speciellen Auftrag von Ellinor, Dich an den Tisch zu bringen, den ich eigens für uns habe reserviren müssen: Ellinor selbst, die beiden kleinen Blumenhagen, die wirklich ganz nett sind, Astolf selbstverständlich, Renten, Blewitz und noch ein paar. Sie sagt, sie hat eine Dame für Dich in petto, die sie Dir selber bringen will – deßhalb meine Frage, ob Du Dich bereits engagirt hattest. Also sei kein Frosch und bleib’! Ich will nur schnell Ellinor sagen, wo Du steckst. Sie suchte Dich vorhin überall. Es kann aber einige Zeit dauern, bis ich wiederkomme; sie ist eben jetzt sehr beschäftigt.“
Er war davongeeilt, ohne meine Antwort abzuwarten, mit der ich gezögert hatte, fühlend, daß ich nicht so leicht die schickliche Form würde finden können. Das Herz klopfte mir zum Zerspringen. Ich war empört über die Zumuthung, an einem Tische mit ihr und ihrem Bräutigam – denn dafür schien man doch Astolf allerseits zu nehmen – im Gefolge ihrer anderen erklärten Kourmacher speisen zu sollen; und dann sagte ich mir wieder, daß, wenn ich von der Leidenschaft, die mich zerrüttete, wirklich geheilt sein wollte, ein heroischeres Mittel als dies, der Zeuge von Astolf’s Triumph zu sein, nicht gefunden werden könne.
„Haben Sie einen Augenblick für mich?“
Es war Renten, der mit geheimnißvoller Miene an mich herangetreten war und, als ich mich stumm verbeugte, im Flüstertone fortfuhr:
„Verzeihen Sie die diplomatische Komödie, die ich Ihnen vorhin in Gegenwart der Andern vorspielen mußte! weßhalb meinen Sie, daß ich hier bin? – Aber, bitte, setzen wir uns da an das Fenster – wir sind da weniger leicht gestört – also: weßhalb meinen Sie?“
„Ich denke, Sie kommen jetzt öfter nach Berlin?“
„Allerdings, allerdings. Aber gerade diesmal, gerade heute?“
„Ich meine, es ist besser, wenn Sie es selbst ohne Umschweife sagen.“
„Ohne Umschweife! gewiß! wir sind ja unter uns – nicht umgeben von lauschenden Ohren: Ich bringe Ihnen Grüße aus unserer grünen Heimat.“
Die blauen Puppenangen starrten mich erwartungsvoll an.
„Verbindlichen Dank,“ erwiderte ich ruhig, obgleich mir das Herz heftig schlug. „Und deßhalb wären Sie hier?“
„Nur deßhalb. Heute Nachmittag angekommen; wußte, daß ich Sie am Abend hier treffen würde.“
„Sie werden sich längere Zeit in Berlin aufhalten?“
„Ich hoffe, mich meines Auftrags schnell und glücklich entledigen zu können.“
„Also doch ein Auftrag?“
„Derselbe, der in meinem Gruß enthalten ist, wenn er verstanden und – erwidert wird.“
Und abermals ein erwartungsvolles Starren der Puppenaugen.
„Nun denn, Herr von Renten, so grüßen Sie unsre grüne Heimat wieder von mir! Sagen Sie ihr, daß ich oft und oft voll Dankbarkeit und Rührung an sie zurückdenke; daß ich die Tage, die ich in ihr verleben durfte, zu den glücklichsten meines Lebens zähle – trotz alledem; daß mich aber, dieses Glück zum zweiten Mal auf die Probe zu stellen, nichts auf der Welt bewegen könnte.“
Ich wollte mich erheben; er legte mir schnell die Hand auf die Kniee und sagte in fast weinerlichem Ton: „Nichts auf der Welt?“
„Nichts!“
„Auch wenn – auch wenn – mein Gott, Sie setzen mir ja die Pistole auf die Brust! – auch wenn Sie in Ihrer Heimat Ihre – Ihre Frau Mutter wiederfinden würden?“
„Mein Herr –“
Ich war nun doch aufgesprungen, er war mir gefolgt. Mich reute meine Heftigkeit. Was konnte der Mann, der da vor mir stand – mit einer Bestürzung in den Mienen, die sein Gesicht vollends albern machte – was konnte er wissen von dem Sturm, welchen sein Wort in meiner Brust entfesselt, was von dem Schmerz der Wunde, die er so jäh berührt hatte? Und hätte er’s gewußt – er handelte doch nur im Auftrage seines Gebieters.
„Verzeihen Sie mir,“ sagte ich. „Ich bin heute Abend mehr als billig erregt, und dies kam so unerwartet.“
„Aber ich bitte Sie,“ flüsterte er, „kein Wort, kein Wort! Ich kann Ihnen das so nachfühlen! Ich bin selbst in kaum geringerer Erregung – mein Gott, es steht ja so viel auf dem Spiel. Ich hätte langsamer vorgehen sollen – diplomatischer. Aber ist uns denn Zeit gelassen? Drängt nicht Alles nach Entscheidung? Sie kennen seine heftige Gemüthsart, die seitdem nicht abgemildert ist – das weiß der Himmel! Und auch ein Ruhigerer als er – der übrigens schon seit Wochen mit Bestimmtheit vorausgesehene Tod der Herzogin – die Möglichkeit der Verwirklichung eines so lange und – wie es sich jetzt zeigt – so leidenschaftlich gehegten Wunsches – vielmehr zweier Wünsche, die Hand in Hand gehen, so daß sie entweder beide erfüllt werden, oder keiner – die Steigerung dieser Möglichkeit bis zur positiven Wahrscheinlichkeit –“
„Verzeihen Sie, Herr von Renten,“ unterbrach ich den Eifrigen; „aber es ist mir nicht möglich, Ihren Andeutungen zu folgen. Ich möchte auch gar nicht folgen können. Sie ahnen nicht, wie unsäglich peinlich mir dies Alles ist. Ich bitte Sie, lassen Sie uns abbrechen!“
Die Puppenaugen wurden wieder ganz gläsern.
„Abbrechen?“ murmelte er, „wo noch nichts entschieden ist, wo eben eine Entscheidung getroffen werden muß, während Sie noch nicht einmal wissen, worauf ich Sie vorbereiten wollte? Mag mir mein gnädiger Herr vergeben, wenn es jetzt der rechte Augenblick nicht ist; aber Sie lassen mir keine Wahl: Ihre Frau Mutter ist in Berlin. – O Gott, dachte ich es doch!“
Mein Gesicht mochte wohl für den Augenblick entstellt genug gewesen sein; aber ich faßte mich mit einer ungeheuren Anstrengung, und konnte nach einigen Sekunden verhältnißmäßig ruhig fragen:
„Seit wann?“
„Ebenfalls seit heute Vormittag.“
„Wo ist sie abgestiegen?“
Er nannte mir ein kürzlich eröffnetes großes Hotel.
„Haben Sie sie gesprochen?“
„Bevor ich hierher kam. Sie hatte die Güte, mich auf eine halbe Stunde zu empfangen. O, welch’ eine Frau ist dies!“
„Einen Auftrag von ihr an mich haben Sie nicht?“
„Nein. Ihre Frau Mutter meinte, es wäre besser so. Sie warnte mich sogar vor einer zu frühzeitigen Mittheilung des [639] Faktums ihrer Anwesenheit. Habe ich damit einen Fehler begangen – bitte, bitte, sagen Sie mir, daß es nicht der Fall gewesen ist!“
„Es mußte ja doch einmal gesagt werden.“
„Gewiß. Und was beschließen Sie?“
Ich fand keine Zeit mehr zu einer Antwort. In der Gesellschaft war eine Bewegung entstanden. Man drängte massenhaft in das Gemach, in welchem wir uns befanden, um ein daran stoßendes für bereits gedeckte Tafeln frei zu machen, die von den Dienern von irgendwoher hereingetragen wurden. Zwischen Renten und mich hatte sich ein dichter, scheinbar unentwirrbarer Knäuel von Damen, die ihre Schleppen aufzuraffen suchten, und Herren, die bis über die Kniee in dem wogenden Sammet- und Seidenmeer versunken waren, zusammengeballt. Ich kämpfte mich Zoll um Zoll weiter nach der Thür, entschlossen zu gehen, ohne Ulrich’s Rückkehr abzuwarten, als derselbe in dem Gedränge auftauchte, suchende Blicke umhersendend und, als er mich nun entdeckt hatte, mit Hand und Augen winkend. Dann erst gewahrte ich, daß er Ellinor am Arm führte.
