Die Gartenlaube (1887)/Heft 18

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[289]

No. 18.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Götzendienst.
Roman von Alexander Baron v. Roberts.
(Fortsetzung.)


8. Glatteis.

Es war Glatteis, die Luft von einem feinen dunstartigen Staubregen erfüllt, dessen Niederschlag die Glätte noch immer steigerte. Eine wunderschöne Glasur bedeckte Trottoirs und Fahrwege, und die winterschwarzen Stämme und Aeste der Bäume schienen wie von einem funkelnden Lack überzogen. Ueberall Glanz, übertriebener Glanz und Reflex, die Lichter der Gasflammen und der Schein der Schaufenster durch eine ungeheure Spiegelung ins Endlose ausgedehnt. Eine allgemeine Blendung, grell wie die Wirkung des Sonnenlichtes auf einer Wasserfläche.

Alles tastend, schlürfend, ein Tappen mit Hilfe von Stöcken und Schirmen, ein ängstliches Vorwärtsschieben Schritt für Schritt, unbändige Freude der Jugend, erschreckte Ruhe und schadenfrohes Gelächter, und die kräftigsten Kutscherflüche. Ueberfüllte Tramways hielten auf den Geleisen, zu Zügen gereiht, weil die Pferde der vorderen Wagen versagten; Droschken schlichen am Rande des Fahrdammes, und der dampfende, zitternde Gaul wurde vom Kutscher mehr gestützt als geführt. Hier und da hatte eines der Fuhrwerke das Weiterschleichen aufgegeben, und aus dem mit Reise-Effekten bepackten Innern gestikulirte ein verzweifelter Fahrgast; in duftige Kapotten gehüllte Rosagesichtchen von tanzlustigen Damen spähten vergeblich nach einer Rettung aus.

Glatteis – jedenfalls war es schuld daran, daß die Festräume am Lützowufer sich jetzt um die neunte Stunde noch immer nicht füllen wollten. Es war die officielle Verlobung. Aus einem der hinteren Salons schallte das laute accentuirte Ostpreußisch Mühüller’s, der einem halben Dutzend lachender junger Damen die Erlebnisse seines Hierherutschens auf dem Glatteis in drastischen Worten und Stellungen schilderte. Ein paar dürftige Gruppen gleichgültiger Gäste waren auf die übrigen Räume vertheilt. Unermüdlich sah man Eff’s Burschen Baptist in einer neuen Livrée des Hauses von Gruppe zu Gruppe eilen, um Thee anzubieten. Er nahm diesen Dienst jedenfalls zu gewissenhaft; sein volles Gesicht erglühte feucht über den dampfenden Tassen des mit übertriebener Vorsicht balancirten Theebrettes; Friedrich mußte ihm mit seiner herablassenden Gravität immer wieder Einhalt thun. Aber bei jedem


Baumhaus im Küstenland von Milne-Bai.0 Nach einer Skizze von Dr. O. Finsch.

[290] Geklapper eines Löffelchens fuhr er von Neuem mit seinen Theetassen los.

Glatteis – auch die Gruppen sprachen vom Glatteis, Alles sprach davon. Kaum, daß die Ankommenden die Rücksicht beobachteten und ihre Glückwünsche darbrachten. Es wurde Frau Belzig wirklich zu viel, dieses Glatteis. Jedem schwebte es beim Eintritt auf den Lippen, und die von der Anstrengung des „Hierherrutschens“ echauffirten Gesichter konnten ihre Freude nicht verbergen, nach so viel halsbrecherischen Fährlichkeiten endlich im Trocknen dieses Salons gelandet zu sein.

Auch Herr Belzig war wie besessen von dem Glatteis. Immer wieder eilte er hinaus, um den Hauseingang und die angrenzenden Trottoirs von neuem mit Sand bestreuen zu lassen. Eben kam er mit dem Ruf zurück. „Es wird noch Alles Hals und Beine brechen!“ Da brach sich die Ungeduld seiner Frau in gereiztem Tone Bahn. „Belzig, ich hätte an Deiner Stelle doch den ganzen Kreuzberg mitsammt dem Tempelhofer Felde ankaufen lassen, um Berlin mit Sand zu überstreuen. Meinetwegen mögen sie doch auf allen Vieren rutschen, wie Mühüller behauptete, daß er es gethan!“

Aber gleich zerschmolz dieser Unmuthsanfall unter der lächelnden Höflichkeit, mit der sie als Herrin des Hauses ihre Gäste zu empfangen gedachte. Ja, sie wollte auch nicht mit dem Zucken einer Miene einen Unterschied machen und die Schulze und Lehmann, die Namen und Namenlosen, Epauletten und Nichtepauletten: sie sollten Alle in die eine gleichmäßige Liebenswürdigkeit eingeschlossen werden.

Und einen vollen Sonnenschein ihres Lächelns, einen scharfen Sonnenschein, wie er an Sturmtagen aus den Wolken bricht, sandte sie nach dem anstoßenden Salon hinüber, wo die beiden Bräute die Glückwünsche entgegennahmen und mit zerstreut glücklichen Mienen über die prachtvollen, mit beiden Händen gehaltenen Riesensträuße hinweg die glänzenden Augen immer wieder nach der Flügelthür wandten, in deren Oeffnung jeden Augenblick ihre Verlobten erscheinen mußten.

„Sehr erfreut – sehr dankbar, daß Sie gekommen bei dem Glatteis!“

Frau Belzig wollte es versuchen, dies lächerliche Glatteis direkt zu bekämpfen, indem sie es den Ankommenden einfach aus dem Munde nahm.

Nun öffnete sich die Flügelthür vor der gewaltigen Breite einer sehr starken und rothen Dame. Ganz athemlos, in großer Erregung wackelte sie auf die Wirthin zu, die beiden Arme zum Gruß vorgestreckt, einen Umhang auf dem Boden nachschleppend. „Meine liebe – gute – Frau Belzig – das ist so entsetzlich! Ich bin halb todt – ich kann wirklich nicht mehr –“ jammerte athemlos die hohe Fistelstimme.

