Die Gartenlaube (1886)/Heft 37
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No. 37. | 1886. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Sankt Michael.
Michael, der soeben nach Hause kam, fragte Hans, ob der Professor in seinem Studirzimmer sei.
„Ja, aber er sitzt wieder in der Donnerwolke,“ sagte Hans. „Komm doch nachher noch auf eine halbe Stunde in das Atelier, Michael; ich muß etwas an meinem Bilde ändern und brauche Dich nothwendig dazu.“
Der junge Officier sagte flüchtig zu und ging zu dem Professor, dessen finsteres Gesicht sich bei seinem Eintritt etwas aufhellte.
„Gut, daß Du kommst,“ empfing er ihn. „Ich habe mich wieder dermaßen über Hans geärgert, daß mich wirklich danach verlangt, einen vernünftigen Menschen zu sehen.“
„Was hat denn Hans schon wieder angerichtet?“
„Gar nichts richtet er an, das ist ja eben das Unglück! Ich habe ihm mit aller Strenge den Müßiggang vorgehalten, dem er sich nun schon seit fünf Monaten hingiebt und den er Arbeit zu nennen beliebt. Glaubst Du, daß das auch nur die
[646] geringste Wirkung hervorgebracht hat? Narrenspossen hat er getrieben. Der Junge wird mich noch ins Grab bringen.“
„Onkel, sei nicht ungerecht,“ sagte Michael vorwurfsvoll, „Du weißt es ja, daß Hans an einem größeren Werke arbeitet, und ich versichere Dir, daß er sehr fleißig ist, aber Du verweigerst es hartnäckig, auch nur einen Blick darauf zu werfen. Ich sollte meinen, er hätte Dir und uns Allen schon eine Probe seines Talentes gegeben. Das Bild des Professor Walter hat allseitige Anerkennung gefunden: es war nur eine Stimme des Lobes darüber, und die Zeitungen sprachen sogar –“
„Von dem genialen Sohn des berühmten Vaters!“ fiel ihm Wehlau grimmig in die Rede. „Kommst Du mir auch damit? Was für Beglückwünschungen habe ich schon deßwegen ausstehen müssen und was für Grobheiten habe ich den Leuten darauf gesagt! Aber es nützt nichts. Alle Welt nimmt ja Partei für den Jungen; alle Welt ist im Komplott mit ihm und amüsirt sich köstlich über den Streich, den er mir auf der Universität gespielt hat.“
„Sogar Professor Bauer, als er neulich auf der Durchreise hier war,“ schaltete Michael ein.
„Ja, das war nun vollends das Aergste. ,Kollege!‘ habe ich ihm gesagt, ‚wissen Sie denn, was mein gottloser Bube in Ihren Vorlesungen getrieben hat? Karikirt hat er Sie und das ganze Auditorium! Eine Skizze hat er gezeichnet, auf der Sie, zum Sprechen ähnlich, angethan mit allen Attributen der Naturwissenschaft, die vier Elemente in einem Hexenkessel zusammenrühren, während Ihre Studenten das Feuer schüren.‘ Was giebt mir der Mann zur Antwort? ‚Ich weiß, bester Kollege, ich weiß! Ich habe das Bild sogar gesehen, und es ist bei allem Uebermuth so genial hingeworfen, daß ich herzlich gelacht und meinem fahnenflüchtigen Schüler verziehen habe – machen Sie es auch so!‘“
„Du solltest den Rath befolgen, Onkel, das wäre wirklich das Beste. Uebrigens wollte ich Dich nur begrüßen; ich muß jetzt zu Hans in das Atelier.“
„In das Atelier!“ spottete ihm der Professor nach. „Es mag eine schöne Wirthschaft da drinnen sein. Ich wollte, der Gartenpavillon wäre stockfinster, oder das Wasser liefe von den Wänden, dann würde der Herr Maler es schon bleiben lassen, darin zu pinseln. Jetzt hat er sich häuslich dort niedergelassen, mir gerade vor der Nase, als ob sich das von selbst verstände. Nun, so geh’ Du denn meinetwegen in das ,Atelier’! Die große Sehenswürdigkeit wird ja sogar von der Aristokratie in Augenschein genommen, aber ich setze keinen Fuß hinein; das sage ich Euch.“
Er wandte sich grollend wieder zu seinen Büchern, und Michael, der aus Erfahrung wußte, daß es das Beste war, wenn man ihn in solcher Stimmung allein ließ, ging zu seinem Freunde.
Der Pavillon, wo der junge Künstler seine vorläufig noch sehr bescheidene Arbeitsstätte aufgeschlagen hatte, lag am Ende des Gartens. Er enthielt nur einen einzigen, aber genügend großen Raum; man hatte hier ein Fenster verdeckt, dort eins erweitert, hatte ein Oberlicht hergestellt und auf diese Weise das Atelier hergestellt, das dem Professor ein Dorn im Auge war, um so mehr, als er gar nicht um Erlaubniß gefragt wurde.
Hans befolgte dem Vater gegenüber stets die gleiche Taktik; er widersprach ihm niemals offen, und das „Jawohl, Papa!“ war eine stehende Redensart bei ihm. Dabei that er aber in aller Gemüthsruhe regelmäßig das Gegentheil von dem, was der Vater verlangte, und in der That war es die einzig richtige Art, den cholerischen alten Herrn zu behandeln.
Wehlau hatte seinem Sohne in schroffster Weise die Mittel zu einem eigenen Atelier versagt, und Hans, der noch keine eigenen Einnahmen besaß, mußte sich fügen, aber er ergriff noch an demselben Tage Besitz von dem Gartenpavillon, ließ Maurer und Zimmerleute kommen, ließ Alles genau nach seiner Angabe einrichten und legte dem Vater, der soeben von einer kleinen Reise zurückkehrte, die Rechnung auf den Arbeitstisch. Der Professor war natürlich außer sich darüber, erklärte, er dulde dergleichen nicht auf seinem Grund und Boden, und schaute das Atelier tagtäglich mit wüthenden Blicken an, aber er bezahlte die Rechnung, und Hans hatte wieder einmal seinen Willen durchgesetzt.
Augenblicklich stand der junge Künstler vor seiner Staffelei und malte an einem größeren Bilde, während Michael ihm gegenüber mit verschränkten Armen an einem Eckpfeiler lehnte. Die Unterhaltung schien ins Stocken gerathen zu sein, denn es vergingen wohl an zehn Minuten, ohne daß Einer der Beiden ein Wort sprach, plötzlich aber hielt Hans mit seiner Arbeit inne und sagte: „Höre, Michael – Du gefällst mir gar nicht!“
Michael schien ganz vergessen zu haben, daß er seinem Freunde als Modell diente. Es lag etwas von der alten Knabenträumerei in seinem Blick und etwas von der alten Starrheit in seinen Zügen. Beim Klange der Stimme fuhr er wie erwachend auf.
„Ich? Weßhalb nicht?“
„Da haben wir es! Du schreckst auf wie ein Nachtwandler, den man anruft. Woran hast Du denn eigentlich gedacht? Du bist der richtige Hans Träumer geworden, seit wir aus den Bergen zurück sind; ich erkenne Dich gar nicht mehr wieder.“
Der junge Hauptmann fuhr mit der Hand über die Stirn und erzwang ein Lächeln.
„Ich glaube, mir fehlt der Waffendienst; vielleicht habe ich mich auch etwas überarbeitet in den letzten Monaten.“
„Wahrscheinlich! Du bist ja ein wahrer Arbeitsfanatiker, was mein Fehler nun grade nicht ist. Jetzt aber thue mir den Gefallen und mache ein anderes Gesicht, diese melancholische Miene kann ich nicht brauchen.“
„Wie soll ich denn aussehen?“
„Möglichst wüthend! So etwa wie mein Papa aussieht, wenn er sich auf zweihundert Schritt Entfernung mein Atelier anschaut, aber großartiger, heroischer! Du kannst doch so aussehen, das weiß ich. Ich quäle mich nun schon seit Wochen, um den rechten Ausdruck zu finden, aber es will nicht glücken. Ich muß ihn in der Wirklichkeit suchen, und Du mußt ihn mir schaffen.“
„Ich begreife nicht, weßhalb Du so hartnäckig darauf bestehst, grade meinen Kopf zu benutzen,“ sagte Michael unmuthig. „Er paßt nun einmal nicht zu einem Idealbilde, und es ist ja auch ein ganz anderes Gesicht, was Du da auf die Leinwand gebracht hast.“
„Das verstehst Du nicht,“ erklärte Hans überlegen. „Dein Kopf ist mir mehr werth als das beste Modell. Natürlich soll es kein Portrait werden, aber was ich von Deinen Zügen brauchen kann, das habe ich auch auf dem Bilde. Nur der Ausdruck, die Augen – da fehlt es! Ich wollte, ich könnte Dir einmal einen grenzenlosen Aerger bereiten, Dich über irgend etwas in Wuth bringen, daß Du dies Etwas gleich zehnmalhunderttausend Klafter tief in den Abgrund schmettern möchtest, wie Dein Namensvetter da den Gottseibeiuns – dann wäre mir geholfen!“
„Das ist ja ein recht uneigennütziger Wunsch. Leider wird er nicht in Erfüllung gehen, denn ich bin gar nicht in der Stimmung, mich zu ärgern.“
„Nein, Du bist in einer höchst langweiligen Stimmung und machst das entsprechende Gesicht dazu; wir müssen es für heute aufgeben. Schade, ich hätte meinem Erzengel gern noch einen charakteristischen Zug gegeben, da er heute doch vor dem erlauchten Geschlecht paradiren soll, dessen Schutzpatron er ist.“
Er legte mit einem Seufzer Pinsel und Palette nieder, Michael aber war bei den letzten Worten aufmerksam geworden.
„Vor wem soll das Bild paradiren?“ fragte er rasch.
„Vor der Gräfin Steinrück und ihrer Tochter – was hast Du denn?“
„Nichts, ich wundere mich nur, daß sie in Dein Atelier kommen. Hast Du sie eingeladen?“
„Nicht geradezu, aber es machte sich so gesprächsweise. Ich traf die Damen gestern bei Frau von Reval, sie fragten nach meinen Arbeiten; der Gegenstand schien sie zu interessiren, und da wurde mir der heutige Besuch zugesagt. Ich wittere so etwas von einem Auftrag für die Patronatskirche, und das wäre mir sehr erwünscht. Dann könnte ich meinem Papa beweisen, daß meine Farbenkleckserei auch einen praktischen Erfolg hat, bis jetzt hält er sie immer noch für Spielerei. – Willst Du etwa schon wieder fort?“
„Gewiß, ich denke, Du brauchst mich nicht mehr.“
„Nein, aber ich habe der Gräfin, die sich nach Dir erkundigte, gesagt, Du seiest um diese Zeit stets zu Haus und würdest Dir ein Vergnügen daraus machen, sie zu begrüßen.“
Michael’s Stirn verfinsterte sich; einige Sekunden lang schien er mit sich zu kämpfen, dann sagte er kalt:
„Dann muß ich freilich bleiben.“
„Wenn Du Dein unverantwortliches Benehmen vom Sommer einigermaßen wieder gutmachen willst, allerdings. Gräfin Hertha hat es Dir entschieden übelgenommen; ich sah es deutlich, als von Dir die Rede war. Sie war übrigens gestern auffallend ernst und verstimmt.“
[647] „Die glückliche Braut?“
Die Frage klang wie herber Spott. Hans beachtete das nicht, sondern sagte leichthin: „Nun, was ihr künftiges Glück betrifft, so möchte ich gerade keine Bürgschaft dafür übernehmen. Wenn der alte General glaubt, seinen Enkel durch diese Heirath zu bändigen und in Schranken zu halten, so irrt er sich gründlich.“
„Wie so? Was weißt Du von jenem Treiben?“ fragte Michael gespannt.
„Nun, ich höre wenigstens genug davon. Als angehender Künstler wird man ja in alle möglichen Kreise gezogen, und dort bin ich auch einige Male dem jungen Grafen begegnet. Eine bestrickende Persönlichkeit ist er, das ist nicht zu leugnen, genial, ritterlich liebenswürdig, aber ich fürchte – da sind die Damen schon! Soeben fährt ihr Wagen vor, das nennt man pünktlich.“
Er hatte einen Blick durch das Fenster geworfen; vor dem Eingangsthor hielt in der That ein Wagen, aus dem die Gräfin Steinrück und ihre Tochter stiegen. Hans eilte ihnen entgegen in den Garten, und nach einigen Minuten traten die Damen, von dem jungen Künstler geleitet, in das Atelier.
Hauptmann Rodenberg hatte seit jenem Zusammentreffen in Sankt Michael die Damen nicht wieder gesehen, obgleich sie sich schon seit sechs Wochen in der Stadt befanden, aber sie verkehrten fast ausschließlich in den Kreisen der hohen Aristokratie. Die Gräfin erwiderte seine Begrüßung mit gewohnter Liebenswürdigkeit. Sie machte ihm sein Fernbleiben von Schloß Steinrück, trotz ihrer ausdrücklichen Einladung, nicht mehr zum Vorwurf, seit sie in einem Gespräch mit dem General in Erfahrung gebracht hatte, daß der junge Officier, aus irgend einem Grunde, seinem Chef nicht genehm sei. Er wußte das wahrscheinlich, und dadurch erklärte sich ja seine Zurückhaltung hinreichend; die zartfühlende Frau aber fand sich nunmehr veranlaßt, ihn mit verdoppelter Freundlichkeit zu behandeln.
„Wir haben uns lange nicht gesehen,“ sagte sie, ihm die Hand reichend, „und unser letztes Zusammensein in Sankt Michael wurde ja leider durch das Unwohlsein meiner Tochter gestört. Es war sehr unvorsichtig von Hertha, bei dem aufsteigenden Gewitter im Freien zu bleiben und dann den Rückweg im vollen Sturme zu machen; ein Glück, daß wenigstens der Regen in die Thäler niederging, ohne uns zu erreichen, sonst hätte die Erkältung schlimmere Folgen gehabt.“
Michael drückte seine Lippen auf die dargereichte Hand und verneigte sich vor der jungen Gräfin, die damals den ersten besten Vorwand ergriffen hatte, um einem Zusammensein zu entgehen, das nach der stattgehabten Scene für beide Theile unmöglich gewesen wäre. Nur für einen Augenblick hatte er sie nach derselben wiedergesehen, als sie mit ihrer Mutter in den Wagen gestiegen war, und er sich von Beiden verabschiedete. Jetzt aber fiel sie rasch ein: „Es war gar nicht von Bedeutung, Mama; ich bat Dich nur, die Abreise zu beschleunigen, weil ich Deine Aengstlichkeit kenne.“
„Du warst immerhin noch einige Tage unwohl,“ bemerkte die Mutter. „Ich bin überzeugt, daß Lieutenant Rodenberg, oder vielmehr –“ sie warf einen Blick auf seine Uniform. „Sie sind ja indessen befördert worden, wie ich sehe. Ich gratulire, Herr Hauptmann.“
„Seit vierzehn Tagen trägt er diese neue Würde,“ sagte Hans. „Ich habe mir bereits die Gunst erbeten, den künftigen General malen zu dürfen, sobald er im Besitz dieser Charge ist.“
Die Gräfin lächelte. „Nun, wer weiß! Es scheint ziemlich schnell vorwärts zu gehen mit der Karriere des Herrn Hauptmanns. Auch bei uns hat sich inzwischen ein Ereigniß vollzogen, von dem Sie wohl schon gehört haben werden – meine Tochter ist Braut geworden.“
„Ich weiß!“ Michael wandte sich zu Hertha, deren Augen jetzt zum ersten Male den seinigen begegneten. Er war gezwungen, einen Glückwunsch zu ihrer Verlobung auszusprechen; aber wenn sie irgend ein Zeichen der Erregung erwartet hatte, etwas von jenem blitzähnlichen Aufflammen, das bisweilen so verrätherisch aus seiner Kälte und Zurückhaltung hervorbrach, so täuschte sie sich. Seine Verbeugung war ebenso kühl und höflich wie sein Glückwunsch, den er ganz in der herkömmlichen Form abstattete. Er hätte ihn der fremdesten Dame nicht artiger und – gleichgültiger sagen können.
„Gräfin Hertha ist heute einmal wieder unglaublich hochmÜthig!“ dachte Hans, als er die Miene sah, mit der jener Glückwunsch in Empfang genommen wurde. Er führte die Damen jetzt zu dem Gemälde, das den Hauptplatz im Atelier einnahm, aber erst theilweise vollendet war. Die lebensgroße Gestalt des Erzengels hob sich mächtig und wirkungsvoll von der Leinwand ab; nur das Antlitz schien noch nicht fertig zu sein und bedurfte jedenfalls noch einer weiteren Ausführung, während der Kopf des Satans erst skizzirt war. Trotzdem ließ das Bild schon jetzt die Kühnheit und Großartigkeit des Entwurfes, die packende Kraft der Darstellung im vollsten Umfange erkennen, und der junge Künstler konnte zufrieden sein mit dem Eindruck, den sein Werk machte.
Hertha, die zuerst vor das Gemälde trat, zuckte leicht zusammen, und ein fragender, verwunderter Blick traf den Maler, während die Gräfin, die ihr unmittelbar folgte, in lebhafter Ueberraschung rief: „Das ist ja – nein, Hauptmann Rodenberg ist es nicht, aber Sie haben Ihrem Erzengel eine auffallende Aehnlichkeit mit ihm gegeben.“
„Sehr natürlich, da er mir dazu Modell gestanden hat,“ sagte Hans lachend. „Ich habe freilich nur das Charakteristische an seinem Kopfe benutzt, aber das ist wie geschaffen für den Vorwurf.“
Die Gräfin schien ganz hingerissen von dem Bilde und geizte nicht mit ihrem Lobe. Hertha fand den Entwurf genial, die Komposition großartig, die Farbenwirknng herrlich, aber während sie alles Mögliche bemerkte und bewunderte, schien das Gesicht Sankt Michael’s allein nicht ihren Beifall zu finden; sie äußerte auch nicht ein einziges Wort darüber.
Hans machte mit vollendeter Liebenswürdigkeit den Führer und Erklärer in seinem Atelier, da die Damen auch seine anderen Arbeiten zu sehen wünschten. Er hatte soeben einen Karton herbeigeholt, der seitwärts an der Wand lehnte, hatte ihn aufgestellt und bemühte sich nun, ihm die rechte Beleuchtung zu geben. Die Gräfin öffnete inzwischen eine ziemlich umfangreiche Mappe, die seitwärts auf einem Tischchen lag und eine Anzahl von Skizzen und Studien enthielt. Es war die Ausbeute, die der junge Maler von seinem letzten Ausfluge im Herbste mitgebracht hatte: kecke Jäger- und Bauerngestalten in der Gebirgstracht, hier und da ein hübscher Mädchenkopf, ein nur skizzirtes, aber trotzdem sprechend ähnliches Portrait des Pfarrers von Sankt Michael, dazwischen wieder einzelne Wald- und Bergpartien, aber Alles so frisch und lebendig hingeworfen, daß die Gräfin mit immer steigendem Vergnügen ein Blatt nach dem anderen umwandte. Auf einmal aber bemerkte Hans ihre Beschäftigung und kam so eilfertig herbeigestürzt, als gelte es, seine Mappe vor einem Attentat zu bewahren.