In der nächsten Minute waren wir uns begegnet, und Ellinor hatte, den Vetter loslassend, die Hand in meinen Arm gelegt.
„Such’ Du nur die Anderen!“ rief sie. „In dem rothen Zimmer, weißt Du! Der Tisch ist reservirt.“
Ulrich war davongeeilt. Ellinor, ihre Schleppe mit der anderen Hand aufnehmend, lehnte sich fester auf meinen Arm und sagte: „Ich bin die Dame, die ich Ihnen zugedacht habe. Ich wußte, daß Sie sich in der fremden Gesellschaft nicht engagiren würden. Es ist Ihnen doch recht?“
Sie hatte die Augen niedergeschlagen – selbstverständlich. Wie mochte sie auch mir in die Augen sehen bei der frivolen Komödie, die sie da mit mir spielte? Ein Sklave mehr vor ihrem Triumphwagen! – was sonst?
„Sie sind sehr gütig,“ sagte ich, „aber –“
Ich kam nicht weiter. Astolf drängte sich fast gewaltsam durch die Menge und trat jetzt rasch vor uns hin, so daß auch wir stehen bleiben mußten. Ein unwilliger Blick aus seinen schönen Augen streifte mich, als er, zu Ellinor gewandt, hastig sagte: „Aber ich suche Dich in allen Zimmern! Es ist die höchste Zeit!“
Und er machte mit einer halben Verbeugung zu mir eine Bewegung in der Erwartung, daß Ellinor meinen Arm mit dem seinen vertauschen werde.
„Du sollst Elise Blumenhagen führen,“ erwiderte Ellinor, deren Hand jetzt schwer auf meinem Arm lag; „hat Ulrich Dir das nicht gesagt?“
„Kein Wort.“
„So hätte er Dir es sagen müssen.“
„Aber –“
„Bitte, kein Aber! Störe mir nicht meine Arrangements! Wir kommen übrigens an denselben Tisch.“
Sie hatten beide im schnellsten Tempo gesprochen. Ich konnte Ellinor’s Augen nicht sehen, Wohl aber die seinen, und wenn in den ihren derselbe Ausdruck lag, so war es beim Himmel kein Blick der Liebe, welchen sie da miteinander wechselten. Der Vorsatz, mit dem ich hierher gekommen, war im Laufe des Abends schon zu sehr erschüttert, als daß ich hätte einschreiten können, wie ich es folgerichtig hätte thun müssen. Und schon war es zu spät dazu. Der junge Officier hatte sich verbeugt, auf den Hacken umgewandt und drängte wieder durch die Menge – von uns fort.
„Also,“ sagte Ellinor, „der Weg ist frei.“
Ich blickte jetzt in ihr Gesicht, das sie zu mir erhoben hatte. Es war sehr blaß, und um die Lippen zuckte ein nervöses Lächeln, aber die braunen Märchenaugen schimmerten in einem Licht, das mir die Besinnung zu rauben schien. Ich meinte, sie so schön nie gesehen zu haben. Und wenn wir in den alten Komödientagen uns auch manchmal hatten berühren müssen, sie hatte nie an meinem Arm gehangen wie jetzt; nie hatte ich ihre süße Nähe so zaubermächtig empfinden dürfen. Ach, und es war ja doch wieder Komödie! Daran klammerte ich mich als an meine letzte Rettung.
„Warum haben Sie Ihren Verlobten weggeschickt?“ murmelte ich, während wir mit kleinen Schritten weitergingen.
„Wer sagt, daß er mein Verlobter ist?“
„Alle Welt.“
„Dann – lügt alle Welt.“
„Gnädiges Fräulein –“
„Ich bin für Sie kein gnädiges Fräulein. Sie sind mein Verwandter so gut wie er.“
„Ah!“
Ich vermochte nichts weiter hervorzubringen, als den Schreckensruf, einem Menschen gleich, der durch den Damm, welcher seine Felder bewahren sollte, die Fluth hereinbrechen sieht.
„Sie haben Ihre Maske fest genug gehalten – aus Haß gegen uns, gegen mich – ich weiß es. Es hilft Ihnen nichts mehr – mir gegenüber nicht. Den Triumph, Ihnen das zu sagen, mußte ich haben.“
Es war eine übermüthige, schier wilde Lustigkeit, mit welcher sie das sagte, während mich ein tiefes Weh jäh überfiel – hier am Rande einer sonnigen Welt, in welche mich die Lichtgestalt hinüberlocken zu wollen schien, und die mein Fuß doch nie betreten durfte. Schon einmal hatte ich an solcher Stelle gestanden und die Kraft zum Entsagen gefunden; nur daß diese Prüfung so viel grausamer war als jene.
Das Alles schoß mir mit Blitzesschnelle durch Kopf und Herz. Es konnten nicht mehr als ein paar Sekunden vergangen sein, bevor ich antwortete:
„Ich fürchte, Sie werden Ihres Triumphes wenig froh werden. Nachdem Sie dies wissen, ist es das letzte Mal, daß ich das schmerzliche Glück habe, in Ihrer Nähe weilen zu dürfen.“
„Also doch ein Glück?“ sagte sie hastig mit zitternder Stimme.
„Wenn auch das zu Ihrem Triumph gehört: ja, ein Glück! ein unergründlich – grenzenloses! Und nun, ich flehe Sie an: haben Sie Mitleid mit mir, wenn ich auch keines mit meinem Stolze gehabt habe. Ersparen Sie mir die weitere Qual – ich ertrüge sie nicht.“
Ich versuchte meinen Arm frei zu machen und bemerkte plötzlich, daß wir allein waren in einem Korridor, oder was es sein mochte, – eine Seitenverbindung vielleicht neben den Gesellschaftsräumen – durch welche Ellinor mich geführt hatte, um, wie ich annahm, so schneller das Buffetzimmer zu erreichen. Auch war eben ein Diener mit einem großen Brette voll Teller und Gläser an uns vorübergeeilt mit einem: „entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein!“ und das hatte mich erst um mich blicken und den Wechsel der Umgebung bemerken lassen. Es war im Vergleich zu der Helligkeit, aus der wir gekommen waren, nur eine Dämmerung in dem langgestreckten Raume; und in der Dämmerung sah ich sie – jetzt wahrhaft als Lichtgestalt in ihrem weißen Seidenkleide; – und dann nicht mehr sie – nur die dunklen leuchtenden Märchenaugen.
Sie hatte meinen Arm freigegeben, aber ich fühlte ihre Hände auf den meinen, – federleicht, während es doch von ihnen wie ein elektrischer Schlag durch meinen ganzen Körper bebte, – und die leuchtenden Augen waren jetzt dicht vor mir, und eine Stimme – eine melodische, tiefe, die ich nie gehört zu haben glaubte, sagte: „Auch dann nicht, wenn Du die Qual theilst mit mir – die süße Qual des Geheimnisses, daß ich Dich liebe, wie Du mich – unergründlich – grenzenlos?“
Hatte ich sie umfangen? sie mich? – ich weiß es nicht. War das ein Kuß? war es ein Himmelstraum? – ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, daß wir dann wieder einander an den bebenden Händen hielten, als ob wir nie von einander lassen wollten und könnten, und sich die Hände doch wieder blitzschnell lösten und wir zwei Schritte von einander standen, als jetzt ein eilender Schritt den Korridor heraufkam.
Es war der Diener von vorhin, diesmal anstatt des Geschirrs einen Brief in den Händen, den er Ellinor reichte:
„Verzeihung, gnädiges Fräulein! Dies wird soeben abgegeben – ein Diener, Hôteldiener, sagt er. Für einen Herrn, der in der Gesellschaft sein soll. Es sei sehr dringend.“
Ellinor hatte den Brief genommen. Der Diener schraubte die eine Gasflamme hoch, die in unsrer Nähe an der Wand gedämmert hatte.