„Sie hat geweint wie ein Kind über das Glatteis, mitten auf der Straße,“ ergänzte nach dem ersten Gruß ihr Gatte, ein Kollege Belzig’s. Sein rothhaariges Gesicht grinste vor köstlicher Heiterkeit, und die beiden unbedeutenden Küchlein von Töchtern waren noch ganz begeistert von dem Abenteuer. Das Pferd der Droschke war also gestürzt, und sie waren genöthigt gewesen, den Weg bis zum Lützowufer per Eisbahn zurückzulegen. Die arme Mama hatte plötzlich erklärt, sie wolle nicht weiter, und sie blieb mitten auf der blendenden Fläche stehen, bebend und jammernd und zuletzt laut weinend. Nach langen Ueberredungen hatte sie endlich wieder Muth gefaßt und sich, unterstützt von Mann und Töchtern, zum Weitertappen entschlossen. Ihre vollen, bei jedem Schritte nach unten zitternden Wangen zeigten noch die Spuren der Thränen.

„Von der Genthinerstraße bis hierher haben wir genau anderthalb Stunden gebraucht,“ lachte Herr Voltz.

„O, bitte um Verzeihung, verehrteste Frau Kollegin (wie häßlich das klingt, meinte die Angeredete für sich), unsere herzlichste Gratulation! Welch’ glückliches Doppelereigniß!“

„Entsetzlich – meine liebe Frau Belzig,“ jammerte Frau Voltz, immer noch ganz von der Erinnerung an das Abenteuer befangen. Die Küchlein gaben ihren schönsten Pensionsknix zum Besten und trippelten nach den beiden Bräuten hin. Man hörte drüben das zwitschernde Geräusch von Küssen.

Frau Voltz faßte sich endlich und mit derselben Ueberschwänglichkeit, mit der sie sich über das Glatteis ausgelassen, begann sie nun, sich mit dem Taschentuch die Thränenspuren von den Backen zu tupfen und ihr Herz in Glückwunsch-Dithyramben auszuströmen.

Doch Frau Belzig horchte nach einer ganz anderen Musik. Vom Vorsaal her drang der laute Ton militärischer Stimmen, dazu das feine Geklingel von Sporen, das Klirren eines Säbels und jenes kurze Daherschleifen von Tritten, wie es eleganten Militärs eigen ist. Die Herren waren jedenfalls sehr animirt vom Glatteis. Sie mußten Baptist, der ein neues Theebrett hereingeschleppt brachte, abgefaßt haben, und eine der Stimmen unterhielt sich in halsbrecherischer Weise mit dem Franzosen. Die anderen lachten.

Und mit dieser Musik huschte die Erinnerung an das Paradies ihrer Mädchenjahre herbei, wo in den gastlichen Räumen ihres Elternhauses das ganze Husarenregiment mit dem Kommandeur an der Spitze verkehrte und wo sie ihre ersten Triumphe feierte.

Die Thür öffnete sich, und sechs Officiere, die sich jedenfalls in der Kneipe „aufgerollt“ hatten, traten ein.

„Meine gnädige Frau“ in allen Tönen und Verbeugungen, und das Scharren und Aneinanderklappen der Füße, und die hübschen, alten Redensarten des üblichen Jargons, die der Angeredeten heute noch so süß klangen wie vor fünfundzwanzig Jahren. Es waren Kameraden von Eff und Mühüller, die diese im Hause eingeführt, einige „Boxer“ von der Central-Turnanstalt und ein paar Kriegsakademiker. Natürlich stürzte man gleich nach der Gratulation auf das Glatteis. Diesmal lachte Frau Belzig von Herzen mit über die köstlichen Abenteuer, die zum Besten gegeben wurden.

Die Heiterkeit pflanzte sich sofort nach den anderen Räumen weiter, und drüben in dem Kreise junger Damen veranlaßte Mühüller eine förmliche Explosion. Frau Belzig fand für sich das Glatteis doch nicht übel – aber es mußten schon die Militärs kommen, um es zu insceniren; die vom Civil setzten sich einfach plump darauf!

Mitten in diese Heiterkeit platzte der berühmte Dichter Wolfgang Kunde herein, mit dem erhabensten Gesicht und der effektvollsten Mähne seines üppigen aschblonden Haares. Er lachte nie, und er schien diese Heiterkeit fast als eine persönliche Beleidigung aufzufassen. Welch ein verfehltes Entrée! Er hatte unterwegs seiner Frau immer schon vorgejammert, daß sie viel zu frühe kämen. Und diese entsetzlichen Officiere, die sich mit ihren Tingeltangelkünsten überall vordrängten! Er stutzte noch in der Thür, während seine Frau, eine feine Brünette in geschmackvoller Toilette, ihm ein gutes Wort zuflüsterte. Sie verehrte ihn abgöttisch und ertrug mit wahrhaft engelhafter Geduld seine berechtigten Dichterlaunen. O, sie würde schon dafür sorgen, daß er auch hier zu seinem Effekt käme!

Frau Belzig empfing den großen Mann mit äußerster Zuvorkommenheit. Sie liebte die Litteratur nicht, am wenigsten die persönliche mit ihrem Neid und ihren Honorargesprächen, aber sie wollte sich nicht außerhalb der Mode stellen und sich diese Berühmtheit für ihren Salon erhalten. Ihr Gatte stellte die Officiere vor. „Herr Kunde – Herr von So und So – Herr Kunde – Herr Lieutenant von X.“ – u. s. w. Höfliche Verbeugungen, weiter Nichts. Keiner der Officiere schien den berühmten Namen zu kennen – wie war das möglich? Wolfgang Kunde machte gar keinen Eindruck und war ganz empört.

„Kunde – Kunde wieso? Wer ist dieser – Kunde?“ fragte später einer. „Ein Dichter,“ hieß es ironisch, „jedenfalls ein gelungener Kunde!“

Herr Kunde war außerordentlich gereizt, und er zog sich an einen Thürpfosten zurück, wo er in erheuchelter Bescheidenheit, aber mit fanatischen Augen Pose stand. Seine Frau aber begann unter den Officieren zu werben und ihnen von der Berühmtheit und den Werken ihres Gemahls in ihrer unermüdlichen geschickten Weise vorzuplaudern. Sie ließ dabei alle Koketterien ihrer pikanten Persönlichkeit spielen. Die Officiere fanden sie reizend, viel zu schade für diesen – Kunden!