„Erlauben Sie, Frau Gräfin – die Mappe liegt äußerst unbequem – ich werde Ihnen die Skizzen selbst vorlegen,“ sagte er hastig, schob mit ebensoviel Eifer wie Artigkeit einen Sessel heran und begann in der That die einzelnen Blätter vorzulegen. Dabei nahm er aber, anscheinend ganz zufällig, eins derselben heraus und legte es bei Seite.
„Soll ich diese Zeichnung nicht sehen?“ fragte die Dame, die mit einem flüchtigen Blick die Umrisse eines weiblichen Kopfes erhascht hatte.
„O, das ist nicht der Mühe werth! Ein bloßer Studienkopf, eine ganz verfehlte Arbeit,“ versicherte der junge Künstler, aber dabei stieg ihm die helle Röthe in das Gesicht. Die Gräfin drohte scherzend mit dem Finger.
„Sieh da, Herr Hans Wehlau scheint seine Geheimnisse zu haben. Wer weiß, was sich da in den Bergen angesponnen hat!“
Hans vertheidigte sich lachend gegen den Vorwurf; als aber die Mappe durchgesehen war und die Gräfin sich dem Karton zuwandte, fand er doch für gut, die „verfehlte Arbeit“ rasch hinter einem Vorhange verschwinden zu lassen, wo sie vor fremden Blicken sicher war.
Hertha stand noch vor dem Gemälde und neben ihr Michael. Er machte diesmal keinen Versuch, sich ihrer Nähe zu entziehen, sondern blieb mit vollkommener Gelassenheit an seinem Platze und sprach von dem Talente und den Aussichten seines Freundes, von der Absicht desselben, sich an der Konkurrenz für ein großes Wandgemälde im historischen Stil zu betheiligen, und von den bereits entworfenen Skizzen dazu. Die zwanglose Richtung, die er damit dem Gespräche gab, war der jungen Gräfin allerdings willkommen, brachte sie aber doch ein wenig aus der Fassung. Sie, die vollendete Weltdame, hätte kaum so vollständig den leichten Gesellschaftston wiedergefunden nach – nach jener Stunde in Sankt Michael.
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[649] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [650] „Ich gestehe Ihnen offen, daß diese Leistung des Herrn Wehlau mich überrascht hat,“ sagte sie halblaut. „Wir kannten sein Talent bisher nur von der liebenswürdigen, aber oberflächlichen Seite; die Skizzen und Karikaturen, die er damals im Bade zeichnete, sprühten von Uebermuth, wie er selbst. Ich hätte ihm nicht die Kraft und Energie zugetraut, die sich in diesem Werke ausspricht.“
„Und er hat es doch beinahe spielend hingeworfen,“ entgegnete Rodenberg. „Hans ist eine jener glücklichen Naturen, die Alles, selbst das Höchste, fast ohne Mühe erreichen. Zu allen den äußeren und inneren Gaben hat ihm ein gütiges Geschick nun auch noch dieses Talent in die Wiege gelegt, das ihn weit über das Alltagsleben hinaushebt.“
„Ein gütiges Geschick, gewiß! Beneiden Sie Ihren Freund um diese Gaben?“
„Nein, ich wüßte sie vielleicht nicht einmal ganz zu schätzen, denn für mich hat nur das Erkämpfte, Eroberte den vollen Werth. Hans mit seinem ewig heiteren, sonnigen Charakter ist so recht für das Glück und den Genuß des Lebens geschaffen: ich bin mehr auf den Sturm und Kampf dieses Lebens gestellt – Jedem das Seine!“
Hertha blickte auf das Gemälde, das auch eine Scene von Sturm und Kampf darstellte. Sie wußte es, daß der Mann da neben ihr kämpfen konnte, nicht bloß gegen einen äußeren Feind, auch gegen sich selbst, wenn es Noth that; sie hatte es ja gesehen, wie jede Fiber an ihm bebte in stürmischer Leidenschaft, und jetzt stand er so ruhig und gelassen an ihrer Seite, und kein einziges jener verrätherischen Zeichen, die sie nur zu gut kannte, strafte diese Ruhe Lügen. Ihre unmittelbare Nähe schien gar keine Wirkung mehr auf ihn auszuüben.
„Wählen Sie den Kampf aus Neigung?“ fragte sie, halb spottend. „Ich glaube, Sie sind sehr ehrgeizig, Hauptmann Rodenberg “
„Vielleicht! Zum Mindesten will ich empor, und wer nicht gleich im Anfange das höchste Ziel im Auge hat, der wird es nie erreichen. Ich werde freilich nicht so von den Verhältnissen gehoben und getragen wie Hans, aber es ist auch etwas werth, ganz auf die eigene Kraft gestellt zu sein, hinauszutreten auf den Plan mit dem Bewußtsein: Du hast Niemand als Dich selbst, aber Du gehörst auch Niemandem als Dir selber.“
So ruhig die Worte gesprochen wurden, sie hatten einen eisernen Klang, und sie wurden verstanden. Hertha schlug das Auge plötzlich auf und heftete es auf den Sprechenden, aber es blitzte wie Zorn in diesen schönen Augen.
„Und Sie glauben das durchführen zu können? Würde Ihnen der Ehrgeiz in der That Alles ersetzen?“
„Ja!“ sagte Michael kalt und fest. „Das Einzige, was ich mit hinausnehme in die Zukunft, ist die Dankbarkeit gegen den Mann, der mir ein zweiter Vater war, und die Freundschaft für seinen Sohn – in allem Uebrigen habe ich mir freie Bahn geschaffen.“
Die Lippen der jungen Gräfin zuckten, aber sie richtete sich mit ihrem ganzen Stolze empor.
„Dazu wünsche ich Jhnen Glück, Herr Hauptmann – Sie werden Karriere machen, daran zweifle ich nicht.“
Sie wandte ihm den Rücken und trat zu ihrer Mutter; aber während sie gleichfalls den Karton betrachtete und lebhaft und ausführlich mit dem jungen Maler darüber sprach, weilten ihre Gedanken immer noch bei jenem Gespräche. Deutlicher konnte man es ihr nicht sagen, daß man Sieger geblieben war, und die Ueberzeugung davon drängte sich ihr mit einer seltsamen, unerklärlichen Empfindung auf. Freilich, er wollte ja seine Liebe niederzwingen und vernichten – das schien ihm überraschend schnell gelungen zu sein!
Die Gräfin machte jetzt Anstalt aufzubrechen, und Michael verabschiedete sich von den Damen, die Hans bis zum Wagen begleitete. Als er zurückkam, hatte er nichts Eiligeres zu thun, als die „verfehlte Arbeit“ aus ihrem Versteck zu erlösen und sie mit der größten Sorgfalt in eine andere Mappe zu legen, die er verschloß.
„Das wäre eine schöne Geschichte gewesen, wenn die Gräfin das Bild entdeckt hätte,“ sagte er. „Sie würde sofort ihr Pathenkind erkannt haben, und mit der Herrlichkeit Hans Wehlau Wehlenberg’s auf Forschungstein wäre es aus gewesen. Er lebte fortan nicht mehr als ritterbürtig in den Erinnerungen der Ebersburg.“
„Wen stellt das Bild denn dar?“ fragte Michael, der wie in Gedanken verloren auf und nieder ging.
„Gerlinde von Eberstein. Ich habe sie aus der Erinnerung gezeichnet. Du weißt ja von meinem Abenteuer auf der Ebersburg und meiner Standeserhöhung. Es ist merkwürdig: ich kann die Erinnerung an das kleine Dornröschen nicht los werden, das mir so lächerlich und zugleich so lieblich erschien; es drängt sich zwischen mich und jede andere Gestalt. Sogar vorhin, in Gegenwart der schönen goldhaarigen Märchenfee, tauchte mir immer wieder das holde Gesichtchen mit den dunklen Augen auf, die so träumend in eine längst versunkene Welt schauen. Ich finde übrigens, daß mit Gräfin Hertha eine Veränderung vorgegangen ist, seit sie Braut ist. Seitdem umgiebt sie eine gewisse Gletscheratmosphäre, die gar nichts Bräutliches hat. Das ist das gewöhnliche Ergebniß solcher Konvenienzverbindungen, wo von einer etwaigen Neigung gar keine Rede ist. Auch Graf Raoul scheint nicht viel für seine schöne Verlobte zu fühlen, wenigstens treibt er es toller und wilder als je, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn er nicht in ganz anderen Banden läge.“
Michael blieb plötzlich wie angewurzelt stehen.
„Jetzt schon? Im Angesichte seiner Braut – das wäre gemein!“
Hans sah verwundert auf bei dem dumpfen, drohenden Tone.
„Das klang ja förmlich tragisch. Kennst Dn denn überhaupt den jungen Grafen?“
„Ich sah ihn zuerst bei dem General, und seitdem sind wir noch verschiedene Male zusammengetroffen. Ich war aber genöthigt, ihm in der nachdrücklichsten Weise klar zu machen, daß er es mit einem Officier zu thun hat, der sich nöthigenfalls mit dem Degen in der Hand die Rücksicht erzwingt, die man ihm versagen möchte. Er scheint das auch endlich begriffen zu haben.“
In dem Auge des jungen Malers blitzte Etwas auf, und während er es scharf und fest auf seinen Freund heftete, nahm er, scheinbar ganz absichtslos, Pinsel und Palette wieder auf und begann von Neuem zu malen.
„Das wundert mich, Graf Raoul mag seinen Ahnenstolz besitzen, gewöhnlichen Standeshochmuth habe ich aber nie bei ihm bemerkt. Er muß irgend Etwas gegen Dich haben.“
„Oder ich gegen ihn? Ich glaube, wir wissen es Beide, wie wir mit einander stehen!“
„Aha, jetzt kommt es!“ murmelte Hans ganz leise, aber triumphirend, während er einen Pinselstrich nach dem anderen zog; dabei setzte er aber ruhig das Gespräch fort.
„Nun, ich habe den Grafen nur von der liebenswürdigen Seite kennen gelernt. Was aber seine Verlobung betrifft, so weiß man ja allgemein, daß sie einzig das Werk des Großvaters ist. Seine Excellenz befahlen, und der Enkel beugte sich dem allerhöchsten Willen.“
„Um so erbärmlicher!“ brauste Rodenberg auf. „Wer zwang ihn denn, zu gehorchen? Warum weigerte er sich nicht? Aber dieser vielgepriesene, geniale Steinrück mit all seiner Ritterlichkeit ist doch nur ein Feigling, wenn es sich um den moralischen Muth handelt!“
Es sprach ein so leidenschaftlicher, unbezähmbarer Haß aus den Worten, daß Hans aufhorchte. Aber mit dem ganzen Egoismus des Künstlers, der nur sein Werk im Auge hat und dem alles Andere daneben verschwindet, fragte und forschte er nicht, wie sein Freund zu dieser wilden Gereiztheit kam. Er sah ihn nur unverwandt an und zog dann wieder Strich auf Strich auf der Leinwand.
„Ich glaube, es wäre dem Grafen übel bekommen, wenn er einen Widerstand versucht hätte,“ warf er hin. „Der General soll in seinem Hause ebenso strenge Mannszucht halten wie unter seinen Soldaten und nicht den geringsten Widerspruch dulden. Du kennst ja Deinen eisernen Chef. Möchtest Du es versuchen, vor ihn hinzutreten und ihm ein offenes Nein zu sagen?“
„Ich habe ihm wohl noch mehr gesagt, als ein bloßes Nein.“
„Du – dem General?“
Hans war so erstaunt, daß er einen Augenblick die Arbeit ruhen ließ, Michael aber vergaß alle Vorsicht, er ließ sich von seiner Erregung fortreißen.
„Dem General Graf Steinrück – ja! Er wollte mich auch zwingen mit seinem Herrscherblick, er gebot mir auch Schweigen mit jenem Gebietertone, dem sich Alles beugt, aber ich schwieg nicht. Er sollte und mußte von meinen Lippen hören, was er wohl noch niemals in seinem Leben vernommen hat. Ich schleuderte es ihm rücksichtslos in das Antlitz, und er hat [651] mich angehört! Jetzt sind wir freilich zu Ende mit einander, aber er weiß es nun, was mir sein Name und seine Grafenkrone gelten, weiß, daß ich ihn und sein ganzes Geschlecht –“
„Zehnmalhunderttausend Klafter tief in den Abgrund schmettern möchte – endlich!“ brach der junge Künstler triumphirend aus, der soeben noch einige letzte Pinselstriche gemacht hatte. „Bravo, Michael! Jetzt kannst Du wieder gemüthlich werden, jetzt habe ich es!“
„Was hast Du?“ fragte Michael betroffen.
„Den Ausdruck, den Flammenblitz des Auges, nach dem ich so lange suchte. Du warst unvergleichlich in Deiner Empörung – Sankt Michael, wie er leibt und lebt!“
Rodenberg schien jetzt erst zu fühlen, wie weit er sich hatte fortreißen lassen, er biß sich auf die Lippen.
„Also Du hast mich kaltblütig studirt während der ganzen Zeit? Hans, das ist unverzeihlich!“
„Möglich, aber es war nothwendig. Sieh Dir doch einmal das Bild an, was jetzt aus der Stirn und den Augen geworden ist. Mit wenigen Pinselstrichen habe ich es getroffen.“
Michael trat, noch immer gereizt und unmuthig, vor die Staffelei; auch ihn schien die Veränderung an dem Gemälde zu überraschen, aber ehe er noch eine Bemerkung darüber aussprechen konnte, legte Hans den Arm um seine Schulter und sagte, plötzlich ernst werdend:
„Und nun beichte einmal, was ist das zwischen Dir und den Steinrück? Warum hassest Du den Grafen Raoul, was giebt Dir das Recht, dem General, Deinem Chef, solche Dinge ins Gesicht zu sagen? Da liegt irgend Etwas, was Du mir verschwiegen hast.“
Rodenberg gab keine Antwort, sondern wandte sich finster ab.
„Verdiene ich Dein Vertrauen nicht?“ fragte Hans vorwurfsvoll. „Ich habe niemals ein Geheimniß vor Dir gehabt und darf wohl das Gleiche fordern. In welchem Verhältniß stehst Du zu diesem Steinrück?“
Es folgte eine kurze Pause, dann sagte Michael kalt und fest:
„In demselben Verhältniß wie Graf Raoul.“
Hans sah ihn starr und völlig verständnißlos an; er glaubte nicht recht gehört zu haben.
„Was soll das heißen? Der General –?“
„Ist der Vater meiner Mutter – sie hieß Louise Steinrück!“
Räuberromantik.
Aus den verschiedenen Klagen, durch welche sich die allgemeine Unzufriedenheit der Menschen Luft macht, hört man zeitweise auch die Klage über den gänzlichen Verfall jeglicher Romantik heraus, und eine herzhafte Dame, die im vergangenen Winter Andalusien und Catalonien bereiste, um der Eintönigkeit des Lebens in Deutschland zu entgehen, schien mit den Ergebnissen ihrer Reise gar nicht zufrieden zu sein. Sie erzählte wenigstens, „daß sie nicht einmal die Spur eines spanischen Räubers gesehen habe“, und das mit einem unzweideutigen Ausdruck des Bedauerns! Es scheint in der That, daß die Räuberromantik ausgestorben ist, und Vulpius würde heut zu Tage keinen Glauben und keine Theilnahme für jene phantasievollen Schilderungen finden, welche den Erfolg seines vielfach nachgeahmten Romans „Rinaldo Rinaldini“ begründeten. Das war zu jener Zeit, als in den Leihbibliotheken die Gespenstergeschichten rechts, die Ritter- und Räuberromane links standen.
Unser Polizeiwesen, die Hilfsmittel der Zeitungen, des Telegraphen haben den Räubern ihr heimliches Wesen beträchtlich erschwert; die Spitzbuben sind auch „in des Waldes düsteren Gründen“, wo sich’s Rinaldo so wohl sein ließ, nicht mehr sicher, und die Maßregeln, welche Schiller die Behörde ergreifen ließ, um die gefährliche Schar seiner „Räuber“ einzufangen, erscheinen uns heute geradezu lächerlich. Eine halbe Kompagnie Soldaten würde die bramarbasirenden Gesellen Karl Moor’s zu Paaren treiben, und das Stück wäre zu Ende. Wahrscheinlich würden auch „Hernani“ und „Fra Diavolo“, der Bandit im Frack mit dem weltmännischen Wesen und den galanten Manieren (von seinem schönen Tenor gar nicht zu sprechen), alsbald entlarvt werden, und dem bekannten wirkungsvollen Geständnisse Jaromir’s in der „Ahnfrau“:
„… Bin’s, den alle Häscher suchen,
Bin’s, dem alle Väter fluchen etc.“
dürfte der – Steckbrief zuvorgekommen sein.
Die deutschen Rinaldos, „Schinderhannes“ und „bayerischer Hiesel“, deren Namen in der Heldensage des Strolchthums fortleben werden, sind vom Arm der Gerechtigkeit ereilt worden: sie haben Beide ihr mehr als bewegtes Leben auf der Richtstatt geendet und Roszá Sándor, der ungarische – räuberische – Nationalheld hat alternd und gebrochen auf dem Stroh einer Gefängnißzelle in Fünfkirchen seinen Geist aufgegeben. Seinen „Geist“ sage ich, denn Roszá Sándor war kein dummer Spitzbube, und wenn auch nur ein Viertel jener Mythe wahr ist, die sich an seinen weltbekannten Namen knüpft, so muß man ihm eine Begabung zuschreiben, die allenfalls genügt hätte, um für sein Vaterland in anderer Weise bedeutungsvoll zu werden.
Dieser ungarische Räuberhauptmann war ein echter, vielleicht der letzte räuberische Romantiker. Er hielt sich für ein Werkzeug der Vorsehung – wie jene italienischen Banditen, die für ihre Räubereien ganz ernsthaft den Beistand der Madonna erflehen, deren geweihtes Bild sie in der Regel auf der Brust tragen. Dieser Held des Bakonyer-Waldes hat sich auch nie „mit Kleinigkeiten abgegeben“: er zündete Gehöfte und Güter an; er brachte reiche Wucherer um – aber er unterstützte die Bedrängten und Armen, die in Roszá Sándor einen Wohlthäter, einen Erlöser vom Druck der Herrschaft und der Armuth sahen. Nur dadurch läßt sich’s erklären, daß die Häscher jahrelang vergeblich nach dem berühmten Missethäter fahndeten, daß er ihnen immer wieder unter den Fingern entschlüpfte und daß sich seiner Flucht stets nur geringfügige Hindernisse entgegensetzten. Ja er fand sogar noch Unterstützung, und wo sie nicht freiwillig gewährt wurde, wußte er sie zu erzwingen. Dabei war Roszá Sándor ein gutmüthiger, verträglicher Mensch. Man erzählt rührende Züge von ihm, die dem biedersten Menschenfreunde Ehre machen würden; er war nobel und sogar verschwenderisch, wenn es die Mittel desjenigen erlaubten, den er eben ausgeplündert hatte.