„Für Sie!“ sagte sie, mir den Brief reichend, dessen Kouvert ich aus einander riß. Die Buchstaben flirrten mir vor den Augen. Dann hatte ich das Schreiben doch gelesen:
„Eine Bettlerin harrt Deiner unten. Du wirst sie nicht vergebens harren lassen. Sie nennt sich Deine Mutter.“
[640] Ich reichte Ellinor den Zettel, indem ich zugleich sagte:
„Gnädiges Fräulein, Sie werden mich entschuldigen? Nicht wahr?“
Sie brauchte ein wenig länger als ich, den Inhalt zu entziffern, und ich sah, wie sie sich bemühte, vor den Augen des Dieners das Zittern ihrer Hände zu verbergen. Nun gab sie mir das Billet zurück und sagte: „Gewiß! so leid es mir ist und meiner Tante sein wird.“
Und dann auf französisch:
„Wie ist das möglich? Gleichviel! Ich bitte Dich nur um Eines: denke bei Allem, was geschieht – denke immer an mich!“
Nun wieder deutsch zu dem Diener:
„Führen Sie den Herrn – gleich da!“ – sie deutete auf eine Thür in dem Flur – „Also viel Glück! und auf Wiedersehen!“
Sie eilte den Gang hinab und war im nächsten Augenblick schon durch eine andere Thür verschwunden. Der Diener leitete mich mit großer Beflissenheit durch ein paar leere Räume in die Garderobe, wo er mir in einer kleinen Schar von Leuten, die dort bereits auf ihre Herrschaften mit den Mänteln auf den Armen warteten, den Mann aus dem Hôtel bezeichnete, dem ich dann die Treppe hinab vor die Hausthür folgte. Eine Equipage, welche ein paar Schritte seitab gehalten, fuhr schnell vor. Das Herz pochte mir zum Zerspringen, als der Mann jetzt, den Hut in der Hand, die Kutschenthür öffnete und ich eine Dame sah, die sich nun aus der Ecke aufrichtete, indem sie zugleich den Schleier zurückschlug. Ich sprang in den Wagen. Der Diener schloß den Wagen. Ich sank in den Sitz neben ihr, auf welchen sie mich, meine beiden Hände ergreifend, zog:
„Ich danke Dir! ich danke Dir!“
„Mutter –“
„Ich danke Dir tausend-, tausendmal!“
Und ich fühlte zum ersten Male die Lippen der Mutter, nach denen ich mich als Knabe so inbrünstig gesehnt, auf meinen Lippen, die noch vom ersten Kuß der Liebe zitterten.
Die kurze Strecke von dem Hause der Generalin Unter den Linden bis nach dem Kaiserhof war in kürzerer Zeit zurückgelegt, als ich brauchte, um mich nur einigermaßen wieder zu fassen. Mußte ich doch alle Kraft zusammenraffen, den Leuten im Hôtel meine Bewegung nicht zu zeigen. Meine Mutter schritt, nachdem sie dem Portier einige Befehle gegeben, vor mir durch den Vorraum und dann die breite teppichbelegte Treppe hinan. Ich hatte sie nie auf einer anderen Treppe gesehen, als auf der engen mit den siebzehn knarrenden Stufen des alten Hauses in der Hafengasse und dann unweigerlich in ihrem schwarzen klösterlichen Kostüm; und ich fragte mich verwundert, ob die schlanke elegante Dame im pelzbesetzten Paletot von dunkelblauem Sammt und Straußenfeder-Hut, die sich plötzlich wandte und mit anmuthigem Lächeln die kleine Hand in perlgrauem Handschuh in meinen Arm legte, wirklich meine Mutter sei. Aber mir war ja heute Abend bereits ein nicht geringeres Wunder begegnet!
Wir waren in ihrem Zimmer angelangt – einem prächtigen Salon, in welchem auf den Tischen und von Wandkandelabern viele Lichter brannten und in dem großen Kamin ein helles Feuer flackerte. Der begleitende Kellner hatte mir, eine Kammerjungfer, welche bereits im Salon gewartet hatte, meiner Mutter die Sachen abgenommen. Meine Mutter fragte, ob ich bereits zur Nacht gegessen habe? Ich verneinte es, aber ich hatte auch keinen Hunger. Nur um ein Glas Wein bat ich, denn die Kniee zitterten mir, und ich sank halb ohnmächtig in einen der Fauteuils vor dem Kamin, wohin mich meine Mutter geführt hatte. Sie mußte mir meinen Zustand angesehen haben, brachte mir Eau-de-Cologne und Riechsalz und schenkte mir selbst von dem Wein ein, in ängstlicher Sorge, trotzdem ich sie der Wahrheit gemäß versichern konnte, daß ich die kleine Schwäche völlig überwunden habe und mich durchaus wohl fühle.
Auch die Kammerjungfer hatte sich zurückgezogen, wir waren allein. Meine Mutter saß in geringer Entfernung in einem zweiten Fauteuil mir gegenüber und streckte die Spitzen ihrer feinen Stiefelchen eine nach der andern dem Feuer zu, an das sie auch von Zeit zu Zeit die weißen Hände hielt, das Gesicht halb von mir abgewandt, als wollte sie mir Muße gönnen, wieder ganz zu mir zu kommen und mich an ihren Anblick zu gewöhnen.
Ich habe früher einmal gesagt, daß dem Knaben seine Mutter als das Ideal weiblicher Schönheit erschienen sei; und während ich so die scheuen Blicke auf sie wandte, wie sie in einer anmuthigen Stellung vornübergebeugt dasaß, mußte der Mann den Eindruck, welchen der Knabe gehabt hatte, einfach bestätigen. Die Zeit schien über etwas so Vollkommenes keine Macht zu haben, wie über ein griechisch Götterbild, mit welchem sie in dem Adel und der Reinheit der wunderzarten Linien des nur um ein Weniges überschnittenen Profils und dem herrlichen Schwung der edelschlanken Körperformen, wie sie sich jetzt in der Silhouette scharf von dem lichten Hintergrunde abhoben, getrost wetteifern konnte. Selbst die paar Silberfäden, welche ich früher doch bemerkt hatte, schienen aus dem dunkelglänzenden Haar verschwunden, das jetzt allerdings modisch frisirt war, aber in einer besonderen Weise, wie denn Alles an ihr nach der feinsten Mode und doch besonders war, ihrer Eigenthümlichkeit angepaßt und ihre Schönheit erhöhend. Zugleich bemerkte ich auch jetzt ihre große Aehnlichkeit mit jenem Portrait in der Nonnendorfer Galerie – dem jungen Jägersmann, der ihr Vater gewesen war und dem ich wiederum so ähnlich sein sollte. Die schmeichelhafte Folgerung daraus für mich zog ich aber wahrlich nicht; ich dachte gar nicht an mich; ich war ganz in ihren Anblick versunken, während doch zugleich tausend wirre Gedanken und Bilder durch mein Gehirn jagten, wie einem Träumenden.
Ich mochte unwillkürlich meine Schläfe berührt haben.
„Ist Dir auch wirklich wohl?“ fragte sie theilnehmend.
Ich bejahte es. Sie hatte sich erhoben und war vor mich hingetreten, mich sinnend betrachtend. Dann strich sie mir das Haar aus der Stirn, auf die sie einen Kuß hauchte, ging zu ihrem Fauteuil zurück und sagte, sich wieder setzend, aber ohne mich anzublicken:
„Ich frage nicht, ob es Dich freut, mich hier zu sehen. Für die Empfindungen, die uns in diesem Augenblicke erfüllen, wäre es ein banaler Ausdruck und kein zutreffender, wenigstens nicht für Dich. Deine Freude kann nicht ungemischt und ungetrübt sein.“
„Ist sie es denn für Dich, Mutter?“
„Ich möchte sagen: ja!“ erwiderte sie. „Denn die Wonne, Dich wieder – Dich nur so zu haben, so zu sehen, ist so groß, daß alles Andere, was sich zudrängen will, dagegen klein und nichtig erscheint. Es wird schon wieder kommen, – ich weiß es wohl – vielleicht schon in der nächsten Minute. Diese eine Minute ungetrübter Wonne mußt Du mir gönnen.“
Sie blickte starr vor sich hin, ich konnte mein Herz nicht länger bändigen.