Endlich – endlich war Melitta’s Sehnen gestillt! Eff’s hohe Gestalt tauchte hinter einer Gruppe neuer Gäste auf, funkelnd in seiner neuen Uniform, strahlend vor Glück und Freude. Er hatte nichts von dem Kompromiß erfahren, dem er sein Glück zu verdanken hatte, und Frau Belzig wollte ihn auch nichts entgelten lassen. Was kann er dafür? Was kann der Aermste für seinen Namen? Wie liebenswürdig er war, mit welch’ herzlicher Grazie [291] er seiner Schwiegermutter die Hand zu küssen verstand! Was, er sollte nicht zu erweichen sein, er sollte nicht dazu zu bringen sein, das unausstehliche Ding von einem Buchstaben gegen einen wirklichen Namen umzutauschen?

Eff eilte nach der Begrüßung seiner Schwiegermama auf seine Braut zu, doch der beabsichtigte Handkuß kam nicht zur Ausführung, er ward durch ein inniges Willkommen Lippe auf Lippe ersetzt. Die jungen Damen fanden mit jenem eigenartig übertriebenen Lächeln des Neides die Scene überaus reizend.

„Wo ist denn der Herr Schwager? Noch nicht da?“ wandte sich Eff an Lolo.

„Das Glatteis,“ lächelte diese etwas gezwungen, mit einem Zucken ihrer prächtigen Schultern.

„Das Glatteis,“ warf Perkisch mit der unbestimmtesten Betonung, aber mit einem halb unwilligen Blinzeln seiner farblosen Wimpern hin, als er von Frau Belzig wiederholt nach dem Verbleib des Grafen gefragt wurde.

Natürlich nur das! beruhigte sich die Fragende. Uebrigens ist ja Eff auch erst vor einer halben Stunde erschienen.

„Baptiste, servez le thé à monsieur Perkisch,“ rief sie mit dem Fächer winkend dem rastlosen Burschen zu, dessen purpurrother Uebereifer Heiterkeit zu erwecken begann. Dieser Baptist war eine ganz hübsche Errungenschaft, und die paar französischen Redensarten, die man gelegentlich in aller Nonchalance fallen lassen konnte, gaben dem einsprachigen Einerlei immerhin eine kleine Würze.

Teufel! sagte sich Perkisch, den Zucker in der Theeschale umrührend, der Graf wird doch keinen Unsinn machen? Er wird doch nicht die ganze Affaire durch einen seiner Streiche über den Haufen werfen! Man darf ihn nicht aus den Augen lassen – mein Gott, und er wäre doch alt genug, um sich selbst zu beaufsichtigen! Noch nie hat ihm ein Anderer solche Mühe und solchen Schweiß gekostet. Aber es ist das Glatteis – er wird schon heil hereinsegeln!

Bald hatte sich Perkisch an einen der Officiere festgehakt, dem er über die ersten gleichgültigen Gesprächsstoffe hinweg von den Vorzügen einer reichen einzigen Tochter, die er kannte, zu erzählen begann. Der Vater hat eine großartige Leim- und Gelatinfabrik vor dem Frankfurter Thor, er legt der Tochter sofort Hunderttausend als Hochzeitsgeschenk auf den Tisch. Der Officier blinzelte ironisch, strich sich aber mit einer eigenartig lüsternen Unruhe den Schnurrbart.

„Ze … ze … ze …“ Der Oberstlieutenant trippelte mit seinen kurzen, strammen, durchgedrückten Schrittchen auf das Brautpaar hin, die Hände, in deren einer er ein Paar flach zusammengelegte Militärhandschuhe hielt, wagerecht ausgestreckt. „Meine ergebenste … ze … ze … ze … meine herzlichste Gratulation!“

Er hatte Melitta wie der Familie schon bei einem besonderen Besuche gratulirt, Eff aber nicht getroffen. Nun schüttelte er dem Brautpaar gleichzeitig herzhaft die Hände. Dann Melitta’s Hand loslassend, umfing er mit seinen beiden Eff’s Rechte, ganz wie damals, als er sich unter dem vergoldeten Stiefel in der Derfflingerstraße den beiden Officieren empfahl. Sein ganzes Wesen strahlte von einer innigen Fröhlichkeit.

Niemand hatte sich mehr über die Verlobung gefreut, als er. Eff’s Adoption war sein Traum bei Tag und Nacht geworden. Nun schien sie gesichert und der kostbare Name geborgen. Nun hatte auch Olga ihren Hort gefunden, wenn er selbst zur großen Armee abrücken würde.

Da kam der liebliche Schmetterling herangeflattert. Wo Olga erschien, verbreitete es sich wie eine freundliche Sonnenstimmung, und vor ihren großen blauen Kinderaugen zerschmolzen die grämlichsten Gesichter und die ödesten Gespräche. Sie war in ein neues duftiges, zartblaues Kostüm gekleidet – „ihr Kostüm“, von dem sie Monate lang ihrem Papa vorgeplaudert; wie viel späte Abende der anstrengenden mechanischen Arbeit am Kolorirtische hatten dazu gehört, damit der Traum dieses Kostüms endlich in Mousselin und Spitzen zur Wirklichkeit wurde! Sie hatte sich vorgenommen, besonders heiter zu sein, sie, die immer Heitere, und sie begrüßte das Brautpaar mit ihrem herzigsten Geplauder. Freilich, ihre Röthe, von der sie selbst wie von einem schlimmen, unsichtbaren Leiden zu sprechen pflegte, vermochte sie nicht zu unterdrücken – es war ein Gedanke, der sie ihr immer wieder auf die Wangen trieb: ihr Bruder – ihr zukünftiger Bruder! Auch sie hatte in den stillen Stunden der Arbeit sich immer tiefer in diese Adoption hineingelebt. Sie wollte ihn fortan nur mit den Augen einer Schwester betrachten, ja sie gelobte sich insgeheim, ihnen beiden eine treue Schwester zu werden.