Roszá Sándor hatte viele Züge mit seinem Zeit- und Berufsgenossen, dem Spanier José Maria gemein, dessen Name einmal am meisten von sich reden machte von Madrid bis Sevilla, von Sevilla bis Malaga. Der Schriftsteller Merimé beschreibt ihn als schön, tapfer und jung; wenn er einen Eilwagen anhält, reicht er den Damen die Hand beim Aussteigen und sorgt dafür, daß sie bequem im Schatten sitzen, während er – plündert. Nie hört man ein gemeines Wort von ihm – im Gegentheil, sein Benehmen ist tadellos, und im „Verkehre“ mit Damen zeichnet ihn eine natürliche Höflichkeit aus. Zieht er einer Reisenden z. B. einen Ring von der Hand, so sagt er galant: „O Señora, eine so schöne Hand wie die Ihrige bedarf keines Schmuckes!“ Und während er sachte den Ring vom Finger zieht, küßt er die Hand auf eine Weise, daß man glauben möchte, der Kuß habe für ihn mehr Werth als der Ring. Uebrigens ließ er den Reisenden stets so viel Geld, daß sie die nächste Stadt erreichen konnten, und wenn Reisende ihn baten, ein Kleinod behalten zu dürfen, welches für sie einen besonderen Werth besaß, so schlug José Maria eine solche Bitte nicht ab.
Diese Charakteristik liefert die Chronik von ihm. Es werden außerdem einzelne Züge erzählt, die José Maria im Lichte eines wahren Helden erscheinen lassen. Wohlthätigkeit und Freigebigkeit zeichneten ihn vor Allem aus. Ein Beispiel: Eines Tages begegnete José Maria einem armen Hausirer aus der Gegend von Campillo de Arenas, der einen mageren, halbverhungerten und dabei schwer beladenen Esel vor sich hertrieb. José Maria blieb unerkannt und machte sich über das armselige Lastthier lustig.
„O Señor,“ entgegnete der Eseltreiber, „dieses elende Thier verdient mir trotz alledem mein Brot.“
„Davon hängt Deine Existenz ab?“ fragte José Maria mitleidig, „und wenn die Mähre heute oder in acht Tagen todt umfällt – sie sieht ganz danach aus … da nimm, es befinden sich 1500 Realen in diesem Beutel, bei dem alten Joaquin steht ein Maulthier zum Verkauf, für welches er 1500 Realen haben will. Kaufe noch heute jenes Thier, feilsche nicht und merke Dir, daß ich Dich und Deinen elenden Esel in den Abgrund werfe, wenn ich euch morgen wieder sehe, – so wahr ich José Maria heiße!“
Damit verschwand er. Der Hausirer erschrak natürlich aufs Heftigste, beeilte sich aber, Joaquin aufzusuchen und für den Beutel Gold das schöne Maulthier einzuhandeln.
In der folgenden Nacht wurde Joaquin von zwei Männern geweckt. „Gieb Dein Geld heraus,“ befahl der Eine.
„Bei Gott, ich habe keines!“ betheuerte der alte Geizhals.
„Du lügst,“ wurde ihm entgegen gedonnert, „Du hast heute Abend ein Maulthier für 1500 Realen verkauft an Den und Den.“
Der Ueberfallene mußte den Beutel Gold hervorsuchen und ihn den Räubern, José Maria’s Spießgesellen, ausliefern.
José Maria’s Bande war nicht zahlreich, bestand aber aus einer Hand voll Männer von erprobter Entschlossenheit und Treue; es wird sich zeigen, wie groß diese Leute von der Treue und der Spitzbubenehre dachten. Als die Königin Isabella die Konstitution beschwor, wurde eine allgemeine Amnestie ertheilt; José Maria’s Personbeschreibung, die an allen Stadtthoren klebte – denn auf seinen Kopf war ein Preis von 8000 Realen gesetzt – wurde entfernt und José Maria trat auf Staatskosten – in Pension. Er hatte indeß stets große Bedürfnisse und mußte daher auch noch eine Stellung annehmen. So wurde er denn Escopetero und übernahm die Verpflichtung, nun selber die Wagen zu schützen, die er so oft gebrandschatzt hatte. Er that seine Pflicht, und die Räuber verschonten die von ihrem einstigen Genossen geführten Wagen. Eines Tages aber hielten etliche keckere Spitzbuben den Eilwagen von Sevilla dennoch an, obwohl José Maria darauf saß, der seinen alten Spießgesellen von der Imperiale herab Warnungsrufe zusandte. Der Anführer der Rotte – „el Gitano“ genannt – feuerte seine Flinte auf ihn ab und tödtete den letzten Romantiker unter den Räubern Spaniens. S.
[652]
Was will das werden?
Nach der für mich so gnadenreichen Nacht, deren Wunder mir für immer mit Flammenschrift in die Seele geschrieben sind, kamen Wochen, in welchen ich in rascher Folge so viel Merkwürdiges der verschiedensten Art erlebte, daß ich jetzt, wo ich mich dem Punkte nähere, bis zu welchem ich diese wahrhaftige Geschichte zu führen gedenke, Mühe habe, mir die Einzelheiten wieder in Erinnerung zu rufen, wie ein Krieger die letzten, krausen Ereignisse eines langen Schlachttages, in welchen Freund und Feind zum Entscheidungskampfe in einem scheinbar unentwirrbaren Knäuel zusammengeballt sind.
In diesem Entscheidungskampfe aber war es meine Mutter, der von selbst die Führung zufiel, und ich wüßte nicht, wie Jemand zu der schwierigen Aufgabe eine größere Begabung hätte mitbringen können. Sie hatte mit scharfem Blick sofort das Centrum der feindlichen Stellung erkannt und ihren Angriff unverweilt gegen dasselbe gerichtet. Aber die goldene Säule des Vogtriz’schen Hauses war unerschütterlich gewesen. An dem Trotz der Despotin, zu welchem Störrigkeit des Alters, Eifersucht auf ihre bedrohte Macht und aristokratische Schrullen einträchtiglich zusammenwirkten, waren die diplomatischen Bemühungen des Kammerherrn, der im Namen meiner Mutter die Unterhandlungen führte, gescheitert. Der alte Mann war außer sich und erging sich über seine alte Freundin in den bittersten Reden. „Sie weiß recht gut,“ rief er, „daß ihre Herrschaft einzig und allein auf der Macht ihres Geldes beruht, und die Fräulein Nichten, die sie ausstattet, und die Herren Neffen, deren Equipirungen und Schulden sie bezahlt, sie, während sie ihr die Hände küssen und gnädigste, großmüthigste, allerliebste Herzenstante nennen, in der Tiefe ihrer Seelen hassen und verabscheuen. Der Gedanke, daß man Sie, theure Freundin, in der Familie, trotz Ihres Geldes, um Ihrer selbst willen lieben, Ihnen den Saum Ihres Kleides mit Freuden küssen würde, ist ihr unerträglich. Mit von Haus aus schlechten Menschen ist es wie mit den Affen: sie werden, je älter sie werden, immer boshafter und tückischer. Diese hat den Höhepunkt des Alters und der Bosheit erreicht. Wir müssen alle Hoffnung, sie zu zähmen, aufgeben.“
Das hieß aber nicht mehr und nicht weniger, als die gesammte Familie Vogtriz aufgeben, die einmüthig, wie die Glieder eines schottischen Clans, zu ihrer Seniorin stand. Man hätte diese Einmüthigkeit ehren können, wäre sie nur Sache der Ueberzeugung und nicht der Berechnung gewesen, in welche nun ein Ereigniß, das wenige Tage später stattfand, ganz vortrefflich paßte.
Der Oberst hatte seinen Abschied genommen – die Gegner sagten: nehmen müssen – zwei verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache, welche nach einer langen, zuletzt fast in einen Wortwechsel ausartenden Auseinandersetzung zwischen ihm und seinem Chef unvermeidlich geworden war. Man hatte an ihn ein Ansinnen gestellt, von welchem man im Voraus wissen mußte, daß er es von sich weisen würde: die Erwiderung, vielmehr Widerlegung der zweiten Broschüre Adalbert’s. Nur so sei er im Stande, die üblen Gerüchte, welche sich – zum Aergerniß der ganzen Armee – an seinen Namen geheftet hätten, ein für allemal zum Schweigen zu bringen. Seiner entschiedenen Weigerung, sich dieser Aufgabe zu unterziehen, war die Zurdispositionsstellung gefolgt, welche er mit der Bitte um den Abschied beantworten mußte und konnte, ohne mit sich selbst in Widerspruch zu gerathen. „Denn,“ sagte er, „ich habe nur den ersten Schritt nicht freiwillig thun wollen. Nachdem man mich dieser Mühe überhoben – kostet’s mich nichts, die anderen zu thun.“
Ach! was sie ihn kosteten: welch’ unaussprechliches Herzweh, welch’ unsagbare Trauer – nicht um sich und ein scheinbar verfehltes Leben, wohl aber um die Sache, der er sein Leben geweiht und die er auf einer schiefen Ebene unaufhaltsam abwärts gleiten sah: das wußte, außer ihm selbst, nur ich allein, mit dem er sprach nicht wie mit den Anderen, sondern eben wie mit sich selbst.
Und so machten wir uns daran, die Akten, welche er aus dem Kriegsministerium im Hause hatte, zusammenzupacken.
Es waren dies zum Theil Papiere der wichtigsten Art, Gegenstände betreffend, die zu den intimsten Geheimnissen des geheimnißvollsten aller Ressorts gehörten, und die man fortgefahren hatte, dem Oberst anzuvertrauen, als man bereits an seiner „Gesinnung“ zu verzweifeln begann, aber seine unvergleichliche Arbeitskraft und seine Autorität in gewissen Specialfächern nicht missen wollte oder konnte. Selbstverständlich waren diese Akten, welche er in einem eigenen Schrank aufbewahrte, der Gegenstand noch ganz besonderer Sorgfalt des so schon ordnungsliebenden Menschen.
Nun denke man sich den Schrecken, ja das Entsetzen, welches ihn und mich befiel, als sich herausstellte, daß von eben diesen Akten ein kleines, aber ganz besonders inhaltsschweres Bündel fehlte. Da er das Verzeichniß über das Ein- und Ausgehende selbst führte, das Neue selbst in Empfang nahm, das Erledigte selbst dem Boten zuzählte – das ganz Wichtige bekam nicht einmal der Bote in die Hände, sondern der Oberst nahm es in seiner Mappe vom Ministerium mit nach Hause und brachte es ebenso wieder zurück – war das Geschehene unbegreiflich. Die Möglichkeit eines Diebstahls schien ausgeschlossen. Es blieb nichts Anderes übrig als die Annahme, daß das vermißte Heft trotzalledem in ein größeres, weniger wichtiges Aktenbündel gerathen und so in das Archiv des Ministeriums zurückgewandert war. Aber auch dort führte eine auf den Antrag des Obersten sofort angestellte, peinliche Nachforschung zu keinem Ergebniß. Seine Verzweiflung war zu augenscheinlich, seine Ehrenhaftigkeit zu unantastbar, als daß man die unangenehme Sache weiter hätte verfolgen mögen. Der Minister selbst ersuchte den Oberst, sich zu beruhigen; die Zeit oder ein glücklicher Zufall würden das Geheimniß wohl an den Tag bringen,
Nichtsdestoweniger warf diese Angelegenheit einen tiefsten Schatten in das so schon verdüsterte Gemüth des Mannes und machte ihn gegen die zum Theil ganz unverblümten Angriffe, Verleumdungen und Schmähungen, denen er sich in den konservativen Blättern ausgesetzt sah, empfindlicher, als es sonst der Fall gewesen wäre. Mir konnte das nicht entgehen, obgleich er seine Schwermuth gerade vor mir am sorgfältigsten zu verbergen suchte. Er wollte mir mein Glück nicht stören. Aber wie hätte ich mich desselben ganz erfreuen dürfen, wenn ich ihn so tief unglücklich sah!
Und auf den Trümmern seines Glückes erhob sich gewissermaßen das meine. Wenigstens hätte es ohne seine Verabschiedung vor den Augen der Welt an einem schicklichen Vorwand für Astolf gefehlt, mit seinem Oheim zu brechen und von der Bewerbung um Ellinor zurückzutreten. Sein Verhalten in dieser zarten Angelegenheit war wie immer „völlig korrekt“ gewesen. Von einer Auseinandersetzung mit Ellinor, welche noch an dem Gesellschaftsabend unter vier Augen stattgefunden, brauchte, als von einer durchaus persönlichen, die Welt nichts zu wissen und erfuhr die Welt nichts. Sie erfuhr nur, daß er dem Oberst seine Aufwartung gemacht und mit aller Achtung, welche er dem älteren Verwandten schuldete, die Unvereinbarkeit dargelegt habe, in welcher seine soldatischen Grundsätze und Anschauungen mit denen des Obersten ständen, um daran die Bitte zu knüpfen, daß ihm erlaubt sein möge, künftighin auch auf den persönlichen Verkehr, als auf einen für beide Seiten nur peinlichen, verzichten zu dürfen. Die Unmöglichkeit aber, eine Dame heirathen zu können, mit deren Vater man diese Sprache hatte führen müssen, lag so auf der Hand, daß es dafür eines Beweises nicht bedurfte, am wenigsten eines solchen, bei dem es ohne unliebsames Geräusch nicht abzugehen pflegt.
Daß Ulrich nur die volle Erinnerung unserer alten Freundschaft abgehalten hatte, diesen unliebsamen geräuschvollen Beweis mir (oder der Welt) gegenüber unnöthigerweise dennoch zu führen, bewies ein Brief von seiner schwerfälligen Hand, der, sobald der [654] Mißerfolg der Verhandlungen mit der Familie nicht mehr zu bezweifeln war, bei mir einlief:
„Liebes Kind! Erinnerst Du Dich der Scene auf dem Pennal, als ich Dich aus einer Schar Deiner Widersacher heraushieb, damit Du Deinen Handel mit meinem Bruder ausfechten könntest, möglicherweise auf Kosten des brüderlichen Riechorgans, denn Du warst für Deine Jahre ein guter Faustkämpfer – trotz Polydeukes, oder wie der Kerl hieß. Diesmal handelt es sich nicht nur um Astolf. Nachdem Ellinor etwa fünf Jahre mit ihm so gut wie verlobt gewesen, erscheint der Bruch, welcher denn doch allem Anschein nach in erster Linie um Deinetwillen stattgefunden, als ein Schlag, der die ganze Familie um so empfindlicher trifft, als er von Jemand ausgeht, der, wie es sich jetzt herausstellt, halb und halb zur Familie gehört und deßhalb alle Ursache gehabt hätte, die halbe Zugehörigkeit durch doppelte Loyalität gegen notorische Familienbeschlüsse in Vergessenheit zu bringen.
Und so, liebes Kind, wenn Du nicht eben Du wärest, würde ich es für meine Pflicht halten, da Astolf sich in der Sache nicht gut rühren kann, an seine Stelle zu treten und Dir für den bewußten Familiennasenstüber die hübschen Ohren abzuschneiden.
So muß ich mich damit begnügen, Dir zu sagen, daß, wenn ich Dich auch, wie es scheint, persönlich lieb behalten soll, unsere Wege von nun an auseinander gehen und ich den Himmel sehr ernsthaft bitte, er möge es gefälligst so einrichten, daß sie sich nicht wieder kreuzen. Denn ich meine, wir sind jetzt quitt, und ein abermaliger Spahn, den wir zusammen hätten, müßte aus einem neuen Kerbholz gehauen werden.
Uebrigens wünsche ich Euch Beiden aufrichtig alles nur mögliche Glück, wie ich es denn für eine der größten Niederträchtigkeiten meines Unsterns halte, daß er mir zwei so liebste Menschen, wie Ihr Beide seid, so nahe gebracht hat, nur um mir einen Knüttel zwischen die Beine zu werfen, über den ich, wie ich nun einmal bin, stolpern muß, und – hol’ es und Euch der Teufel! Ulrich.“
Ich wollte dem alten Freunde einen langen Brief schreiben, aber ich unterließ es. Was sollte es helfen?
So war das Tuch zwischen uns und den Vogtriz zerschnitten, bevor wir uns noch zu Tisch gesetzt. Es that mir um Ellinor’s willen leid; für meine Person konnte ich mit dem Ausgang nur zufrieden sein. Nach meinen traurigen Erfahrungen mit Ulrich mußte mir jede auch nur erträgliche Stellung zu der übrigen Sippe undenkbar erscheinen. Der Oberst theilte meine Auffassung, wie er ja die Zerwürfnisse, welche entstehen würden, sobald meine Mutter sich öffentlich zu mir bekannte, vorausgesehen und vorausgesagt hatte.
„Ich bin glücklich,“ sagte er, „daß für Euch Beide die Natur wieder in ihre Rechte eingesetzt ist; aber wir können von den Leuten die Sanktion von Verhältnissen nicht verlangen, die nun einmal in die bürgerliche und nun gar in die adlige Ordnung nicht passen. Wer revolutionirt, muß sich auch bereit halten, guillotinirt zu werden.“
Aus solchen und ähnlichen Worten klang der tiefe Schmerz des Mannes, welchen ihm denn doch die Folgen seiner Auflehnung gegen das militärische Credo bereiteten. Es erfüllte mich mit Wehmuth, wenn ich sah, wie er scheu verstohlen die bürgerliche Kleidung musterte, mit der er nun für immer die Uniform vertauscht hatte; oder wie sich auf der Straße – besonders zum Anfang – seine Hand unwillkürlich nach der Kopfbedeckung bewegen wollte, so oft ihm Soldaten, Officiere begegneten; wie sein Blick sich verdüsterte, wenn er bemerken mußte, daß von den letzteren so mancher bei der Begegnung ihm geflissentlich auswich. Das waren ja an und für sich Kleinigkeiten, die ihn aber doch täglich und stündlich an die ungeheuren Opfer erinnerten, die er seiner Ueberzeugung hatte bringen müssen. Freilich aber auch daran, daß es für ihn keinen Stillstand auf dem betretenen Wege gab und er nur die Wahl habe zwischen bitterer Reue oder der Verfolgung seiner Ueberzeugung bis zu den letzten Konsequenzen.
Da war denn freilich ein täglich inniger werdender Verkehr zwischen ihm, Graf Pahlen und Adalbert unausbleiblich. Die Herren tauschten in stundenlangen Zusammenkünften ihre Ansichten über die socialen und militärischen Dinge aus und gelangten endlich so weit, daß sie an eine Redaktion der gewonnenen Resultate denken konnten, welche nun dem Publikum in Form einer Reihe von Broschüren im Anschluß an jene beiden ersten von Pahlen und Adalbert herausgegebenen mitgetheilt werden sollten.