„Mutter, Mutter,“ rief ich, zu ihren Füßen stürzend, „was machst Du aus mir? Ich wollte Dir zürnen und kann es nicht, wie man nicht in die Sonne sehen kann, wenn man auch will. Und hättest Du mir noch tausendmal mehr Leid zugefügt, dies macht Alles wieder gut – diese Minute! Laß auch mich ihre Wonne auskosten bis zum tiefsten Grunde! Sieh, für eine solche Minute hätte ich als Knabe mein Herzblut freudig dahingegeben Tropfen um Tropfen. Ich habe Dich ja so grenzenlos geliebt und wohl nie mehr, als wenn ich am störrischsten Dir Widerpart hielt. Und als Du mich gar verlassen hattest und mich am bittersten gekränkt, und ich mich von Dir verstoßen glauben mußte auf immer, habe ich Dich doch weiter geliebt und mich in der Erinnerung Deiner Schönheit und Holdseligkeit berauscht, wie in der eines lieblichen Traumes, und habe Dein Bild heilig gehalten – hier, hier auf meinem Herzen hat es geruht all’ diese Jahre. Da hast Du es wieder. Ich brauche es jetzt nicht mehr!“
Und in dem Sturm meiner Leidenschaft hatte ich meine Kleider aufgerissen, das Medaillon abgerissen, das ich stets an einem Bande am Halse trug, und ihr in die Hand gedrückt, während mein Haupt auf ihre Kniee sank und mein Körper in krampfhaftem Schluchzen erzitterte.
Sie ließ mich so ein Weilchen. Dann richtete sie meinen Kopf, ihn in beide Hände nehmend, empor, drückte mir Kuß um [641] Kuß auf Lippen, Stirn und Augen, schob mich auf Armeslänge von sich, mich mit strahlenden Augen betrachtend, während die feinen Nasenflügel in triumphirender Lust bebten; preßte mich wieder an ihren Busen und begann, mich loslassend, meine Kleider zu ordnen mit weiblicher Geschicklichkeit, mütterlich und doch mit zierlicher Sorgfalt, wie ein Mädchen, das den Geliebten zu einem Fest herausputzt. Ich ließ es ruhig geschehen; es dünkte mich so süß. War es doch meines Wissens das erste Mal, daß diese schlanken weißen Hände sich um mich mühten!
Dann saß ich ihr wieder gegenüber. Und nun, da der Sturm der Leidenschaft sich gelegt, wollte es doch wie ein befangenes Schweigen über uns kommen. Die Mutter hatte das Medaillon betrachtet; jetzt schloß sie es wieder, legte es neben sich auf ein Tischchen und sagte:
„Du darfst es nicht mehr tragen. Ich könnte es nicht an Deinem Halse wissen, ohne der fürchterlichen Stunde zu gedenken, da ich es von ihm zurückforderte, immer noch hoffend, er werde es nicht übers Herz bringen, von dem Bilde zu lassen und von mir, und er von beiden ließ, ohne mit der Wimper zu zucken.“
Es war ein anderer Ton, in welchem sie das gesagt hatte, und ihre Züge hatten einen anderen Ausdruck angenommen, der mir weh that.
„Mutter,“ bat ich, „laß das! Laß das Vergangene vergangen sein! Du sagtest vorhin: das Andere wird sich zudrängen. Wie sollte es nicht, wenn Du es selbst heraufbeschwörst?“
„Es ist doch nicht abzuweisen,“ erwiderte sie. „Wir müssen abrechnen zwischen uns und ihm. Und wäre es nicht mein Traum aller dieser Jahre gewesen und – ich will es und muß es gestehen – die Absicht, die mich hierher geführt hat, nun, da der Augenblick gekommen schien, das heiß Ersehnte endlich ins Werk zu setzen – jetzt müßte ich es thun. Du solltest mein Werkzeug sein; mein Genoß in der Rache, wie Du es im Leide gewesen bist. Das Leid, das er über uns verhängt, haben wir jeder für sich tragen müssen; die Rache soll uns beisammen finden.“
„Mutter,“ rief ich entsetzt, „was hast Du vor?“
„Das,“ erwiderte sie, „was ich schon vor fünf Jahren versucht haben würde, als ich erfuhr, daß Du Kraft und Muth genug besaßest, Dich aus seinen Schlingen zu befreien, ob er Dich gleich so gern gehalten hätte. Aber Du warst verschwunden und bliebst verschwunden, trotzdem die Gräfin Gernrode unter der Hand die sorgfältigsten Recherchen nach Dir anstellte. Du wirst die alte Dame kaum beachtet haben. Sie war vom ersten Augenblick an meine wahre und auch einzige Freundin am Hofe bis zum letzten; ich durfte von Amerika aus mich vertrauensvoll an ihre Güte wenden. So erfuhr ich von ihr Alles, was da vorging und zumal Dich betraf; sie hat oft auf dem Punkt gestanden, sich Dir als Freundin Deiner Mutter zu entdecken; aber sie fürchtete und mußte ja fürchten, daß sie sich damit Dir nicht empfehlen würde; auch glaubte sie Dich anfangs unlösbar in den Banden des Herzogs; hernach, bei der Plötzlichkeit Deines Bruches mit ihm, war es zu spät, das Versäumte nachzuholen. Du bliebst also verschwunden, bis er – er selbst – mir Deinen Aufenthalt hier entdeckte. Er wußte auch, wie Du inzwischen gelebt – aus den Berichten jenes Schurken Weißfisch. Er schrieb mir aber dies Alles, um mir ans Herz zu legen, was ich an Dir verloren; um, wie er sich ausdrückte, Dir meine Liebe zu erobern, die Du in so hohem Maße verdientest. Und dies Alles wieder zu welchem Zweck? Lothar, ahnst Du es nicht? – die Herzogin kämpfte seit Wochen mit dem Tode – ahnst Du es nicht?“
Meine Augen hingen starr an ihr. Mein Gott, war das die holdselige Frau, die Liebe heischende, Liebe schier im Uebermaß spendende Mutter?
Sie, die mit unter dem Busen dicht verschränkten Armen, in ihren Fauteuil zurückgelehnt, die dunklen Brauen fast zusammengezogen über den blitzenden Augen, mich ihrerseits anstarrte – schön, hinreißend schön noch immer, aber jetzt mit der tödlichen Schönheit der Medusa?
„Ja, ja,“ rief ich; „aber das kann ja nicht sein. Eben der Mensch, der Weißfisch, hat mir ja erzählt, daß Dir der Herzog schon damals den Antrag machte, Alles aufbot, Dich zu bestimmen, Du selbst möchtest mich ihm zuführen, ihm nur noch einmal die Gunst gewähren, Dich zu sehen. Und Du hast es von Dir gewiesen; und ich habe Dir, als ich es – erst jetzt [642] und wiederum aus dem Munde des Weißfisch – erfuhr, dafür tausendmal aus dem Grunde meiner Seele gedankt.“
„Das eben habe ich gehofft,“ rief sie. „Und nun sind wir ja einig. Wie hätte ich in jenem Augenblick vor ihn treten können, arm wie zuvor? Etwa seine Geliebte zu sein wie zuvor, wenn die Reste meiner Schönheit anders noch groß genug waren, ihn abermals zu fesseln? Auf wie lange? Auf Wochen, Monate, Jahre vielleicht, um abermals von ihm verstoßen zu werden wie zuvor? Nimmermehr! Reich mußte ich erst werden um jeden Preis, so reich, wie ich schon damals hätte sein können und in meiner idyllischen Thorheit nicht sein wollte, damit er von seinem Thron zu der Schäferin auf der Haiden hinabsteigen könnte. Von seinem Thrönchen – pah!“
Sie war von dem Fautenil aufgesprungen und ging, wieder die Arme unter dem Busen verschlungen, in dem weiten Gemache mit großen Schritten auf und nieder, und die lange Schleppe des Atlaskleides rauschte und knisterte hinter ihr her.
