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Die Gartenlaube (1886)/Heft 44

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[773]

No. 44.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ueber den Gartenzaun.
Erzählung von A. Weber.
(Schluß.)


Terka war die Erste, welche, als das Gewitter sich gelegt hatte, die Sprache wiederfand. Sie zog hörbar die Luft ein, lachte dann laut auf und sagte mit der Vertraulichkeit, welche die Frucht der gemeinsam bestandenen Gefahr war:

„Wenn uns das Wetter auf der Gasse überrascht hätt’! Hut und Schuhe hätt’ man hernach dem Haderlump geben können und die Kleider vielleicht auch – meins kostet allein über zweihundert Gulden! Und Sie hätten sich ja wohl aus Haut und Haaren geängstigt, Fräulein! Ihre Nase ist noch ganz weiß! Warten’s, ich bring’ Ihnen ein Schlückchen Wein zur Herzstärkung.“

Ja, die Terka war sonst eine erfahrene Frau; aber das wußte sie noch nicht, daß wir uns nur in Momenten von Angst, Grauen und Schmerz, selten, sehr selten in solcher schönen, stürmischen Freude an etwas Großem, Allgemeinem als Menschen unter Menschen fühlen, daß aber, sobald der fliegende Puls sich beruhigt, wir wieder Aristokraten und Plebejer, Reiche und Arme, Gebildete und Ungebildete sind, einander fremd und unnahbar wie die Bürger verschiedener Welten.

Teleky kisasony trat vor Terka, die ihr vertraulich auf die Schulter klopfen wollte, zurück und dankte verlegen und wortkarg.

Aber Terka, die noch immer nicht das Bewußtsein der veränderten Sachlage gewonnen hatte, fuhr ebenso vertraulich fort:

„Wir müssen jetzt nach Hause; sonst kocht uns meine Janka einen Teufelsbrei statt Gulasch zum Nachtmahl. Aber morgen kriegen’s was Gut’s zu speisen, Teleky kisasony; denn wenn ich auch halt nicht gut plauschen kann und meine Riza mich in der Hinsicht in den Sack steckt, kochen kann ich dafür wie Eine; ’ne bessere Köchin als mich hat’s halt auf der Welt kaum gegeben, und meine frühere Gnädige hat immer gesagt: ‚Terka,‘ hat sie gesagt, ‚so wie Du –‘“

„Wir wollen gehen,“ sagte Perfy Viktor, ihr kurz die Rede abschneidend. Er war dunkelroth geworden und hatte eine dicke Zornesader auf der Stirn.

„Nu, nu, nicht gleich so hitzig, Sie Schlimmer, wenn die Schwiegermutter sich halt mal verplauscht,“ sagte Terka mit einem Versuch zu scherzen und wandte sich dann nochmals an das Fräulein:

„Kommen’s halt recht zeitlich, Teleky kisasony!“

Aber das alte Fräulein war weder geneigt, noch fähig, Terka’s Zudringlichkeit als das zu nehmen, was sie war: gutmüthiges Verkennen der Sachlage, und da in ihren Augen Taktlosigkeit weit unverzeihlicher war als Bosheit, so erwiderte sie kurz und kalt:

„Da ich es einmal meinem Neffen versprochen habe, werde ich kommen, liebe Frau.“

Ehe Terka wieder zu Worte kam, war Riza zu ihr getreten; sie zog ihrer Mutter Arm in den ihren, verbeugte sich förmlich und kühl gegen das alte Fräulein und schritt mit der Mutter hinaus, ohne sich nach ihrem Verlobten umzuschauen, der wie betäubt folgte.

In tiefem Schweigen durcheilten die Drei die Gassen, und da der Regen dieselben in Sümpfe verwandelt hatte und die das Trottoir vertretenden Holzbretter sehr schmutzig waren, schürzte Terka ihr Kleid haushälterisch nach Bauernart, was den


Faksimile aus dem Werke Christoph Weigel’s vom Jahre 1698.

[774] nachfolgenden Perfy recht unangenehm berührte. Doch sprach auch er kein Wort; denn er fürchtete, wenn er überhaupt spräche, sich nicht mäßigen zu können.

Nur Terka, welche noch immer nicht begriff, was geschehen, war mehr verblüfft als zornig, und da sie sich weniger mit ihren Gedanken beschäftigte als das Brautpaar, war sie auch die Erste, welche gegenüber ihrem Wohnhause, just an der Stelle, wo die Diele über dem unergründlichen Schmutz des Straßendammes lag, ihren Feind, den Stefan, stehen und nach Jemand ausschauen sah.

Terka erschrak heftig. Wenn es Riza war, auf welche Stefan wartete! Was konnte er aber zu thun wagen in Gegenwart vvn Mutter und Bräutigam?

Und doch, dem Buben, einem Nichtsnutz von Jugend, ja von Geburt an – denn er war eines Nichtsnutzen Sohn – mußte man Alles zutrauen.

Terka begann vor Aufregung zu zittern. Aber es war unmöglich, einen anderen Uebergang über den Straßendamm zu wählen, ohne umzukehren! Und dann hätte sie ja das Brautpaar ins Vertrauen ziehen müssen! So stieg denn Terka in ihrem engen Kleid, das sie jeden Augenblick von Neuem aufraffen mußte, weil die Schleppe immer wieder herabfiel, mühsam und angstvoll neben Tochter und Schwiegersohn der gefährdeten Stelle zu.

Nun hatte auch Riza den Stefan erblickt; sie wurde dunkelroth und verlangsamte den Schritt.

Aber endlich kamen doch alle Drei an der fatalen Stelle an und sahen – daß die Diele verschwunden war. Ob der Wolkenbruch sie fortgeschwemmt, ob irgend ein Bösewicht sich an ihr vergriffen und sie weggeschleppt hatte, das weiß kein Mensch, außer vielleicht dem Stefan; der aber stand und schwieg und schaute Riza an, die, roth wie Blut und völlig verwirrt, Miene machte, mitten durch den Schmutz zu waten.

„Riza, bist Du toll?“ schrie Terka entsetzt; aber in demselben Augenblick stand Stefan neben Riza, hob sie auf und trug sie nun auf seinen Armen durch den Lehm, der ihm bis über die Mitte der Stulpstiefel ging.

Terka stieß einen Schrei aus und stand einen Augenblick starr vor Schreck und Wuth; dann verleugnete sie vor den Augen des entsetzten Schwiegersohnes alle Bildung, nahm ihr Kleid über den Kopf und stieg dem Paare nach, zuerst zeternd, dann keuchend; denn kaum hatte sie ein paar Schritte gethan, so hing sich der zähe Lehm an sie, zog ihr die Schuhe aus, machte aus ihren Kleidern eine kleisterige, schwere Masse, und sie mußte mühsam einen Fuß nach dem andern aus dem gelbbraunen, zähen Teige herausziehen. Endlich blieb sie in der Mitte des Weges ganz stecken und, die Arme mit dem noch immer behüteten Seidenkleid hoch über dem Kopf haltend, bis über die Kniee eine Lehmmasse, stand sie da wie ein oben geformtes, unten formloses Götzenbild, ein Opfer ihrer mütterlichen Pflichttreue.

Unterdessen war Stefan mit seiner schönen Last weiter geschritten und zwar, um genau zu berichten, nicht in der kürzesten, geraden, sondern in einer recht schrägen Linie. Riza hatte, um sich fest zu halten, instinktiv die Arme um seinen Hals geschlungen; er fühlte ihre Hände zittern und ihr Herz klopfen: so, nun hatte er, was er so lange vergeblich, mit Sehnsucht, Zorn, Verzweiflung im Herzen, erstrebt, das geliebte Mädchen allein mit sich, in seinen Armen – freilich nur für einen Augenblick, den er aber ausnutzen konnte, auszunutzen sich geschworen hatte, einen Augenblick, den er mit aller Schlauheit und Energie eines verzweifelten Liebhabers sich selbst geschaffen hatte. Nun mußte er sprechen, mußte Alles vorholen, was sich seit Jahren in seinem Herzen aufgehäuft, mußte sie beschwören, überreden, schelten – und nun klopfte ihm das Herz bis in den Hals hinauf; die Kehle war ihm wie zugeschnürt; im Kopf wirbelten die Gedanken schwindelerregend herum, taumelten über einander, und nur zwei blieben aufrecht stehen:

„Sie nicht mehr aus den Armen lassen, sie tragen immerzu, bis ans Ende der Welt!“ jauchzte der eine, und der andere pfiff gellend dazwischen: „Sie ist bloß eine hübsche, dumme Puppe; sie läßt mit sich machen, was die da drüben wollen –“

In diesem Augenblicke stieß Terka einen Hilferuf aus; Riza wandte das Köpfchen, sah die Mutter im Schlamm stecken, that einen kleinen Schrei und löste unwillkürlich ihre Arme vom Halse des Stefan; der Zauber war gebrochen. Auch Stefan schaute zurück, sah das arme Götzenbild hilflos genau in der Mitte zwischen den Beiden stecken, die seine Schwiegersöhne werden wollten, sah den begünstigten Bewerber rathlos und verlegen seinen schönen Bart streichen und auf den Lehm und auf seine eigenen mehr elegant bekleideten als leistungsfähigen Gliedmaßen schauen, die zum Ritterdienst für die gewichtige Schwiegermama weder geeignet noch gewillt waren. Da setzte Stefan die Riza vor ihrem Mutterhause auf den Boden, schluckte ein paarmal, als wollte er etwas sagen, was nicht herauskönnte, nahm sie plötzlich mit beiden Händen bei den Schultern, schüttelte sie tüchtig und stieß dabei, dunkelroth im Gesicht, heraus:

„Schäme Dich – Du – Du – schäme Dich!“

Dann ließ er die völlig Fassungslose stehen, watete beherzt zum Götzenbilde, das ihn, wie wirklich versteinert vor Erstaunen, anstarrte, zog und hob mächtig an dem armen Koloß, bis er ihn auf seinem Rücken hatte, und schleppte ihn hinüber, diesmal kühl bis ans Herz hinan. Hierauf stellte er den triefenden Koloß neben Riza, die blaß und stumm dastand, wandte sich und ging, ohne daß Einer von den Dreien ein einziges Wort gesprochen hätte.

Drüben jenseit des Schlammes stand der Vierte auch blaß und stumm, wandte sich dann und schlich fort.

Wäre Perfy Viktor seinem jetzigen Gefühle gefolgt, so wäre er nimmer dieses Weges wiedergekommen. Er schämte sich der unpassenden Verbindung, die ihn in seinen eigenen Augen und in denen der Verwandten erniedrigte; er schämte sich der Schwiegermutter und hatte jenes dem Haß verwandte Gefühl gegen seine Braut, welches ein sehr eitler Mensch gegen den empfindet, den er als tief unter sich selbst stehend und von seiner Huld begnadigt ansah und der sich nun plötzlich gegen ihn auflehnt. Riza sollte das büßen; sie sollte fühlen, daß er ihr Herr, daß sie in seinen Augen ein Nichts sei; sie sollte tief gedemüthigt vor ihm zittern – wenn sie erst seine Frau war!

Denn heirathen mußte er sie – leider! Perfy Viktor selber hatte ja mit ihrem Ruhm die Stadt erfüllt; ganz Szegedin wartete gespannt, daß er die Schönste der Schönen in die Gesellschaft führte, ganz Szegedin, welches daran gewöhnt war, daß „der fesche Perfy“ das Rarste von Allem aufspürte und für sich nahm.

Schlaflos und unruhvoll lag in dieser Nacht auch die junge Braut auf ihrem Lager. Scharf und brennend wie ihr Verlobter empfand sie heute zum ersten Mal das Erniedrigende der Verbindung, welche sie in ihrer Unerfahrenheit übereilt eingegangen war.

„Schäme Dich!“ hatte Stefan gesagt.

Und sie schämte sich, daß ihr die Gluth in die Wangen schoß, daß sie das Gesicht in die Kissen drückte, als müsse sie’s verbergen selbst vor der blinden Nacht. Sie sollte eines Mannes Weib werden, der, das wußte sie jetzt, niedrig dachte und fühlte, der die Mutter verachtete, weil er keine Augen und kein Herz hatte für ihre Ehrbarkeit, Rechtschaffenheit und Güte; der an ihr selbst nichts schätzte, nicht ihr Herz, nicht ihren Verstand, nicht ihren Frohsinn, nicht einmal ihre Schönheit; dem sie nur „’was Rares“ war!

„Schäme Dich!“

Ja, schäme dich; denn bist du besser als er? Warum verlobtest du dich mit ihm? Schätztest du ihn, hattest du ihn gern? Nein! Aus kindischer Eitelkeit gabst du ihm das Jawort. Du, die Bauerntochter, wolltest in vornehme Gesellschaft kommen, seidene Kleider tragen und auf feine Bälle gehen; du, die Bauerntochter, fühltest dich geschmeichelt durch die Bewerbung des Edelmannes! Und vor Allem, du wolltest dem Stefan zeigen –

„Schäme Dich! Du – Du – schäme Dich!“

Der Ton, mit welchem der brave, fleißige Stefan die Worte hervorgestoßen, klang ihr im Ohr und Herzen. Und sie hatte ihn verlacht und verachtet, weil er sich seiner ehrlichen Arbeit und seines ehrlichen Standes nicht schämte, den Stefan, der tausendmal gescheiter, tausendmal braver und besser war als sie – und der sie dennoch liebte, noch jetzt liebte!

Und nun schossen ihr die Thränen aus den Augen, und ihr Herz jubelte dabei und sang den Lerchensang: „Er liebt mich! er liebt mich!“ und flog mit den Worten empor, hoch über den Staub und die Verwirrung und den Schmerz der Erde bis in den blauen Himmel hinein.

Und so, von seinem hohen Himmel her, schienen ihm die irdischen Dinge so klein und ihre Verwirrung so leicht zu lösen, [775] und es war so geschwellt und ganz erfüllt von dem leichten und treibenden Muth der Jugend und Liebe, daß aus ihm heraus wie ein ’Jubelruf die Worte über Riza’s Lippen drangen:

„Mutter, liebe Mutter, wachst Du? Mutterle, ich liebe den Stefan und er mich! Und morgen in der Früh’ geben wir dem garstigen Perfy Viktor, den Abschied – halt ja?“

Ach, arme Riza, wie rasch ihr Herz vom Himmel herab auf die Erde fiel, getroffen von bösen, bösen Worten aus sonst so gütigem Munde! So gut hatten Mutter und Tochter bisher sich verstanden, so liebevoll stets mit einander geredet, und nun war’s, als ob zwei Feinde einander bekämpften; denn durch das Dunkel der Nacht, das die lieben, altvertrauten Gesichter verhüllte, klangen die Worte so schwer, so kränkend …

Als der Morgen graute, hatte Terka sich zu der Drohung verstiegen, sie werde Riza aus Haus und Herzen stoßen, wenn sie gegen den vornehmen Freier, der unermeßliche Ehre ins Haus bringe, ein Wort verlauten lasse von der dummen, eingebildeten Liebe zu dem verhaßten Sohne eines schlechten Vaters; Riza aber hatte ebenso entschieden versichert, sie werde eher sterben, als des niedrig gesinnten Perfy Weib werden.