Der gerade Eff aber mochte wohl in seinem Glücke nicht ahnen, welch’ ein Gewebe verschiedenartigster Gedanken, Gelüste und Intrigen den alten guten, ehrlichen Namen seiner Väter immer zudringlicher zu umstricken begann.

Eff und Melitta bewegten sich nun durch die Reihen der Gäste, die offenen wie die stummen Huldigungen der Worte und Blicke entgegennehmend. „Welch ein herrliches Paar!“ flüsterte die aufrichtige Bewunderung und tuschelte die Heuchelei des Neides.

Frau Belzig aber wollte Nichts von dieser Herrlichkeit wissen. Es war ja fast wie eine Kour, welche die Beiden entgegennahmen. Die Rolle gebührte doch dem andern Paare! Aber wo blieb er? Wo steckt er? Wir sind zwar bloß Belzig, aber es ist doch seine Braut! Es ist doch sein Verlobungstag – er hätte längst hier sein können! Und eine Ahnung dämmerte in ihr auf, daß sie von dieser Neungezackten noch manche Ueberraschung zu gewärtigen hätten. Unterdeß ließ Herr Belzig nochmals Sand streuen als gelänge es dadurch, den Säumigen herbei zu locken.

Es war das Glatteis. Noch immer wollte sie sich damit beschwichtigen, aber mit jedem Oeffnen der Thür, da er sich immer noch nicht einstellen wollte, nahm die Röthe des wachsenden Unmuths auf ihrem Gesicht um eine Nüance zu. Die Räume hatten sich gefüllt und das Glatteis hatte eigentlich seine lächerliche Rolle ausgespielt. Man mußte es nun künstlich, so zu sagen, immer wieder aufwärmen, um das Nichterscheinen des Grafen zu masciren. Selbst Eff äußerte sein Befremden, daß Jener nicht erscheinen wollte. Der Schwager erfreute sich nicht seiner Sympathie. Die Erregtheit dieser Tage hatte zwar einen leidlich kordialen Verkehr zwischen ihnen hervorgerufen. Er bedauerte jedoch Lolo; denn Mühüller’s Andeutungen betreffs der zweideutigen Rolle Perkisch’ beunruhigten ihn.

Immer noch trafen neue Gäste ein, Persönlichkeiten ohne besondere Bedeutung, es folgten auch einige glänzende Nummern, doch der Haupttreffer blieb aus. Die Generalsfamilie erschien; er graufarbig und steinern, nur die Worte höflich, nicht das Gesicht, sie eine schmächtige gelbliche Person, voll Ballmütterangst ihr stark abblühendes Töchterchen hütend.

Eine andere Glanznummer war eine bekannte Sängerin von berauschender Schönheit und möglichst tief ausgeschnittener Taille. Sie verursachte einen Aufruhr bei den Herren, die sich herbeidrängten, um das klassische Wunderstück ihrer marmornen Schultern zu bewundern. Einige der Besitzerinnen von Töchtern wandten sich mit Empörung ab über den „Skandal“.

Unter den Nachzüglern befand sich auch Adolf Eff nebst seiner Frau. Der Generalstäbler stellte ihn halb unwillig zur Rede über sein Zuspätkommen.

„Meinst Du denn, es wäre ein Leichtes gewesen, einen Frack für mich aufzutreiben bei dem Glatteis?“ antwortete ihm der Erfinder grinsend.

Und seine arme kleine tapfere Frau, der die Noth und Sorge fahl genug aus dem ehemals wohl hübschen Gesichte sah, bestätigte mit ihrer gedrückten Stimme, wie sie seit halb neun Uhr von Geschäft zu Geschäft, förmlich mit Lebensgefahr „bei dem Glatteis“, gerutscht, um einen passenden Frack für Adolfs breite Schultern aufzutreiben. Sein eigener Frack war zum Besten eines Patents in Buenos-Ayres längst versilbert worden. Das ganze Elend des Erfinders in seiner schönsten Blüthe!

„Na, Dein Schwager-Graf ist doch auch noch nicht da!“ fügte Adolf trotzend hinzu.

„Schwager-Graf“ – Walther runzelte die Stirn wegen des unangenehmen Ausdruckes und wandte seinem Bruder den Rücken.

Immer noch keine Spur von dem Grafen! Die Unruhe des Gastgebers begann sich den Gästen mitzutheilen; man munkelte; hämisch neugierige Blicke flogen nach Lolo hinüber, die sich aber tapfer hielt und nur übertrieben lebhaft lachte und plauderte.

Perkisch fing nun auch an, aufgeregt zu werden. Er hatte den Vertrieb der einzigen Gelatinfabrikantentochter einstweilen [292] aufgegeben; er schlich rathlos umher, und man sah ihn mit den Belzigs geheimnißvoll tuscheln: was wohl zu thun wäre? Ob man Boten nach ihm wie nach einem im Walde Verirrten aussendete? „Er ist hoffentlich nicht verunglückt, gestürzt bei der Glätte und hat sich ein Glied zerbrochen!“ beschwichtigte Perkisch. Aber es war nicht das, was er besorgte. Es war das Glatteis eines unverantwortlichen, unbegreiflichen Leichtsinns, auf dem jener ausgeglitten sein mochte. Man hätte ihn keine Minute allein lassen sollen!

Wenn durch diese Rücksichtslosigkeit die Verlobung zurückginge! Es wäre empörend! Und Perkisch berechnete, welchen Verlust das für ihn bedeutete: nicht allein den Verlust an Provision, sondern auch die moralische Einbuße, die seine geheime Specialität bei allen ähnlich Geschäftslustigen erlitte. Viele, die ihn stier berechnenden Blickes umherschleichen sahen meinten, es wäre seine andere Specialität, die Poesie des zu haltenden Toastes, über der er also grübelte.

Aus der Küche kamen alarmirende Nachrichten. Der für den Abend engagirte Chef drängte wie ein großer Künstler, der nun lange genug gewartet und endlich aufzutreten wünschte.

Herrn Belzig stach eine für solchen Moment geradezu verbrecherische Schadenfreude, die Verlegenheit und die Qual seiner Gattin noch zu steigern.