Es war zwischen Ellinor und mir das sonderbarste Verhältniß eingetreten, in welchem wir weder uns selbst, noch Eines das Andere recht begriffen, sondern wie im Dunklen tappten, uns einander suchend, ohne uns finden zu können.
Es war zu plötzlich gekommen, zu gewaltsam jede Schranke überstürzend, hatte uns zu hoch über uns selbst, zum wenigsten über alles Kleine in uns hinausgehoben; wir waren für einen Augenblick Götter gewesen und – sollten nun wieder Menschen sein, denen ein unermeßliches Geschenk ward und die sich sagen, daß sie desselben nie werden froh werden, wenn sie es sich nicht nachträglich durch eigene Anstrengungen ehrlich verdienen.
Wir versuchten zwar, uns redlich und eifrig die Sorge wegzureden und zu beichten, daß das Geständniß unsrer Liebe nicht etwa der Ueberschwall einer augenblicklichen Leidenschaft gewesen, sondern aus einer tiefen unversiegbaren, nur lange Jahre verschütteten Quelle geflossen sei. Dennoch stand noch Etwas zwischen uns, was uns verhindern wollte, unsrer Liebe junges Glück mit vollen Zügen zu trinken.
Ich dachte schaudernd an den Blick, mit welchem Ellinor mich angesehen – wie einen Irrsinnigen oder Jemand, der sich einen unziemlichen Scherz mit ihr erlaube – als ich ihr sagte, daß ich Tischler sei. Wie würde sie mein Geständniß aufnehmen, daß wiederum mich der Reichthum meiner Mutter mit Schauder erfülle und bei mir der Entschluß fest stehe, lieber wieder Handwerker zu werden, als diesen Reichthum jetzt oder je als mein eigen zu betrachten und zu genießen!
Und hier war es wieder meine Mutter, welche, ohne daß wir ihr unsere Noth geklagt hätten, in unseren Seelen klarer las als wir selbst, und es deßhalb unternehmen konnte, unsere Köpfe in Einklang zu bringen wie unsere Herzen.
Sie begann ihr Werk damit, daß sie sich erst einmal der Liebe Ellinor’s versicherte, was der Liebenswürdigen um so leichter fallen mußte, als die beiden Frauen, welche in dem Charakter ihrer Schönheit und ebenso in ihrem geistigen und gemüthlichen Wesen vielfache Ähnlichkeit hatten, so daß sie sehr wohl für Mutter und Tochter gelten durften, jetzt auch wie Mutter und Tochter zusammen hausten und lebten. Denn Ellinor war, noch während die Verhandlungen zwischen den paktirenden Mächten schwebten, der Einladung meiner Mutter folgend, aus dem Hause der Generalin zu dieser übergesiedelt und hatte damit das Zeichen zu dem auch sonst unvermeidlichen Bruch gegeben. Ellinor war weit entfernt, die Absicht auch nur zu ahnen, in welcher meine Mutter sie so zu einer Vertrauten machte, vor welcher man zuletzt keine Geheimnisse mehr hat. Ich aber sah mit Lust, wie das Band der Freundschaft zwischen ihr und der Mutter sich täglich fester und fester knüpfte, ohne daß dabei meine Herzensschwester leer ausging, sie, die so würdig war, in den Bund aufgenommen zu werden, welcher dadurch für mich erst zu einem vollkommenen wurde und mich vollkommen beglückte.
Ja, es war ein vollkommenes, ein unsagbares Glück für mich, das ich jetzt täglich genießen durfte, diese drei Frauen einträchtiglich bei einander zu sehen, von denen jede eine höchste Liebenswürdigkeit, ich möchte sagen: die Vollendung ihres Geschlechts in ihrer Weise, verkörperte, und die dabei keine leiseste Spur von Eifersucht gegen einander im Busen hegten, sondern von denen eine die Vorzüge der anderen neidlos anerkannte und enthusiastisch pries. Und wenn mir dennoch meine Mutter in diesem harmlosen Wettstreit der Schönheit und Anmuth den Sieg davonzutragen schien, so mochte das ja auf Rechnung einer Liebe kommen, die zu lange schmerzlich gedarbt hatte, um sich jetzt im Ueberschwang der Erfüllung nicht zu berauschen. Aber auch Graf Pahlen, von dem ich wohl annehmen durfte, daß er die Frauen viel besser kannte als ich, und der doch auch gewiß Adele mit der ganzen Gluth seiner scheinbar so kühlen, im Grunde [655] höchst leidenschaftlichen Seele liebte, gestand mir unter vier Augen, er habe meiner Mutter Gleichen in seinem Leben nicht gesehen, und einen überzeugenderen Beweis heilloser Charakter- und Herzensschwäche habe noch kein Mann gegeben, als ihn der Herzog gab in dem traurigen Muth, diesen Engel von seiner Seite zu lassen.
Es konnte nicht ausbleiben, daß jetzt öfter als vorher zwischen mir und dem Grafen die Rede auf den Herzog kam, nachdem meine Mutter den eben so feinfühligen wie klugen und gewandten Mann bezüglich ihres Verhältnisses zu dem letzteren in ihr volles Vertrauen gezogen hatte. Er billigte durchaus ihren Entschluß, dem Herzog auch nicht das scheinbar bedeutungslose Zugeständniß eines Wiedersehens zu machen und, als derselbe in seinem Drängen auch jetzt nicht nachließ, selbst den bisher gepflogenen Briefwechsel abzubrechen. – „Es läge ja scheinbar in meinem und Adele’s Interesse,“ sagte er, „wenn ich Deiner Mutter (wir nannten uns seit einiger Zeit Du) den entgegengesetzten Rath ertheilte. In der Freude des Triumphes einer Aussöhnung mit Deiner Mutter und Dir würde der Herzog auch mir und Adele unsere Sünden vergeben, und der Himmel weiß, wie gern ich Adele wieder in ihren vielgeliebten immergrünen Wäldern sähe! Aber, ganz abgesehen von Dir und mir, die wir dann nur das Ehrenkleid unserer Ueberzeugungen ablegen könnten, um dafür die ,Livrée des ewigen Lügners‘ zu tragen – ich bitte um Entschuldigung, wenn ich wieder einmal falsch citire – das Ganze wäre ja doch von keinem Bestand. Ja, wäre noch etwas für unsere Zwecke bei ihm zu holen! Ein Fürst, und herrschte er über ein paar Quadratmeilen, der sich auch nur in der Theorie – mehr verlange ich von einem Fürsten nicht – zu unseren Grundsätzen bekennte, wäre ein Gewinn, für den ich ein namhaftes Opfer auf Kosten meines persönlichen Wohlbehagens bringen würde. Daran ist bei ihm nicht zu denken. Es ist auf ihn in der Politik so wenig Verlaß wie in der Liebe. Ich habe es 1866 erfahren. Es lag nicht in unserem Interesse – obgleich wir der Welt ganz andere Ansichten vorspiegelten – Preußen so schnell zu seinem Ziele kommen zu lassen. Wir agitirten, unter uns gestanden, ein wenig in diesem Sinne, und ich war für Süddeutschland mit einer besonderen Mission betraut, der selbstverständlich ein harmloses privates Mäntelchen umgehängt war. Ich fand bei ihm die wärmste Aufnahme, das offenste Verständniß für ,unsere Ideen‘. Er hatte mir die bündigsten Versicherungen gemacht, sogar verbrieft – ich habe die Papiere noch und könnte, wenn ich wollte, ihn dadurch in die ärgste Verlegenheit bringen – als das rasche Vorgehen Preußens ihm auf die Nägel brannte und – aber weßhalb die alten Geschichten aufrühren! Nein, Deine Mutter hat Recht: der ritzt sich nur die Finger blutig, der Feigen pflücken will von dem Dornstrauch.“
Pahlen und Adele waren jetzt fast allabendlich Gäste im Salon meiner Mutter, welche noch immer im Hôtel wohnte. Auch der Oberst und Adalbert kamen, wenngleich seltener und, zu, meinem Kummer, nicht ohne den Reiz und den Zauber unsrer kleinen Gesellschaft in etwas abzuschwächen. Zwischen Ellinor und ihrem Vater wollte sich noch immer kein behagliches Verhältniß gestalten. Ellinor empfand, daß der Vater nicht sowohl an ihrer Liebe zu mir zweifelte, als an ihrer Kraft, dieser Liebe durch jedes widrige Geschick treu zu bleiben; und sie fühlte sich durch diesen Zweifel tief gekränkt, in welchem sie nur eine Fortsetzung des alten Mißtrauens sah, mit dem er sie stets behandelt und eben dadurch den Keim zu der späteren Entfremdung zwischen ihnen gelegt habe. – „Aber ich werde ihm beweisen,“ rief sie, „daß man ein Weltkind sein kann, wie es, Gott sei Dank, auch Deine köstliche Schwester ist, und doch keine Wetterfahne zu sein braucht, für die er mich zu halten scheint – er und Dein Freund Adalbert, in dessen Gegenwart ich das Frösteln nie verlernen werde.“
Ich konnte ihr das Letztere wenigstens nachfühlen. Hatte ich doch dieselbe Empfindung in der ersten Zeit meiner Freundschaft mit dem verschlossenen Menschen oft genug selbst gehabt; und mußte ich doch immer an die seltenen Augenblicke denken, in denen er mir sein Herz geöffnet hatte, um nicht auch jetzt noch an ihm irre zu werden und, wie Ellinor, zu glauben, daß er für jedes Gefühl der Liebe, ja jede Regung, wie sie sonst die Herzen anderer Menschen durchzittert, unempfänglich sei. Merkwürdigerweise war es gerade meine Mutter, die, wenn in seiner Abwesenheit Aeußerungen der Art, nicht nur von Ellinor, sondern auch von Adele, selbst von Graf Pahlen über ihn gemacht wurden, stets auf das Entschiedenste, ja Leidenschaftlichste seine Partei nahm.
Von der Ansicht ausgehend, daß alle meine Freunde auch ihre Freunde werden müßten, hatte meine Mutter keine Zeit verloren, Frau von Werin und Maria aufzusuchen, die nicht minder wie Adalbert, ja in fast noch höherem Grade ihre Bewunderung erregten, wohl, weil sie sich denn doch in das Leben und Wirken der Frauen besser hineindenken konnte, als in das des Mannes. Sie nannte das Erziehungswerk der Frau von Werin ein ebenso kühn-geniales, wie bei der Lage der socialen Dinge nothwendiges Vorgehen, von dem sie nur bedauere, daß es nicht auf amerikanischem, sondern auf europäischem Boden geschehe, dessen Unfruchtbarkeit der Entwicklung solcher Zukunftskeime allzu ungünstig sei. Aber auch nur, wie die geniale Frau es thue, auf den Rettungsweg aus dem socialen Labyrinth hinzuweisen, sei ein unendliches Verdienst. Auch zweifle sie nicht, daß sich Frauen in Deutschland finden würden, das Angefangene fortzusetzen, vielleicht mit größeren Mitteln in größerem Maßstabe, und so dazu beizutragen, die Zukunft vorzubereiten. Denn diese werde doch zur Massenerziehung greifen müssen, nicht zu der heutigen, wo das moralische und materielle Elend in den Hütten der Armuth immer wieder einreiße, was in den öffentlichen Lehranstalten so mühsam aufgebaut sei, sondern zu einer, die das junge Menschenkind mit Leib und Seele nehme, es hege, pflege, kräftige und nicht eher aus ihrer Zucht entlasse, als bis es in die Schar der Erwachsenen eingereiht werden könne, welche, bereits das geprüfte Ergebniß eben derselben Erziehung, das neue Material für ihre großen Zwecke zu verwerthen ebenso willig wie befähigt sei.
Mir war kein Zweifel, daß, wenn die Mutter mit Geist und Feuer solche Gedanken klar legte, sie es ganz besonders auf Ellinor abgesehen hatte, für welche dies dann allerdings höchst befremdliche, verwunderliche Dinge waren, die sie indeß doch aus dem Munde der Letzteren besser hörte, als aus dem meinen. Denn so schien Alles absichtslos gesagt zu sein, was bei mir absichtsvoll geklungen und deßhalb meine schöne Zuhörerin nur verstimmt haben würde. Wenn sie dennoch bei den Reden der Mutter ihre großen Augen oft noch größer machte, so ängstigte mich das nicht mehr. Hatte doch die kühne Frau die Leistungsfähigkeit ihrer Schülerin mit dem besten Erfolge auf eine andere nicht minder schwierige Probe gestellt, indem sie dieselbe in die Häuslichkeit meines Bruders Otto einführte und so mit kleinbürgerlichen Verhältnissen bekannt machte.
Wie deutlich ich mich des Abends erinnere, als ich die Geliebte sah, nachdem sie am Vormittage zum ersten Male mit der Mutter dort hinten in dem äußersten Osten Berlins, wohin sie noch nie die aristokratischen Füße gesetzt, die „Bautischlerei von Otto Lorenz“ besucht hatte! Unsere Gesellschaft war besonders vollzählig und in besonders heiterer Laune, Dank der Mutter, die, wie immer, der Mittelpunkt war, von dem Licht und Wärme ausging, und die heute von Geist, Liebenswürdigkeit und Schönheit geradezu strahlte. Das geliebte Mädchen saß stumm da, mit niedergeschlagenen Augen, die sie nur manchmal zu mir erhob mit einem Ausdruck, über welchen ich hätte lächeln können, wenn er nicht so rührend hilflos gewesen wäre mit seiner bangen Frage: Das war Dein Heim, als wir uns bei Maria trafen? Von diesen Menschen kamst Du? Zu diesen Menschen kehrtest Du zurück? Mit ihnen hast Du so lange dieselbe Luft geathmet, gearbeitet, gesorgt, Leid und Freud getheilt? Das war kein Scherz, wie ich wähnte, war furchtbar ernste, grauenhaft prosaische, ganz ordinäre – war Deine Wirklichkeit? Und in dieser gedachtest Du zu bleiben, wärest Du geblieben, hätte der Zufall es nicht anders gewollt? Und ich bin gar nicht sicher, ob Du nicht unter Umständen wieder in sie zurück willst, um mich dahin mitzunehmen? Mich dahin! großer Gott!
Das las ich aus den starren, angstvoll fragend blickenden Augen.
Und dann winkten mir diese in das stille Nebenzimmer, wo die leidenschaftlich Aufgeregte mir um den Hals fiel und, mich an sich pressend, sich an mich schmiegend, zwischen Lachen und Weinen murmelte: „Es ist Alles ganz gleich. Mag es kommen, wie es will: Du läßt nicht von mir, ich nicht von Dir, Du ganz unsäglich geliebter, verrückter Mensch!“
[656] Wie ich mich des Abends erinnere!
Nur dieses Abends? Als ob nicht alle in meiner Erinnerung ständen, leuchtend in einem zaubrischen Glanz, den sie einer Sonne verdanken, die untergegangen ist, wie die, welche durch die Laubengänge des Paradieses zitterte, und nie, wie oft auch noch aus Abend und Morgen ein neuer Tag werden mag, in so himmlischer Klarheit wieder aufgehen kann!
Und schon sollten jenem Abend nicht mehr viele seines Gleichen folgen.
Es mochte eine Woche seitdem vergangen sein, als ich meine Mutter allein fand und in einer ungewöhnlichen Erregung.
Sie war an dem Vormittage, diesmal ohne Ellinor, wieder bei Otto gewesen und hatte dort meinen Stiefbruder August vorgefunden. Daß August von England seine Schritte nach Deutschland lenken würde, wußte sie von mir, und so hatte sie das Wiedersehen nicht eben überrascht. Auch dachte sie zu groß, um dem Wilden den Haß nachzutragen, welchen er von frühester Jugend an, bis er das väterliche Haus verließ, gegen die Stiefmutter an den Tag gelegt; und er hatte heute keine Veranlassung gegeben, der alten Zeit zu gedenken, sondern war, wenn auch schweigsam und zurückhaltend, so doch höflich, ja zuvorkommend gewesen, völlig wie ein Mann, sagte die Mutter, der die Welt kennt und weiß, was er sich und Anderen schuldig ist. Aber er hatte auch die Absicht ausgesprochen, bei Otto zu bleiben und in dessen Geschäft eintreten zu wollen, und das erschien meiner Mutter äußerst bedenklich. Mit vollem Recht. Jetzt ging bei Otto Alles vortrefflich. Er stöhnte und klagte, wie immer, – aus Gewohnheit; innerlich war er zufrieden und glücklich, soweit es ein Mensch seiner Art überhaupt sein kann. Damit würde es nun wieder vorbei sein. In der Nähe eines Pulverfasses lebt es sich nicht behaglich, besonders mit Otto’s ewig zitternden Nerven. Und daß August sein altes anarchistisches Handwerk auch als Tischler fortsetzen werde, daran war ja nicht zu zweifeln.
Das lautete schlimm; schlimmer, was die Mutter weiter berichtete.
Während sie noch mit August gesprochen hatte, war Weißfisch erschienen, um den lieben Freund bei seiner Ankunft zu bewillkommnen. Meine Mutter hatte den Eindruck gehabt, als ob der verhaßte Mensch auch von Otto als Jemand, der in dem Hause aus- und eingehe, empfangen worden sei. Sie selbst war von ihm mit großer Höflichkeit begrüßt und um die Erlaubniß gebeten worden, ihr „in einer wichtigen Angelegenheit aufwarten zu dürfen“.
„Ich überwand meinen Abscheu,“ fuhr meine Mutter erregt fort, „und sagte, daß ich ihn empfangen wolle. Vor einer Stunde ist er hier gewesen. Ich ließ ihn gar nicht erst zu Worte kommen, sondern sagte ihm, daß ich, wenn er Dich und mich nicht in Ruhe lasse, uns vor ihm Ruhe verschaffen würde. Es war ein gräuliches Lächeln, was der Mensch da lächelte. Und nun will das Unglück, daß in demselben Augenblicke Adele, die drüben bei Ellinor war und jetzt noch ist, da zur Thür hereinkommt. Sie zuckte freilich sofort zurück, als sie sah, wer hier war, aber es war zu spät. Der Mensch hatte sie erkannt. Er lächelte womöglich noch gräulicher und sagte: ,Sie behandeln mich gerade so schlecht wie Ihr Herr Sohn, obgleich ich es doch nur gut mit Ihnen Beiden meine. Wäre es nicht der Fall, so könnte ich mich jetzt schlimm an Ihnen rächen und an der Dame, die dort eben vor mir geflohen ist, als wäre ich ein wildes Thier, und an dem Herrn Grafen, der also zweifelsohne auch in Berlin ist, und dessen Wohnung auszukundschaften mir nun weiter keine Schwierigkeiten machen dürfte. Es wäre ein schöner Fang für die Polizei, mit der mir die gnädige Frau eben gedroht hat! Sie würde unserer Hoheit gern den Gefallen thun, ihm den unbequemen Herrn Schwiegersohn abzunehmen und unter Schloß und Riegel zu bringen. Denn Hoheit ist wüthend, daß Sie alle Verhandlungen mit ihm abgebrochen, ja es abgelehnt haben, Herrn von Renten nochmals zu empfangen, trotzdem derselbe mit noch günstigeren Bedingungen kam, als das erste Mal. Ich rathe Ihnen zum Guten, gnädige Frau. Es ist noch nicht zu spät; und ein so verächtlicher Mensch ich Ihnen erscheine, wenn Sie sich mir anvertrauen wollen – und darum zu bitten, bin ich eben gekommen – ich könnte Ihre Sache besser führen als Herr von Renten. Also besinnen Sie sich, sonst – ich will Ihnen nicht drohen – ich will auch die Zusammenkünfte der Herrschaften hier nicht stören – ich sage nur: besinnen Sie sich! Meine Adresse kann Ihr Herr Sohn jeden Augenblick durch den August erfahren. Ich gebe Ihnen von heute Abend noch acht Tage Zeit und hoffe mit Bestimmtheit, daß Sie sich bis dahin besonnen haben.‘ – Damit ging er.“
Ich war über diese Nachrichten sehr bestürzt. Daß August sich auf die Dauer bei Otto einquartiert – jedenfalls unter falschem Namen und mit falschen Papieren – erschien mir aufs Aeußerste bedenklich; und ebenso beklagte ich die Sorglosigkeit, mit welcher Pahlen und Adele in letzter Zeit die frühere Zurückgezogenheit aufgegeben und nun schließlich den gefährlichen Menschen, der überall herumspionirte, auf ihre Spur gebracht hatten. Was war nun zu thun?