Stumm und ohne einander anzublicken, erhoben sich dann Mutter und Tochter, und während die Erstere in die Küche eilte, um Vorbereitungen zum festlichen Nachtmahl zu treffen, blickte Riza hilfesuchend aus dem Fenster und sah Stefan auf dem Maulbeerbaum sitzen und hinüberschauen. Da ging sie resolut durch die Küche an der Mutter vorbei in den Hof und rief laut zum Baum hinauf:

„Du, Stefan! geh’ zu Perfy Viktor und sag’ ihm –“

Da war die Mutter schon neben ihr, riß sie zurück in die Küche und schrie:

„Ich verfluche Dich, wenn Du dem Perfy Dein Wort brichst!“

Bleich wich Riza zurück; der Fluch der Mutter war etwas, worüber sie nicht hinauskonnte, was Gewalt über sie hatte. Endlich sagte sie tonlos:

„Ja, ich werde ihn heirathen, den Perfy, der Dich und mich verachtet. Und weißt, was hernach kommen wird? Dich wird er aus seinem Hause jagen, weil Du eine Bäuerin bist, mich wird er mißhandeln, weil er mich nicht wird zwingen können; denn ich werde ihn hassen und verachten und ihm trotzen – und dann werde ich sterben vor Gram, und der Stefan auch –“ hier schluchzte sie auf und zwischen dem Schluchzen kam noch hervor: „Und Du wirst Schuld haben an seinem Tod und dem meinen und – und –“

Sie legte den Köpf auf den Küchentisch und weinte laut.

Terka zog sie bei der Hand in die Höhe, führte sie in die Kammer und sagte:

„Hier bleibst, bis Du gescheit geworden bist; mit solch dalketem Fratz werd’ ich halt noch fertig werden!“

Sie schloß die Tochter ein und murmelte vor sich hin:

„Bis zum Abend wird sie sich beruhigen. Und ist sie erst Edelfrau und in Paris, wo alle Gassen mit Steinen gepflastert und in den Häusern die Wände aus Spiegeln und Marmelstein sind, wo es so viele Grafen giebt wie Ziegel auf den Dächern, Grafen, die ihr alle flattiren – denn ein herziger Fratz ist sie doch, das dumme Ding – dann wird sie mich segnen, daß ich heut ihre Narrheit gezwungen hab’.“

Aber noch einmal sollte Terka’s Fassung ernstlich erschüttert werden. Denn Stefan betrat, zum ersten Mal in seinem Leben, ganz frank und frei durch die große Vorderthür ihr Haus – gut nur, daß sie die Riza in die Kammer gesperrt hatte, wo sie von dem frechen Buben nichts hören und sehen konnte!

Der Stefan hatte zuerst verlegen etliche Sätze gestottert; aber bald hatte er die Scheu abgeschüttelt und hatte der Terka gesagt, er, der Stefan, liebe Riza und er glaube, sie liebe ihn auch, und da sei es eine Sünde und Schande, daß die Mutter sie zur Ehe mit dem miserablen Gliederschlotterer zwingen wolle, dem Advokaten, der keine Kraft in den Knochen, kein Herz im Leibe, kein Geld im Beutel und bloß Dünkel im leeren Gehirnkasten habe. Und wenn die Mutter ein Einsehen haben und ihm, dem Stefan, die Riza zur Frau geben wolle, so werde er Riza sein Leben lang auf den Händen tragen und die Mutter hochhalten wie seine eigene. Wenn aber Terka seine Riza zwingen wolle, so werde er dem Dirnlein aus der Noth helfen, und solle er den Advokaten noch am Altar von ihr reißen oder gar todtschlagen.

Terka hatte dem frechen Buben gehörig heimgeleuchtet. Aber er hatte ihr doch einige Besorgniß dagelassen. Wer weiß, wozu der Kecke fähig war! Muth genug hatte er zu den größten Tollheiten; wie ihm die schwarzen Augen geblitzt hatten! Sauberer war er schon als der storchbeinige Perfy Viktor, und reden konnte er – auch handeln, wie er gestern erst bewiesen hatte. Es war doch eigentlich hübsch von ihm gewesen, daß er sie, die Terka, die ihm die Jahre hindurch so viele schlimme Worte gegeben, aus dem Schlamm gezogen und hinübergeschleppt hatte. Und sie war nicht leicht! Perfy Viktor wäre sicherlich unter der Last zusammengebrochen. Das heißt: er hätte sie überhaupt nie auf sich zu nehmen versucht; zu solchem Dienst war er viel zu vornehm.

Zu vornehm! Daß er sich doch ja nicht zu viel einbildete! Wenn der Stefan seine Kleider anzöge, wäre er dann nicht ein schönerer Gemahl für das vornehmste Edelfräulein, als der dürre Advokat? Und rühmte sich der einer großen Familie, so hatte Stefan dafür Geld – und Liebe. Denn er liebte die Riza gewiß und wahrhaftig, und sie würde vielleicht mit ihm so glücklich werden, wie Terka nie gewesen, wie sie aber einmal gehofft, gewünscht, ersehnt hatte, zu sein! Um dann betrogen, verrathen zu werden von dem Janos, dem schlechten Vater dieses kecken Buben! Und warum sollte es der Stefan anders machen mit der Riza, als es sein Vater mit der Terka gemacht? War er doch sein Sohn und ihm gleich bis aufs Leberflecklein auf der Nase.

Und Janos würde sich ins Fäustchen lachen, wenn sein Sohn ihre einzige, schöne, reiche, feine Tochter zur Frau bekäme; wenn die Terka schließlich geschafft und gespart hätte für den Janos, die Terka, die ihn am liebsten zertreten hätte – die jetzt im Begriff gewesen war, ihrem ehrgeizigen Streben die Krone aufzusetzen, ihre Riza und sich selbst zu erheben in die vornehme Welt, in welche der Janos sammt seinem Sohne nie und nimmer auch nur durch ein Thürritzchen werde gucken können!

Aber wenn es nun wahr wäre, was Riza gesagt, wenn diese vornehme Welt der Mutter die Thür vor der Nase zumachte und die Tochter fühlen ließe, daß sie aus Bauerngeschlecht stamme? Wenn’s wahr wäre, daß die Familie des Perfy Viktor, ja daß dieser selbst sie und ihr Kind mißachteten? Er war gestern so sonderbar gewesen –

Gestern? nur gestern? – Terka schoß alles Blut zu Kopf: mit peinlicher Schärfe stand plötzlich jedes tadelnde Wort, jeder spöttische, geringschätzige Blick vor ihr, mit denen Perfy Viktor sie nach und nach in den Winkel gedrängt hatte – wo sie stehen geblieben war, schüchtern und demüthig, wie ein gescholtenes Kind, sie, die reiche, angesehene, stolze Terka!

Scham, Zorn, Haß bäumten sich in ihr auf:

Das mußte anders werden, noch, heut’! Noch heut’ würde sie Perfy Viktor zeigen –

Noch heut’! Da fiel ihr ein, daß heute ja der Polterabend war. Die Uhr zeigte schon auf Mittag, Und der Bräutigam hatte seinen täglichen Besuch nicht gemacht. Wenn er Riza im Stiche ließe, in Schmach und Schande brächte vor der ganzen Gesellschaft seiner Verwandten und dazu vor derjenigen der Bauern, welche Terka ohne Wissen des Schwiegersohnes eingeladen hatte, weil sie mit der Heirath der Tochter prahlen wollte?

Mit ihrem Denken auf diesem Punkt angelangt, fühlte Terka nichts mehr, als eine sich steigernde Angst, daß Perfy nicht kommen werde, und diese machte sie so reizbar, daß sie bei jedem Geräusch erblaßte und zitterte und bei jedem kleinen Versehen der Mägde in größte Aufregung gerieth.

Nun hatte sie bereits Riza angekleidet und heftig auf die Tochter gescholten, daß ihre Wangen so weiß wären wie ihr Kleid und sie sich anstelle wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt würde. Darauf hatte Riza nichts erwidert, sondern nur die Mutter angeschaut mit einem Blick so voll Schmerz und Flehen, daß Terka sich rasch abwenden mußte. Aber das saß ihr doch im Herzen und mehrte ihre Aufregung.

Es war fünf Uhr geworden. Perfy kam noch nicht.

Terka zog das schwarze Seidenkleid an, aber als sie ihre Mißgestalt im Spiegel sah, kam ein plötzlicher Trotz über sie: sie wollte sich nicht ihres Eidams wegen zur Vogelscheuche machen. Sie zog das Kleid aus und legte ihren prachtvollen Bauernstaat

[776]

Die Einschiffung der Leiche Gustav Adolf’s im Hafen zu Wolgast am 15. Juli 1633.
Nach dem Oelgemälde von C. G. Hellquist.0 Photographie im Verlag von Fr. Hanfstängl in München.

[777] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [778] an, in welchem sie so ansehnlich und hübsch aussah, daß Perfy Viktor sich ihrer nicht zu schämen brauchte, wenn er nur ein Fünkchen Einsicht und Verstand hatte.

Ja, hatte er die?

Es schlug Sechs. Die Festtafel mußte im Hof gedeckt und mit Blumen geschmückt werden. Und das war ein peinliches Geschäft; denn im Maulbeerbaum saß groß und breit der Stefan und schaute mit finstern Augen zu. Riza durfte den Hof nicht betreten; der Terka aber schlug das Herz immer ängstlicher.

Sieben Uhr. Die ersten Gäste langten an: ein paar reiche Bauernfamilien in prächtigen Festkleidern; sie wechselten kräftigen Handschlag mit Terka und Riza und fragten nach dem vornehmen Bräutigam. Der aber war nicht da.

Dann kam der Advokat, welcher den Ehevertrag aufzusetzen hatte, und Terka wurde roth und blaß, als sie dem verwundert aufhorchenden alten Herrn erklärte, ihr Eidam sei noch nicht gekommen, er müsse nothwendige Abhaltungen haben. Der alte Herr wiegte den Kopf.

„Nothwendige Abhaltungen?“ wiederholte er. „Als ich meiner Zeit zur Hochzeit reiste, war die Tissa, die ich passiren mußte, ausgetreten und hatte, wie sie das zu thun liebt, Häuser und Vieh und Menschen mitschwimmen heißen, und dazu wüthete eine furchtbarer Sturm. Meine Mutter jammerte, mein Vormund redete mir im Namen der Vernunft zu, doch die Hochzeit ein paar Tage oder Wochen aufzuschieben. Ich aber sagte: ,Aufschieben? Warten? Aufs Glück warten? Meine Janka auch nur eine Stunde später küssen, als ich’s kann? Ein Narr und eine Memme, wer’s thäte!‘ Und ich nahm mir einen guten Kahn und einen tapfern Fährmann und fuhr durch Trümmer und Leichen und Wellen zur Braut. Die machte, als sie mich sah, große, starre Augen, als käm’ ich geradewegs aus dem Grabe; dann aber fiel sie mir vor allen Leuten um den Hals – sie, die so für die Beobachtung der Schicklichkeit erzogen war, sie küßte mich wieder und wieder und rief: ‚Ich bin Dein, mein tapferer Ferencz, Dein von diesem Augenblick an bis ans Eude der Welt und ins Grab!‘ Noch in derselben Stunde wurden wir getraut, und ich hatte sie und habe sie behalten bis heut, da wir schon graue Köpfe haben. Ja, ja, Terka né, wir Alten hatten mehr Feuer im Blut als die bleichsüchtige Jugend von heut zu Tage –“

„O nein,“ fiel dem alten Herrn Riza ins Wort, die herangetreten war und Alles gehört hatte, „ich weiß Einen, der noch heut’ dasselbe wagte und thäte und durch Wasser und Feuer und Tod ginge bloß mit dem einen Gedanken im Herzen, daß ich dahinter stände und so spräche, wie Ihre Braut damals – und ich – o ich –“

„Es klopft, Riza, geh, nachzuschauen, wer’s ist!“ unterbrach sie die Mutter, aber mit zitternder Stimme und blaß im Gesicht, das sie hastig zur Seite wandte, und der alte Herr sah den Beiden, welche in das Vorderzimmer gingen, nach und murmelte: „Merkwürdig! sie weiß Einen, aber es ist nicht ihr Verlobter – und die Mutter weiß das und weint – und sie warten auf den Bräutigam, der nicht kommt.“

Aber er war gekommen, umgeben von einem ganzen Hofstaate seiner Verwandten und Freunde, und er führte das alte Fräulein Teleky am Arm, das der Terka die Fingerspitzen hinreichte und sagte: „Sehen Sie, ich bin gekommen, liebe Frau, den Ehrentag meines guten Neffen mitzufeiern“, und Perfy Viktor, welcher beim Anblick der bäuerlichen Gäste erblaßt war, stellte seine übrigen Verwandten – nur Herren – seiner Braut vor – nur der Braut – und fügte hinzu: „Sie werden mein spätes Erscheinen verzeihen, theure Riza, wenn Sie hören, daß ich meine Verwandten, welche uns solche Ehre erweisen, erst vor einer Stunde vom Bahnhof abgeholt habe und die Wagen noch den Umweg zu dem Hause meiner gnädigen Tante machten.“

Riza hörte ihn stumm an und wandte sich dann mit verächtlich zuckender Lippe von ihm ab und den Herren zu, welche ihr Glückwünsche und Schmeicheleien sagten. Als aber Terka’s Schüchternheit vor der Galanterie der Edelleute aufthaute und sie sich in ihrer zuthunlichen Weise in das Gespräch zu mischen begann, fiel Perfy Viktor, dem die Schweißtropfen auf der Stirn standen, ihr ins Wort, fragte sie, ob das Nachtmahl bereit wäre, und raunte ihr zu:

„Sorgen Sie für Ihre Bekannten, liebe Mama; ich werde meine Verwandten placiren.“

Und Terka gehorchte, obwohl sie im Gefühl der Demüthigung erbleichte und zitterte. Aber die Vornehmheit ihres Eidams verwirrte und unterjochte sie.

Perfy Viktor komplimentirte indeß seine Verwandten in den Hof und wies ihnen die oberen Plätze der Tafel an; die Bauern mußte Terka ans untere Ende setzen. Dann bot Perfy seiner bleichen Braut den Arm und geleitete sie zu dem Ehrenplatze, welcher dem Brautpaar gebührte.

Aber Riza blieb stehen und schaute sich um. Ihr zur Rechten saß ein alter Verwandter Perfy’s, ihr Verlobter hatte seine Tante zur Nachbarin.