„Da hast Du’s – da hast Du die Bescherung!“ raunte er ihr über die Schulter zu. „Du erinnerst Dich wohl des famosen Falls in Budapest vorgestern in der Zeitung?“

Es war eine Skandalgeschichte – ein Magnat, der kurz vor der Trauung, als man schon in der Kirche versammelt war, Braut und Priester und Alles im Stiche ließ.

Frau Belzig antwortete mit einem wüthenden verachtenden Blicke rückwärts über die Schulter hinweg und rauschte davon, um ein paar Nummern des Koncerts einzuschieben, das programmmäßig erst nach dem Souper einsetzen sollte.

Die hohen Wimmertöne einer renommirten Geige lenkten noch eine kurze Weile die Aufmerksamkeit von dem Bräutigam ab, welcher auf dem Glatteis verunglückt war, – die Parole, die Perkisch hatte verbreiten müssen. Man saß und horchte mit dem erheuchelten Ausdruck der Spannung, aber bald hatte man nur wieder Augen für die Belzigs und ihre skandalöse Verlegenheit. Lolo war dem Weinen nahe, aber mit großer Energie bewahrte sie ihre lächelnde Miene.

In einem der hinteren Salons unterhielt sich der General, unbekümmert um das Koncert, überlaut mit der berauschend schönen Sängerin, die mit breiten, flach aufgebügelten Haarsträhnen bedeckte Glatze tief herabgebogen auf deren Schultern zum Aerger der Lieutenants, die machtlos waren, ihn aus dieser Position zu verdrängen.

Da öffnete sich die Vorsaalthür weit – endlich! Und Alles athmete erleichtert mit Frau Belzig auf.

Ein paar Augenblicke der Spannung, dann stolperte ein semmelblonder Herr, mit einem überaus glänzenden Ding von einem Orden am Halse, herein. Die Meisten, die das Phänomen des gräflichen Bräutigams noch nicht von Angesicht gesehen, hielten den Ankömmling für den sehnlichst Erwarteten, allein schon des Ordens wegen. Allgemeine Erregung.

Frau Belzig war wüthend. Wer war es? Einfach ein Gymnasiallehrer, der einem japanischen Prinzen die Elemente der deutschen Sprache beigebracht und dafür diesen Orden erhalten hatte.

Der Aermste war sehr verlegen und stotterte unbekümmert um das Adagio der Musik seine Entschuldigung über sein spätes Eintreffen.

„Bitte, bitte!“ fuhr ihn Frau Belzig zornsprühend an. Es klang fast wie: „Scheeren Sie sich doch gefälligst wieder hinaus!“

Der Geiger stockte ganz kurz über diese Störung und schwor, weiter fortfahrend, bei solchen Leuten nie wieder zu spielen.

Es gab eine peinliche Stille, nur das ärgerliche Tremulo des beleidigten Instrumentes. Plötzlich platzte Tante Mala, den komplicirten guttapertschenen Hörapparat an die Stelle ihrer Haube haltend, unter der ihr Ohr saß, laut mit der komisch jammernden Frage heraus:

„Warum kommt er denn nicht?“

„Das Glatteis!“ flüsterte ihr Melitta ängstlich beschwichtigend zu.

Aber jene verstand nicht. „Wieso? Was – Wer?“

„Das Glatt … eis – Tante!“

Man hatte Mühe, das Kichern und Lachen zu unterdrücken.

(Fortsetzung folgt.)




Deutsche Kriegervereine.

Vereinigungen alter Soldaten, die auch im Rocke des Bürgers Geist und Traditionen ihrer militärischen Dienstzeit gemeinsam zu wahren sich bestrebten, hat es lange vor 1870 in Deutschland gegeben. So haben sich in Preußen namentlich seit den Zeiten des alten Fritz, derartige Kriegerverbindungen gebildet, von denen einige bis auf den heutigen Tag bestehen und blühen. Zum Beispiel feierte der Militärverein „Wangerin“ in Pommern im Jahre 1886 sein hundertjähriges Bestehen, und solches Beispiel steht nicht vereinzelt da. Aber in Menge emporgeblüht und zu Bedeutung gekommen sind diese Vereine erst, seitdem die glorreichen Sieger von Weißenburg und Wörth, von Vionville und Gravelotte, von Sedan und Paris, zu friedlicher Bürgerarbeit zurückgekehrt, in solchen Vereinigungen die alten Erinnerungen und die gemeinsamen Gefühle der kameradschaftlichen Zusammengehörigkeit und der Treue gegen Kaiser und Reich pflegen.

Ueber die nationale Bedeutung und die Organisation der Kriegervereine ist in der „Gartenlaube“ gelegentlich des ersten deutschen Kriegerfestes in Hamburg berichtet worden (vergl. Jahrgang 1883, S. 500); heute möchten wir auf einen andern Zug im Leben derselben, auf ihre humanitären Bestrebungen hinweisen, auf das edle Ziel, in Noth gerathenen Kameraden helfend beizuspringen.

Es giebt wohl kein Feld, auf welchem sich die werkthätige Nächstenliebe günstiger entfalten könnte, als diese Vereinigungen alter Krieger, denn auf dem Boden der „Kameradschaft“ gedeiht die brüderliche Gesinnung, ohne daß Kunst und Sorgfalt des Gärtners die Pflanze ängstlich zu hüten brauchte. „Was? Den Mann, der neben mir im Pulverdampfe, in der Stunde der Gefahr gestanden und mir damals brüderlich geholfen hat, wie ich ihm, den soll ich neben mir hungernd und darbend und verlassen sehen? Nimmermehr! Komm’ her, Kamerad, so viel ich kann, helf’ ich Dir. Wir wollen zusammenstehen!“ So denken, so sprechen, so handeln Tausende, und gerade die unteren Schichten unseres Volkes, die arbeitenden Klassen empfinden dieses Gefühl am lebhaftesten, weil sie die Noth des Lebens am besten kennen. Darum rekrutiren sich unsere Militärvereine zum allergrößten Theile aus Arbeitern, kleinen Handwerkern und Beamten. Das ist gut und schön, das ist die Kraft und die Zukunft unserer Vereine; denn in diesen Kreisen wecken sie Selbstgefühl und das Bewußtsein, nicht allein und als ein „Enterbter“, sondern im Kreise von Gleichstrebenden und Gleichdenkenden als vollberechtigtes Mitglied zu stehen. Damit geben sie dem Einzelnen moralischen Halt, ohne das Gefühl in ihm zu wecken, als gälte es Sonderinteressen zu vertheidigen, und damit die Brandfackel des Hasses in seine Seele zu werfen. Die Militärvereine heben auch äußerlich den Niedrigstehenden auf das gleiche Niveau mit seinen Vereinsgenossen, denn in denselben giebt es nicht oder sollte es doch nicht geben Titulaturen und Rangbezeichnungen, sondern: „Kamerad Schulze“ sitzt und steht neben „Kamerad Müller“, mag der Eine auch Nachtwächter, der Andere Hofrath sein. Das sollten sich die Militärvereine nun und nimmermehr nehmen lassen. In diesem „Kamerad hier – Kamerad dort“ steckt ein Stück wirklich praktischer Socialpolitik, das allein schon im Stande ist, Manches zu einen, „was die Mode streng getheilt“.