Wir beriethen das gemeinschaftlich mit dem Grafen und Adalbert, die inzwischen gekommen waren. Zu meinem Erstaunen nahm Pahlen die Sache leicht. Daß die Polizei früher oder später seinen Aufenthalt entdecken würde, habe er von vornherein angenommen; er habe indessen Grund, zu glauben, man werde ihn unbehelligt lassen. Seine Quelle sei sogar sehr sicher, nämlich: seine eigene Gesandtschaft in Person eines der Attachés, der sein geschworener Freund sei, und mit dem er ausführlich die Angelegenheit besprochen habe. Der Attaché sei der Ansicht, daß ihm von Seiten Rußlands keine Gefahr drohe. Seine Verbannung nach Sibirien habe in den höchsten Petersburger Adelskreisen und in der unmittelbarsten Umgebung des Zaren den schwersten Anstoß erregt; und der Zar selbst, als ihm die Nachricht von der gelungenen Flucht hinterbracht wurde, geäußert: Gott sei Dank, daß ich ihn los bin! Man werde also keineswegs seine Auslieferung verlangen, und die hiesige Polizei sich damit begnügen, ihn eben nur zu überwachen, im Uebrigen aber ihn unbehelligt lassen, so lange er nichts gegen Deutschland oder den preußischen Staat unternehme.
„Was den Weißfisch betrifft,“ fuhr er fort, „so rathe ich der gnädigen Frau dringend, dem Erpressungsversuch – denn weiter ist es nichts – keine Folge zu geben: es würde sicher eine Schraube ohne Ende sein; und bitte dringend, daß man sich um meinetwillen nicht in noch dazu ganz unnöthige Kosten stürzt. Wie gesagt: ich fürchte den Mann nicht. Um so weniger, als ich jetzt annehmen muß, daß er, wie moralisch verlumpt er auch sonst sein mag, doch so weit ein guter Socialdemokrat ist – nach der Versicherung Deines Stiefbruders August, lieber Lothar. Ich habe die Bekanntschaft dieses Erzrevolutionärs gemacht. Er war noch eben bei mir, um mir Grüße von den Freunden in London zu bringen und Nachrichten über den dortigen Stand unsrer Angelegenheiten. Auf den Weißfisch, den er heute Morgen mit Ihnen, gnädige Frau, zusammengesehen, brachte er selbst die Rede. August ist ein sehr kluger Mensch und kennt seine Leute. Weißfisch gilt in der Partei für ein mauvais sujet: aber er hat sich wiederholt so nützlich gemacht, daß man ihn nicht fallen lassen will. Wir müssen eben leider auch mit solchen Subjekten arbeiten und können es mit ziemlicher Sicherheit, da sie recht gut wissen, daß einem eklatanten Verrath eine eklatante Rache auf dem Fuße folgen würde. Wie denken Sie über die Sache, Werin?“
Adalbert war der Ansicht des Grafen. Er kenne Weißfisch nicht persönlich, aber habe viel von ihm gehört: ein ausbündiger Schuft, aber ein Schlaukopf ersten Ranges und ebenso großer Feigling, der schon aus reiner Feigheit niemals wagen würde, zum Verräther zu werden.
„Und nun denke ich,“ sagte meine Mutter; „wir lassen die Sache fallen, die uns schon länger beschäftigt hat, als sie werth ist.“
Wir ließen die Sache fallen und kamen auch in den folgenden Tagen nicht wieder auf dieselbe zurück. Es war eine Reihe von Ereignissen eingetreten in raschester Folge, wie Blitze, welche an heißem Sommertage aus einer mit Elektricität überladenen Wolke fahren, und unter denen auch leider mehr als ein Schlag war, der zündend in den Prachtbau meines Glückes fiel und denselben so schnell zerstören zu wollen schien, wie er entstanden war.
[657]
Bei „Emil Israel und Frau Lili, geb. Löbinska“ war Gesellschaft zur Feier der Aufführung des „Thomas Münzer. Trauerspiel in fünf Akten von Lothar Lorenz“ auf dem X.-Theater. Daß die Premiere eine erfolgreiche sein würde, dafür hatte sich mein Freund Lamarque verbürgt; daß die Gesellschaft nur aus den mitwirkenden Künstlern, dem Verfasser, seiner Mutter und den Jsrael’schen Familiengliedern bestehen sollte, hatte mir Frau Lili, als Bedingung, unter welcher wir die Einladung annehmen könnten, in die Hand versprochen. Lamarque hatte sein Wort eingelöst. Die Aufführung war nicht nur bei guter Besetzung des überaus großen Hauses glatt vor sich gegangen, sondern, nachdem das Publikum sich erst an das Fremdartige des Stoffes gewöhnt, von Akt zu Akt mit immer steigendem Beifall begleitet, am Schluß durch Hervorruf des Autors und sämmtlicher Darsteller geehrt worden. Nicht ganz so ernsthaft hatte es Frau Lili mit ihrem Versprechen genommen: das bewies die endlose Schar galonnirter Diener, welche die von Licht strahlende Marmortreppe zu beiden Seiten hinauf standen und vor den an ihnen vorüberschreitenden Gästen pagodenartige Verbeugungen machten; das bewies das Gewimmel dieser Gäste, mit dem wir, als wir eine Stunde nach Beendigung des Theaters eintrafen, die goldgleißenden Räume bereits erfüllt fanden.
„Es ist wahrlich nicht meine Schuld, theure Frau,“ versicherte Frau Lili abwechselnd in französischer, englischer und deutscher Sprache meiner Mutter, die sie an der Eingangsthür empfangen hatte; „ich versichere Sie: Jedermann bemühte sich, den Helden des Tages zu sehen. Sie kamen zu Dutzenden und quälten mich mit Bitten um Einladungen. Ich Aermste! Was sollte ich thun?“ Zu mir aber sagte sie, mich auf die Seite ziehend: „Zürnen Sie mir nicht! Emil hat es so gewollt – zu Ehren Ihrer reizenden, Ihrer entzückenden Mama. Großer Gott, wie ist sie schön! – Und nun – lassen Sie mich Ihnen noch die Hand drücken für Ihre Komödie! Ich bin entzückt, ich schwärme für dieselbe wie alle Welt.“
Meine Mutter hatte zu diesen Ueberschwänglichkeiten gelächelt; ich that es ebenfalls: wir waren beide in der Stimmung, zu Allem gute Miene zu machen, nachdem uns das Glück heute Abend ein so unverhofft freundliches Gesicht gezeigt.
Denn ich habe von den Sorgen und Aengsten nicht sprechen mögen, welche ich während der Tage vor der Aufführung und nun gar heute während derselben empfunden. – Für mich hatte das Göttergeschenk – denn als solches betrachtete ich den Erfolg – eine tief ernste Bedeutung. Es war mir ein Pfand, daß mich die Himmlischen lösen wollten aus einer Nothlage, von der ich ebenfalls bis jetzt nur andeutungsweise habe sprechen mögen, so grausam ich auch diese ganze Zeit durch sie gelitten hatte: durch die scheinbare Aussichtslosigkeit meines brennenden Wunsches, mir einen eigenen Herd gründen zu können, ohne abhängig zu werden oder zu bleiben von dem Reichthum meiner Mutter.
Sah meine Mutter diesen dunklen Flecken nicht in der jetzigen Sonne meines Glückes? wollte sie ihn nicht sehen? Ich konnte es nicht herausbringen, denn sie ging jeder Erörterung der kritischen Frage geflissentlich aus dem Wege. Auch heute Abend hatte sie es gethan, als wir mit Ellinor aus dem Theater nach dem Hôtel zurückgekehrt waren und ich in ihrer und Ellinor’s Gegenwart Zukunftspläne für uns beide baute auf dem Fundament meiner schriftstellerischen Thätigkeit, zu welchem der Erfolg heute Abend den sicheren Grund- und Eckstein geliefert haben sollte. Sie hatte dazu nur still gelächelt und Ellinor, die zu Hause blieb, beim Weggehen ein paar Worte ins Ohr geflüstert, über die wiederum Ellinor gelächelt hatte. Es hatte mich ein wenig verstimmt, und wir waren auf der Hinfahrt zur Gesellschaft schweigsam gewesen, bis die Mutter kurz vor dem Aussteigen sagte: „Es wird sich das Alles finden, Lothar. Ich bin nicht so thöricht, Dich nach meiner Façon glücklich machen zu wollen, wobei ja auch nichts herauskäme. Du mußt es und kannst es nur nach der Deinen werden, das versteht sich; aber vielleicht sind beide Façons nicht so verschieden, wie Du glaubst.“
Das tröstliche Wort hatte mir den gestörten Seelenfrieden wiedergegeben, und so durfte denn auch ich mit heiterer Seele Frau Lili’s zweifellos erlogene Entschuldigungsgründe gelten lassen und Emil, der nun herangetreten war, uns zu begrüßen und mir seine Glückwünsche darzubringen, die fleischigen, heute in neue Glacés gezwängten Hände freundschaftlich drücken.
„Du bist doch ein glücklicher Mensch,“ sagte er, „aber ich gönne es Dir von Herzen.“
Das klang noch gerade so wie damals, wenn ich ein gutes Extemporale geschrieben hatte und er eines, das von Fehlern wimmelte. Ich sagte es ihm lachend; er erwiderte ernsthaft: „Es ist auch so. Ich wollte manchmal, ich wäre wieder der arme Junge, für den ich mich damals hielt, und wir spielten wieder auf dem Wall über Eurem Garten. Das waren glückliche Zeiten!“
„Bis auf die Piraten, Emil!“
Er lächelte noch immer nicht, und sein Blick glitt durch die Gläser des Kneifers, der jetzt auf seiner langen Nase schwankte, seitwärts auf seine Frau, welche in einiger Entfernung von einer Gruppe Herren umgeben stand, unter denen ich auch Mr. Fred Simmen entdeckte. Es schoß mir durch die Seele, ob er nicht etwa diesen englischen Vetter noch mehr fürchtete als die nordischen Piraten weiland, und mit mehr Grund; aber es blieb mir keine Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen, denn wir waren alsbald von einem Schwarm Menschen umgeben, Herren und Damen, die sich an den Gastgeber herandrängten, bittend, mich mit ihnen bekannt zu machen. Die einen waren selbst im Theater gewesen, die anderen hatten bereits „von dem großen Erfolge gehört“. Sie waren einstimmig der Ansicht, daß es der größte der ganzen Saison sei, und daß man von diesem Tage eine neue Aera datiren müsse, welche ja denn auch der mit jedem Jahre mehr verflachenden dramatischen Kunst bitter noth gethan habe. Das wollte ein Jeder empfunden, ein Jeder tausendmal gesagt und sich nach dem Retter umgeschaut haben, den man nun in mir freudig begrüßte. Es sei ein Pathos in meinem Stück, wie in den besten Scenen der „Räuber“, nur daß es auch wieder der naiven Einfachheit und treuherzigen Biederkeit nicht ermangele, die nicht an Schiller, sondern an Goethe mahne – an den Goethe des „Götz von Berlichingen“, ohne eine Spur sklavischer Nachahmung selbstverständlich weder nach der einen, noch nach der anderen Seite. Im Gegentheil! Wenn je in dem letzten Jahrzehnt – und länger, viel länger, man dürfe getrost sagen: seit Kleist! ein originelles Stück geschrieben sei, so sei es dies – ein Werk, das nicht wieder vom Repertoire verschwinden werde, so lange es noch eine deutsche Schaubühne gebe!
Mit solchen tönenden Reden wurde ich von allen Seiten überschüttet, daß ich mir hätte an die Stirn fassen mögen, ob denn da wirklich ein unsterblicher Lorbeerkranz throne, oder ob mir nicht ein neckischer Zauber statt des eigenen einen Eselskopf auf die Schultern gesetzt habe, und man mich ungestraft verhöhnen zu können glaube. Aber die Herrschaften blieben dabei ganz ernsthaft; besonders die Frauen überboten sich in entzücktem Eifer.
Dennoch begrüßte ich Lamarque, dessen schwarze Augen jetzt durch das Gedränge funkelten, als meinen Befreier aus schwerer Bedrängniß. Er, das wußte ich, war gegen solche Pfeile und Schleudern rücksichtsloser Lobhudelei ganz anders gewappnet als ich. Und war denn wirklich etwas Löbliches an der Sache, so verdiente er davon sein gemessenes Theil: er, der in Wahrheit das unbekannte, von dem Autor selbst aufgegebene Stück auf die Bühne gebracht, es meisterhaft inscenirt und in der Titelrolle desselben sich selber übertroffen hatte. Die Meute der Lober hatte den genialen Mann denn auch kaum erspäht, als sie, von mir ablassend, heißhungrig über die neue Beute herfiel. Ich aber, der ich mich plötzlich unbeachtet sah, schlich mich gern aus dem überlauten Kreise, um sofort von einer jungen, sehr schönen, sehr elegant gekleideten Dame angehalten zu werden, die ich vorhin an Lamarque’s Arm hatte eintreten sehen und in der ich jetzt Christine Hopp kaum wieder erkannte. Seit jenem Abend auf der Straße waren wir uns nicht mehr begegnet. Sie hatte anfänglich in meinem Stücke ihr erstes Debüt machen sollen; dann hatte Lamarque den Plan wieder fallen lassen. Meine Heldin müsse durchaus von einer ganz fertigen Schauspielerin gespielt werden, nicht von einer Anfängerin, und wäre sie noch so talentvoll.
„Warum hat er mir dann nicht eine kleinere Rolle gegeben?“ sagte Christine, indem wir nun die Angelegenheit durchsprachen. „Ich hätte so gern in dem Stücke mitgespielt! Aber ich glaube, ich komme bei ihm nie zum Spielen.“
[659] „Wie das?“ fragte ich erstaunt.
Das schöne Mädchen schürzte die vollen Lippen.
„Er ist eifersüchtig,“ sagte sie kurz.
„Ah!“
„Ich habe ihm kein Recht dazu gegeben,“ fuhr sie eifrig fort; „aber er ist es. Er will nicht, daß ich auf die Bühne komme, damit andere Leute mich nicht auch sehen. Als ob ich nicht Schauspielerin werden will, daß sie mich sehen! Er ist toll!“
„Er liebt Dich, Christine! das ist doch nicht toll. Ich kenne mehr als einen Schauspieler, die ihre Frau um keinen Preis spielen lassen.“
„Ich bin nicht seine Frau. Ich werde es nie werden. Ich liebe ihn nicht mit seinen schwarzen Judenaugen.“
Sie hatte das mit einer Leidenschaft gesagt, die ihre blauen Augen blitzen machte, daß sie mich an ein anderes Paar blauer Augen erinnerten, die allerdings nichts Jüdisches hatten. So war die alte völlig hoffnungslose Liebe doch noch mächtig in ihr und zerstörte ihr ein Glück, das manches andere Mädchen unbedenklich ergriffen hätte!
„Lamarque ist ein großer Künstler,“ sagte ich „und ein braver Mensch.“
„Wie man das nehmen will,“ erwiderte sie spöttisch. „Er ist eben ein Jude.“
Dagegen war denn freilich nicht aufzukommen. Auch wurde ich einer Antwort überhoben, indem jetzt zwei von den Herren, welche im Stücke mitgewirkt hatten, herantraten, um Christine zu begrüßen und mir zu sagen, daß beim Souper ein „Künstlertisch“ reservirt sei, an welchem außer uns nur noch die Frau vom Hause mit ihrem Vetter, Herrn Simmen, einen Platz beanspruchen zu dürfen bitte. Ich konnte mir das Glück eines Souper, vermuthlich an der Seite der vielsprachigen Dame, nicht als ein Ungetrübtes vorstellen und beklagte im Stillen, daß es mir nicht vergönnt sei, mit meiner Mutter aufzubrechen, die mich jetzt zu sich winkte, mir zu sagen, daß sie sich „auf französisch“ empfehlen werde. „Ellinor erwartet mich,“ fügte sie hinzu. „Ich sehe Dir an, Du gingst gern mit, aber noblesse oblige. Also adieu, mein Junge! Unter uns: ich habe schon bessere Gesellschaften gesehen.“
Ich hatte mich, nachdem ich mich von Christine getrennt, aus dem Gewoge in ein stilleres Nebengemach gerettet, wo ich die herrlichen Bilder, welche dort hingen, in Muße mit Entzücken betrachtete, als ich das Rauschen eines seidenen Kleides hörte, welches ich dann auch durch die Blätter einer in der Nähe des Fensters aufgestellten Wand von hohen Blattgewächsen schimmern sah. In demselben Augenblicke vernahm ich auch schon die Stimme der Dame, die in athemloser Hast zu Jemand sagte:
„Wie konntest Du kommen, da Du wußtest, daß ich hier war – und er!“
„Ich wollte Dich wieder einmal sehen – das ist doch Grund genug.“
„Ich bitte Dich himmelhoch – geh’! sofort! Es giebt ein Unglück, wenn Du bleibst!“
„Für wen – für Dich?“
„Ich weiß es nicht. Was quälst Du mich?“
„Sage nur offen heraus: Du willst den Menschen heirathen!“
„Nein! nie!“
„Dann bleibe ich.“
In das sonst verlassene Zimmer drang ein Schwarm von Gästen, an ihrer Spitze ein Kunstgelehrter, wie es schien, der eine neue Acquisition – ein Bild, vor welchem ich vorhin bewundernd gestanden – den Herrschaften zeigen wollte. Laute Ahs! und Ohs! und „wundervoll!“ und dazwischen die Stimme des Docenten. Ich aber dachte nur der beiden Unglücklichen, Ulrich und Christine, deren kurzes Zwiegespräch ich unfreiwillig genug hatte mit anhören müssen, und mein Entschluß war gefaßt. Mochte denn der neue Spahn aus einem neuen Kerbholz gehauen werden! Ich mußte es darauf ankommen lassen.