Sie erblaßte noch tiefer; mit zitternden Lippen fragte sie leise:

„Und meine Mutter? Wo soll meine Mutter sitzen?“

„Ei, wo sie mag! – So setzen Sie sich, machen Sie keine Scene, Riza,“ flüsterte Perfy, dessen arg bestürmte Selbstbeherrschung zu wanken begann.

Riza blickte ihn einen Moment mit sprühenden Augen an und ging dann an den aufschauenden Gästen vorbei auf ihre Mutter zu, die ganz fassungslos vor Scham, Angst und Wuth am untersten Ende des Tisches auf einen Stuhl gesunken war, gab der Willenlosen den Arm, führte sie zu dem Platze, welchen das alte Fräulein einnahm, und sagte mit ehrerbietiger Verbeugung, aber mit fester, lauter Stimme:

„Sie verzeihen, gnädiges Fräulein; es ist ein Irrthum geschehen; der Platz neben dem Bräutigam gebührt der Brautmutter.“

Das Fränlein erhob sich sofort und erwiderte:

„Ich räume den Platz und das Haus, in welches Sie eine Dame Ihrer Verwandtschaft nicht hätten führen sollen, Viktor.“

Da verlor Perfy Viktor alle Selbstbeherrschung; er sprang auf und stammelte wuthbebend:

„Das sollen Sie mir büßen, Riza; diesen Schimpf sollen Sie mit blutigen Thränen abwaschen –“

Nun aber rang sich endlich Terka’s Stolz durch ihre Angst und Verwirrung hindurch, und sie rief mit befehlshaberischem Ton:

„Jetzt ist’s genug, jetzt schaun’s, daß Sie ganz still schweigen, Herr Schwiegersohn!“

Sie legte ihm gebieterisch die Hand auf die Schulter. Wüthend schüttelte er sie ab und rief:

„Berühren Sie mich nicht! Wer spricht denn mit Ihnen, Sie einfältige –“

Weiter kam er nicht; denn Riza hatte ihn ins Gesicht geschlagen.

Und in demselben Augenblicke geschah dicht neben der Tafel ein Knall wie von einem aus großer Höhe herabfallenden Gegenstande. Stefan lief an der entsetzten Tischgesellschaft vorbei auf Riza zu, hob sie auf starken Armen in die Höhe und küßte sie und jubelte:

„Dirn’! Dirn’! Dirn’! Was bist für ’ne brave Dirn’! Und mein bist, mein! Schau, ich bin Dir ja halt zum Sterben gut!“

Und Riza schlang die Arme um Stefan’s Hals und sagte ganz laut:

„Jetzt hab’ ich Dich mir verdient, mein Stefan!“

Dann sprang sie aus seinen Armen zur Erde und umschlang die Mutter und flüsterte:

„Jetzt giebst mich dem Stefan gern, halt ja, Mutter?“

Aber Terka konnte nichts thun als weinen.

Die Hochzeitsgesellschaft war längst zerstoben. – –

Ein Vierteljahr später saß eine große Schar festlich geschmückter Bauern um eine Tafel, die fast von einem Ende des Hofes bis zum andern reichte und unter der Last des Paprikasch und der Spanferkel und der vielen guten Krapfen ächzte, und lärmend tranken sie auf das Wohl des schönen jungen Ehepaares, das nur Augen hatte für einander. Neben dem Bräutigam saß Terka und schaute glückstrahlend auf Stefan, der ihr von Zeit zu Zeit heimlich die Hand küßte; neben der Braut Janos, fett und hübsch, und blickte vergnügt in sein Weinglas. Und Janos stand auf, ging um den Tisch herum zu Terka und flüsterte ihr zu:

„Schau, Terka, die fliegen noch heut’ in den Himmel – meinst nicht? – Hei, wer das auch noch könnt’! – He, was meinst, alte Liebste, wollen wir zwei Beid’ nicht am End’ nachholen, was wir vor zwanzig Jahren versäumt haben? Die alte Feindschaft haben wir nun doch begraben, und ich bin halt übrig [779] geworden, da das junge Paar meine Wirthschaft übernimmt. Was meinst, wenn ich zu Dir zöge? Schmuck genug bist noch, alte Liebste, und ich – na, ein sauberer Bub’ war ich immer –“

„Ein Lump warst immer und bleibst immer,“ sagte Terka herb. „Schämst Dich nicht, den Verliebten zu machen und auf die Freit zu gehen, Du, der bald Großvater sein wird?“

„Nu, wenn halt der Großvater die Großmutter nimmt –“ scherzte Janos. „Warum sollen wir Alten nicht noch ’mal das Glück nachholen –“

„Weil sich’s nicht nachholen läßt,“ sagte Terka. „Meinst, ich mag Dich noch? Das ist vorbei für immer, und mein Glück ist jetzt, zu schauen, wie meine Riza so einen guten, tüchtigen, treuen Mann hat, wie Du nie warst, Janos. Ja, mein Glück ist in dem meiner Kinder beschlossen, und ich hab’ Gott sei Dank keinen dummen Ehrgeiz und keinen Wunsch mehr, als den, daß sie immer rechtschaffene und glückliche Eheleut’ bleiben möchten. Und das werden sie; denn sie haben ihre Eh’ gebaut auf Lieb und Treu – wir hatten die unsere gesetzt auf Eitelkeit und Habsucht und Hochmuth; darum ist mein Leben durch tiefen Sand gekeucht und Deins ist in den Schmutz gefallen. Und nur die tüchtige Kraft des Stefan und die Kindeslieb’ meiner Riza haben uns bewahrt vor Unglück und Schmach, in die mein dummer Hochmuth – na, das ist nun vorbei und ich freu’ mich an meinen Kindern, und das ist mein Glück – und Deins, Janos, ist hinter dem Ofen und war immer da, und es würd’ Dir halt ebenso schlecht gefallen, unter meine Zuchtruth’ zu kommen, wie mir, Dich altes Kind noch zu ziehen.“

Da lachte Janos ein wenig gezwungen auf, schlich auf seinen Platz zurück und vertrank im feurigen, rothen Landwein seine Beschämung.

Fortan saß er immer im Lehnstuhl und trank und schaute zu, wie Stefan und Riza fleißig und fröhlich wirthschafteten, und war glücklich im Nichtsthun. Wenn es aber Feierabend wurde, ging das junge Paar durch die Thür, welche Terka in den Gartenzaun gefügt hatte, zur Mutter und bewunderte die alten, lieben, verstaubten Teppichbeete und plauderten von des Tages Hitze und Last und Glück. Und Stefan sprach auch von öffentlichen Angelegenheiten, denn die Stadt hatte den verständigen und tüchtigen Bauern in ihren Rath gewählt, und er konnte nun die Weisheit des „ungarischen Staatsbürgers in fünf Bänden“ reichlich anwenden.

Als aber Riza’s ältester Bube in seinem fünften Lebensjahre auf den Maulbeerbaum kletterte, um in der Großmutter Garten zu schauen, da ließ Terka in Angst um die runden Glieder ihres Herzblattes den hohen Zaun niederreißen, und Stefan zimmerte neue Bänke um den alten Baum, in dessen Schatten jetzt die vereinigte Familie saß.

Und Terka sprach davon, daß ihr Liebling, der kleine Janos, gewiß einmal Oberbürgermeister von Szegedin werden müsse. Denn sie war halt die alte Terka geblieben.


Zur Geschichte des Fingerhutes und seiner Verfertiger.

Wie die Geschichte der Erfindung vieler nützlicher Gegenstände sich im Dunkel der Vorzeit verliert, so ist uns auch der Ursprung des Fingerhutes völlig unbekannt geblieben.

Aus dem 12. Jahrhundert stammt die erste Nachricht über den Fingerhut, die allerdings sehr kurz ist und nur dessen Namen nennt. Es lebte damals die heilige Hildegard, die wegen ihrer Frömmigkeit wie nicht minder wegen ihrer Gelehrsamkeit in großem Ansehen stand. In einem ihrer Werke hat die heilige Hildegard eine Zusammenstellung von 900 Wörtern mit Uebersetzung in einer räthselhaften, unbekannten Sprache niedergelegt, in der man den sehr frühen, interessanten Versuch einer Weltsprache vermuthet. Unter diesen Wörtern findet sich nun auch der ,,vingerhuth“, der in der räthselhaften Sprache den Namen „Ziriskanz“ führt. Da die in der Handschrift zusammengestellten Wörter vielfach Gegenstände des täglichen Gebrauches nennen, so ist anzunehmen, daß unser Hütchen schon im 12. Jahrhundert etwas Gewohntes war.

Fingerhut aus dem 14. Jahrhundert.
Gefunden auf der Burg Tannenberg.

Wohl recht fleißige Damen jener Zeit sind es gewesen, auf deren Grabstein man eine Scheere anbrachte, was namentlich in England öfter geschah; leider hat man versäumt, ihr den Fingerhut als Genossen beizugesellen und dadurch seine älteste Gestalt zu überliefern. Dieselbe dürfte aber kaum wesentlich anders gewesen sein, als sie der im Kabinettsmuseum zu Darmstadt befindliche bronzene – wohl gegossene – Fingerhut zeigt, der im Jahre 1848 auf der Burg Tannenberg an der Bergstraße ausgegraben worden. Da die Burg 1399 wegen raubritterlicher Thaten ihrer Herren zerstört und nie mehr aufgebaut wurde, so ist das Alter dieses Fingerhutes, der so ziemlich die Form der heutigen hat, nur etwas breit ist, genau festgestellt.

Die Reichsstadt Nürnberg mit ihren tüchtigen Handwerkern, deren Witz, das ist Erfindungsgabe, sprichwörtlich geworden, war ein Hauptfabrikationsort der Fingerhüte. Die Verfertiger derselben, die Fingerhüter, das heißt Fingerhutmacher, werden zum ersten Male 1462 erwähnt, doch bildeten sie damals noch keine geschlossene selbständige Korporation, sondern werden in den Meisterbüchern von 1462 bis 1533 ausnahmslos dem Handwerke der Rothschmiede zugetheilt. Erst 1534 erscheinen die Fingerhüter zum ersten Male als besonderes Gewerbe, das 1537 eine eigene Ordnung erhielt. Doch sind gewiß die Erzeugnisse derselben von den unternehmenden Kaufleuten dieser Stadt schon im 15. Jahrhundert allenthalben auf den Jahrmärkten und in den Kramläden feilgeboten worden, etwa mit Worten, die in einem Fastnachtsspiele des 15. Jahrhunderts einem das Publikum zum Kaufe einladenden Krämer in den Mund gelegt werden:

„Ich han gut Schnur in das Unterhemd,
Auch hab’ ich Nadeln, Bürsten und Kämm,
Fingerhut, Taschen und Nesteln viel,
Heftlein und Häcklein, wie man will.“

Nachdem die Nürnberger Fingerhüter ein besonderes Gewerbe geworden, hatten die Rothgießer noch das Recht, gegossene Fingerhüte zu machen. Auf welche Weise die Fingerhüter – denen dagegen natürlich das Gießen der Hütchen verboten war – die Fingerhüte fertigten, verräth uns die älteste Abbildung einer Fingerhüterwerkstätte, speciell einer Nürnberger. Sie findet sich in dem 1568 erschienenen Buche „Eygentliche Beschreibung Aller Stände auff Erden, Hoher und Niedriger, Geistlicher und Weltlicher, aller Künsten, Handwercken und Händeln“, illustrirt durch Jost Amman, den fruchtbarsten deutschen Künstler der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, der namentlich als Illustrator aller möglichen Werke des verschiedensten Inhaltes eine außerordentliche Thätigkeit entfaltete. Wie unter allen Darstellungen dieses Werkes, so finden sich auch unter dem „Fingerhüter“ Verse des Altmeisters Hans Sachs, die aber meist derartig sind, daß sie seinen Ruf als Dichter weder begründen noch vergrößeren konnten.

„Aus Messing mach’ ich Fingerhüt,
Blechweiß, werden im Feuer glüt,
Dann in das Eisen blank getrieben,
Darnach Löchlein darein gehieben,
Gar mancherlei Art, eng und weit,
Für Schuster und Schneider bereit,
Für Seidensticker und Näterin,
Des Handwerks ich ein Meister bin.“

Faksimile nach Jost Amman vom Jahre 1568.

Während ein großer Theil der Reichsstädte sich eines demokratischen Regiments erfreute, herrschte in Nürnberg die Aristokratie, die den Zünften keinerlei Selbständigkeit gönnte, sondern sie bis auf die geringsten Kleinigkeiten herab regierte. In ihren Vorschriften wurde zwar Vorsorge getroffen, daß nur gute, den Ruf des Handwerkes nicht schädigende Arbeiten die Stadt verlassen durften und daß jeder Meister sein genügendes Auskommen hatte. Um ihnen das letztere zu sichern, ging man aber manchmal zu weit und erließ sogar Verordnungen, welche die Ausbildung des Gewerbes hemmten und welche man von Nürnberg, dessen Handwerksmeister so mannigfache Erfindungen machten, eigentlich nicht erwarten durfte. So wurde 1572 auf eine Eingabe der geschworenen und gemeinen Meister des Fingerhüterhandwerks dem Jörg Endtner, ihrem Mitmeister, der sich ein Drehrad konstruirt hatte, bei Strafe verboten, diese gesuchte Neuerung, die sonst von keinem Meister auf dem Fingerhuthandwerk gebraucht wurde und die nur seiner Arbeit Vortheil, den andern Meistern aber Schaden bringe, ferner zu benützen. Uebrigens scheinen die Fingerhüter doch keine großen Reichthümer gesammelt zu haben, denn ein altes fliegendes Blatt vom Jahre 1621 verkündet von ihnen:

„Die Bader, Küfer, Fingerhüter
Bringen zusammen nicht viel Güter.“

[780] Offenbar aus einer Nürnberger Fingerhüterwerkstätte ist der hier abgebildete Fingerhut im Besitze des Germanischen Museums zu Nürnberg hervorgegangen. Er ist ziemlich eng und spitzig und, wie die meisten Geräthe jener Zeit, nicht schmucklos, sondern mit Verzierungen und einem Spruche versehen. Unter den Löchlein befindet sich eine Reihe verschiedener runder Stempel, welche Sterne, Adler, Lilien, Thiere etc. darstellen, unter denen sodann der Spruch: „Wen Got wil so ist mein Zil“ und die Jahreszahl 1595 eingeschlagen ist, und zwar jeder Buchstabe besonders und nicht sehr regelmäßig, theilweise mit verschieden großen Stempeln.

Nürnberger Fingerhut aus dem Jahre 1595.