So sind denn die humanen Bestrebungen in diesem Kreise von einem ganz besonderen Geiste getragen.

Verfasser dieses Artikels ist Mitglied eines großen Berliner Militärvereins, der etwa 1000 Mitglieder zählt. Gut 800 davon

[293]

Kirche und Kirchgängerinnen auf Aroani (Killerton-Inseln).
Nach einer Skizze von Dr. O. Finsch gezeichnet von A. v. Roeßler.

[294] sind Arbeiter, Handwerker, Nachtwächter, Budiker und Unterbeamte; die Sorge um die materielle Existenz ist wohl Keinem fremd. Wie wird in diesem Kreise unterstützt; wie hilft man hier einander aus! Wahrlich, herzbewegend ist es, wie ihrer selbst nicht bewußt und naiv die werkthätige brüderliche Gesinnung hier arbeitet. Der Eine weist dem Andern Arbeit nach; der Zweite ergreift das Wort für einen abwesenden, kranken Kameraden und ficht etliche Mark für ihn zusammen; der Dritte verkündet ungenirt von der Tribüne, daß er sich freuen würde, wenn einer der Kameraden ihm eine billige Wohnung nachweisen könnte, da er zum kommenden Ersten obdachlos zu werden fürchte, und der Vierte bittet, wenn Jemand durch die Andreasstraße kommt, doch einmal nach der kranken Wittwe des verstorbenen Kameraden X. zu sehen. Daneben hat der Kassirer vollauf zu thun, Krankengelder und vom Vorstande bewilligte Unterstützungen auszuzahlen, und wenn es ja einmal nöthig wird, in zweifelhaften Fällen die Versammlung zu befragen, ob gezahlt werden soll oder nicht, da fliegen gewiß bei der Abstimmung die braunen, harten Arbeiterhände ausnahmslos zu freudigem Ja! in die Luft. –

Von den zur Zeit bestehenden Kriegerbünden hat sich der „Deutsche Kriegerbund“, der so ziemlich ganz Preußen, die beiden Mecklenburg und die Mehrzahl der thüringischen Staaten umfaßt, mit den Bünden von Braunschweig, Oldenburg, Hamburg und Bremen zum „Deutschen Reichs-Kriegerverband“ zusammengeschlossen. Die genannten Bünde umfassen etwa 300000 Mitglieder. Ihnen gegenüber – durchaus nicht feindlich, aber doch einen gewissen Nachdruck auf ihre Selbständigkeit legend und daher sich nicht dem Reichs-Kriegerverbande anschließend, stehen die Militärbünde von Sachsen, Bayern, Württemberg, Baden und Hessen mit fast ebenso viel Mitgliedern, so daß man sagen kann: 600000 alte Soldaten stehen heute zu der Sache der Militärvereine in Deutschland.

Unter diesen Kriegerbünden ragt der „Deutsche Kriegerbund“, welcher die Einigung sämmtlicher Verbände anstrebt, schon durch seinen äußeren Umfang hervor. Ihn können wir als Typus für die ganze Bewegung auffassen und an seiner Konstitution und Wirksamkeit auch die der anderen, durch Landesgrenzen beengten Verbände schildern.

Der Deutsche Kriegerbund ist 1873 in Weißenfels gegründet worden. Seine Zwecke bestimmt der Paragraph 2 seiner Satzungen dahin: „Das Band der Kameradschaft auch im bürgerlichen Leben unter seinen Mitgliedern zu erhalten und zu pflegen; das Nationalbewußtsein zu beleben und zu stärken, die Liebe und Treue für Kaiser und Reich, Landesfürst und Vaterland bei seinen Mitgliedern zu pflegen, zu bethätigen und zu stärken; den Bundesangehörigen in Noth und Alter mit Rath und That hilfreich zur Seite zu stehen, insbesondere durch Gewährung von einmaligen oder fortlaufenden Geldunterstützungen an die Mitglieder sowie die Wittwen und Waisen verstorbener Mitglieder oder deutscher Krieger, im Falle eines Krieges, soweit wie angängig, sich im Sinne der Genfer Konvention etc. dem Staate zur Verfügung zu stellen; den deutschen Kriegervereinen die denselben gebührende Achtung im öffentlichen Leben zu erwirken und zu erhalten. Im Uebrigen ist bei den Verhandlungen des Bundes und seiner Angehörigen jede Erörterung politischer und religiöser Angelegenheiten ausgeschlossen.“ Der Sitz des Bundes ist Berlin, das Organ desselben die Wochenschrift „Parole“. Nach dem vorjährigen Berichte des Bundesvorstandes (14. Juli 1886) umfaßte der Bund 3106 Vereine mit 270983 Mitgliedern. Diese Vereine gliedern sich in cirka 100 über ganz Deutschland vertheilte lokale Gruppen, seien es Bezirke oder Landesverbände, die zum Theil unter dem Protektorate ihrer Landesfürsten stehen. Außerdem zählt zu Ehrenmitgliedern des Bundes wie einzelner Verbände, Bezirke und Vereine eine große Anzahl der angesehensten und hervorragendsten Männer in Deutschland, voran natürlich die militärischen Koryphäen. Das Ehrenpräsidium des Bundes führt der 92jährige, ehrwürdige General Stockmarr in Dessau, einer der wenigen noch lebenden Veteranen und Ritter des Eisernen Kreuzes von 1813, 1814 und 1815, während der Oberst von Elpons in Berlin der geschäftsführende Vorsitzende ist. Die Organisation des Bundes beruht auf vollständiger Selbständigkeit der Vereine, Bezirke und Verbände in allen lokalen und internen Angelegenheiten. Das bindende Element ist ausschließlich die Unterstützungsthätigkeit, die von dem Grundsatze ausgeht, daß bei geringen Beiträgen mit vereinten Kräften Großes zu erreichen ist. Aus dieser gesunden, nicht unnöthig centralisirenden Organisation ist das stetige Wachsen und Emporblühen des Ganzen zu erklären. Auch im letzten Jahre hat sich dieselbe bewährt, so daß fast 300000 alte Krieger im Bunde geeint dastehen, die ein Vermögen von 325000 Mark für ihre humanen Bestrebungen angesammelt und eine Reihe segensreich wirkender Stiftungen ins Leben gerufen haben.