„Er hätte sich um Katharina Vogtriz-Gilmore schon damals von seiner Herzogin scheiden lassen – der Adel der Vogtriz ist so alt wie der seine und so edel wie der seine, und die Vorfahren der Gilmores, die mit den Puritaner-Vätern nach Neu-England gingen, sind Könige gewesen in England vor Wilhelm dem Eroberer – aber mit Kate Frank, der armen jungen Wittwe eines fahrenden Komödianten! Ja, das weißt Du nicht, denn das hat er Dir wohl sicher verschwiegen, daß ich mich dem ärmsten Liebsten in San Francisko auf seinem Sterbebette antrauen ließ, denn was ich wollte, das wollte ich immer ganz; und ich wollte die Gattin des Mannes gewesen sein, der, als der erste, mein Herz gerührt und den ich geliebt hatte, so gut ich damals lieben konnte. Und damit ich Dir auch das nur gleich sage und kein Geheimniß vor Dir habe: erinnerst Du Dich jenes Abends, als Herr von Ruver zu Dir kam und Dich zu mir zu locken suchte? Weißt Du, was er wollte? – nicht ich – ich schwöre es Dir! Du solltest als mein Sohn aus jener Ehe gelten, die nur eine Stunde gewährt! Weßhalb auch nicht? Du kanntest Deine Abkunft nicht, und Ruver vermaß sich, den Betrug durchzuführen vor jedem Gericht der Welt. Dann wäre auch das letzte Drittel des großväterlichen Erbes in meinen Besitz gekommen, oder – in den der Kirche. Gleichviel – an Deinem Widerstande, Dich auch nur in Verhandlung mit dem Priester einzulassen, scheiterte der ganze Plan. Und als nun Weißfisch dies Bild hier und damit Alles entdeckt hatte und Dir mein Geheimniß preiszugeben drohte, blieb mir keine Wahl: ich mußte Dich vorläufig aufgeben, um wenigstens einen Theil der Erbschaft und mit demselben hoffentlich trotzdem die volle Rache zu retten. Wenn ich dabei den guten Mann, den Du Vater nanntest, bis auf den Tod gekränkt, mich an Dir, meinem Kinde, das ich nicht lieben durfte, ohne die Schmach, die man mir angethan, für gesühnt zu erklären, schwer versündigt habe – ich konnte nicht anders. Ich hatte versucht, mich vor mir selbst zu retten, indem ich, die man so tief gedemüthigt, nun mich selbst noch tiefer demüthigte – bis in den Staub, den ich vordem nicht mit dem Saum meines Kleides gestreift haben würde; bis zur Entsagung von allem, was bis dahin meine Phantasie entzückt, meinen Sinnen geschmeichelt hatte und mir einzig werth geschienen war, daß man um seinetwillen lebe; bis zur Abtödtung jeder Wallung des Gemüthes, ja jeder natürlichen Regung – selbst der Mutterliebe, die sonst der Verderbniß entarteter Frauen gemüther am längsten widersteht – Alles, Alles vergebens! Keine Selbsterniedrigung und keine Askese, kein Wüthen gegen mein Herz und gegen die Natur konnte mich darüber wegtäuschen, daß die alte Schmach noch immer nicht gerächt sei. Das betete kein Gebet weg; davon konnte mich kein Priester im Beichtstuhl absolviren; das brannte so fort in mir wie ein höllisch Feuer.“
Sie war an den Tisch getreten, auf welchem die Erfrischungen standen, trank gierig von dem Wasser und setzte ihre Wanderung fort. Ich war am Kamin stehen geblieben, sie sorgenvoll beobachtend und doch nicht wagend, mich ihr zu nähern oder sie in ihrer Rede zu unterbrechen, von der ich kaum, noch wußte, ob sie dieselbe an mich richtete, oder ob es ein Selbstgespräch sei:
„Er hatte mir während der letzten Jahre wiederholt Briefe geschrieben, die ich pünktlich beantwortete, und so war zwischen uns eine Korrespondenz entstanden, welche er sein höchstes Glück nannte. Niemand verstände ihn so wie ich; ich sei ihm Freundin und Tochter zugleich, nachdem ihn die Tochter, die er so sehr geliebt, ruchlos verlassen habe. Dann kam er wieder auf Dich zu sprechen, pries die Zeit, die er mit Dir verlebt, als den Silberblick seines Lebens; klagte, daß ihm Alles auf der Welt mißrathe: seine politischen Pläne, sein Mühen um seiner Unterthanen Wohl; und daß ihm dafür zum Entgelt nicht einmal geworden sei, dessen sich doch ein ärmster Mann erfreuen dürfe: die Liebe von Weib und Kind, die Liebe zu Weib und Kind. Ich beklagte ihn, ich tröstete ihn, aber ich machte ihm keine Versprechungen, auch nicht für eine mögliche Zukunft, und er wagte keine Bitte, keine Forderung, die sich darauf bezogen hätten. Da, vor sechs Wochen – es scheint, daß ihn Weißfisch erst um diese Zeit von Deinem Aufenthalt hier unterrichtet hat – ein Brief: Lothar ist in Berlin! und vor acht Tagen ein Telegramm, das mir aber schon nach London nachgesandt werden mußte: Der Platz ist frei, der Dir immer gebührte! Willst Du ihn einnehmen?“
Ein leises unheimliches Kichern, das halb wie verhaltener Jubel und halb wie ein unterdrücktes Stöhnen klang, und dann:
„Willst Du ihn einnehmen? Willst Du die Hand küssen, die Dein Herz zerfleischte? Und, als der Tod euch nicht wollte, euch auseinanderriß – Dich und Dein Kind? – Und könnten Sie mich zu Ihrer Herzogin machen, Herr Herzog, und alle Schätze der Welt mir zu Füßen legen und mir die ewige Seligkeit verbürgen – ich wollte den Platz nicht! Das nur will ich und das soll meine Rache sein: auf den Knieen sollen Sie vor mir liegen, wie ich einst zu den Ihren mit diesem unserm Sohn; und wenn Sie dann denken, daß ich die Arme ausbreiten werde, Sie an mein Herz zu ziehen – fort will ich Sie stoßen, wie Sie einst mich und mein Kind; und lachen, lachen! – lachen so toll!“
Und das schreckliche Kichern von vorhin war zum schrecklicheren Gelächter geworden, einem lauten tollen Gelächter, das nach wenigen Sekunden in eben so lautes fürchterliches Weinen umschlug. Ich war zu ihr geeilt und halb führte, halb trug ich sie, die nun schluchzend an meinem Halse hing, nach einem Sofa, auf das ich sie niederlegte. Aber sie duldete nicht, daß ich nach der Kammerjungfer klingelte: es werde gleich wieder vorüber sein; es sei die Ueberanstrengung der Reise Tag und Nacht; das Uebermaß der Wonne, mich wieder zu haben. Sie sei nicht krank, sie sei auch nicht wahnsinnig, wie ich vielleicht gefürchtet haben möchte.
Ich hatte es in der That gethan. Dies: ihre geplante Rache an dem Herzog, schmeckte doch stark nach Wahnsinn. Und war es kein Wahnsinn und keine wilde Phantasie, war es ein wohlüberlegter Plan, zu dessen Ausführung nur noch meine Einwilligung, mein Beistand zu fehlen schien – wo blieb dann meine Seligkeit, die Mutter wiedererlangt, zum ersten Mal in meinem Leben eine Mutter zu haben, deren wunderbare Schönheit nur einer Furie zur Maske diente?
Und die mich zum Genossen der wilden That wollte? Der ich vielleicht nur so viel galt, als ihr meine Mithilfe bei der That nöthig und werthvoll schien? Und die ich in dem Augenblick verlieren würde, in welchem ich diese Mithilfe versagte? Ein Glück wahrlich so zerronnen, wie gewonnen! Wenn es sich nun mit dem andern, aus dessen Armen ich in diese hier geeilt war, ebenso verhielt? es auch nur ein Trugbild war? und ich der zwiefach geprellte Narr des Glückes?
Es schüttelte mich wie im Fieber. Und wie im Fieber begann ich zu sprechen – neben ihr, der noch immer Hingestreckten, auf dem Rande des Sofas sitzend, ihre kalten schlanken Hände in meinen heißen Händen haltend – wie ein Fieberkranker, der fühlt, wie krank er ist, und den Tod fürchtet und sich mit leuchtenden Farben ausmalt, wie schön doch das Leben und was ihm noch alles an Glück und Wonne das Leben gewähren könnte, gewähren würde, wenn nur der Tod Barmherzigkeit hätte und an ihm vorüberginge.
Wie im Fieber hatte ich begonnen; aber je länger ich sprach, wich das Fieber aus meinen Adern, aus meiner Rede, in der ich meine ganze Seele gab, als stünde ich vor dem ewigen Richter und spräche für meine Seligkeit. Ja, ich konnte nicht selig werden und nicht selig sein, wenn dies geschah: wenn sie, die ich als meine Mutter lieben und heilig halten wollte, nicht hochherzig zu denken, nicht hochherzig zu handeln willens und im Stande war. Wenn ich der Rache traurige Last an ihm sollte büßen helfen, der es so bitter beklagte, als Fürst geboren zu sein und nie zum reinen Genuß des Lebens zu kommen; er, der [643] so viel dazu mitgebracht hatte: so glänzende Gaben des Geistes, so viel wahre Empfindung, eine so schöne Begeisterung für das Große und Schöne, und in allem seinem Reichthum darben mußte und sich kümmerlich nähren von den Brosamen des Glücks!