Aus dem 16. Jahrhundert bewahrt das Germanische Museum aber noch einen Fingerhut, und zwar von solchen Dimensionen – er ist sicher der größte, der existirt – daß er sich für die Fingerspitze eines Riesen eignen dürfte, nämlich einen schönen, getriebenen, silbernen und vergoldeten Pokal, der die Gestalt eines auf einem Reifen stehenden großen Fingerhutes hat. Er ist, wie die Inschrift am Rande verkündet, dem Nürnberger Schneiderhandwerk durch die Gebrüder Gewandschneider im Jahre 1586 gestiftet worden.

Auf dem Deckel steht ein Genius mit einer großmächtigen Schere in der Rechten und einer großen Nadel als Lanze in der Linken. Unzweifelhaft hat den Nürnberger Schneidern kein Fingerhut so gut gefallen wie dieser werthvolle, ihnen zum Geschenk gemachte. Wie oft mag dieses prächtige Geschirr im heiteren Kreise umgegangen und des köstlichen Weines, denn nur solcher paßte für ein so vornehmes Gefäß, entleert worden sein! Das Sprichwort, daß ein Schneider einen Fingerhut ausgetrunken und davon schwer bezecht gewesen sei, verlor hier seinen beißenden Spott.

Silberner Pokal des Nürnberger Schneiderhandwerks vom Jahre 1586.

Außer diesem riesigen Fingerhut gab es noch andere aus edlem Metalle, welche die Goldschmiede für reiche und vornehme Herren herstellten, die sie als Angebinde für die holde Braut oder die anmuthige Hausfrau verwendeten; manchmal mag auch ein Goldschmied mit ganz besonderem Eifer für seine Herzallerliebste ein solch werthvolles Stück angefertigt und dabei sein ganzes Können zum Ausdruck gebracht haben. Zur letzteren Kategorie gehörte der vom Amsterdamer Goldschmied Nikolaus van Benschoten vor zweihundert Jahren hergestellte, dessen Begleitzeilen zu dem Märchen Veranlassung gaben, es sei der Fingerhut erst vor zweihundert Jahren erfunden, zunächst lediglich Luxusartikel und später erst allgemeiner Gebrauchsgegenstand geworden. Was Benschoten „eigens erfunden“, war nicht der Fingerhut an und für sich, sondern der künstlerische Schmuck, welchen er seinem Exemplare verlieh. Fingerhüte aus edelm Metalle mit reichem Schmucke, die nicht für den täglichen Gebrauch verwendet wurden, sondern nur als Schmuckgegenstände dienten, wurden jedoch auch schon früher gefertigt. Der Frankfurter Kupferstecher Joh. Theod. de Bry (1561 bis 1623), der eine Reihe prächtiger Goldschmiedevorlagen gestochen, lieferte auch ein reizendes Blatt mit den Entwürfen schöner Fingerhüte, die auf das Reichste mit ziemlich freien, theilweise mythologischen Darstellungen geschmückt waren. Auf der oberen Abrundung der Fingerhüte sollte ein Amor oder ein Genius, umgeben von den Inschriften: „Force d’amour* Vis amoris“, La puissance d'amour“ (Macht der Liebe) angebracht werden. Derartige kostbare Fingerhüte haben sich vielfach bis auf unsere Zeit erhalten; interessant sind namentlich solche, welche in mehrere Theile zerlegt werden konnten, mit Portraits und Wappen geschmückt wurden und zum Theil die Stelle unserer Medaillons vertraten.

Recht ausführliche Mittheilungen über die Fingerhutfabrikation am Ende des 17. Jahrhunderts erhalten wir aus Christoph Weigel’s „Abbildung der Gemein-Nützlichen Haupt-Stände Von denen Regenten … biß auf alle Künstler Und Handwerker“ vom Jahre 1698, woselbst ebenfalls die Werkstätte eines Fingerhüters und zwar in Kupferstich dargestellt ist, die sich durch reichere Äusstattung von der Jost Amman’schen unterscheidet. Dem Geschmacke jener Zeit entsprechend, finden sich unter dem Bilde, das die Ueberschrift: „Der Tugend starker Schutz, bezwingt der Laster Trutz“, trägt, schwülstige Verse allegorischen Inhaltes (vergl. Illustration S. 773).

Entwürfe zu Fingerhüten nach Theod. de Bry (1561 bis 1623).

Der beigegebene Text erzählt, daß außer in Nürnberg, Köln und Holland Fingerhüter nur an wenig Orten gefunden werden. Es wird ferner berichtet: „Fingerhüte, so man Stern-Hüte mit Knöpffgen nennet, haben oben einen Knopff, welchen man mit Balsam füllen kann, andere aber sind oben offen.“ Weiter wird berichtet: „Es gibt auch gedoppelte Fingerhüte, daran die untere gantz glatt und verguldet, die obere aber, so sehr nett über die untere passen, silbern und gantz durchgebrochen gehauen sind, so gar artig anzusehen.“ Der Verfasser zählt die Gewerbe auf, welche den Fingerhut benützen und von der Nutzbarkeit des Handwerkes der Fingerhutmacher Zeugniß ablegen können. Galant setzt er hinzu: „Insonderheit gebühret ihnen (den Fingerhüten) der Ruhm, daß sie die zarte Finger des Preiswürdigen Frauen-Zimmers bey so viel tausend Stichen, welche sie so künstlich als nützlich zu mancherley Arbeit führen, Stich-frey erhalten, und manches Blut-Vergießen verhüten, welches doch noch offt, wann der Fingerhut nicht alsobald bey der Hand ist, unschuldig vergossen wird.“

Im 18. Jahrhundert rächte sich an den Nürnberger Fingerhütern die uns heute ganz unglaublich scheinende Thatsache, daß der Nürnberger Rath den Meistern die Ausübung von mühsam ersonnenen Verbesserungen und Erleichterungen bei der Fingerhutfabrikation früher verboten hatte; Nürnberg ward gegen Ende desselben von Aachen, Jülich’schen und anderen Orten, wo man Maschinen benützte, die durch Wasserkraft in Bewegung gesetzt wurden, auf dem Gebiete der Fingerhutfabrikation überflügelt.

In der Gegenwart wird der Fingerhut, der jetzt meist aus Stahl hergestellt wird, nicht mehr durch das Kleingewerbe, sondern in großen Massen in Fabriken angefertigt, leider meist ganz schmucklos. Es würde uns eine Genugthuung sein, wenn in Folge dieses Artikels uns recht bald Fingerhüte begegnen würden, welche mit schönen Denksprüchen oder sonstigem passenden Schmucke geziert wären. Die Fingerhüte würden dadurch nicht theurer werden, die Fabrikanten aber gewiß bessere Geschäfte machen. Hans Boesch.      


Pflege des Gehörs.

Von Dr. Joh. Hermann Baas (Worms).

Unzählige feine Nervenfäden nehmen vom Gehirn ihren Ursprung und erhalten von diesem, wie von einer elektrischen Centralbatterie, ihre Erregung und Kraft, darunter ganz besonders die Drähte jener fünf Telegraphenstationen, der Sinne, welche alle Nachrichten von der äußeren Erscheinungswelt in Empfang nehmen, um sie mittelst eigenthümlicher, für eine jede derselben besonders ausgewählter Chiffern, die man gewöhnlich Farben, Töne, Gerüche etc. nennt, als Sinneswahrnehmungen nach dem Gehirn hinzuleiten, damit sie dort zum Bewußtsein kommen und verarbeitet werden. Will Jemand aber grade das Ohr nicht als Telegraphen-, sondern lieber als Telephonstation bezeichnen, so haben wir dagegen nichts einzuwenden.

Unter den fünf Sinnen betrachtet man das Gehör, einer althergebrachten Eintheilung zufolge, als den zweithöchsten, der gemäß dieser Rangordnnng nach dem Auge und vor dem Tastsinn steht. Uns erschien diese Art der Rubricirung zwar immer hinkend; denn wer vermag Dinge, die im tiefsten Grunde doch gleichwerthig unter sich dastehen, in solch „ein verständlich System“ zu bringen? Man höre doch nur auf die Stimme derer, welche einen Sinn verloren haben, und wäre es selbst der niedrigste, wie sie regelmäßig aussagen, sie wollten sehr gern einen anderen für den verlorenen opfern. Immerhin aber wollen wir zugestehen, daß, wenn man die Sache nicht dem innersten Wesen nach, sondern mehr äußerlich beurtheilt, Auge, Gefühl und Ohr den obersten

[781]

Herbstmorgen im Hochgebirge.
Nach dem Oelgemälde von A. Fink.

[782] Rang einnehmen; denn sie sind für die Existenz zweifellos die wichtigsten, die wahren Erwerbssinne im praktischen Leben.

Auge und Ohr sind bekanntlich in doppelter Zahl vorhanden, während Geschmack und Gefühl nur je eine einzige Nummer haben. Das letztere ist jedoch durch seine große Flächenausdehnung ausgezeichnet, umfaßt die ganze Haut und erscheint dadurch vervielfältigt. Das Geruchsorgan, obwohl zweigetheilt, ist durch räumliche Annäherung wiederum zu einem Organ geworden. Jene Verdoppelung bei Aug’ und Ohr ist aber eine Schutzvorrichtung von Seiten der Natur; denn geht die eine Hälfte je verloren, so ist durch die andere für einen guten, wenn auch nicht vollen Ersatz vorgesorgt.

Neben diesem Schutze, der in der zweifachen Anzahl liegt, ist für das Gehör noch ganz besonders durch seine tiefe Einbettung in das Schädelinnere und zwar in den festesten Knochen des Körpers, der deßhalb den Namen des Felsenbeins trägt, eine noch viel handgreiflichere Schutzvorrichtung geschaffen. Aber wie wenig unterstützt so oft der Mensch die schützende und erhaltende Absicht der Natur! Man kann dreist behaupten, daß kein Sinnesorgan im Allgemeinen so wenig gepflegt und vor Gefahren geschützt wird, wie gerade das Gehörorgan. Wir sehen dabei ganz ab von der ästhetischen Mißhandlung, zu welcher dasselbe durch die „Klavier-, Gesang- und Koncertseuche“ verdammt ist, sondern denken nur an die rein physischen Gesichtspunkte der Sache.

Es ist deßhalb wohl eine lohnende Aufgabe, vom Standpunkte der alltäglichen Praxis die Gefahren, welche dem Gehör drohen und deren mögliche Verhütung hier zu besprechen, nicht systematisch, sondern nur in den Hauptzügen.

Wie wunderbar vorsorglich die Natur in der ersten Lebenszeit das Gehör behandelt, zeigt die Thatsache, daß das Mittelohr des Kindes – der Raum hinter dem Trommelfell, welcher die zierlichen Gehörknöchelchen enthält – durch einen Schleimpfropf noch Tage lang nach der Geburt verstopft bleibt, so daß das Neugeborne anfangs nicht viel hören kann. Erst allmählich, während der Pfropf aufgesaugt wird, fängt das Kind an, zu hören. Aber wie wenig schonend verfahren im Gegensatz dazu die Eltern und Verwandten! Sobald wie möglich wollen sie wissen, ob das Kind auch gut hört: man ruft es an, damit es das Köpfchen der Stimme zuwende oder gar erschrecke, singt ihm mit lauter Stimme zu; alsbald belästigt man es auch mit Klingeln, Rasseln u. dergl. schönen Kinderinstrumenten, wenn man es nicht etwa gar noch für besser hält, ihm etwas mit den Händen vorzuklatschen, stark genug, daß selbst einem Erwachsenen davon die Ohren gellen. Diesem fast regelmäßigen Unfuge gegenüber ist es wahrhaft zu verwundern, daß das zarte Gehör nicht noch öfter Schaden nimmt, als es vielfach der Fall ist. Wie vor allem das Kinderohr durch solche starken Eindrücke gegen alle feineren Töne abgestumpft wird, geht daraus hervor, daß die meisten Kinder nur auf laute Gehöreindrücke reagiren. Also: man halte das ganze erste Jahr hindurch möglichst alle starken Schallerscheinungen fern, vor allem aber lasse man doch die Rasseln, Schnarren, Pfeifen, Trompeten etc. aus der Kinderstube fort! Es wird dann viel weniger schwer und träge empfindende Gehörnerven geben!

Und wer kann den Gegenbeweis liefern, daß nicht durch solche allzustarke und grelle Gehörseindrücke in frühester Jugend der Grund zu manchen Fällen von Abzehrung und Absterben der von Hause aus gesunden Gehörnerven gelegt wird, woraus dann unfehlbar Taubstummheit erwächst? Denn diese ist ja nicht immer, wie geglaubt wird, angeboren, sondern kann unter Anderem noch in ziemlich später Zeit, wenn das Kind schon zu sprechen angefangen hatte, in Folge einer Ueberreizung entstehen.

Ein weiteres Erforderniß der Gehörpflege bei kleinen Kindern ist die sorgfältigste Reinhaltung der Ohrmuschel, des Gehörgangs und der hinteren Ansatzrinne der Ohrmuschel an die Kopfhaut, da im frühesten Alter im Allgemeinen mehr Haut- und Ohrenschmalzabsonderung stattfindet, als bei Erwachsenen. „Diese Regel ist aber ganz selbstverständlich und wird doch gewiß grade bei Wiegenkindern überall befolgt!“ wird man sagen. Selbstverständlich ist sie freilich, aber es wird ihr recht häufig nicht nachgekommen, so lautet die Antwort der täglichen Praxis. Merkwürdigerweise herrscht sogar vielfach und nicht allein bei dem sogenannten „gemeinen Mann“, sondern noch mehr fast in „höheren Schichten“ das wunderliche Vorurtheil, man dürfe am Kopfe, also auch an den Ohren, keine Seife beim Waschen verwenden, weil dadurch „die Haut angegriffen werde“. Daran ist kein wahres Wort! Man muß sowohl die Muschel wie die Ansatzrinne gründlich mit lauem Seifenwasser täglich reinigen, weiter aber auch den Gehörgang, was fast gar nicht geschieht, mit lauwarmem Wasser öfters ausspritzen und den Eingang zuweilen mit kegelförmig zusammengefalteten zarten Leinwandläppchen auswaschen, nicht reibend, sondern sanft drehend, wodurch jede Abschürfung vermieden wird. Daran denken Amme und Mutter in der Regel so wenig, daß sie, wenn man die Vorschrift giebt, Einen recht verwundert ansehen. Von der Vernachlässigung solcher einfachen Reinlichkeitsmaßregeln rührt aber eine gute Anzahl der nässenden Ohren und Gehörgänge her; denn jeder an der Haut haftende Schmutz, und seien es auch nur kleienartige Schuppen, reizt die Haut oder entzündet sie allmählich. Dadurch wird nach und nach die Muschel verdickt, verliert einen Theil ihrer Elasticität; der Gehörgang schwillt und wird dadurch enger, ja es entstehen selbst Geschwürchen und daraus schließlich Narben. All das aber stört den akustisch so vollkommenen Bau der Schallzuleitungstheile und schwächt das Gehör. „Da müßten aber viele Kinder schlecht hören, wenn jedes Ohrennässen so schädliche Folgen hätte!“ Leider ist das Letztere ja auch der Fall; denn genaue Untersuchung der Hörfähigkeit vieler Schulkinder hat neuerdings die erstaunliche Thatsache ergeben, daß ein Drittel derselben schlecht hört! Anfügen wollen wir deßhalb sogleich, daß die obigen Reinlichkeitsvorschriften auch noch bei mehr erwachsenen Kindern beobachtet werden müßten, am meisten bei solchen mit skrophulöser Anlage, weil erfahrungsgemäß ganz besonders durch diese die Entstehung von Ohrausschlägen und Ohrenflüssen begünstigt wird, die immer leichter zu verhüten als zu heilen sind und oft genug allen ärztlichen Mitteln selbst Monate und Jahre lang widerstehen.