Die Verwaltungskosten, mit denen der Bund arbeitet, sind geringfügig, denn alle Aemter fast sind Ehrenämter, die unentgeltlich, oft mit großen geistigen und materiellen Opfern der betreffenden Kameraden verwaltet werden. Wir können hier nicht ins Einzelne gehen, sondern wollen namentlich zwei humane Schöpfungen des Bundes ins Auge fassen. Die eine, wohl allgemeine Sympathie heischende und genießende ist die Gründung des Krieger-Waisenhauses „Glücksburg“ zu Römhild im Meiningischen. Da, wo sich aus der Ebene des Frankenwaldes die beiden Gleichberge erheben, deren herrliche Eichen, Buchen und Nadelwälder zu erquickender Erholung einladen, liegt das freundliche Landstädtchen Römhild mit etwa 1600 Einwohnern. In seiner nächsten Nähe erhebt sich das alte Schloß Glücksburg, inmitten eines schönen Obstgartens gelegen, wie überhaupt das ganze Land einem großen Garten gleicht. Die hochherzige Gesinnung des Herzogs von Meiningen hat das bis dahin unbenutzt gewesene Schloß am 17. August 1884 dem Deutschen Kriegerbund zur Benützung in dem angegebenen Sinne überlassen, und nun tummeln sich in der frischen Bergluft, in den hohen Sälen und Zimmern und den schattigen Gängen des Gartens bereits 25 Knaben und Mädchen, die Waisen verstorbener Kameraden, die hier durch Kameradensinn und kameradschaftliche Liebe sorgsame Pflege des Geistes und Körpers genießen und hoffentlich zu braven Menschen erzogen werden. Die Mittel zur Erhaltung dieses Hauses fließen theils aus den Zinsen der „Kronprinz Silberne Hochzeits-Stiftung“ (Kapital gegen 120000 Mark), theils aus dem Ertrage der Krieger-Fecht-Anstalten, die sich innerhalb der Vereine des Deutschen Kriegerbundes zu diesem Zwecke hauptsächlich gebildet haben und bei Pfennigbeiträgen im verflossenen Jahre etwa 8000 Mark dem Bundesvorstande zur Verfügung stellen konnten.

Das zweite Werk des Bundes, auf das wir besonders hinweisen möchten, ist die in Anlehnung an das Rothe Kreuz überall bewirkte Bildung und Ausbildung von sogenannten Sanitätskolonnen, das heißt von kleinen Vereinigungen innerhalb der Vereine, die unter fachmännischer Leitung sich im Transport von Kranken und Verwundeten, in Anlegung von Verbänden etc. unterrichten und ausbilden lassen, um im Falle eines Krieges sich dem Rothen Kreuz in der Heimath sowie auf dem Schlachtfelde zur Verfügung zu stellen. Man bedenke, daß das keine eleganten, mit der Kreuzbinde kokettirenden Schlachtenbummler, sondern alte, gediente Soldaten sein werden, die den Krieg zum größten Theile aus eigner Erfahrung und Anschauung kennen und von denen nicht wenige als Lazarethgehilfen, Krankenträger etc. früher gedient haben. 5000 solcher wohldisciplinirten, gut ausgebildeten und ausgerüsteten Krankenträger werden in der Stunde des Bedürfnisses für das Rothe Kreuz von unberechenbarer Wichtigkeit sein. Dann werden die Sanitätskolonnen innerhalb der Kriegervereine auch ihrerseits davon Zeugniß ablegen, wie treuer Kameradensinn für die Opfer des Krieges in der Zeit des Friedens vorgesorgt hat, und mancher Brave wird durch sie dem Leben erhalten, manche Beute dem Tode entrissen werden.

Aus den gegebenen Andeutungen wird der Leser ersehen, in welcher Weise der Deutsche Kriegerbund und die anderen deutschen Kriegervereine ihr Werk auffaßten und welche hohen Aufgaben sie sich gestellt haben. Die letzteren wachsen von Jahr zu Jahr mit dem Umfange der Bünde und mit dem Umstande, daß die Sieger von Gravelotte und Sedan älter und gebrechlicher werden, die Folgen der Feldzugsstrapazen bei ihnen auch noch nachträglich sich als vorzeitiges Siechthum melden. Mag der Staat noch so viel für seine Invaliden thun: es bleibt noch genug übrig für die Privatthätigkeit, zumal hier die Betheiligten unter sich Hand anlegen und ihre Unterstützung nicht als Almosen, sondern als kameradschaftliches Eintreten „Aller für Einen und Eines für Alle“ aufgefaßt wissen wollen. J. Steinbeck.     




[295]

Entdeckungsfahrten des deutschen Dampfers „Samoa.“[1]

IV. Englisches Gebiet in Ost-Neu-Guinea: Milne-Bai und Moresby-Archipel.
Für die „Gartenlaube“ mitgetheilt von Dr. O. Finsch (Bremen).