Nein, das durfte nicht sein, um des Ideals der Menschheit willen nicht, das ich in meiner Brust trug und das ich jetzt doppelt heilig halten mußte, wo ich in den Riesenkampf für meine Liebe zog, aus dem ich nur heimkehren konnte wie jene Spartaner: mit dem Schilde oder auf dem Schilde meiner blank bewahrten Ehre, meiner heilig gehaltenen Ueberzeugungen.
Die Begeisterung hatte meiner Rede Adlerschwingen geliehen, für welche es keine Entfernung der Zeit und des Raumes gab. Und wie sie sich jetzt in meine fernste Jugend tauchten oder über dem Park von Nonnendorf schwebten und über dem Moment, da ich sie zum ersten Mal erblickte, wie sie jetzt wieder den anderen umrauschten, welcher die Erfüllung jenes war: den seligen Augenblick heute Abend, als der Traum meines heißen Knabenherzens zur wundersamsten, wonnesamsten Wirklichkeit wurde, die mir doch jetzt wieder wie ein Traum erschien –
„Nein, nein!“ rief dann meine Mutter, „kein Traum! Wonnesamste Wirklichkeit – das ist das Wort! Und zu der will ich Dir verhelfen, werde ich Dir verhelfen, so wahr ich hoffe, daß Gott mir helfen wird!“
Ich weiß nicht, wie wir dahin gekommen, aber, als die Mutter so sprach, saß sie wieder an dem Kamin, und ich lag wieder vor ihr auf den Knieen, schwärmerisch zu ihr aufblickend, die mir wieder das Haar aus der glühenden Stirn strich und, ihr holdes Gesicht zu meinem herabbeugend, lächelnd leise sprach:
„Siehst Du, mein Junge, ich könnte jetzt wohl eifersüchtig sein und glauben, daß die Liebeserklärung, die Du mir hier vorhin gemacht, gar nicht mir gegolten habe, sondern Deinem schönen, jungen Lieb. Aber noch habe ich kein Recht zur Eifersucht. Das muß ich mir erst erwerben. Und ich will damit anfangen, daß ich uneigennützig bin wie eine liebende Schwester, wie es Deine Schwester ist, Deine Adele, für die Du so schwärmst und zu der Du mich morgen führen mußt, damit wir Weiber die Köpfe zusammenstecken und etwas aushecken können, etwas ganz Kluges und Gescheites, bei dem uns auch Dein angebeteter Herr Oberst und die ganze Welt helfen muß, die wir auf den Kopf stellen, wenn es nicht anders gehen will. Und jetzt, my darling, my dearest, sweetest boy, go home and –“
Sie lachte, als sie merkte, daß sie plötzlich – zum ersten Male – ins Englische gerathen war, und ich mußte auch lachen vor Freude, daß sie mich ihren Liebling und theuersten süßesten Jungen nannte, und küßte ihr lachend wieder und wieder die schönen Hände, bevor ich, ihrer Aufforderung folgend, nach Hause ging.
Und dann saß ich im Wagen, der für mich bereit gestanden, in der Ecke, in der ich vorhin gesessen, und starrte bei dem wechselnden Licht der Laternen auf den leeren Platz neben mir, in welchem die Mutter gelehnt hatte. Als jetzt ihr Bild die überreizte Phantasie hervorzurufen suchte, verwandelte sich dasselbe alsbald in das der Geliebten, welches wieder zu jenem wurde, bis ich mich ernstlich fragte, ob des Glückes Uebermaß den Menschen nicht wahnsinnig machen könne, und die pochenden Schläfen mit beiden Händen haltend, sprach ich laut vor mich hin wie ein Gebet die Verse des römischen Sängers, in welchen er den Freund feierlich an die Vergänglichkeit alles Irdischen mahnt, und daß es sich für den Weisen schicke, in schlimmen Lagen und in guten den Gleichmuth der Seele zu bewahren.
Blätter und Blüthen.
Denkmäler deutscher Dichter. Wer freut sich nicht in den italienischen Städten, besonders Oberitaliens, über die zahlreichen Statuen und Büsten, welche dem Andenken hervorragender Männer gewidmet sind! Die Kirchen selbst erinnern mit ihren Bildsäulen und Gedenktafeln oft an Pantheons, und manche Walhallen unter freiem Himmel, wie das prato della valle in Padua, versammeln ganze Gruppen steinerner Berühmtheiten, nicht bloß lokaler, sondern vaterländischer Größen.
In Deutschland beginnt man jetzt diesem Beispiel nachzueifern: einer Zahl von Dichtern und Schriftstellern aus diesem Jahrhundert sollen in einzelnen Städten Erinnerungsmäler errichtet werden. Ein gewiß rühmenswerthes Beginnen – nur wird es stets einen wehmüthigen Eindruck machen, wenn den Dichtern bei Lebzeiten die gebührende Anerkennung vorenthalten und sie dann nach ihrem Tode in Stein verewigt werden.
Doch zeigt sich ja auch in Deutschland hierin eine Wendung zum Besseren, wenigstens was die anerkannten Lieblingsdichter betrifft – und so mag man auch in der Verherrlichung der Verstorbenen eine That nationaler Begeisterung erblicken, in welcher zugleich eine glänzende Anerkennung litterarischer und dichterischer Bedeutung liegt.
Karl Gutzkow hat bei Lebzeiten die heftigsten Angriffe erdulden müssen, und noch jetzt ist die Schätzung dieses hervorragenden Autors in manchen litterarischen und gelehrten Kreisen eine geringe. Gleichwohl wird die unbefangene Litteraturgeschichte, wenn sie die Summe seines Wirkens zieht, ihm eine bedeutsame Stellung einräumen müssen, und da sich viele seiner Stücke: „Uriel Acosta“, „Der Königslieutenant“, „Zopf und Schwert“ und „Das Urbild des Tartüffe“ noch auf den deutschen Bühnen als dauerhafte Repertoirestücke erhalten, so ist auch seine geistige Wirkung auf das große Publikum noch immer eine unmittelbare geblieben. Es ist das Verdienst des Allgemeinen deutschen Schriststellerverbandes, ein Denkmal für Karl Gutzkow in Anreguug gebracht und eine Sammlung für diesen Zweck veranstaltet zu haben. Der Ertrag derselben ist jetzt als ausreichend befunden worden, um ein Denkbild zu errichten, und zwar soll Dresden, das Elb-Florenz, mit diesem Bilde geschmückt werden: der Magistrat wird seinerseits die Kosten für die würdige Aufstellung und Umfriedigung des Gedenkbildes tragen. Man mochte in Zweifel sein, ob Berlin oder Dresden der geeignete Ort sei für Errichtung eines Gutzkow-Denkmals. Berlin ist die Vaterstadt des Dichters, und der Berliner Geist verleugnet sich durchaus nicht in der Eigenart desselben: der feinspürige, vorwiegend kritische Zug in seiner litterarischen Physiognomie weist auf die preußische Residenzstadt hin, die allerdings auch die Heimat der Romantiker und der Geburtsort eines Ludwig Tieck war. Doch in Dresden hat Gutzkow, der im Uebrigen ein wanderndes Nomadenleben führte, dessen Hauptstationen Hamburg, Frankfurt, Weimar, Heidelberg waren, von l847–1862 gelebt; in diese Zeit fallen die großen Erfolge, die er mit seinen Hauptdramen davontrug, und hier hat er auch seine beiden epochemachenden Romane geschrieben. So hat wohl Dresden mindestens die gleiche Anwartschaft auf ein Gutzkow-Denkmal wie Berlin.