Er überragte fast die ganze Gesellschaft um Kopfeslänge, und so hatte ich ihn bald gefunden: in einem Saale, den ich bis jetzt noch nicht betreten, dem Musiksaale, dessen Stuckmarmorwände nur über den Thüren mit Fresken geziert waren, aber jedes anderen Schmuckes ermangelten, wie der parkettirte Fußboden des sonst obligaten Teppichs. Er stand an eine Säule gelehnt mit untergeschlagenen Armen, offenbar wenig des Gesanges achtend, der Frau Lili’s vibrirenden Lippen entströmte und von irgend einem Virtuosen begleitet wurde, während Mister Fred Simmen die Notenblätter umwandte, sondern Christine fixirend, die in einer der letzten Reihen des auf vergoldeten Stühlen sitzenden, zahlreichen, andächtig lauschenden Publikums saß. Ich berührte seinen Ellbogen und winkte ihm schweigend aus dem Saale. Er folgte mir sofort. Wir geriethen wieder in die kleine Galerie, die jetzt von dem Kunstgelehrten und seiner Zuhörerschaft verlassen war. Ich deutete auf die Fensternische hinter den Blattgewächsen und sagte:
„Da habe ich gesessen. Ich mußte Euch hören, ob ich wollte oder nicht. Ihr ließt mir auch keine Zeit, mich bemerklich zu machen. So viel zu meiner Entschuldigung.“
„Wo soll das hinaus?“ fragte er mit rauher Stimme.
„Das wird ganz auf Dich ankommen,“ erwiderte ich. „Du hast mir zwar ganz folgerichtig Deine Freundschaft gekündigt, seitdem Du weißt, daß ich Dein illegitimer Verwandter bin. So laß mich denn Dein einfaches Menschengefühl anrufen, mit dem Du, scheint mir, in Konflikt geräthst, wenn Du ein Verhältniß fortsetzen willst, aus welchem, wie Du mir selbst zugegeben, nur Unglück für das Mädchen erwachsen kann. Ich vermag das weder mit Deinem Wesen zu vereinbaren, wie ich es sonst kannte und liebte, noch mit der Loyalität, zu der Du Dich bekennst und die man, däucht mir, einem hilflos schwachen Geschöpf in erster Linie zu Gute kommen lassen muß.“
„Bist Du zu Ende?“
„Ich wüßte wenigstens nicht, was ich Jemand, der ein Ohr hat zu hören, mehr sagen könnte.“
„Noch eine Vorfrage: kommst Du im Auftrage von Herrn Lamarque?“
„Ich habe keinen Auftrag von Herrn Lamarque, auch würde ich einen solchen nicht annehmen. Es handelt sich für mich in der ganzen Angelegenheit nur um Dich.“
„Ich habe also nur mit Dir zu thun. So erlaube mir denn die Bemerkung, daß Alles, was Du da über eine Sache, die Dich schlechterdings nichts angeht, vorgebracht hast, von A bis Z eine bodenlose – Unverfrorenheit ist.“
„Du wolltest ein derberes Wort gebrauchen. Ich mußte leider darauf gefaßt sein. Es ist auch sicher in Deinen Augen die elendeste Feigheit, daß ich nicht mit einer Herausforderung antworte. Glücklicherweise bin ich ein und das andere Mal in der Lage gewesen, mir zu beweisen, daß ich mein Leben nicht höher achte, als es einem anständigen Menschen erlaubt ist. Ich meine, Du solltest das wissen und mich nicht abfertigen wie den ersten Besten, der Dir über den Weg läuft.“
„Auf deutsch: Du kneifst?“
„Ich kenne den eleganten Ausdruck nicht; wenn er so viel bedeutet als: daß ich mich mit Dir nicht schlagen will, so hast Du allerdings Recht.“
„Dann bleibt mir leider nichts Anderes übrig, als Dir in Gegenwart von ein paar einwandsfreien Zeugen, wie sie da eben zur Thür hereintreten –“
Ich wich nicht zurück, sondern blickte ihm nur fest in die rollenden Augen. Der Löwe konnte den Blick nicht aushalten und etwas wie ein dumpfes Stöhnen brach aus seiner breiten Brust.
„Schlagododro!“ sagte ich leise.
Die rollenden Augen waren starr geworden, und jetzt lag es über ihnen wie ein feuchter Nebel, den er unwillig rasch wegzuwischen suchte.
„Lieber Schlagododro!“ sagte ich noch einmal, seine Hand ergreifend. „Ich danke Dir. Es ist besser so. Es wäre zwischen Dir Riesen und mir Krüppel ja doch nur ein amerikanisches Duell möglich gewesen. Und nun thue mir die Liebe und geh’! Geh’ auf der Stelle! Ich würde Dich begleiten; ich könnte es nicht ohne die größte Unhöflichkeit, da die Gesellschaft ja doch einmal nominell mir zu Ehren gegeben wird.“
„Adieu dann!“ sagte er. „Ich besuche Dich morgen. Es kann auch in der anderen Sache – der Familiensache – nicht so zwischen uns bleiben. Wir müssen da einen Ausweg finden.“
„Und werden ihn finden. Aber jetzt geh’!“
„Also noch einmal adieu! Auf Wiedersehen!“
Er hatte mir – sehr vorsichtig, der liebe Kerl! – die Hand geschüttelt und stürmte davon. Ich blickte ihm nach, das Herz voll Jubel. So hatte ich ihn doch noch nicht verloren, den [660] alten Schlagododro! Das wog fürwahr den fraglichen Theatertriumph auf!
Mit einem Male fiel mir schwer auf die Seele: du hättest ihn hinausbegleiten sollen! Was kann sich nicht noch Alles ereignen, bis er durch die vier oder fünf Säle hindurch ist!
Im Begriff, ihm eilig zu folgen, prallte ich in der Thür auf Emil, daß ihm der Kneifer von der Nase fiel.
„Ah, da bist Du!“
„Suchst Du mich?“
„Ja. Mama schickt eben herunter. Jettchen hat gehört, daß Du hier bist. Ob Du nicht auf einen Augenblick herauf kommen möchtest? In der Nacht um halb ein Uhr! Welch’ sonderbare Einfälle diese Kranken haben! Und es soll in fünf Minuten gegessen werden! Wenn Du also gehen willst –“
„Natürlich will ich.“
„Du mußt durchaus gleich wieder kommen. Lili wäre untröstlich. Du brauchst nicht durch die Säle. Gleich hier durch diese Thür! Eine Verbindungstreppe nach oben, geradezu auf den Flur. Du kommst auf demselben Wege zurück. Aber in fünf Minuten!“
Ich hatte die letzten Worte nur noch eben gehört und war bereits durch die Tapetenthür, die mir Emil geöffnet hatte, auf der schmalen Treppe, welche von oben her ein mattes Licht empfing.
„Grüß’ Jettchen!“ rief Emil hinter mir her, indem er die Thür wieder zudrückte.
Ich suchte noch, oben angelangt, leise auftretend, nach der Thür zum Wohnzimmer, als dieselbe geöffnet wurde und Frau Israel heraushuschte mit einem Lichte in der Hand, dessen Schein grell in ihr Gesicht fiel. Ich erschrak. Es lag ein so hilfloser Jammer auf den welken Zügen, in den rothen verweinten Augen. War ich bereits zu spät gekommen?
Aber die alte Frau schüttelte den Kopf, als ob ich es laut gefragt hätte, und deutete mit der zitternden Hand – sprechen konnte sie nicht – nach der angelehnten Thür, durch die ich ihr nun in das Gemach folgte. Sie stellte das Licht in der Nähe der Thür auf einen kleinen Tisch hinter einen Schirm und wies, abermals stumm, nach dem Lehnstuhl an dem großen runden Tisch in der Mitte, an welchem – ebenfalls hinter einem Schirm – ein Lämpchen brannte: ich erkannte es sofort als dasselbe, welches früher allabendlich der gesammten Familie, wenn sie hier um diesen Tisch herumsaß, geleuchtet hatte. Neben dem Lämpchen ein aufgeschlagenes hebräisches Gebetbuch, dessen Hieroglyphen dem Knaben stets so verwunderlich gewesen waren, ebenso wie die Thatsache, daß es Menschen gebe, die so etwas lesen könnten.
Ich wunderte mich, daß ich das Alles, was doch so gleichgültig war, bemerken und denken konnte, während in dem Stuhl, dessen hohe Lehne sie mir verbarg, eine Todte oder Sterbende lag. Der Uebergang aus dem lärmenden Fest unten und dem Lichterglanz in diese dämmerige Grabesstille war zu plötzlich gewesen. Ich fühlte es wie einen schweren physischen Druck auf der Stirn, und nur das dumpfe Klopfen meines Herzens sagte mir, daß ich nicht einen beängstigenden Traum träume, sondern dies Alles wirklich war und sie mich hatte rufen lassen, um von mir Abschied zu nehmen auf immer.
Sie, die, in ein weißes Gewand gehüllt, nun mein zagendes Auge erblickte – ganz so, wie ich sie zuletzt gesehen: wachsbleich mit fast geschlossenen Augen, die zarten durchsichtigen Hände in dem Schoß gefaltet.
„Ich danke Dir,“ flüsterte sie.
Es war so leise gewesen, mein Ohr hatte es kaum vernehmen können, als wäre es keine irdische Stimme mehr, sondern eine aus dem Reich, in welchem ihr seliger Geist schon schwebte, mitleidsvoll derer denkend, die sich noch da unten abmühten auf der dunklen, leidvollen Erde.
Und dieses Mitleid sprach auch aus dem Blick der göttlich sanften Augen, von denen sich die Lider jetzt langsam hoben, und aus dem seligen Lächeln, welches jetzt die blutlosen Lippen umspielte. Die Finger in den gefalteten Händen hatten sich geregt, als ob ich sie, die keine Kraft mehr hatten, fassen sollte. Ich that es, an der Seite der lieben Heiligen niederknieend, und während ihr Blick nun auf mir ruhte, und das Lächeln auf den Lippen blieb, flüsterte die geisterhafte Stimme:
„Ich wollte nicht von hier scheiden, ohne Dich noch einmal gesehen zu haben. Du bist gern gekommen, ich weiß es. Traure nicht um mich, wenn ich gestorben bin. Ich habe ein glückliches Leben gelebt und sterbe gern. Grüß’ Dein schönes vornehmes Lieb von dem armen Judenmädchen, und daß ich sie segne mit meinem besten Segen. Erbarme Dich meiner guten Mutter, habe Mitleid mit dem unglücklichen Emil. Und nun noch eine Bitte: Du wirst sie mir erfüllen: ich gab Dir einmal – vor Jahren – einen Kuß. Gieb ihn mir jetzt zurück!“
Die Augen hatten sich wieder geschlossen, aber das Lächeln um die Lippen war geblieben. Und in einer Empfindung, für die es keine Worte giebt, drückte ich meinen Mund auf die lächelnden Lippen.
Die Lider mit den langen dunkeln Wimpern hoben sich nicht wieder. Nur das holdselige Lächeln war nicht mit ihr gestorben.
Keines Gedankens mächtig, wie an allen Gliedern gelähmt, starrte ich noch immer in das Gesicht der Todten, als mich ein Wimmern aufschreckte und ich, seitwärts blickend, die alte Frau sah, die sich auf die Dielen geworfen hatte und ihr graues Haar zerraufte. Wohl hatte sie ein Recht zu klagen; aber angesichts der lächelnden Ruhe auf dem stillen Gesicht berührte mich der wilde Jammer der Mutter fürchterlich. Und in die Wimmertöne und die gemurmelten hebräischen Worte tönte dumpf das Geräusch des Festes unten und jetzt deutlicher die vibrirende Stimme der Frau Lili. Ein Schauder packte mich und der zornige Wunsch, ich könnte den frevlen Lärm zu einer jähen Ruhe bringen.
Die Thür wurde geöffnet. Ich glaubte, es sei Emil. Es war ein mir fremder Herr, ein Arzt, nach welchem die Mutter geschickt haben mochte, und der nun zu spät gekommen war. Eine alte Magd hatte ihn begleitet, die neben der jammernden Herrin sich auf den Boden warf, in die hebräischen Gebete einstimmend. Ich sah, daß ich vor der Hand hier nichts weiter nützen konnte, und sagte es dem Arzt – einem theilnahmsvollen und offenbar der Familie längst befreundeten alten jüdischen Herrn – und daß ich es über mich nehmen wollte, Emil zu benachrichtigen. Er war damit einverstanden, sagte auch, daß er vorläufig hier bleiben werde. Ich wagte nicht, die Todte noch einmal anzusehen, und verließ die Wohnung, nicht auf dem Wege, den ich gekommen und der mich mitten in die Gesellschaft geführt hätte. Ich wollte Emil herausrufen lassen, was nur von dem Hauptflur aus möglich war.
So ging ich die große Treppe hinab bis in den Vorraum des ersten Stockes, in welchem mir ein junger Herr begegnete, den ich in Emil’s Komptoir gesehen zu haben mich erinnerte. Er war jetzt im Gesellschaftsanzug und kam aus den Gesellschaftsräumen; aber er hatte eine verstörte ängstliche Miene, so daß ich glaubte, man habe bereits, ich konnte nur freilich nicht denken wie, Jettchen’s Tod hier unten erfahren. Ich fragte deßhalb in meiner Verwirrung, ob man es schon wisse? Der junge Mann ahnte offenbar nicht, wovon ich sprach, denn er sagte, jetzt völlig erschrocken: „Mein Gott, wie können Sie – ich sollte Herrn Löbinsky rufen; ich kann ihn nicht finden, habe Herrn Samuelson gesagt, er soll ihn suchen. Muß wieder zu Herrn Israel –“
„Wo ist Herr Israel?“
„Unten im Komptoir.“
Ich machte eine Bewegung; der junge Mann hielt mich fest: „Sie können ihn jetzt nicht sprechen!“
„Ich muß ihn sprechen. Gehen Sie immer voraus und sagen Sie es ihm. Ich will mir nur noch eben meine Sachen geben lassen.“
Der junge Mann wagte keinen Widerspruch; er eilte in großen Sprüngen die Treppe hinab; ich folgte ihm gleich darauf, verwundert, was dies zu bedeuten habe, in dem seltsam-sicheren Vorgefühl, daß es nichts Gutes sei; daß der heilige Mund, der sich eben für immer geschlossen, ein Prophetenmund gewesen, und daß ich den „unglücklichen Emil“ noch über etwas Anderes, als über ihren Tod zu trösten haben würde.
[661]
Aus den Schlössern König Ludwig’s II.
Das eigentliche Schloß Linderhof liegt vollständig versteckt in tiefer Waldeinsamkeit, auf einer Bergwiese, welche sich zu den Abhängen der Klammspitze und des Hennenkamms emporzieht. Von der Straße, an welcher sich nur ein Försterhaus befindet, ist das Schloß durch ein Wäldchen und durch einen Hügelrücken ganz verdeckt. Man durchwandert dieses Wäldchen und erreicht ein eisernes Gitterthor, hinter welchem der Schloßpark sich erschließt und gleich darauf auch das Schloß selbst sichtbar wird. Der Bau, im Barockstil ausgeführt, ist nur von mäßigem Umfange und macht an sich einen ziemlich bescheidenen Eindruck, welcher durch die großartige Gebirgsumwallung noch bedeutend abgeschwächt wird (vergl. Illustration Seite 633). Er besteht aus zwei Geschossen, und die Façade zählt bloß sechs Fenster. Dafür hat diese drei Eingänge mit meisterhaft ausgeführten schmiedeeisernen und reich vergoldeten Gitterthoren und über denselben einen reich ornamentirten, von Steinriesen getragenen Balkon. Das Treppenhaus macht gleichfalls nur einen bescheidenen Eindruck; man gelangt in dasselbe durch ein Vestibül mit Marmorsäulen und Marmorpflaster, in dessen Mitte die Bronzestatue Ludwig’s XIV. steht. Das Treppenhaus zeigt Wände von gelbem Trientiner Marmor und Stufen aus Carrarischem Marmor, mit reichem vergoldeten Geländer. Auf einem Marmorsockel steht hier eine kostbare Sevresvase, welche einst Kaiser Napoleon III. dem Könige geschenkt hatte.
In den Parterreräumen befinden sich Küche, Badezimmer und Dienerschaftszimmer. Das obere Stockwerk enthält die zehn Zimmer des Königs. Man gelangt vom Treppenhause zuerst in das „westliche Gobelinzimmer“, welches mit künstlichen, von Baron Pechmann nach Watteau gemalten Gobelins und mit Trophäen reich dekorirt ist. Die Thüren tragen kostbares Schnitzwerk; das Deckengemälde ist eine Kopie nach Boucher. Das werthvollste Einrichtungsstück hier ist ein reich vergoldetes Pianino. Durch das „Gelbe Kabinett“, dessen Wände mit gelber Seide und geschnitzten versilberten Verzierungen bekleidet sind, tritt man in das Arbeitszimmer des Königs. Hier zeigen die Wände zwei Marmorkamine mit Statuen Ludwig’s XIV. und Ludwig’s XV., sowie Trophäen des Königthums, der Religion, der Wissenschaft und der Gewerbe. Vom reichen Plafond hängt ein Krystalllüstre herab; über dem Schreibtische ist ein mit dem bayerischen Wappen geschmückter Baldachin von grünem Sammt angebracht; auch die Möbel sind mit grünem Sammet und mit schwerer Goldstickerei überzogen.
Nun folgt wieder ein kleinerer Raum, das „Lila Kabinett“, und dann das Schlafzimmer des Königs. Dasselbe ist das größte unter allen Gemächern des Schlosses, aber unvollendet; während seines letzten Aufenthaltes auf dem Liuderhofe bediente sich der König vorübergehend eines anderen Zimmers als Schlafgemach. Die Deckengemälde von Spieß und Lesker zeigen Ludwig XV., zum Himmel fahrend, von Genien umgeben, und Apollo mit dem Sonnenwagen. Durch das „Rosa Kabinett“ gelangt man hierauf in den Speisesaal. Er enthält reichen Schmuck an mythologischen Bildern, einen Fries mit allegorischen Kindergestalten, zwei Spiegelkamine, rothe Plüschmöbel, zwei kleine Schreibtische von Rosenholz, ein vergoldetes geschnitztes Büffet und einen Speisetisch, welcher vollständig gedeckt aus einer Versenkung emporstieg. Hierauf folgen noch das „Blaue Kabinett“, das „Oestliche Gobelinzimmer“, und endlich der nach der Südseite gelegene „Spiegelsaal“. Er ist das glänzendste unter all diesen Zimmern. Die Wände bestehen aus Spiegeln in reich geschnitzter und vergoldeter Umrahmung; die Möbel aus Rosenholz mit vergoldeten Bronzeornamenten sind mit hellblauer, von Silber durchwirkter Seide gepolstert. Der Plafond zeigt ein Deckengemälde von Schwoiser: Venus im Bade. Am Fenster steht ein Arbeitstisch mit der Marmorstatue Ludwig’s XV.; gegenüber ein Büchergestell mit einer Uhr und zwei kostbaren Vasen. Die werthvollsten Gegenstände in diesem Zimmer sind wohl die beiden Kamine aus Lapis Lazuli und der geschnitzte Elfenbeinlüstre, welcher über dem Marmortische hängt.