Aber selbst im späteren Lebensalter wird noch gegen die Reinhaltung des Ohres, besonders des Gehörgangs gefehlt. Wäre das nicht der Fall, so fänden sich nicht so viele Schwerhörige, bei denen eine genauere Untersuchung ergiebt, daß ihr Gehörübel auf theilweisem oder auf gänzlichem Verschluß der Ohröffnung durch angesammeltes und zuletzt zu einer festen schwarzen Masse verhärtetes Ohrenschmalz beruht, welches man nur selten noch durch einfaches Ausspritzen nach vorausgegangener Aufweichung mittelst Oel entfernen kann, sondern mit feinen Instrumenten beseitigen muß. In vielen Fällen kehrt das Gehör dann wieder – in manchen sogar so gut, daß die von dem oft jahrelang vorhanden gewesenen Pfropfe Befreiten sich anfangs durch Zuhalten der Ohren gegen die ungewohnten Tagesgeräusche schützen, was manchmal komisch genug aussieht! In andern Fällen aber wird nicht viel oder auch gar nichts mehr gewonnen, weil der so lange nicht mehr thätige Gehörnerv funktionsunfähig geworden ist. Nach des Verfassers Beobachtungen geschieht das Letztere besonders, wenn jahrelange Verstopfung des Gehörgaugs im höheren Alter statthatte. Auch bei Erwachsenen ist demnach zeitweises Ausspritzen der Ohren nothwendig; ganz verwerflich aber ist das Bohren im Gehörgange mit Haarnadeln, Stricknadeln u. dergl. Dingen, mit denen leicht Unheil angestiftet werden kann. Man lasse lieber seinen Hausarzt kommen, damit er nachsehe und helfe, wenn nöthig; ärztliche Hilfe ist ja in Deutschland so leicht zu erreichen und so – billig, ein ordentliches Gehör aber so wichtig, daß man mit gutem Gewissen zu einem solchen „Luxus“ rathen darf. Gelegentlich wollen wir hier noch hinzufügen, daß man sogar Herabsetzung des Sehvermögens bei Gegenwart von Ohrpfröpfen beobachtet hat, nach deren Entfernung sich die erstere wieder verlor.

Wirken die Ohrpfröpfe auch manchmal wie Fremdkörper, so sind sie doch keine solchen im gewöhnlichen Wortsinne; aber auch wirkliche Fremdkörper findet man bei Kindern häufig als Ursache von Ohrflüssen, und zwar von sehr hartnäckigen, so daß es geboten ist, jedesmal bei diesen das Augenmerk darauf zu richten, ob nicht durch Zufall oder ein bei Kindern gar nicht seltenes künstliches Einbringen etwas ins Ohr gelangt ist; denn oft sagen die Kinder davon nichts aus Furcht vor Strafe oder aus Vergeßlichkeit. Erfahren die Eltern aber die Sache sofort oder später, so ist dringend zu rathen, daß sie selbst alle Versuche unterlassen, den Fremdkörper – meist Bohnen, Erbsen, Johannisbrotkerne, Perlen, Kirschkerne u. dergl., auch kleine Kiesel, Glas- und Steinstückchen – zu entfernen; denn durch ungeschicktes Bohren werden diese Dinge nur tiefer in das Ohr geschoben. Leicht ist die Entfernung von Fremdkörpern, auch die von tief eingedrungenen [783] Wattepfröpfen, in der Regel durchaus nicht! Nur manchmal führt Ausspritzen zum Ziel; meist müssen ganz feine ärztliche Instrumente verwendet werden. Also: der Laie bohre nicht erst lange im Ohre herum, sondern sende sofort zum Arzt. Ist jedoch, was im Allgemeinen sehr selten vorkommt, ein Insekt, eine Mücke, ein „hüpfendes“ Thierchen, ein sogenannter Ohrwurm etc. ins Ohr gerathen und veranlaßt dasselbe, was die Regel ist, arge Beschwerden und noch mehr Angst, so ist das Beste, wenn man den betreffenden Gehörgang sofort ganz mit frischem Baumöl vollgießt, wodurch die Missethäter elenden Erstickungstodes sterben. Ist dies geschehen, so spritze man das Ohr mit lauem Wasser aus. Gelangt aber beim Baden, was bekanntlich nicht selten der Fall ist, Wasser ins Ohr, so fahre man ja nicht mit Bleistift, Taschentuch oder dergleichen darin herum, sondern man senke den Kopf tief nach der Seite und hüpfe auf dem entsprechenden Fuße auf und ab, oder man warte, wenn dies nichts nützt, bis durch allmähliche Verdunstung die kleine Unbequemlichkeit beseitigt wird. Es giebt Leute, denen bei jedem Untertauchen während des Schwimmens Wasser ins Ohr dringt: solchen ist zu empfehlen, daß sie vor dem Baden die Gehörgangsöffnung mit einem nicht zu dünnen, reinen Wattepfropfen verschließen, der sich dann mit den Fingern leicht wieder herausnehmen läßt. Es ist dies kein kleinlicher Rath; denn manchmal bewirkt das eingedrungene kalte Wasser nachträglich einen Ohrkatarrh, ja sogar einen meist sehr schmerzhaften Furunkel im Ohr, wie gar mancher Schwimmer an sich selbst einmal erfahren haben dürfte.

(Schluß folgt.)

Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Mein Onkel Steinrück,“ sprach Hertha zögernd zu Michael, „hat mir mitgetheilt, daß die Angelegenheit, bei der ich ihn zum Einschreiten veranlaßte, völlig ausgeglichen sei, und ich zweifle selbstverständlich nicht an seinen Worten, aber ich fürchte –“ sie hielt inne.

„Sie fürchten?“ forschte er.

„Daß die Aussöhnung nur eine augenblickliche, scheinbare gewesen ist. Sie konnten vielleicht Ihrem General die Nachgiebigkeit nicht verweigern, die er forderte, so wenig wie Raoul sie dem Großvater verweigern konnte, und bei dem nächsten Zusammentreffen wird der Streit erneuert werden.“

„Von meiner Seite nicht,“ sagte Michael kalt. „Da Graf Steinrück in Gegenwart des Generals seine Beleidigungen zurückgenommen hat, so habe ich Genugthuung erhalten.“

„Raoul? Er hätte das wirklich gethan?“ rief Hertha halb ungläubig, halb empört.

„Unter einer anderen Bedingung wäre der Ausgleich wohl nicht möglich gewesen. Der Graf wich allerdings der Autorität seines Großvaters, der diese Zurücknahme auf das Bestimmteste von ihm verlangte.“

„Und Raoul hätte sich einem derartigen Befehl gefügt? Unmöglich!“

„Zweifeln Sie an der Wahrheit meiner Worte?“ sagte Michael scharf.

„Nein, Hauptmann Rodenberg, nein, aber ich sehe immer mehr, daß hier irgend etwas Besonderes zu Grunde liegt, wenn es mir auch abgeleugnet wird. Schon damals, bei der Scene im Reval’schen Hause, fielen seltsame, mir unverständliche Andeutungen. Sie sind doch unserer Familie fremd, so viel ich weiß.“

„Ja!“ antwortete Michael mit eisiger Entschiedenheit.

„Und dennoch war von Beziehungen die Rede, die Sie ebenso wie Raoul abzulehnen schienen. Was sind das für Beziehungen?“

„Sollte Ihnen der General oder Graf Raoul Steinrück die Antwort nicht besser geben können, als ich es vermag?“

Hertha schüttelte verneinend das Haupt.

„Sie können oder wollen mir nichts sagen. Ich habe es bereits versucht. Von Ihnen hoffe ich endlich die Wahrheit zu hören.“

„Und auch ich muß Sie bitten, mir das zu erlassen. Eine derartige Erörterung würde nur peinlich sein, und wie weit sie führen kann, davon sind Sie ja Zeuge gewesen.“

„Ich hörte nur den Anfang des Gespräches,“ sagte die junge Gräfin, welche errieth, daß hier ein Punkt berührt wurde, der besser unerörtert blieb. „Es war allerdings genug, um mich einen ernsten Ausgang fürchten zu lassen; das Weitere aber habe ich in der That nicht –“

„Geben Sie sich keine Mühe, mich zu schonen,“ fiel Rodenberg mit der tiefsten Bitterkeit ein. „Ich weiß, daß Sie die ganze Unterredung mit angehört haben, und da wird Ihnen wohl auch das eine Wort nicht entgangen sein, mit dem Graf Steinrück das Andenken meines Vaters – beschimpfte.“

Hertha schwieg einige Sekunden, dann sagte sie leise:

„Ja, ich habe es gehört, aber ich wußte, daß es ein Irrthum war. Auch Raoul ist jedenfalls davon überzeugt worden und hat deßhalb das Wort zurückgenommen, nicht wahr?“

Michael’s Lippen zuckten; er sah es: die junge Gräfin hatte nicht die leiseste Ahnung von seinen Beziehungen zu ihrer Familie, von der Tragödie, die einst dort gespielt hatte, und er wollte ihr die Aufklärung wahrlich nicht geben; aber er wollte auch nicht länger diesen Ton angstvoller, inniger Theilnahme hören, der ihn gefährlicher umspann als einst das alte lockende Sirenenlied. Er wußte freilich, daß schon sein nächstes Wort eine Kluft zwischen ihnen aufriß, die nicht mehr zu überbrücken war. Um so besser! Es war unvermeidlich, wenn er den Rest seiner Selbstbeherrschung bewahren wollte, und mit der ganzen Schroffheit, die ihm zu Gebote stand, entgegnete er:

„Nein!“

„Nein?“ wiederholte Hertha, entsetzt zurückweichend.

„Das erschreckt Sie, Gräfin Steinrück, nicht wahr? Aber einmal muß es doch ausgesprochen werden. Ich kann meine eigene Ehre vertreten und schützen gegen Jeden, der es wagen sollte, sie anzugreifen. Gegen Angriffe auf meinen Vater bin ich wehrlos. Ich kann den Beleidiger zu Boden schlagen – der Lüge zeihen kann ich ihn nicht.“

Seine Stimme war anscheinend ruhig, wenn auch völlig klanglos; aber Hertha sah und fühlte es, wie das ganze Innere des sonst so eisernen Mannes zuckte unter der Wunde, die er so schonungslos vor ihren Augen aufriß. Sie kannte am besten seinen Stolz, der sich nicht einmal da beugen wollte, wo er liebte, und konnte ermessen, was ihn dies Geständniß kostete, und alles Andere vergessend, nur dem augenblicklichen Impulse folgend, brach sie aus:

„Mein Gott, wie furchtbar müssen Sie darunter gelitten haben!“

Michael zuckte zusammen und sah sie starr und fragend an. Es war das erste Mal, daß er diesen Ton hörte, der so ganz und voll aus dem Herzen kam, in dem eine so leidenschaftliche Theilnahme lag, als empfinde sie in jeder Fiber seine Qual mit. Es blitzte vor ihm auf wie der erste Strahl eines Glückes, von dem er wohl bisweilen geträumt und gegen das er sich doch gewehrt hatte mit dem ganzen Stolze des Mannes, der um keinen Preis zum Spielwerk einer Laune werden will. Das aber, was er jetzt sah und hörte, war kein Spiel; das war ein Ausbruch völliger Selbstvergessenheit, rückhaltloser Wahrheit.

„Können Sie mir das wirklich nachempfinden?“ fragte er mit stockendem Athem. „Sie, die auf den Höhen des Lebens geboren und erzogen sind und nie einen Blick in die dunklen Tiefen des Elends gethan haben? Ja, ich habe furchtbar gelitten und leide noch, wenn ich bei einer Erinnerung, die mir die theuerste und heiligste sein sollte, bei dem Worte ,Vater’ die Augen niederschlagen muß.“

Hertha war dicht an seine Seite getreten, und jetzt schlug ihre Stimme an sein Ohr, so leise und weich, als gelte es die Berührung einer schweren Wunde.

„Wenn Sie den Vater nicht lieben konnten – Sie haben ja doch eine Mutter gehabt, und ihr Andenken ist doch wenigstens rein geblieben?“

[784] „Ihr Andenken, ja! Aber sie war eine Unglückliche, welche Heimath und Familie aufgegeben hatte, um dem Manne zu folgen, den sie liebte und von dem sie sich geliebt glaubte. Sie hat die Täuschung mit dem Elend eines ganzen Lebens bezahlt – und ist auch daran gestorben!“

„Und ihre Familie wußte das und ließ sie sterben im Elend?“

„Weßhalb denn nicht? Es war ja ihre freie Wahl gewesen, sie büßte nur ihre Schuld! Begreifen Sie denn das nicht, Gräfin Steinrück?“

Die Worte waren wieder ganz von der früheren Bitterkeit überfluthet. Hertha hob langsam die Augen zu ihm empor; sie hatten jetzt nichts mehr von jenem schillernden Glanze, der sie in manchem Augenblicke halb dämonisch erscheinen ließ; der feuchte Schimmer darin kam von Thränen.

„Nein, aber ich begreife, daß sie dem Manne ihrer Liebe folgte und an ihn glaubte, der ganzen Welt zum Trotze, wenn der Weg auch in Dunkel und Schmach, wenn er selbst ins Verderben führte – ich hätte es auch gekonnt!“

„Hertha, das sagen Sie mir? Das höre ich von Ihren Lippen?“ brach Michael mit vollster Leidenschaft aus, und ehe sie es hindern konnte, hatte er ihre Hand ergriffen und stürmisch seine Lippen darauf gedrückt; aber das brachte die junge Gräfin zur Besinnung; sie schreckte empor.

„Hauptmann Rodenberg, um Gotteswillen! Sie vergessen –“

„Was?“ fragte er, ihre Hand nur noch fester umschließend.

„Daß ich die Braut Raoul’s bin!“

„Nur seine Braut, nicht sein Weib! Das Band kann ja gelöst werden. Geben Sie mir das Recht dazu, und ich zerreiße –“

„Nein, Michael, niemals! Es ist zu spät – ich bin gebunden!“

„Sie sind frei, sobald Sie wollen, aber Sie wollen nicht!“

„Ich kann nicht!“

„Hertha – ist das Ihr letztes Wort?“

„Mein letztes.“

Michael ließ ihre Hand fallen und trat zurück.