Daß ein Denkbild Emanuel Geibel’s in Lübeck errichtet wird, ist jedenfalls selbstverständlich. Lübeck ist der Geburtsort des Dichters; hierher zog er sich zurück, als er in München seine Pension opferte, weil seine politische Gesinnung mit den dort herrschenden Strömungen nicht mehr im Einklang war; hier brachte er die letzten sechzehn Jahre seines Lebens (1868–1884), die Jahre seiner wachsenden Erkrankung bis zu seinem Tode zu. Auch hat er stets ein warmes Heimatsgefühl bewahrt, das er oft mit Wärme und Innigkeit ausspricht. In seinen Gedichten aus Griechenland klingt oft die Sehnsucht nach der alten Hansestadt durch; Jugenderinnerungen besingt er in vielen Gedichten, wie z. B. „die Lachswehr“. „Von der Trave“ tönen seine ersten kriegerischen Sonette für Schleswig-Holstein, und am Gestade von Travemünde hat ihn der Wogenschlag der Ostsee zu seinen Meergedichten angeregt. Es ist erfreulich zu hören, daß die Summe für ein Geibel-Denkmal, 41500 Mark, bereits zusammengebracht ist und die Travestadt sich bald mit dem Standbild ihres Dichters schmücken wird. Es soll ein Standbild von Erz sein und auf dem Koberg errichtet werden, demjenigen Platz, von dem die beiden Hauptstraßen Lübecks ausgehen.
Dagegen ist die Sammlnng zu einem Denkmal Friedrich Hebbel’s, das dem Dichter in seinem Geburtsort Wesselburen in Schleswig-Holstein errichtet werden soll, noch nicht zu einem abschließenden Ergebniß gelangt. Friedrich Hebbel, mit dem sich die Litteraturhistoriker fast mehr als mit jedem anderen neuen Dichter beschäftigt haben, ist in seiner eigenartigen Erscheinung, in seiner schroffen dichterischen Haltung dem großen Publikum immer etwas fremd geblieben. Möge dasselbe indeß dem Zeugniß hervorragender Geister glauben, daß Hebbel ein wahrhaft genialer Poet gewesen, und sein Scherflein beisteuern zur Ehrengabe für den Todten.
Dem jüngst verstorbenen Sänger des „Ekkehard“ und des „Trompeters von Säckingen“ soll an den Ufern des Neckar, den seine Lieder gefeiert, in seinem geliebten Heidelberg, wo er, zum Tode krank, noch einmal vor seinem Ende weilte, ebenso auch in Karlsruhe, wo er wohnte und starb, ein Denkmal errichtet werden. Ein Aufruf von dem Oberbürgermeister Heidelbergs, von Professoren und Studenten ausgehend, fordert zu Beiträgen für das dortige Denkmal auf. Wehmüthig muß es stimmen, daß es dem Dichter nicht mehr vergönnt war, das Jubelfest der von ihm so oft verherrlichten Stadt mitzufeiern. Am 13. August ist Viktor von Scheffel auch in Thüringen, in Ilmenau, das einst Goethe verherrlicht hat, ein Denkmal errichtet worden.
Zu einem Denkmal für Fritz Reuter fordern der Bürgermeister und Deputirte des Bürgerausschusses seiner Vaterstadt Stavenhagen auf; schon früher haben Komités in Schwerin und Magdeburg die Sache in die Hand genommen; das erstere aber wollte zwei Denkmäler, in Stavenhagen und Neu-Brandenburg, errichtet sehen. Das letztere ließ die Frage offen, in welcher Stadt das Reuter-Denkmal seinen Platz finden solle. Jetzt treten die Mitbürger des beliebten und gefeierten plattdeutschen Humoristen tapfer für seine Geburtsstadt in die Schranken und suchen durch den Hinweis auf Nordamerika, wo dem Dichter bereits vier Denkmäler errichtet sind, den Eifer des deutschen Volkes anzuspornen, indem, leider! die bisherigen Sammlungen noch nicht das erwünschte Resultat ergeben haben. Der plattdeutsche Klassiker verdient jedenfalls ein Ehrenmal in den Ländern, deren Sprache er zu weitreichender litterarischer Geltung gebracht hat.
Dem Sänger der Griechenlieder und überaus anmuthiger Volkslieder, welche nicht bloß gelesen, sondern in ansprechenden Kompositionen auch [644] gesungen werden, Wilhelm Müller, wird in Dessau ein Denkmal errichtet werden, zu welchem am 2. Oktober 1884 der Grundstein schon gelegt ist. Auch Ostpreußen, die Heimat großer Denker und Schriftsteller, eines Kant und Herder, will einem Lyriker der Befreiungskriege, Max von Schenkendorf, dessen Geburtsort Tilsit ist, ein Denkmal setzen und in Erinnerung bringen, daß dort, wo in alter Zeit einst die heilige Flamme von Romove gelodert, auch ein Opferaltar deutscher Dichtung gestanden. Die Lieder jener Lyriker von 1813 sind noch keineswegs veraltet: Max von Schenkendorf aber hat ein Recht, unserer jüngsten Epoche wieder ans Herz gelegt zu werden; denn er hat stets die Wiederherstellung des deutschen Kaiserreichs in seinen Liedern gefeiert.
Dem verstorbenen Dichter Hermann Kurz, dem Freunde Paul Heyse’s, dem Verfasser von „Schiller’s Heimathsjahren“ und vom „Sonnwirth“, soll in Reutlingen ein Denkmal gesetzt werden. Hermann Kurz gehörte bei Lebzeiten nicht zu den glücklichen und erfolgreichen Autoren, wenngleich der Erfolg von Heinrich Laube’s „Karlsschülern“ zum Theile seinem Schiller-Roman angerechnet werden muß, aus welchem der Dramatiker Manches entlehnte.
Auch Heinrich Laube soll in seiner Geburtsstadt Sprottau ein Denkmal gesetzt werden; zunächst hat das Komité eine Gedenktafel an dem Geburtshause des Dichters anbringen lassen.
Alle Sammlungen zu solchen Zwecken seien unseren Lesern bestens empfohlen. †
Traubenhändler. (Mit Illustration S. 641.) Wer vor dem Jahre 1867, das heißt vor Fertigstellung der Brennerbahn, die alte Heerstraße von Innsbruck nach Welschland hinan- und hinabschritt, welche, nebenbei bemerkt, noch größere landschaftliche Schönheiten aufzuweisen hat, als der moderne Schienenweg, oder wer von Sterzing aus den Jaufenpaß überstieg, um durch das Passeierthal an die Etsch zu gelangen, der begegnete, vorausgesetzt, daß er klug genug gewesen, die schönen Tage des Herbstes abzuwarten, Hunderten von Männern und Frauen, welche, von der schweren Last vornübergebeugt, mächtige Körbe voll süßer Trauben auf dem Rücken, nach den nördlichen Gauen wanderten, wo es ihnen nie an Kunden fehlte.
Und wie damals, so ward es auch vor Jahrhunderten gehalten, da auch über den Brenner nur ein Saumsteig führte, für die schwerfälligen Fuhrwerke der Zeit unpassirbar und selbst für Roß und Reiter beschwerlich genug. Aber die Frucht des Weinstockes war damals nicht weniger begehrt als heute, und es schritt kaum Einer mit solcher Last beladen durch die Gassen der Städte und Städtchen oder an den Gehöften vorüber, die an seinem Wege lagen, ohne angerufen zu werden; dafür sorgten vor Allem die lieben Kleinen. Auch der schwarzbärtige Mann auf unserm Bilde, mit der fremdartigen Erscheinung, die auf die südlichen Thäler des Landes hinwies, blieb von den schmucken Kindern nicht unbemerkt, und jubelnd riefen sie die Mutter herbei, auf daß sie ihm einen Theil seiner süßen Last abnehme. Jetzt aber, da er an ihre Thür herangetreten, die „Kraxe“ an den Pfeiler gelehnt und die eiserne Schnellwage hervorgezogen hat, um die gewünschte Menge abzuwiegen, da drückt sich das Mädchen scheu an die Mutter, und auch der Junge nimmt eine Stellung ein, welche es ihm für alle Fälle möglich macht, hinter der Mutter Schutz zu suchen.
Der Künstler, dem wir das anmuthige Bildchen verdanken, heißt Viktor Tobler, ist am 13. Januar 1848 zu Trogen im Kanton Appenzell in der Schweiz geboren und lebt seit 1868 in München, wo er auch seine höhere Ausbildung erhielt und nun eine geachtete Stellung einnimmt. K. R.