Mehr aber als alle diese Werke der Kunst und des Kunstgewerbes fesseln uns im Linderhof die Gartenanlagen, ein Meisterwerk der Gartenkunst, mit reichen Wasserwerken und Skulpturen, letztere theils in Marmor ausgeführt, theils vergoldet. Da finden sich größere und kleinere Bassins; eine riesige Fontaine, welche einen mächtigen Wasserstrahl thurmhoch emporschleudert; Brunnen und Blumenteppiche, Terrassen und Laubspaliere, dazwischen schimmernde Götterbilder.
Durchwandert man den Park, so gelangt man in geringer Entfernung von dem Kiosk vor einen grünbewachsenen Hügel. An einer Seite desselben sieht man eine kleine Felswand. Niemand ahnt, was hier verborgen sein könnte. Da dreht sich der Fels in verborgenen Angeln, und ein unterirdischer Gang erschließt sich. Wie in ein Märchen tritt man in diesen Berg und wandert durch den dunklen Gang, einem brausenden Geräusch entgegen. [662] Plötzlich erweitert sich der Gang, und man steht in der „blauen Grotte“. Es ist ein mächtiger Raum aus künstlich geschaffenem Fels (siehe Abbildung S. 648 und 649); Tropfsteingebilde hängen von der Höhe nieder und steigen aus dem dunklen Spiegel eines unterirdischen Sees empor, der sich vor uns ausbreitet. Von links her fällt durch eine halbrunde Oeffnung ein magisches blaues Licht in die Grotte; zur Rechten schäumt ein Wasserfall über die Felswand herab. Fremdartig flimmert und glitzert das Ganze in verschiedenfarbigem Lichte. Im tiefsten Hintergrunde der Grotte erscheinen phantastische halbverschleierte Gestalten; es ist ein kolossales Bild „Tannhäuser im Venusberge“. Rosenguirlanden hängen von oben herab und schlingen sich durch die Felszacken. Ein vergoldetes, in Form einer Muschel gebautes Schiffchen, mit schnäbelnden Täubchen und einem kleinen Amor verziert, schaukelt sich auf dem leicht bewegten Wasser. In diesem Fahrzeuge ließ sich der König oft über den unterirdischen See rudern, während die Felsen der Grotte von elektrischen Lichtern in buntem Glanze durchspielt wurden; oder er stieg an der Felswand hinauf zu dem etwas erhöhten Königssitze, welcher, von Rosengewinden umschlungen, ebenfalls einer Riesenmuschel gleicht, und schaute von hier aus auf diese eigenartigste Schöpfung seiner Phantasie hinunter.
Diese Grotte, deren sinnberückende Täuschungen ein eigenes Maschinenhaus erforderlich machten, ist ohne Zweifel das bekannteste unter dem, was Schloß Linderhof enthält, und wohl auch das, was vom großen Publikum am meisten angestaunt wird. Aber weder vor dem künstlerischen Scharfblicke noch vor den Augen des wahren Naturfreundes kann sie bestehen. Das ist Alles Blendwerk, nur für Theaterlichter berechnet. Rosenguirlanden von Papier, Felsen von Sand und Cement, gemalte Geistererscheinungen und physikalische Beleuchtungskunststückchen – tief verstimmt von all dem verläßt man die Grotte, selbst wenn man sich momentan der berückenden Sinnestäuschung hingab. Und diese Verstimmung, ein seltsames Ergebniß der irrenden spielenden Phantastik von Linderhof und der Erinnerung an König Ludwig’s trauervolles Ende, hält nach, bis das Schlößchen mit seinen Wassern und Blumen, seinen verödeten Räumen und entschleierten Geheimnissen meilenweit hinter uns liegt, bis endlich der frische Hauch des Bergwaldes und das kraftvolle Rauschen der Wildbäche die beklemmte Brust wieder frei aufathmen läßt.
Vom kranken Mann und seinen lachenden Erben.
Wir, die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, haben Gelegenheit gehabt, zu beobachten, wie Staaten entstehen und wie Staaten vergehen; wie kleinere Staaten in einen größeren aufgehen, in Italien und Deutschland; und wie ein großer Staat im Begriff ist, sich in seine Bestandtheile aufzulösen, die sich ihrerseits wieder als neue Staaten konstituiren, in der Türkei.
Wie ein Staat entsteht, das haben wir z. B. in Texas gesehen; und die, welche nicht an Ort und Stelle waren, die können es nachlesen in den vortrefflichen Romanen von Charles Sealsfield, der mit seinem wirklichen Namen Karl Postl hieß und, nachdem er in Prag den Chorherrnrock ausgezogen, in Amerika Vieles erlebt, gut beobachtet und anschaulich geschildert hat. Siehe „Das Kajütenbuch oder nationale Charakteristiken“, „Lebensbilder aus der westlichen Hemisphäre“ etc.
Wir sehen bei Sealsfield, wie sich in Texas inmitten einer großartigen und mächtigen Urnatur ein Hinterwälderleben entwickelt, dessen einzelne Personen unter den engen Verhältnissen der alten Welt entgleist sind, oder keine Stelle mehr fanden an der großen Tafel europäischer Kultur, die Viele nährt, aber nicht Alle, und die sich genöthigt sieht, diejenigen auszustoßen, die sich den Gesetzen des Staates und der Gesellschaft nicht fügen und dadurch den Schutz und die Wohlthaten dieser Gesetze verwirken. Wir nennen das „den Auswurf der Gesellschaft“. Der Ausdruck mag richtig sein, wenn man die Sache nur von der einen Seite betrachtet.
Er erinnert mich an ein geflügeltes Wort des Lord Palmerston: „Schmutz ist ein nützlicher Gegenstand am unrichtigen Orte; man muß ihn nur an den richtigen Platz bringen – aus der Stadt auf die Felder.“
So ist es mit jenem „Auswurf der Gesellschaft“. Er hielt die alte Kultur für einen beengenden Käfig, gegen dessen Gitter er tobte und dem er endlich, mehr oder weniger freiwillig, entflohen. Nun schwirrt er umher in den ungemessenen Räumen der Wildniß. Anfangs beschleicht ihn ein Bangen; denn er ist allein auf sich selbst angewiesen, und die gänzlich veränderte Umgebung mit ihrer Schrankenlosigkeit und ihrer scheinbaren Regellosigkeit verwirrt ihn. Sie macht Ansprüche an seine Kräfte, welchen genügen zu können er anfangs verzweifelt. Aber im Kampf versucht er seine Kräfte; und jeder gelungene Versuch erhöht sein Vertrauen und verleiht seinem Geist und seinem Körper eine außergewöhnliche Schwungkraft. Er gewöhnt sich an Entbehrungen und Gefahren. Der Kampf mit einer wilden Natur, mit wilden Thieren, als da sind Cuguare und Bären, Alligatoren und dergl., und mit Wilden, die, obwohl Menschen, nicht viel besser sind, als jene Thiere, erweckt in ihm aufs Neue den früher erloschenen Kulturtrieb. Er thut sich mit seinen Schicksalsgefährten, den übrigen hinterwäldler Ansiedlern, den Squatters, zusammen. Sie erwählen sich ein Oberhaupt, den Squatter-Regulator, und bilden ein Gemeinwesen, um die Gefahren der Wildniß zu bekämpfen. Ein Jeder von ihnen führt den Pflug und zugleich auch die Waffen. Ein Jeder ist Kultivator, ein Jeder Soldat, und ein Jeder Polizeimann oder Policeman. Und so kommt Er, der der alten Kultur entronnen, schließlich dazu, eine neue Kultur zu begründen, die jedoch himmelweit verschieden ist von der alten; und aus dieser neuen Kultur erwächst ein neuer Verband, eine neue Gesellschaft und schließlich ein neuer Staat, der sich einem größern Staatsverband anschließt, um dessen Machtschutz zu genießen, aber sich dabei doch alle die Rechte und Freiheiten zu bewahren, die er nöthig hat für seine eigenthümliche politische Entwickelung.
So ist, ohne daß die Welt es für nöthig erachtet hätte, dies interessante Schauspiel mit besonderer Aufmerksamkeit zu verfolgen, unter unseren Augen auf der westlichen Hemisphäre ein neuer Staat entstanden. Gleichsam ohne menschliches Zuthun, ohne Beistand einer Regierung, ohne Eroberung oder Gründung, ohne Plan und ohne vorausbedachte Absicht. Denn Diejenigen, welche ihn aufrichteten, waren ja dem alten Staate aus dem Wege gegangen. Aber da, wie schon der große Philosoph Aristoteles sagte, der Mensch von Natur ein „politisches Geschöpf“ ist, so gründeten sie statt des alten Staates einen neuen, von wesentlich anderem Gepräge, wie solches eine alte Regierung niemals fertig gebracht hätte.
Während wir so im fernen Westen einen neuen Staat und eine neue Gesellschaft entstehen sahen, erblicken wir in unserer unmittelbaren Nähe, im Südosten Europas, einen Staat, der mit raschen Schritten seinem Zerfalle entgegengeht, weil er die ihm gestellten Aufgaben nicht zu erfüllen vermochte. Ich meine die Türkei. Die türkische Rasse hat vortreffliche Eigenschaften. Der gemeine Türke ist genügsam und ehrlich. Als Soldat ist er zuverlässig und tapfer. Er versteht nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu hungern. Er bedarf keiner Spirituosen, um sich Muth zu trinken. Sein Glaube verbietet ihm solches. Aber derselbe Glaube ist es auch, der ihm ein solches Gottvertrauen verleiht, daß er vor keinen Gefahren zurückbebt. Trotz dieser vortrefflichen Eigenschaften der mittleren und unteren Volksschichten ist aber der türkische Staat, soweit er auf europäischem Boden etablirt ist, krank, sehr krank, und selbst die guten Freunde, welche er immer noch findet, werden eine schwere Aufgabe haben, wenn sie das immer näher rückende Verhängniß aufhalten wollen.
Vor dreißig Jahren noch war die „orientalische Frage“ das große Räthsel Europas. Man schreckte vor ihr zurück wie vor dem Haupt der Medusa. Man glaubte, irgend ein einzelner Staat, sei es Rußland, sei es Frankreich, oder Beide zusammen, werde sich der Türkei bemächtigen, und da dies die übrigen Mächte nicht zugeben wollten, könnten und dürften, müsse aus diesem Zerwürfniß ein Weltbrand erwachsen, der Europa aus dem Gleichgewicht bringen und allerwenigstens dem vielgerühmten „europäischen Koncert“ ein Ende mit Schrecken bereiten werde. Man schätzte jedes Jahr Aufschub für einen Gewinn und gewöhnte sich daran, aus der Hand in den Mund zu leben. Seitdem haben uns die Ereignisse immer näher herangebracht zu der befürchteten Katastrophe, und je näher dieselbe gerückt ist, desto mehr hat sie ihren schreckhaften Charakter verloren.
Fast möchte ich sagen: Der Mensch ist gleich einem Reitpferd. Das Thier scheut vor dem Unbekannten. Je ruhiger man es aber an den Gegenstand seiner Furcht und Scheu heranbringt, je mehr man ihm Gelegenheit giebt, denselben, ich möchte fast sagen zu „studiren“, desto mehr schwindet sein Schrecken.
So ist es uns mit der orientalischen Krisis gegangen. Unsere Angst vor derselben ist zum größeren Theile unserer Unkenntniß entsprungen.
Wir glaubten bisher in Europa, der Sultan sei Herr über sein Land, etwa wie der König von Frankreich; oder seine Unterthanen seien gleich ihm selber alle „Türken“, das ist Muhamedaner von Religion, Osmanen von Rasse.
Das Gegentheil ist die Wahrheit. Die Mehrzahl der Einwohner sind keine Türken, sondern stets Rumänen, Slawen und Griechen gewesen. Der Türke hat das Land erobert und ist bis heute ein Fremdling in demselben geblieben. Er ist der „Herr“ und die Andern sind die „Raja“, das heißt: das Gesindel. Er schließt diese Raja, das heißt: die eigentlichen Eingeborenen ohne Unterschied der Religion und der Rasse – einerlei ob sie Rumänen, oder Hellenen, Albanesen oder Montenegriner, Serben oder Walachen, Bulgaren oder Bosniaken – einerlei, ob sie römisch- oder griechisch-katholisch, abendländischen oder morgenländischen Glaubens sind – von der Regierung und von dem Kriegsdienste aus. Anstatt Kriegsdienste zu leisten, zahlen sie ein Kopfgeld. Daneben sind sie schwer mit Zehnten und sonstigen Abgaben belastet, und der Druck dieser Lasten wird gesteigert durch das Ungeschick der finanziellen Verwaltung, bei welcher die Steuerpflichtigen das Zehnfache geben von Dem, was die Centralstellen empfangen; die übrigen neun Zehntel bleiben unterwegs hängen, und wenn man dem Vollblut-Türken von der Gleichberechtigung aller Staatsbürger spricht, antwortet er mit einem geflügelten Worte: „Ich bin der Herr – Du bist der Herr – wer soll das Pferd putzen und striegeln?“
[663] Auch in anderen Ländern giebt es Eroberer und Eroberte. In Frankreich haben die Franken die Kelto-Romanen, in Preußen die Deutschen die Sorben und Wenden, in England die Normannen die Angelsachsen unterworfen. Aber in diesen Ländern sind die erobernde und die eroberte Bevölkerung unter dem Scepter der gemeinsamen Dynastie und dem Druck des einheitlichen Staates zu einer gleichen Masse zusammengewachsen.
In der europäischen Türkei ist das Gegentheil eingetreten. Seit Sultan Amurad 1361 Adrianopel, und Muhamed 1453 Konstantinopel eingenommen, hat sich im Verhältniß der herrschenden Rasse zu den beherrschten nichts Wesentliches geändert. Beide vermischen sich so wenig wie das Oel mit dem Wasser. Sie haben wenig oder gar nichts Gemeinsames mit einander. Der Türke handelt nach dem Grundsatz: „Zahlt was Ihr sollt; thut was Ihr wollt!“ Sein Herrscherbewußtsein ließ ihn jeden Gedanken der Annäherung und Assimilirung zurückweisen. Dazu kam sein Glaube, der den Koran auch für politische, wirthschaftliche, bürgerliche und sociale Dinge als das allein-gültige Gesetzbuch betrachtet, so daß er vor dem Gedanken zurückschreckt, gleiches Recht für Alle einzuführen und den „Staat des Kalifen“ gleichsam zu verweltlichen oder zu säkularisiren.
So haben sich die alten Gegensätze erhalten, befestigt und immer tiefer gefressen. Zwischen dem Türken und der Raja ist die Kluft immer unüberbrückbarer geworden; und die verschiedenen einzelnen Völker der „Raja“ haben sich mittels der Autonomie, welche ihnen der Türke aus Trägheit gelassen, immer mehr differencirt und ein Jedes für sich selbständig entwickelt.
Das Alles trat nicht so zu Tage, so lange die Nation der Osmanli ihre gleichsam jugendliche Ausdehnungs- und Spannkraft bewahrte, als Eroberer auftrat und dem christlichen Europa gegenüber sich als eine fremde, feindselige und allezeit angriffslustige Macht hinzustellen wußte.
Allein als die Spannkraft aufhörte, begann der Verfall und alle in Obigem angedeuteten Schwächen und Mängel des türkischen Staats- und Gesellschaftswesens traten mit jeder Annäherung an das christliche Europa greller zu Tage. Die Reformen, welche unter europäischem Einfluß proklamirt wurden, sind entweder ein todter Buchstabe geblieben, oder sie haben sich in ihr Gegentheil verwandelt. Die mit den europäischen Staaten abgeschlossenen Verträge binden den Türken Hände und Füße und machen jede Steuer- und Justizreform unmöglich. Am 18. Februar 1856 erließ der Sultan seinen von Reformen überfließenden Hatti-Humajum. Zur Belohnung dafür erklärten die Mächte auf dem Pariser Kongresse, 30. März 1856, „die hohe Pforte der Vortheile des öffentlichen europäischen Rechts und des europäischen Koncertes theilhaftig“. Dies war ein Danaer-Geschenk. Im Jahre 1854 hatte die Pforte unter Gönnerschaft der Westmächte eine Anleihe von drei Millionen Pfund Sterling gemacht. Dies war der Anfang ihrer Schulden. Jetzt hat sie über 250 Millionen Pfund Schulden; und je mehr sie pumpt, desto weniger hat sie. Es fehlt sogar zuweilen an Geld für Munition und Soldaten. Die vornehme Welt in der Türkei hat sich europäische Laster angeeignet, ohne europäische Vorzüge, und die guten Eigenschaften des wahren Türken hat sie verloren, namentlich auch den kriegerischen Geist der alten Osmanli.
Die Türkei, die es versäumt hat, sich bei Zeiten einheitlich zu organisiren, droht zu verfallen. Ihr europäisches Gebiet beginnt zu zerbröckeln. Sie hat Rumänien und Serbien, Bosnien und die Herzegowina, Bulgarien, Griechenland und Cypern, Montenegro und einen Theil von Albanien schon so ziemlich verloren. Auch das Uebrige ist schon halbwegs vergeben. Streit herrscht eigentlich nur darüber, wer Konstantinopel haben soll, und wer diejenigen Gebiete, worin die Völker so im Gemenge liegen, daß für das nämliche Territorium zwei oder drei Bewerber vorhanden sind, wie Macedonien und Epirus.