„So bitte ich um Verzeihung wegen meiner – Vermessenheit.“

Braut aus der Baar.
Von Wilhelm Hasemann.

Hertha sah es, wie tief er verletzt war. Sie büßte jetzt das Spiel, das sie einst im Uebermuth mit ihm getrieben. Er glaubte nicht an sie. Der alte böse Geist, der alte Argwohn regte sich wieder in ihm und flüsterte ihm zu, sie habe nur den Muth des Wortes, nicht den der That und ziehe es doch schließlich vor, sich die Grafenkrone zu sichern, anstatt dem Sohne des Abenteurers zu folgen. Ein Wort aus ihrem Munde hätte ihn aus seinem Irrthum reißen können, aber vor der jungen Gräfin erhob sich in diesem Augenblick das strenge, finstere Antlitz des alten Generals; sie fühlte seinen eisernen Händedruck, hörte seine drohenden Worte: „Ich denke doch, die Braut des Grafen Steinrück weiß, was sie sich und ihm schuldig ist!“ Die Erinnerung trat gebieterisch ein für die Heiligkeit des gegebenen Wortes. Man zerriß ein freiwillig geknüpftes Band nicht wenige Wochen vor der Vermählung, weil man sich – anders besonnen. Hertha senkte das Haupt und schwieg.

Die Sonne war gesunken, und mit ihr erlosch auch der Schimmer, der die ganze Kirche wie in Gluth und Verklärung getaucht hatte. Kalt und leblos wie sonst standen die Bilder und Statuen da, und graue Dämmerungsschatten schienen leise niederzuschweben; nur die lichte Gestalt des Erzengels war noch erkennbar in dem Dunkel der Altarnische. Aber der Sturm, der draußen um die Mauern brauste, mußte jetzt irgendwo den Eingang gefunden haben; er zog in langen unheimlichen Tönen oben an der Wölbung hin und erstarb dann flüsternd, wie Geisterhauch.

Hertha schauerte unwillkürlich zusammen bei den seltsam klagenden Lauten und wandte sich dann, zu gehen. Michael folgte, aber er blieb einige Schritte hinter ihr zurück. Keiner von Beiden sprach ein Wort. Sie traten eben in die Vorhalle der Kirche.

Da kam ihnen der Pfarrer entgegen, aber mit erregter, bekümmerter Miene.

„Ich suchte sie, Gräfin Hertha,“ sagte er, noch athemlos von dem eiligen Gange. „Da bist Du ja auch, Michael! Es ist ein Bote von Schloß Steinrück herauf gekommen –.“

„Vom Schloß?“ fiel Hertha erschrocken ein. „Es ist doch nicht schlimmer mit meiner Mutter geworden?“

„Die Frau Gräfin scheint allerdings kränker geworden zu sein, und Fräulein von Eberstein wollte Ihnen Nachricht davon geben, hier ist der Brief.“

Hertha erbrach hastig das dargereichte Schreiben und durchflog es. Valentin sah, daß sie erbleichte.

„Ich muß fort! Es ist keine Minute zu verlieren. Bitte, Hochwürden, lassen Sie den Wagen in Bereitschaft setzen.“

„Jetzt wollen Sie fort?“ fragte der Pfarrer bestürzt. „Es dämmert ja bereits; in einer halben Stunde ist es dunkel, und der Sturm wird heftiger. Sie können doch unmöglich in der Nacht die lange Bergfahrt machen.“

„Ich muß! Gerlinde würde nicht in solchen Ausdrücken schreiben, wenn meine Mutter nicht in wirklicher Gefahr schwebte.“

„Aber Sie bringe sich selbst in Gefahr bei einem solchen Wagniß. Michael, was meinst Du dazu?“

„Es wird eine Sturmnacht geben,“ sagte Michael hervortretend. „Müssen Sie fort, Gräfin Steinrück?“

Sie reichte statt aller Antwort ihm und dem Pfarrer den Brief, der nur einige, augenscheinlich in höchster Eile hingeworfene Zeilen enthielt:

„Die Tante ist plötzlich kränker geworden; sie verlangt nach Dir, und ich bin in Todesangst. Der Arzt spricht von einem schweren, vielleicht tödlichen Anfall. Komm sofort zurück! 0Gerlinde.“

[785] „Sie sehen, daß hier keine Wahl ist,“ sagte die junge Gräfin mit bebender Stimme. „Wenn ich sofort aufbreche, kann ich vor Mitternacht im Schlosse sein. Lassen Sie uns gehen, Hochwürden!“

Sie waren schon während der letzten Minuten in das Freie getreten und wandten sich jetzt dem Dorfe zu. Hertha und der Pfarrer hatten Mühe, bei dem Sturme vorwärts zu kommen.

Valentin machte noch einen Versuch, sie zu bestimmen, wenigstens die Nachtfahrt zu unterlassen; der Tag breche ja jetzt so früh an, und sie könne beim ersten Morgengrauen aufbrechen. Es war umsonst.

Im Pfarrhause trat ihnen der Bote, ein Diener aus dem Schlosse entgegen, der zu Pferde gekommen war; aber er wußte auf die angstvollen Fragen seiner jungen Herrin nichts Tröstliches zu berichten. Die Frau Gräfin sei allerdings sehr krank; der Herr Doktor scheine die Sache ernst zu nehmen und habe ihm die größte Eile anbefohlen.

Michael hatte sich der Abmahnung des Pfarrers nicht angeschlossen, jetzt aber trat er hervor und fragte leise: „Darf ich Sie begleiten?“

„Nein!“ war die eben so leise, aber mit voller Entschiedenheit gegebene Antwort. Er trat finster zurück.

Zehn Minuten später saß Hertha bereits in dem kleinen Bergwagen, den ihre Mutter stets benutzte, wenn sie nach Sankt Michael kam, und dessen auch sie sich bedient hatte. Der Kutscher war zuverlässig, und der begleitende Diener wie der Bote, der sich gleichfalls anschloß, ritten tüchtige Bergpferde. Dennoch stand der alte Pfarrer mit bekümmerter Miene am Schlage, aus dem die junge Gräfin ihm zum Abschiede die Hand entgegenstreckte. Dann wandte sich das schöne, jetzt so bleiche Antlitz nach der Thür des Pfarrhauses, wo Michael stand. Ihre Blicke trafen sich noch einmal; es war ein Lebewohl für immer!

„Gott gebe, daß der Sturm während der Nacht nicht heftiger wird,“ sagte Valentin seufzend, als der Wagen abfuhr. „Bei einer wirklichen Gefahr würden die Diener doch den Kopf verlieren. Ich hoffte, Du würdest der Gräfin Deine Begleitung anbieten, Michael.“

„Das habe ich gethan, aber sie wurde in der bestimmtesten Weise zurückgewiesen, und aufdrängen konnte ich mich selbstverständlich nicht.“

Mädchen aus dem Gutachthal.
Von Wilhelm Hasemann.

Der Pfarrer schüttelte unwillig das greise Haupt.

„Wie kannst Du in einer solchen Stunde empfindlich und gereizt sein! Du sahst ja, in welcher Aufregung Gräfin Hertha war, aber sobald es sich um die Steinrück handelt, schweigt all Dein Gerechtigkeitsgefühl; das weiß ich längst.“

Michael erwiderte nichts auf diesen Vorwurf; sein Blick folgte nur dem Wagen, der jetzt in der Biegung des Weges verschwand, und flog dann zu der Adlerwand hinüber, die weiß und gespenstig in der zunehmenden Dämmerung dastand. Noch war sie klar; aber um ihre Gipfel begann sich jetzt, Gewölk zu sammeln, Sturmgewölk, das sich langsam und drohend zusammen ballte. –

Valentin und sein Gast waren in das Haus zurückgekehrt; sie hatten sich seit dem Herbste nicht gesehen. Es gab unendlich viel zu fragen und zu berichten, und das gewünschte ungestörte Beisammensein wurde ihnen ja nun im vollsten Maße zu Theil. Dennoch wollte das Gespräch nicht in Gang kommen. Michael besonders war ungemein zerstreut und einsilbig; er schien manche Frage gar nicht zu hören, gab falsche Antworten oder fuhr wie aus einem Traum erwachend dabei auf. Der Pfarrer bemerkte mit Befremden, daß er mit seinen Gedanken ganz wo anders war.

Die Dämmerung begann überhand zu nehmen, und die alte Katrin hatte soeben Licht gebracht; da pochte es an die Thür, und gleich darauf trat ein älterer Mann in Jägertracht ein, der gradewegs auf den Pfarrer zuging und den Hut zog.

„Grüß’ Gott, Hochwürden, da bin ich einmal wieder in Sankt Michael! Kennen Sie mich noch? Es mögen an die zehn Jahr sein, daß ich von der Bergförsterei fortgegangen bin.“

„Wolfram, Ihr seid es!“ rief Valentin in höchster Ueberraschuug. „Wo kommt Ihr her?“

„Von Tannberg. Ich hab’ dorthin gemußt, ans Landgericht, einer kleinen Erbschaft wegen, die mir ein alter Vetter hinterlassen hat. Da nun morgen grade Michaelsfest ist, wollt’ ich mich doch einmal umschauen nach der alten Heimath und auch nach Ihnen, Hochwürden. Bin erst vor einer halben Stunde angekommen und beim Rainwirth abgestiegen; wollt’ Ihnen doch aber heut Abend noch ,Grüß’ Gott‘ sagen.“

Der Pfarrer blickte mit einer gewissen Verlegenheit auf Michael. Dies unerwartete Zusammentreffen hatte doch etwas Peinliches für den nunmehrigen Officier; denn wenn Wolfram ihn auch vorläufig noch nicht erkannte, so konnte das doch nicht ausbleiben.

„Das ist brav, daß Ihr Euch noch die Anhänglichkeit an mich und an die alte Heimath bewahrt habt,“ sagte er etwas zögernd. „Ich bin nicht allein, wie Ihr seht, sondern habe einen Gast im Hause –“

„Weiß schon, einen Officier,“ fiel der Förster ein, indem er sich stramm aufrichtete und auch wirklich einen echt militärischen Gruß zu Stande brachte. „Hab’s schon gehört beim Rainwirth. Ein Sohn von dem Herrn Bruder da oben in Berlin!“

Michael hatte auf den ersten Blick seinen ehemaligen Pflegevater wieder erkannt. Es war noch die kraftvolle gedrungene Gestalt mit den harten Zügen, Haar und Bart jetzt allerdings grau geworden, aber noch ebenso verwildert wie einst, die ganze Erscheinung unverändert in ihrer derben Bauernart. In Rodenberg’s Brust wallte eine bittere Empfindung auf, als er den Mann vor sich sah, dessen Rohheiten er Jahre lang hatte aushalten müssen, unter dessen brutaler Gewalt seine Knabenzeit und seine ersten Jünglingsjahre im eigentlichsten Sinne des Wortes verkommen waren. Wohl sagte ihm sein [786] Gerechtigkeitsgefühl, der Förster habe es eben nicht besser verstanden; dennoch gewann er es nicht über sich, ihm mit der alten Vertraulichkeit entgegenzutreten. Es lag etwas Unnahbares in seinem Wesen, trotzdem er sich jetzt erhob und dem Ankömmlinge die Hand hinstreckte.

„Der Officier ist Ihnen doch nicht ganz fremd, Herr Förster,“ sagte er ruhig. „Ich dächte, wir hätten uns schon früher gesehen.“

Wolfram stutzte beim Klange der Stimme und sah den Sprechenden von oben bis unten an, schüttelte dann aber verneinend den Kopf.

„Hab’ nicht die Ehre gehabt, Herr Hauptmann, so viel ich weiß. Nur die Stimme meint’ ich zu kennen und Sie haben auch im Gesicht etwas – ja was ist’s denn nur? Ich glaub’, Hochwürden, der Herr da gleicht dem vertrackten Burschen, dem Michael, der uns davongelaufen ist.“

„Und auf den Ihr nicht gut zu sprechen seid, wie es scheint.“

„Das fehlte noch!“ sagte der Förster in seiner derben Weise. „Ich habe Kreuz und Elend genug gehabt mit dem Unheilsbuben. Bärenstark war er ja, aber auch so dumm, daß keine Menschenseele etwas mit ihm anfangen konnte: nichts begriff er, nichts verstand er, und zuletzt brachte er mich noch in Ungnade bei dem Herrn Grafen. Ich war froh, als er auf und davon ging und ich ihn los war; er wird wohl irgendwo verdorben sein, denn er taugte zu gar nichts in der Welt.“

Michael lächelte flüchtig bei dieser nicht grade schmeichelhaften Charakteristik, der Pfarrer aber sagte ernst: „Da täuscht Ihr Euch, Wolfram, wie Ihr Euch stets in Eurem Pflegesohn getäuscht habt. Seht Euch den Herrn da genau an – es ist Hauptmann Michael Rodenberg.“

Wolfram prallte drei Schritt zurück und starrte dann sprachlos, mit weit aufgerissenen Augen Michael an, als sehe er ein Gespenst vor sich.

„Der Herr Hauptmann – der Michel?“ brachte er endlich mühsam heraus.

„Der doch nicht so ganz verdorben ist!“ ergänzte Michael.

„Sie sehen, er hat es trotz seiner Dummheit doch bis zum Hauptmann gebracht.“

Der Förster stand noch immer da, als habe der Blitz vor ihm eingeschlagen, und bemühte sich vergebens, die unerhörte Thatsache zu begreifen. Er blickte in hilfloser Verlegenheit zu Michael auf, der jetzt, als er herantrat, den ehemaligen Pflegevater fast um Kopfeslänge überragte, und wagte es kaum, die dargebotene Hand zu berühren. Er stotterte einige Worte, die halb Begrüßung und halb Entschuldigung waren, kam aber mit beidem nicht zu Stande; sein Begriffsvermögen schien völlig aufzuhören.

Valentin in seiner gewohnten Güte kam ihm zu Hilfe, indem er nach seinem Ergehen in den letzten zehn Jahren fragte; aber es dauerte eine ganze Weile, ehe Wolfram sich so weit faßte, um überhaupt Rede und Antwort zu geben, und als es endlich geschah, that er es in ganz verwirrter Weise. Zu berichten hatte er freilich nicht viel; seine jetzige Stellung auf den Gütern der jungen Gräfin Steinrück brachte ihm allerdings ein weit höheres Einkommen als die frühere, sonst aber hauste er nach wie vor in seinen Wäldern, gänzlich auf den Verkehr mit seinen Dienstleuten angewiesen, kam nur selten mit anderen Menschen in Berührung und schien das gleiche halbwilde Leben zu führen wie einst auf der Bergförsterei. Den General sah er noch öfter, denn dieser nahm es ernst mit seinen vormundschaftlichen Pflichten und pflegte die Güter seines Mündels persönlich zu inspiciren; die junge Gräfin aber, seine eigentliche Herrin, die niemals nach jenen Besitzungen kam, hatte er heute zum ersten Male nach zehn Jahren wiedergesehen: er war ihr auf dem Wege hierher begegnet, als sie mit ihrer Begleitung in das Schloß zurückkehrte.