Die Goethe-Gesellschaft in Weimar. Das lange verschlossene Goethe-Schatzhaus in Weimar hat seine Pforten geöffnet: der letzte Enkel Goethe’s hat diese reichen archivalischen Schätze der Großherzogin von Weimar vermacht, welche ihrerseits dieselben als ein nationales Vermächtniß annahm, das dem Kultus des großen Dichters gewidmet werden soll. Der schriftstellerische Nachlaß soll jetzt erforscht, gesichtet, in werthvollen Theilen veröffentlicht und so verarbeitet werden, daß daraus eine neue vollständige Lebensbeschreibung Goethe’s, eine neue vollständige Ausgabe seiner Werke in einer Form hervorgehen wird, welche den wissenschaftlichen Forderungen der Gegenwart entspricht. Dies sind auch die Aufgaben, welche die Goethe-Gesellschaft in Weimar mit übernommen hat, deren Zweck die Pflege der mit Goethe’s Namen verknüpften Litteratur sowie die Vereinigung der auf diesem Gebiete sich bethätigenden Forschung ist. Vorsitzender der Gesellschaft ist der würdige Präsident des Reichsgerichts in Leipzig, Simson, von Jugend auf ein begeisterter Anhänger und genauer Kenner des großen Dichters. Als junger Jurist hatte Simson den verehrten Meister besucht, und in den Aufzeichnungen des Letzteren findet sich eine Erwähnung, daß ihm dieser Besuch einen günstigen Eindruck hinterließ.
Man darf es den Deutschen nicht nachsagen, daß sie im Goethe-Kultus lässig gewesen sind; die kaum zu registrirende Goethe-Litteratur liefert hierfür den thatsächlichen Beweis. Gleichwohl wird dieselbe bei dem erneuten Aufschwung, der jetzt zu erwarten ist, gewiß Gediegeneres leisten als bisher: so fehlt noch immer eine deutsche Goethe-Biographie. Das Goethe-Jahrbuch von Ludwig Geiger, dessen siebenter Band jetzt vorliegt, enthält den ersten Jahresbericht der Goethe-Gesellschaft, und von den im Auftrage des Vorstandes von Erich Schmidt herausgegebenen Schriften der Goethe Gesellschaft liegt der erste Band vor, der die Briefe von Goethe’s Mutter an die Herzogin Anna Amalie enthält, welche die „Frohnatur“ der liebenswürdigen Frankfurterin von Neuem beweisen, denn die Frische dieser Mittheilungen ist von keinem ceremoniellen Hof- und Briefstil angekränkelt. †
Verschollene Größen. Bei Eduard Trewendt in Breslau erschien ein neuer dreibändiger Roman „Verschollene Größen“ von Rudolf von Gottschall. Dem farbenprächtigen Strauße, mit welchem dieser reich begabte Autor unsere Litteratur schon beschenkte, wird damit eine frische, duftende Blüthe eingefügt. Der stoffliche Inhalt des Werkes ist durchaus geeignet, in den weitesten Kreisen volles Verständniß und wärmste Sympathie zu erwecken. Wer kennt sie nicht und beklagt sie nicht, jene vergänglichen Erscheinungen des öffentlichen Lebens, die nach kurzem Glück, das sie im Sonnenglanze des Ruhmes genießen, in das Meer der Vergessenheit versinken! Sie geben den Grundton dieses Werkes her, und so trefflich gewählt das Motiv ist, so meisterhaft, ja in einigen Einzelheiten von hinreißender Wirkung ist die Gesammtausführung. Der landschaftliche Hintergrund ist in anmuthiger Schönheit dargestellt. Die zahlreichen Figuren des Romans sind trefflich charakterisirt und entbehren eben so wenig der vollendeten Lebenstreue, wie jener idealen Weihe, ohne welche für uns kein echtes Dichterwerk denkbar ist und die uns gerade Gottschall’s Werke stets so besonders werth macht. Die geistige Bedeutung des Autors findet ebenfalls stets den vollendeten Ausdruck, mag sie sich nun in einfach hehrem Ernste oder in funkensprühendem Witze äußern. Zahlreiche formvollendete Gedichte verleihen dem Ganzen noch einen besonderen Schmuck, und so zeigt sich dasselbe nach jeder Richtung hin als ein Werk, das die wärmste Empfehlung verdient. M. U.
Die Verbreitungsfähigkeit mancher Düfte ist ganz wunderbar. Das riechende Moschusmolekül ist von unbegreiflicher Kleinheit, denn eine kleinste Menge durchduftet große Räume, ohne daß die feinste Wage eine Gewichtsverminderuug nachweisen kann. Selbst das stärkste Mikroskop hat dem menschlichen Auge diese Atome nicht enthüllen können; dennoch haben die Geruchsorgane die Empfindlichkeit, sie wahrzunehmen. Ein einziger Tropfen mit Zucker und ein wenig Alkohol verriebenes Thymianöl theilt 200 Litern Wasser diesen Geruch mit. Der berühmte Naturforscher und Arzt Albrecht von Haller (geboren am 16. Oktober 1708 zu Bern, gestorben am 12. December 1777 zu Göttingen) hatte 40 Jahre lang mit einem Gran Ambra parfümirtes Papier, und nach dieser Zeit roch es noch ebenso stark wie zu Anfang. Bordenave ermittelte, daß der 2 262 584 000. Theil eines Gran Kampher dem Geruchssinne noch wahrnehmbar sei. Der englische Naturforscher Boyle (geboren am 25. Januar 1627 zu Lismore in Irland, gestorben am 30. December 1691 zu London) fand, daß eine Drachme Asafötida an offener Luft in sechs Tagen ein Achtel Gran an Gewicht abgenommen hatte, woraus Keill berechnet, daß sie in einer Minute den 69120. Theil eines Grans verlor. R.
Die Handelsmarken sind nach neuesten Forschungen so alt wie die Industrie des Menschengeschlechts. Man fand, daß Alt-Babylon schon Schutzmarken in Symbolen hatte, und die Chinesen behaupten, schon tausend Jahre vor Christi Geburt Handelsmarken gehabt zu haben. Gutenberg, der Erfinder der Buchdruckerkunst, führte wegen einer Handelsmarke einen Proceß, und der Gebrauch einer unterscheidenden Marke wurde schon im Jahre 1300 von dem englischen Parlamente anerkannt. R.
Von K. Buhle.
Es liegen | im Skat. |
Wie müssen die übrigen Karten vertheilt sein, wenn die Mittelhand eine Eichel-Frage ohne 11 Matadore bei fehlerfreier Spielführung ohne eine Zehn abzufangen gewinnen muß. wogegen Vorhand und Hinterhand nicht nur Eichel-Frage ganz sicher, sogar in den meisten Fällen mit Schneider verlieren würden, überdies auch keiner der Mitspieler Tourné, Solo, Grand und Null bei fehlerfreiem Gegenspiel gewinnen kann?
Grand spielt und nur zwei Augen hereinbekommt, sich im Laufe des Spieles genöthigt sieht, mit dem eW auf ein leeres Blatt einzustechen, weil dies das einzige Mittel ist, um das Spiel möglicherweise zu retten. Ist nämlich die Sitzung folgende:
- Vorhand: sW, eD, eZ, eO, e9, e8, e7, gD, gZ, g9.
- Hinterhand: gW, gO, g8, g7, r9, r8, sK, sO, s9, s8,
so kann der Gegner in Vorhand nach folgenden 4 Stichen:
1. eD, eK, sK (– 19)
2. gD, gK, gO (– 18)
3. eZ, rW, gW (– 14)
4. g7, g9, rO (– 3)
nicht mehr im Zweifel sein, daß er nur noch einen Stich abgiebt, und spielt deßhalb e7 vor. Der Spieler aber muß sich jetzt gleichfalls sagen, daß die Gegner, welche bereits 54 Augen herein haben, mit dem nächsten Stiche gewinnen, falls er den rK abwirft und Hinterhand einen Ober wimmelt, und daß er überdies nur gewinnen kann, wenn der sW im Skat liegt. Er sticht daher richtig mit eW auf e7 ein, Hinterhand giebt ein leeres Blatt zu und Vorhand bekommt die übrigen Stiche. – Der Verfasser hat, wie überhaupt in seinen Aufgaben, so auch hier das Hauptgewicht auf die Durchführung des Spieles gelegt, denn er hält den anderwärts aufgestellten Grundsatz, daß die Lösung einer Skataufgabe lediglich in der Vertheilung der Karten zu finden sein müsse und deßhalb die Frage: „Wie fallen die Karten?“ gar nicht gestellt werden dürfe, für unrichtig.
[ Das Inhaltsverzeichnis dieses Heftes wird hier zur Zeit nicht dargestellt.]
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Eilzgüe