In Westeuropa fürchtet man noch vielfach, Alles werde schließlich den Russen zufallen. Namentlich aber in Deutschland herrscht noch in gewissen Kreisen die Meinung, die slawische Bevölkerung der Balkan-Halbinsel, der Donauländer und des südlichen Abhanges der österreichischen Ostalpen wünsche nichts sehnlicher als unter russischer Oberherrschaft in dem alleinseligmachenden Schoße des Panslawismus auf- oder unterzugehen. Nichts kann irrthümlicher sein als eine solche Meinung. Ob früher eine solche Schwärmerei für Rußland geherrscht hat, weiß ich nicht. Ich bereise diese theils österreichisch-ungarischen, theils vormals türkischen, theils noch türkischen Länder seit dem Jahre 1871 in ziemlich regelmäßigen Zwischenräumen, und habe nirgends eine solche Weltanschauung gefunden. Schon 1875 nicht, und noch weniger 1885. Im Jahre 1875, als die christlich-slawische Bevölkerung das türkische Joch abzuschütteln gedachte, hatte sie vielfach die Ansicht, dies sei nicht möglich ohne russisches Geld und russische Waffen. In Montenegro nahm man den russischen Rubel sehr gerne; in Serbien waren die russischen Officiere und Freiwilligen äußerst willkommen. In Bulgarien erschienen die Russen als Befreier. Auch in Kroatien und Slawonien jubelte man über ihre Siege, weil man auf der Schlußkoulisse das dreieinige Königreich Jllyrien, bestehend aus Kroatien, Slawonien und Dalmatien, zu erblicken glaubte; und in Laibach erweiterte man dieses großillyrische Reich zu einem noch größeren Groß-Slawonien, das sich von den Alpenabhängen von Kärnten und Südsteiermark bis Konstantinopel und Saloniki, von der Drawa und der Sawa bis zum Hellespont und dem ägeischen Meer erstrecken sollte. Aber Keiner von Allen wollte „russisch werden“. Auch war der Sinn der Leute durchaus nicht auf „Panslawismus“ gerichtet, sondern Jeder wollte ein ausschließlich südslawisches Gemeinwesen, dessen Mittelpunkt wo möglich er selbst sei. Der Eine dachte an eine Monarchie, der Andere an eine Republik, der Dritte an eine Föderativ-Republik. An eine russische Herrschaft dachte eigentlich Niemand. Ja, noch nicht einmal an ein bleibendes russisches Protektorat. Höchstens mit Ausnahme einiger Popen, welche ihre geistliche Ausbildung in Rußland erhalten hatten, und auch zur Zeit noch allerlei Vortheile von dorther bezogen. Aber der Einfluß der Popen ist so groß nicht, wie man in Deutschland zu glauben geneigt ist. Man glaubt an ihren Segen und an ihre Beschwörung, aber man schenkt dem Mann selbst als solchem wenig persönliches Vertrauen und gestattet ihm wenig Einfluß auf weltliche Dinge.
Im Jahre 1885 bemerkte man sogar eine entschieden anti-russische Strömung. In Athen sagte man: „Was wollen hier denn die Russen? Konstantinopel war griechisch, bevor es der türkischen Eroberung und Fremdherrschaft anheimfiel, und wenn man nun die Türken aus Europa vertreiben und den früheren Zustand wieder herstellen will, dann muß Byzanz den Hellenen wiedergegeben werden.“ In Athen herrscht sogar eine gewisse Antipathie wider die Königin, obgleich sie eine vortreffliche Frau ist. Man sagt: „Sie ist Russin, und deßhalb paßt sie nicht für die Griechen.“ Es ist die Abneigung der Griechen gegen die mit ihnen konkurrirenden Staaten, trotz kirchlicher Verwandtschaft.
In Rumänien hat man nicht vergessen, welche große Dienste die rumänische Armee den Russen 1877 geleistet, und wie wenig sich Rußland dem Herrscher und dem Volk von Rumänien dankbar erwiesen.
In Bulgarien will die Mehrheit Unabhängigkeit des Landes und schwärmt für den tapferen „Battenberger“, der ihnen dieselbe erobert. Der Handstreich vom 21. August ist mißrathen.
Ein junger slowenischer Gelehrter aus der Krain sagte mir 1885, die Slowenen seien der Kernpunkt der südslawischen Bevölkerung, auch sei ihre Sprache und Litteratur am meisten entwickelt; und da die Sprache der Kroaten, der Serben und der Bulgaren zwar etwas anders sei, der Unterschied aber nur in den aus fremder, nichtslawischer Sprache entlehnten Worten und in bloß dialektischen Abweichungen bestehe, so müsse es doch schließlich so weit kommen, daß alle diese „Brüder“ die slowenische Sprach- und Schreibweise adoptirten und sich zu einem großen Südslawischen Reiche vereinigten, das von den Alpen und der Adria und dem ionischen Meere bis zum Pontus Euxinus und zum ägeischen Meer reiche, einig im Innern und unabhängig nach außen.
Ich fragte ihn: „Und der Panslawismus? Und das heilige Rußland? Sprach man damals nicht ganz anders, als man 1868 nach Moskau wallfahrtete und die Herrschaft des Panslawismus unter russischem Scepter proklamirte? Proklamirte für alle slawischen Völker, – für die im Norden, wie für die im Süden?“
„Ja,“ antwortete er, „damals sprach man allerdings so; aber das ist heute ein überwundener Standpunkt. Das war Alles eitel Phantasterei und leerer Wortschwall. Heutzutage denken wir anders. Wir Südslawen können mit den Russen, den Polen und den Tschechen nichts machen. Wir müssen vor Allem unsere eigene südslawische oder jungslawische Nationalität kultiviren, unsere Sprache pflegen, unsere Kultur fortentwickeln. Dank den Bemühungen unserer Gelehrten, unserer Historiker, Sprachforscher und Dichter, hat unsere nationale Kultur schon recht schöne Fortschritte gemacht. Aber sie ist noch nicht so stark, einen Salto mortale in das uferlose Meer des Panslawismus riskiren zu können. Sie würde in demselben ertrinken, und wir würden dabei alle Früchte unserer bisherigen Anstrengungen wieder verlieren. Wir müssen uns näher liegende praktische Ziele setzen. Wir haben auch gar keine Ursache, uns von der österreichisch-ungarischen Monarchie loszureißen. Könnten wir Krainer, Kärntner und südsteirischen Slowenen uns zunächst mit dem Königreich Kroatien-Slawonien vereinigen, so wäre damit der erste Schritt schon geschehen. Der zweite wäre der Beitritt von Dalmatien, Bosnien und der Herzegowina. Das große südslawische Reich wird dereinst kommen, ohne Zweifel. Aber es wäre nicht gut, jetzt schon zu viel davon zu reden. Unsere Einheitssonne wird plötzlich aufgehen, wie sie auch über Italien und Deutschland aufgegangen ist, die noch viel zerrissener waren, als wir es sind.“
Ich gebe diese Aeußerungen so wieder, wie ich sie erst kürzlich an Ort und Stelle hörte, ohne Zustimmung, ohne kritische Noten und ohne Vorbehalte. Denn es kommt mir durchaus nicht darauf an, Politik zu treiben oder Propaganda zu machen für diese oder jene der verschiedenen im Südosten von Europa konkurrirenden und ringenden Nationalitäten. Vielmehr will ich nur aus den Beobachtungen, die ich an Ort und Stelle mit dem unbefangenen Herzen eines aufrichtigen Menschenfreundes gemacht habe, Einiges zusammenstellen, das geeignet ist, Licht über die Lage der Dinge im Süd-Osten zu verbreiten.
Mißglückter Einbruch. (Mit Illustration S. 645.) Unter den Dorfbewohnern Süditaliens herrschen noch heute die wunderlichsten Ansichten über die Macht und das Ansehen der Heiligen. Dieselben sind in förmliche Rangstufen eingetheilt, deren Grenzen allerdings so locker gezogen sind, daß sich über die Macht des einen Heiligen im Vergleich zu der eines anderen wohl streiten läßt. Namentlich gilt dies von vielen Schutzheiligen der einzelnen Dörfer. Was daraus bei dem geringen Bildungsgrade der Süditaliener entsteht, ist leicht zu errathen. Eine Ortschaft verachtet den Schutzpatron der andern und verspottet ihn auf alle mögliche Weise. Wie weiland die Guelfen und Ghibellinen fallen die Anhänger oder richtiger Parteigänger über einander her, und der Streit über die Heiligen spaltet selbst die Familien, wenn die Frau mit den Töchtern vielleicht zufällig S. Giovanni, der Vater mit den Söhnen S. Antonio anhängt.
Namentlich bei den Festen kommt der Heiligenstreit zum Ausbruche. In einem sicilianischen Orte, Medica, giebt es die Parteien der S. Georgianer [664] und der St. Peterianer; die Letzteren thun dem Heiligen der Ersteren allen Schabernack an und umgekehrt. Die S. Georgianer löschten einmal am S. Petritage alle in der Kirche angezündeten Kerzen dadurch, daß sie Hunderte von Fledermäusen losließen. Am S. Georgstage kam dann die Rache der Petrusmänner: sie nahmen den Zündschwamm aus allen Mörsern heraus und schlugen Nägel hinein, sodaß das Fest in der Stille gefeiert und der Knalleffekt verloren gehen mußte.
Und wie die Alten sungcn, so zwitschern auch die Jungen. An der Vigilia des heiligen Georg und an der des heiligen Petrus fangen die Buben der einen oder andern Partei die Kinder auf den Straßen ab, schleppen sie auf die Seite und zwingen sie, einem Heiligen (Hie Welf! Hie Waiblingen!) ein Vivat zu bringen. Thun sie dies mit dem Unrechten, so werden sie jämmerlich abgeprügelt. Unter den Erwachsenen geht der Haß bis zu Messerstichen. Vor einigen Jahren gab es in Medica auf dem S. Petrithurm einen Messerkampf, in dem vier junge Burschen ihr Leben ließen: man hatte um das Vorrecht des Läutens für den Heiligen gestritten!
Der Haß steigert sich bis zur Schändung des Heiligthums, bis zum Einbruch in die Kirchen: zur Unschädlichmachnng des feindlichen Heiligen. Darauf bezicht sich das Bild meines jungen neapolitanischen Freundes, des talentvollen Malers Salvatore de Gregorio. In einem Abruzzendorfe zog, vor etwa drei Jahren, ein Theil der männlichen Bevölkerung unter dem Schutze der Nacht aus, mit dem Vorsatz, den Nachbarheiligen zu stehlen und in den Fluß zu werfen. Sie waren von oben her auf Leitern in das Gotteshaus gedrungen, hatten den Sakristan zu ihrer Ueberraschung am kühlen Orte schlafend gefunden, ihn, als er erwachte, an den Stuhl geknebelt und dann versucht, die schwere Büste des Heiligen an Stricken zum Thurmfenster hinaufzuziehen. Die Stricke waren zerrissen, die metallene Büste war mit Donnergepolter auf dem Steinboden aufgeschlagen und hatte Hilfe herbeigerufen. Daß die Einbrecher bei dieser Gelegenheit die Garderobe des Heiligen einer eingehenden Prüfung unterwarfen, versteht sich von selbst.
Wer Heidenthnm kennen lernen will, braucht wahrhaftig nicht nach Inner-Afrika zu reisen. W. K.
Napoleon IV. Der Sohn des dritten Napoleon, der Kaiser der Zukunft, zeigte sich, so lange er lebte, als eine Art von jugendlicher Idealgestalt in etwas unbestimmter Beleuchtung: man hörte von seinen wohlbestandenen Prüfungen in Woolwich, und hier und dort tauchte sein Bild auch in den Versammlungen von Chislehurst auf. Seine Betheiligung an der englischen Expedition gegen die Kaffern in Südafrika und sein Tod durch die Wurfspieße der schwarzen Männer konnten nur dazu beitragen, den jungen Prinzen mit einem romantischen Nimbus zu umgeben. Der Sohn eines Vaters von solcher geschichtlichen Bedeutung, einer Mutter von bestechender Schönheit, mußte ja überhaupt den Zeitgenossen in einem verheißungsvollen Lichte erscheinen, sodaß sich nach seinem Tode ein wehmüthiges Erinnern an seinen Namen knüpfte. Selten indeß, so lange er lebte, wurde die Frage aufgeworfen, was Frankreich wohl erwarten durfte, wenn er als Vertreter der Napoleonischen Dynastie noch einmal auf den Thron zurückkehren würde, den sein Großonkel und sein Vater mit unleugbarem Glanz umgeben hatten. Jetzt ist diese Frage beantwortet von Fidus in seinen „Erinnerungen eines Imperialisten“, in seinem „Journal de dix ans“, in welchem er die zehn Jahre schildert, die dem Tode des Prinzen vorausgingen: denn dieser Tod bildet den Abschluß der Aufzeichnungen; der Prinz ist der eigentliche Held derselben, besonders im zweiten Bande. Doch je begeisterter Fidus von ihm spricht, mit je glänzenderen Farben er das Bild desselben ausmalt: desto mehr muß jeder Unbefangene die Ueberzeugung gewinnen, daß der Prinz als Kaiser Napoleon IV. ein Unglück für Frankreich geworden wäre. Wohl war er geistig geweckt und beschäftigte sich angelegentlich mit den Fragen der Politik, aber in der Gedankenrichtung seiner Mutter, von der ja Napoleon III. selber erklärt hatte, sie sei eine Legitimistin. Fidus berichtet, daß der Prinz auf zehn Folioseiten die politischen Grundsätze entwickelt hatte, denen er huldigte und die er als Kaiser befolgen wollte. An der Spitze seines Programms steht die Aufhebung des allgemeinen Stimmrechtes, desjenigen Princips, welches die Grundlage der Napoleonischen Ideen des Vaters bildete; die Vorliebe für diesen Grundsatz rechnete der Sohn zu den Schwächen desselben.
Prinz Viktor, der Sohn des rothen Prinzen, der jetzt aus Frankreich mit den andern Prätendenten verbannt wurde, erklärt in seinem Manifest, er werde festhalten an den Principien des Kaiserreichs, wie Napoleon I. und III. sie aufgestellt haben, wie der Prinz sie befolgt hat, dessen Tod er beweine, und zählt zu diesen durch Volksabstimmung bestätigten Grundsätzen auch die Souveränetät des Volkes und die Organisirung der Demokratie. Hat er denn die Memoiren von Fidus nicht gelesen? Der von ihm beweinte Prinz dachte gar nicht daran, ein solches Programm mit nach Frankreich zu bringen, wenn er dorthin zurückkehrte: er war ein entschiedener Gegner dieser Grundsätze; er wollte die Preßfreiheit unterdrücken, ebenso die Macht der Deputirtenkammer; er wollte dem Klerus die größten Zugeständnisse machen, mit einem Wort, ein uneingeschränktes Regiment einführen: er glaubte sich berufen, Alle zu züchtigen, welche in dem verhängnißvollen September des Jahres 1870 in Paris zum Sturze der Napoleonischen Dynastie beigetragen: die bigotte Mutter hatte solchen Größenwahn in ihm genährt. Und was wäre die Folge gewesen, wenn es ihm mit Hilfe einzelner Generale, wie er hoffte, gelungen wäre, sich der Herrschaft zu bemächtigen? Früher oder später eine neue Revolution; denn nach einem so veralteten System der Regierung, welches blinden Autoritätsglauben verlangt, hätte sich das französische Volk nicht lange beherrschen lassen.
Natürlich sprach der Prinz den Jargon der Prätendenten mit großer Geläufigkeit: er war bereit zu kommen, wenn Frankreich ihn rufen würde; ja im Grunde war er auch bereit ungerufen zu kommen. So erklärte ja vor Kurzem der ausgewiesene Graf von Paris, in der Stunde der Entscheidung würde er bereit sein, und Prinz Viktor sagte in seiner Abschiedsrede, er würde, wenn die Stunde der großen Krisen schlägt, den Pflichten nachkommen, welche sein Patriotismus ihm auferlege. So hat auch Graf von Chambord gesprochen. Die eintönige Repetiruhr dieser Phrasen macht nur einen melancholischen Eindruck; einer dieser Prätendenten parodirt den andern. †
Die Tropfsteinhöhlen zu Wolmsdorf. In der zu Schlesien gehörigen, an Naturschönheiten reichen Grafschaft Glatz liegt in der Nähe des Badeortes Landeck das kleine Dörfchen Wolmsdorf. Noch vor Jahresfrist war der Ort nicht weit über seine Nachbargrenzen hinaus bekannt.
Da wurden vorigen Herbst dort ausgedehnte Tropfsteinhöhlen entdeckt, welche während des Winters dem Publikum durch Herstellung eines neuen Einganges, durch Ebnung des Bodens, Anlegung von Treppen über entgegenstarrende Felsen bequem zugänglich gemacht wurden, und nun wird Wolmsdorf bereits von Touristen aus Nah und Fern besucht. Die Höhlen befinden sich in dem dortigen sogenannten Kalkberge und wurden bei Anlegung eines Marmorbruches entdeckt. Durch einen 15 Meter langen Gang gelangt man in die erste 47 Meter lange, 6 bis 8 Meter breite und gegen 2 Meter hohe Höhle, worin sich zur Seite ein Wasserbehälter von beträchtlicher Tiefe und mehreren Metern Ausdehnung befindet. Decke und Wände erscheinen mit Tropfsteingebilden, die bald schneeigem Flaum, bald Lämmerfellen oder Fichtenzapfen gleichen, überkleidet. Die anstoßende zweite und zugleich schönste Höhle, genannt der Kaisersaal, ist 27 Meter lang, 6 Meter breit und 7 Meter hoch. Tropfsteine von der Gestalt eines Elefanten- und Schweinsohres, einer Kuhwamme etc, sowie zahlreiche oft fußstarke Stalagmiten finden sich hier vor. Die sich anschließende dritte große Höhle, der Dom, hat eine Lauge von 15 Meter, eine Breite von 10 Meter und eine Höhe von 5 Meter. Hier befinden sich Tropfsteine in der Form meterhoher mächtiger Pilze. Die letzte Abtheilung hat eine Ausdehnung von 80 Meter Länge, bei 3 Meter Breite und 2 Meter Höhe. Zahlreiche interessante Tropfsteingebilde, Stalaktiten und Stalagmiten, oft von bedeutender Größe, sind hier zu sehen. Im Ganzen sind vier große und vier kleine Höhlen vorhanden, welche eine Ausdehnung von ungefähr 200 Meter haben und durch 40 Lampen erleuchtet werden. n.
,,Der älteste Krieger der Rheinlande“ vom Jahre 1870 und 1871, Heinrich Lüttgen, dessen wir im Jahrg. 1883, S. 310 Erwähnung gethan, ist am 27. Juli nach zweitägigem Krankenlager zu Metz gestorben. Er wurde in feierlicher Weise beerdigt; seinen Leichenzug begleitete eine Deputation des Rheinischen Ulanenregiments Nr. 7 sowie des Dragonerregiments Nr. 9. †
Eine deutsche Kolonie in Irland wurde im 17. Jahrhundert in der Grafschaft Limerick (Provinz Munster) bei Adare etc. durch Lord Southwell gegründet. Diese eingewanderten Deutschen werden Pfälzer genannt und gelten als sehr fleißige und wohlhabende Leute. Zwar ist ihr deutsches Wesen in Charakter und Tracht noch erkennbar, die Muttersprache aber sprechen sie nicht mehr. H. Z.
Inhalt: Sankt Michael. Roman von E. Werner (Fortsetzung). S. 645. – Räuberromantik. S. 651. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 653. – Auf dem Heimwege. Illustration. S. 657. – Aus den Schlössern König Ludwig’s II. III. Schloß Linderhof. (Schluß.) S. 661. Mit Illustrationen S. 648 und 649, 652 und 661. – Vom kranken Mann und seinen lachenden Erben. Reise-Erinnerungen eines alten Orient-Fahrers. Von Karl Braun-Wiesbaden. S. 662. – Blätter und Blüthen: Mißglückter Einbruch. S. 663. Mit Illustration S. 645. – Napoleon IV. S. 664. – Die Tropfsteinhöhlen zu Wolmsdorf. S. 664. – „Der älteste Krieger der Rheinlande“ vom Jahre 1870 und 1871. S. 664. – Eine deutsche Kolonie in Irland. S. 664.
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