Das Alles kam jedoch nur stückweise und abgebrochen zum Vorschein. Dabei hielt er noch immer hartnäckig die Augen auf Michael gerichtet, verstummte aber sofort, wenn dieser sich in das Gespräch mischte. Seine Scheu schien eher zu wachsen als sich zu verlieren, sogar seine Derbheit ließ ihn hier vollständig im Stich. Michael zeigte sich übrigens ebenso einsilbig und zerstreut wie vorhin im Gespräch mit dem Pfarrer; selbst dies unerwartete Zusammentreffen vermochte nicht, seine Gedanken abzulenken; sie folgten unaufhörlich dem kleinen Bergwagen, der jetzt wohl schon ein Drittel des Weges zurückgelegt haben mochte, und plötzlich erhob er sich und ging hinaus, um zu sehen, ob der Mond, der soeben aufgegangen war, auch hell genug leuchte für die nächtliche Bergfahrt.

Wolfram sah ihm nach, sah dann den Pfarrer an und sagte in einem seltsam gedrückten Tone:

„Hochwürden, ist es denn wirklich wahr? Ist das wirklich und wahrhaftig der Michel, unser Michel?“

Valentin konnte sich eines leichten Lächelns nicht erwehren, als er entgegnete:

„Ich dächte, das müßtet Ihr doch nun nachgrade sehen.“

„Ja, ich seh’ es schon, aber glauben thu’ ich es nicht,“ erklärte Wolfram. „Das soll der Bub’ sein, der so oft meine Hand gespürt hat wegen seiner Dummheit und Verstocktheit? Der Rainwirth sagt ja, er wäre so furchtbar gescheit, daß sie ihn eigens in den Generalstab geholt hätten, und in den beiden letzten Kriegen wäre er auf den Feind losgegangen und hätte dreingeschlagen, daß Alles nur so krachte. Er ist ja auch jetzt Hauptmann geworden, grade wie mein gnädiger Herr Graf, als ich vor vierzig Jahren bei ihm in Dienst trat, und er kann am Ende auch noch General werden wie Seine Excellenz.“

„Möglich ist das wenigstens; aber hat der Rainwirth denn keinen Namen genannt, der Euch aufklären konnte?“

„Nein, er hat immer nur von dem Hauptmann gesprochen und scheint einen gewaltigen Respekt vor ihm zu haben. Nun, so viel hab’ ich auch schon gemerkt, nah’ kommen darf man dem Herrn Michel nicht mehr. Er ist ja freundlich genug, aber er hat etwas in seiner Art wie: bleib’ mir zehn Schritt vom Leibe! Er nennt mich ja jetzt auch ‚Herr Förster’, da werd’ ich wohl auch ,Herr Hauptmann‘ sagen müssen.“

„Ihr werdet allerdings den veränderten Verhältnissen Rechnung tragen müssen,“ sagte der Pfarrer ernst. „Und noch Eins, Wolfram! Es ist nicht nöthig, daß Ihr dem Rainwirth und den anderen Bekannten erzählt, Hauptmann Rodenberg sei Euer einstiger Pflegesohn. Er ist damals mit den Dorfleuten so wenig in Berührung gekommen und hat sich so vollständig verändert, daß Niemand ihn wiedererkannte, als er nach Jahren als Officier zu mir kam. Ich weiß, Graf Steinrück hatte Euch strenges Schweigen über Euren Pflegling auferlegt, und Ihr habt geschwiegen. Ihr würdet Michael und mich verbinden, wenn Ihr das auch jetzt thun wolltet.“

„Das Schwatzen ist meine Sache nicht, das wissen Sie ja, Hochwürden,“ entgegnete Wolfram kurz. „Viel Ehr’ kann ich auch nicht einlegen mit meinen Prophezeiungen über den Michel; die Leute würden mich nur hänseln damit, und übermorgen geh’ ich ja schon wieder fort – mir ist’s recht, wenn die Geschichte unter uns bleibt.“

Der Wiedereintritt Michael’s machte dem Gespräch ein Ende. Gleich darauf verabschiedete sich der Förster und kehrte zu dem Rainwirth zurück, der die kleine Gastwirthschaft des Dorfes hielt und dessen Gehöft eine ganze Strecke vom Pfarrhause entfernt lag. Die Dunkelheit war inzwischen völlig hereingebrochen, und bald lag ganz Sankt Michael im tiefen Schlafe.

(Fortsetzung folgt.)

Blätter und Blüthen.

Die Philosophen und die Frauen. Wie viele Dichter von Frauenlob bis zur Gegenwart haben den Frauen Kränze gewunden! Wenn diese in den neuen Gedichtsammlungen und Blüthenkränzen blättern, so strahlt ihnen wie aus einem Spiegel ihr geschmeicheltes Bild entgegen. Schiller’s „Ehret die Frauen“ hat eine große Nachkommenschaft geistesverwandter Poesien aufzuweisen. Unter den Dichtern giebt es wenig Weiberfeinde ... ist doch die Muse selbst eine Frau. Und doch gab es einen Liebling der tragischen Muse, der aus seiner Weiberverachtung kein Hehl machte: das war Euripides, der selbst nicht glücklich verheirathet gewesen war. Er ist geradezu als ein auf den Kopf gestellter Frauenlob zu betrachten. In zahlreichen Sechsfüßlern seiner Trauerspiele läßt er die Frauen seinen Zorn und Ingrimm fühlen; so besonders in einer Rede des „Hippolytos“.

[787] Das ist einer der wenigen Poeten, die ihren Weiberhaß offen verkündeten; im Ganzen aber brauchen sich die Frauen über die Dichter nicht zu beklagen.

Anders steht’s mit den Philosophen und besonders mit den deutschen: sie sind in der That den Frauen nicht hold, soweit sie sich überhaupt mit ihnen beschäftigten, was bei Fichte, Schelling, Hegel und andern namhaften Denkern nicht der Fall war. Doch der Königsberger Philosoph Kant konnte es nicht unterlassen, gelegentlich seine Bemerkungen über das schöne Geschlecht anzubringen. Für die vorherrschenden Neigungen desselben erklärt er die Neigung zu herrschen und diejenige zum Vergnügen; es komme den Frauen wesentlich darauf an, ihren Nebenbuhlerinnen nicht nachzugeben, sondern sie alle womöglich durch ihre Reize und ihren Geschmack zu besiegen. Für die Koketterie, deren sich Frauen in der Ehe schuldig machen, hat Kant indeß eine merkwürdige Entschuldigung. „Eine junge Frau ist doch immer in Gefahr, Wittwe zu werden, und das macht, daß sie ihre Reize über alle den Glücksumständen nach ehefähige Männer ausbreitet, damit, wenn jener Fall sich ereignet, es ihr nicht an Bewerbern fehlen möge.“ Von den gelehrten Frauen sagt er, „sie brauchten ihre Bücher eben so wie ihre Uhr, nämlich sie zu tragen, damit gesehen werde, daß sie eine haben, ob sie zwar gemeiniglich stillsteht oder nicht nach der Sonne gestellt ist.“

Weit schlimmer fahren die Frauen aber bei unseren neuen Modephilosophen Arthur Schopenhauer und Eduard von Hartmann. Eine Blüthenlese aus den Aussprüchen des Ersteren über die Frauen würde sehr reichhaltig sein, aber im Ganzen ein abschreckendes Bild der Priesterinnen des häuslichen Herdes ergeben. „Die Weiber,“ sagt der Frankfurter Philosoph, „sehen immer nur das Nächste, kleben an der Gegenwart, nehmen den Schein der Dinge für die Sache und ziehen Kleinigkeiten den wichtigsten Angelegenheiten vor.“

An einer andern Stelle sagt Schopenhauer: „Mit den Mädchen hat es die Natur auf einen Knalleffekt abgesehen, indem sie dieselben auf einige Jahre mit überreichlicher Schönheit, Reiz und Fülle ausstattete auf Kosten ihrer ganzen übrigen Lebenszeit, damit sie während jener Jahre der Phantasie eines Mannes sich in dem Maße bemächtigen könnten, daß er hingerissen wird, die Sorge für sie zeitlebens ehrlich zu übernehmen.“ Dies Zugeständniß an die weibliche Schönheit nimmt er aber später wieder zurück; er leugnet, daß man das weibliche Geschlecht das schöne nennen könne, indem er seine körperliche Erscheinung mit den herabsetzendsten Beiwörtern schildert, und, ganz im Fahrwasser seines Meisters Kant sich bewegend, erklärt er, die Frauen hätten weder für Musik noch für Poesie und bildende Künste wahrhaftig Sinn und Empfänglichkeit, sondern es sei bloß Aefferei aus Gefallsucht, wenn sie das zur Schau trügen. Es liege in der Weiber Natur, Alles nur als Mittel anzusehen, den Mann zu gewinnen.

Einen anderen Trumpf spielt Eduard von Hartmann aus: ihm ist das weibliche Geschlecht das unrechtliche und ungerechte; alle seien geborene Defraudantinnen aus Passion, hätten zur Fälschung eine instinktive Neigung (ein Viertel der Dienstbücher weiblicher Dienstboten in Berlin enthielt plumpe Fälschungen); sie mogelten beim Spiel, und das mache den Reiz des Spiels für sie aus; sie urtheilten nie ohne Ansehen der Person; die Mütter hätten stets Lieblingskinder und Aschenbrödel.

So sitzt das weibliche Geschlecht auf dem Lästerstuhle, wenn die Philosophen das Wort haben, dagegen auf einem von Weihrauch umdampften Thronsessel, wenn das Wort den Dichtern gegönnt ist.

Daß hervorragende Denker sich in so einseitiger und verkehrter Weise über die Frauen äußerten, in deren Hochstellung in Wahrheit ein Zeichen fortgeschrittener Kultur und Bildung liegt: das läßt sich zum Theil aus ihren persönlichen Verhältnissen erklären. Kant war ein eingefleischter Hagestolz, der fast gar keinen Umgang mit Frauen hatte; auch Schopenhauer blieb Zeitlebens Junggeselle und sah Welt und Leben oft in düsterster feindseliger Beleuchtung. Eduard von Hartmann aber gefällt sich oft in der Aufstellung ungewöhnlicher und befremdender Aussprüche: sonst hätte er am wenigsten Grund zu solchen geringschätzigen Aeußerungen über die Frauen. Seine eigene jetzt verstorbene Frau hat unter dem Namen Taubert ein verherrlichendes Werk über ihn veröffentlicht, und eine andere Dame, Olga Plumacher, hat große Essays über seine Schriften und seine Schule in angesehenen Zeitschriften erscheinen lassen. Dabei ist doch gewiß keine Mogelei im Spiel. †      

Herbstmorgen im Hochgebirge. (Mit Illustration S. 781.) Wenn in den Niederungen der Wind bereits sein Spiel mit den fallenden Blättern der Eichen und Buchen treibt, wenn das Laub in den rauschenden Wäldern unten gilbt und Wiesen wie Felder weiter nichts als öde, kahle Flächen zu sein scheinen, ist oben auf den Bergen noch nichts vom Niedergang der Dinge in der Natur zu bemerken. Wald und Wiesen zeigen die Farbe des vollen Lebens, und man darf behaupten, daß es in den Tagen des beginnenden Herbstes auf den Alpengründen am schönsten ist. Wohl kühlt sich die Luft rascher als früher, wenn das Sonnenlicht verlosch; ein scharfer Wind fegt dann über Felsen und durch Klüfte, so daß die hier hausenden Geschöpfe gezwungen werden, ein schützendes Obdach zu suchen; dichte Nebel quellen aus der Erde und legen sich wie ein Leichentuch auf Wälder und Triften; tiefe Stille herrscht ringsum, denn man vernimmt nicht mehr das leise Klingen der Herdenglocken und das unermüdliche Zirpen der Heimchen. Erst wenn der letzte Stern am Himmel verschwunden ist und goldige Lichtwellen die Spitzen der Berge umsäumen, dann ballen sich die dichten Nebelschleier zu langgezogenen Wolken zusammen, die sich bald an den Felswänden, bald am Waldessaum anhängen, bis sie, vom Feuer des Tagesgestirns aufgelöst, im blauen Aether verdunsten oder in den dunkeln Schluchten verschwinden. So wie die ersten Sonnenstrahlen über die Zinnen der Berge gleiten, regt sich’s allenthalben zum vollen Leben. Der Räuber der Lüfte verläßt seinen Horst und zieht scharf auslugend seine Kreise hoch über Wäldern und Wiesen; ein fröhliches Zwitschern in den Zweigen der Tannen zeigt an, daß noch nicht alle Vöglein dem schönen Aufenthalt hier oben Valet gesagt haben. Die Thiere des Waldes lassen sich’s noch wohl sein bei der fetten Aesung, und nun ist auch die Zeit gekommen, in welcher der König unserer Bergreviere, der Edelhirsch, aus dem Dickicht auf die thaufrische Trift tritt und sich an dem üppigen Futter letzt. In einiger Entfernung von ihm stehen die Thiere, welchen er seinen Schutz angedeihen läßt; trotzig hebt er sein mächtiges Haupt und späht umher, ob nicht ein Nebenbuhler es wage, sein Revier zu betreten; erblickt er Verdächtiges in dieser Beziehung, dann legt er den Kopf zurück, stößt ein Gebrüll des Zornes aus und eilt mit gewaltigen Sätzen dem Feinde entgegen. Dann schallt vielleicht bald durch die Stille des Herbstmorgens das Getöse eines erbitterten Zweikampfes, und weithin vernimmt man das Schlagen der Thiere mit den gezackten Stangen, das dumpfe Brüllen und Stöhnen, bis der Sieger seinen Gegner zwingt, den Kampfespreis und den Platz aufzugeben. Solche Vorgänge erhöhen den Reiz der unvergleichlichen Scenerie noch um ein Bedeutendes, und wer Gelegenheit hatte, einen Herbstmorgen im Hochgebirge, wie ihn der Künstler in seinem Bilde mit feinem Verständniß und außerordentlich stimmungsvoll schildert, zu genießen, hat seine Erinnerungen an die herrliche Alpenwelt um einen gewiß unvergeßlichen Moment bereichert.

Das Lebensalter der Dichter. Sehr ungleich ist die Lebenszeit, welche den Lieblingen der Musen auf Erden zugemessen ist. Einige erreichten ein hohes Alter, ohne daß ihr geistiges Leben dadurch verkümmert worden wäre. Altmeister Goethe, der in seinem dreiundachtzigsten Lebensjahre starb, blieb bis zu seinem Tode in regem Verkehre mit den Zeitgenossen und den Zeitbestrebungen. Ungefähr das gleiche Alter erreichte der größte französische Dichter der Neuzeit, Viktor Hugo, der ebenfalls noch in hohen Jahren mit jugendlichem Eifer seine oft kühnen, oft seltsamen Ideen verfocht. Von den griechischen Trauerspieldichtern erreichte Sophokles mit ungetrübter Schöpfungskraft das einundneunzigste Lebensjahr; Euripides wurde 79 Jahre, Aeschylos 69 Jahre alt. Auch Dichter, welche der neuen deutschen Litteraturepoche angehören, erreichten ein höheres Alter, so namentlich die poetischen Weisen aus dem Orient, deren Muse ruhiger Lebensbetrachtung gewidmet war: Friedrich Rückert, der Dichter der „Weisheit des Brahmanen“, und Leopold Schefer, der Verfasser des „Laienbreviers“. Beide wurden 78 Jahre alt, während Ludwig Uhland ein Alter von 75 erreichte. Die großen Dramatiker Schiller und Shakespeare starben im besten Mannesalter, der Erstere schon mit 46 Jahren, der Zweite mit 52 Jahren.

Doch eine große Zahl von Dichtern wurde dahingerafft in der Blüthe ihrer Jugend oder in den kräftigsten Lebensjahren – und nur selten war es die feindliche Kugel, die ihnen den Tod brachte, wie bei Theodor Körner, der im 23. Lebensjahre für das Vaterland starb: Krankheit oder innere Verwüstung waren bei vielen Poeten die Ursache frühen Todes. Novalis, der Romantiker der blauen Blume, ward 29 Jahre, Ernst Schulze, der Sänger der preisgekrönten „bezauberten Rose“, 28 Jahre, Wilhelm Müller, der Dichter der Griechenlieder, 33 Jahre, Wilhelm Hauff, der geistreiche Novellist, nur 26 Jahre, Paul Fleming, der beste Liedersänger der ersten schlesischen Schule, 31 Jahre, der Elegiker Hölty 28 Jahre alt. Der größte neue Dichter Englands, Lord Byron, starb mit 36 Jahren, der größte des neueren Italiens, Leopardi, mit 39 Jahren. Sehr jung starben auch viele römische Dichter: Catull mit 30 Jahren, Tibull und Properz mit ungefähr 35 Jahren, der Lustspieldichter Terenz mit 26 Jahren, der Satiriker Persius mit 28 Jahren. So war vielen hochbegabten Geistern nur ein kurzes Leben beschieden, und die Welt wurde um zahlreiche Früchte schöner Talente gebracht. Manchem gereichte indeß auch ein früher Tod zum Heil, denn er hätte sonst seinen Ruhm überlebt. †      

Die Einschiffung der Leiche Gustav Adolf’s im Hafen zu Wolgast. (Mit Illustration S. 776 und 777.) Das neueste Bild des schwedischen Malers Hellqvist, welches von der Kritik der nordischen Hauptstädte aufs günstigste beurtheilt wurde, stellt uns dar, wie die Leiche des Schwedenkönigs in das wartende Boot gebracht wird, um in die Heimat übergeführt zu werden. König Gustav Adolf war am 16. November 1632 in der Schlacht bei Lützen gefallen; seine Leiche kam erst am 15. Juli 1633 im Hafen von Wolgast an, weil sie bei dem Transport dorthin an verschiedenen Orten ausgestellt worden war. Unter dem Donner der Kanonen der im Hafen liegenden schwedischen Schiffe wird der Sarg des großen Königs von vier Soldaten verschiedener schwedischer Regimenter die große Treppe heruntergetragen, die vom Kai zum Wasser herabführt. Oben an der Treppe stehen tiefbewegt die Vertreter des Reichs, Adel und Geistlichkeit, die trauernde Wittwe, die Königin, ganz in Schwarz gekleidet, die, einer Ohnmacht nahe, sich auf einen alten, neben ihr stehenden Edelmann stützt. Im Einklang mit der melancholischen Situation ist ein grauer nebliger Duft über das Ganze ausgebreitet. †      

Eine Märtyrerin der Expeditionen ins nördliche Eismeer. Nicht als eine Emancipirte, um Ruhm zu erwerben, wissenschaftliche Probleme zu lösen oder die eisumgürteten Küsten der nördlichen Erdhälfte zu untersuchen und festzustellen, zog Anna Prontschitscheff nach den Polarländern und setzte sich den endlosen Entbehrungen, Mühsalen und Gefahren der Nordpolfahrer aus, sondern, dem echt weiblichen Berufe getreu, stand sie als liebende Gattin ihrem Gemahl Prontschitscheff auf seiner Reise zur Seite. Dieser war der Erste, der es unternahm, die Küsten Sibiriens festzustellen. Bis zum Jahre 1734 hatte man Reisen nach und in Sibirien lediglich zu Handelszwecken unternommen. Kühne Jäger, die dem kostbaren Pelzwild nachstellten, hatten allerdings die ungeheueren Flächen des riesigen asiatischen Nordlandes bis zur Behringsstraße durchstreift, waren auch bis zum arktischen Meere vorgedrungen, desgleichen die den „Jassak“ (d. s. die Steuern) von den sibirischen Nomadenstämmen einziehenden Kosaken, Niemand aber waren die Grenzen des Landes bekannt. Da – im Jahre 1734 – unternahm Prontschitscheff zum ersten Mal das Wagestück, die sibirische Küste zu bestimmen. Von der Lenamündung aus wollte er westwärts fahren, um so endlich wieder in den Obi einzulaufen, und die russischen Ansiedelungen an demselben erreichen. [788] Seit Jahren an das Klima Sibiriens gewöhnt, sträubte er sich auch nicht lange, als ihm seine kurz zuvor angetraute junge Gattin ihren festen Entschluß kund gab, ihn unter keiner Bedingung verlassen zu wollen; kannte sie doch auch bereits hinreichend den sibirischen Winter mit all seinen Schrecken. Das Tajnurland, jene ungeheuere Halbinsel, die sich aus Sibirien weit nach dem Nordpole hin vorstreckt, erreichten die Seefahrer wohlgemuth im Laufe des Sommers und brachten unter dem 72. Grad nördlicher Breite das Schiff in den Winterhafen. Da man sich mit Vorräthen aller Art reichlich versehen hatte, so befand sich die Mannschaft unter Frau Anna Prontschitscheff’s weiblicher Fürsorge, den Verhältnissen angemessen, durchaus wohl. Im darauf folgenden Sommer nahmen die Versuche zur Umschiffung des Tajnurlandes ihren Anfang; allein sie blieben trotz der größten Anstrengungen erfolglos. Leider ging durch die Unvorsichtigkeit einiger Leute von der Schiffsbemannung ein beträchtlicher Theil der Vorräthe verloren; Mangel und Entbehrung zehrten die übermäßig in Anspruch genommenen Kräfte der Männer mit großer Schnelligkeit auf. Einer nach dem andern verschied, und kaum blieben noch so viele übrig, um die Rückfahrt bewerkstelligen zu können. Siech und krank trafen sie am Ausgangspunkte wieder ein. Am elendesten von Allen aber war das Prontschitscheff’sche Ehepaar, das in muthigem Ertragen der Beschwerden Allen mit gutem Beispiele vorangegangen war. Bald nach Eintreffen des Schiffes erlag der kühne Kapitän seinen Leiden, und nach wenigen Tagen folgte ihm auch seine treue Lebensgefährtin in den Tod. In den Geschichtsbüchern der Polarreisen dürfte ein zweites Beispiel von solcher weiblicher Entsagung und solchem Heldenmuth sowie von aufopfernder Gattenliebe und Treue nicht verzeichnet sein; deßhalb verdient der Name dieser Heldenfrau nicht der Vergessenheit zu verfallen, vielmehr unter der zahlreichen Reihe von Opfern, welche die Wissenschaft und die Erforschung der arktischen Regionen gefordert hat, genannt zu werden, als die einzige Frau „Anna Prontschitscheff“!

Mädchen vom Schwarzwald. (Mit Illustration S. 784 und 785.) Zu den schönsten Gegenden des Schwarzwaldes gehört die sogenannte „Baar“ um Villingen und Donaueschingen und das Gutachthal. Die steilen Gehänge, die oft wilden Schluchten, die silberhellen Bäche, Quellen und Wasserfälle des letzteren, die schönen Dörfer und Gehöfte mit üppigen Obstgärten in der Baar bieten eine ungemein reiche Abwechslung. Wie aber die landschaftlichen Schönheiten des Schwarzwaldes, so fesseln auch dessen Bewohner den Fremden, und mancher Tourist kehrt mit jedem Sommer aufs Neue in die Schwarzwaldberge und -Thäler zurück, in denen er dann nach Jahren wie ein alter Freund erwartet und willkommen geheißen wird. Und wie die herrlichen Landschaften seinen Blick immer wieder fesseln, ja ihm von Jahr zu Jahr anziehender erscheinen, so wird er auch immer vertrauter mit dem Leben des Volkes, befreundet sich in wachsendem Maße mit dessen treu bewahrten Eigenthümlichkeiten in Sitten und Gebräuchen, in der anziehenden Einrichtung der Häuser und der bald einfachen, bald reichen, immer aber malerischen Tracht der Bewohner. Zwei Proben dieser letzteren geben unsere Bilder auf Seite 784 und 785, und mancher Besucher der Baar und des Gutachthales dürfte Gelegenheit gehabt haben, diese Trachten bei festlichen Anlässen an Ort und Stelle zu sehen. Die Heimat der auf S. 784 abgebildeten Schwarzwäldlerin mit dem eigenthümlichen Kopfputz ist die schon genannte Baar. Die im Volksmund „Schappel“ oder „Schäppel“ genannte Krone wird besonders von der Braut, doch nicht von dieser allein, sondern auch von den Brautführerinnen getragen und bildet bei der Feier der Konfirmation gleichfalls den kleidsamen Schmuck der Konfirmandinnen. Ein Drahtgestell giebt der Krone Form und Halt; Gold- und Silberflitter, Glasperlen, Blumen aus Seidenfleckchen und Silberdraht verleihen ihr Farbe und Ansehen. Im Einklang damit stehen dann die kräftigen Farben von Kleid und Schürze, die bunten Bänder, welche in das Haar eingeflochten werden, das buntseidene Halstüchel, die weiße Halskrause und namentlich das in schönen Farben prangende Vorsteck zwischen den Bändern der Schnürbrust. – Die Heimat des zweiten Mädchens (S. 785) ist das fruchtbare, obstreiche Gutachthal. Die Tracht ist die einfache Sonntagstracht. Zum Kirchgang und bei festlichen Gelegenheiten würde dieselbe reicher sein. Besondere Kunstfertigkeit wird auf das Koller verwandt, das den Hals mit niederem Stehkragen umschließt und meist mit werthvollen Stickereien verziert ist. Die „Kapp“, das Mützchen mit dem feinen weißen Schleier, macht einen überaus gefälligen Eindruck, wenn auch im Uebrigen die durchweg schwarze Kleidung eine fast zu ernste genannt werden könnte, und das heitere lebensfrohe Wesen der Trägerin nicht selten einen lebhaften Kontrast mit ihr bildet. **      

Der Petersburger Eispalast vom Jahre 1740. Der Winter des Jahres 1740 war in ganz Europa ein außerordentlich strenger, und während der furchtbaren Kälte erbaute man in Petersburg jenen berühmten Eispalast, der über 52 Fuß lang und 16 Fuß breit war und aus 2 bis 3 Fuß dicken, nach den Regeln der Baukunst behauenen Eisblöcken bestand, die, durch farbige Wasser besprengt, ein treffliches Aussehen erhielten. Auch das Dach und alle innere Einrichtungen, Tische, Stühle, Sofas u. s. w. waren von Eis und regelmäßig geformt. Vor dem Eispalaste waren 6 Kanonen aufgestellt und 2 Mörser von Eis, welche auf der Drehbank angefertigt worden waren, auf den dazu gehörigen Lafetten. Die Kanonen, Sechspfünder, hatte man geladen, und in Gegenwart des ganzen Hofes mit einer Kugel von gestopftem Hanf, auf welchen eine gegossene gesetzt, wurde ein Schießversuch unternommen, der auch vollständig gelang, denn die Kugel durchbohrte auf eine Entfernung von 60 Schritt ein zweizölliges Brett, und die Kanonenrohre, welche nicht dicker, als 4 Zoll waren, litten durch die Gewalt des Pulvers nicht im mindesten.


Allerlei Kurzweil.

Schach.
Von Dr. A. Kauders in Wien.

SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.


Auflösung der Schachaufgabe auf Seite 740.
Weiß:       Schwarz:      
1. D a 1 – h 1 K f 6 – e 5
2. f 3 – f 4 † K e 5 – d 6 oder d 4 0 A)
3. D h 1 – d 5 †! beliebig.
4. S resp. D setzt matt.

A) 2. ... K e 5 – f 6, 3. D h 1 – h 6 :† nebst 4. D h 6 – f 8 matt. – Zweites Hauptspiel: 1. ... h 6 – h 5 ! 2. D h 5 :, K e 7 :, 3. T c 7 † ! beliebig, 4. S, T resp. D setzt matt. Falls 2. ..., K g 7, so 3. S e 4 (d 7) etc. Oder 2. ..., S e 5, so 3. D f 5 † etc. Es droht 3. D h 6 † (D f 5 †) etc. – Varianten. a) 1. ... S e 5, 2. S g 8 † etc. – b) 1. ..., K g 7, 2. T g 8 † etc. – c) 1. ..., K e 7 :, 2. D h 6 : etc.; dies ist zugleich die allgemeine Drohung. Der Versuch 1. D c 1 scheitert an S d 2. 2. D d 2 :, L d 3 ! Die Vereinigung der zwei so schönen Ideen, insbesondere aber auch die Leichtigkeit der Konception stempeln dieses Problem zu einem Meisterwerke ersten Ranges.


Auflösung des „Bilder-Räthsels“ auf Seite 772:0 Hutmachergesellen.

Kleiner Briefkasten.
Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.

G. W. in A. Die gewünschte Auskunft über das moderne Zeitungswesen in England finden Sie in den anziehenden „Studien und Schilderungen aus dem Heimatslande John Bull’s“, welche Leopold Katscher unter dem Titel „Nebelland und Themsestrand“ (Stuttgart, G. J. Göschen’s Verlag) herausgegeben hat.

Abonnent in Radomsk. Vergleichen Sie die Biographie „Eine Heldin der Feder“ in Nr. 28 des Jahrgangs 1876 der „Gartenlaube“.


[ Inhaltsverzeichnis dieses Hefts, z. Zt. nicht hierher übertragen. ]


[ Verlagswerbung Ernst Keil's Nachfolger für Bücher von Heimburg und Keyser.]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.