Milne-Bai, eine im Südosten Neu-Guinea’s gelegene, etwa 20 Seemeilen lange und 10 Meilen breite Einbuchtung, war das Ziel der nächsten Expedition der „Samoa“. Ein Kranz von Koralleninseln, den Killertons, ist der Einfahrt in diese Bucht vorgelagert, und eine derselben, Aroani, war unser erster, keineswegs besonders geschützter Ankerplatz in diesem Theil des englischen Gebietes. Außer der englischen Flagge deuteten noch andere Merkmale darauf hin, daß wir uns den äußersten Grenzen, den Anfängen der Civilisation wieder näherten. Eingeborene, die in schlechten, nur aus einem ausgehöhlten Baumstamm bestehenden Canus ankamen, noch ehe der Anker gefallen war, begrüßten uns mit „Hallelujah! Jesus!“, „Me belong missionaly!“ („Ich bin Missionar!“) und verlangten nach Tabak. Kein Zweifel, wir befanden uns im Bereiche der Mission, und zwar der Gesellschaft von London, für welche Aroani den äußersten östlichen Posten an der Südostküste von Neu-Guinea bildet. Seit dem Jahre 1871 hat diese größte und reichste aller Missionsgesellschaften der Welt von Saibai an der Südküste bis hierher an 37 Stationen errichtet, von denen Port Moresby und Darnley-Insel in der östlichen Torresstraße die Centralstationen sind. Nur hier haben gebildete Weiße, Missionare in unserem Sinne, als Leiter des Ganzen ihren Sitz, während die übrigen Stationen von sogenannten Lehrern (Teachers), das heißt in der Missionsschule auf Norfolk-Insel erzogenen Farbigen aus Ost-Polynesien, geleitet werden. Und doch hat das Missionswerk diesen dunklen Sendboten des Evangeliums das Meiste zu verdanken; denn sie waren es, die gegen ein Entgelt von 20 Pfd. Sterling (400 Mark) jährlich Leben und Gesundheit im Dienste des Christenthums einsetzten. Und dieser Opfer sind gar viele! Die meisten der „Lehrer“ erlagen dem Klima; nur eine geringe Anzahl (höchstens sechs, und zwar bei dem bekannten Massacre 1882 in Kalau) fiel unter den Streichen der Eingeborenen. Die Missionsstation auf Aroani, einer früher unbewohnten Insel, besteht aus mehreren Häusern, unter denen die Kirche den hervorragendsten Bau bildet. Unsere Abbildung (S. 293) giebt eine Darstellung dieses eigenthümlichen Gebäudes.

Die Verzierung der Giebelfront stellt die Figur irgend eines Heiligen in roher Form dar und ist von Eingeborenenhand aus farbigen Blättern gearbeitet. Nach meinen Originalskizzen hat ferner unser Künstler ein lebendiges und sehr naturgetreues Bild der Eingeborenen entworfen, wie es sich an einem Sonntage vor der Kirche unseren Augen darbietet. Wie überall, so bildet auch hier das schöne Geschlecht den Haupttheil und zwar in den sonderbarsten Ausschmückungen der Mode, vom Grasröckchen der Eingeborenen bis zum Kattunjäckchen und Strohhut, auf dem Federn und künstliche Blumen paradiren. Es geht gar lebhaft her; denn ein großes Canu hat fremde Gäste gebracht, und zwar von Samárai (Dinner-Insel). Wir lernen dabei zuerst die reiche Tätowirung der dortigen Damenwelt kennen, die in Milne-Bai sonst nicht Sitte ist. Diese Tätowirung bedeckt in eigenthümlichem Grecmuster den ganzen Körper, Arme und Gesicht und dient, wie allenthalben, als eine die Kleider gewissermaßen ersetzende Verzierung des weiblichen Geschlechts, an die sich auch das Auge des Europäers bald so sehr gewöhnt, daß es sie schön findet.

Aroani ist ein armes Inselchen; das wurde mir auf meinen Jagdausflügen klar. In Begleitung des Lehrers unternahmen wir auch einen Ausflug in die Bai und zwar längs dem noch wenig bekannten nördlichen Ufer, an welchem sich noch eine zweite Missionsstation, Mieta, befindet. Je tiefer wir in die Bai gelangten, um so reicher fand sich die Kokospalme vor, die an manchen Stellen förmliche Wälder bildete. Wenn man den Berichten der Lehrer über die Ausdehnung dieses Kopragebiets Glauben schenken darf, so gehört es ohne Zweifel zu dem reichsten in ganz Neu-Guinea, obwohl es merkwürdigerweise bis jetzt noch ganz unausgebeutet blieb.

Die Häuser in dem Küstenland von Milne-Bai stehen auf sehr hohen Pfählen und unterscheiden sich in manchen Stücken, sowohl in Bauart wie Material, von den bisher gesehenen. Ueberraschend war es für mich, hier jene Art von Baumhäusern zu finden, die mir aus dem Innern von Port Moresby bereits bekannt waren. Meine Skizze (vergl. S. 289) stellt ein solches im Bau begriffenes Haus dar. Diese Bauten dienen weniger Wohnungszwecken, sondern sind mehr Warten oder Festungen, in welche sich die Eingeborenen bei einem Angriffe zurückziehen. Das einzige Geräth, welches sich daher im Inneren dieser luftigen Baumnester findet, sind Waffen, vor Allen Steine und Speere. Die Eingeborenen von Milne-Bai sind, wie Hunstein, der früher hier längere Zeit als Sammler lebte, auf das Bestimmteste versichert, Kannibalen, welches Laster sich von hier über die gesammten Inseln und die Louisiade zu erstrecken scheint; diese Gegend bildet bis jetzt das einzige sicher nachgewiesene Menschenfressergebiet in Neu-Guinea.

Nach den Killertons zurückgekehrt, dampften wir der kaum mehr als eine englische Meile breiten China-Straße zu, welche liebliche Partieen ausweist, aber die Hoffnungen eines kürzeren Seeweges nach China nicht erfüllt hat.

Bald sahen wir Samárai (Dinner-Insel) vor uns, ein ziemlich in der Mitte der Straße gelegenes Inselchen, welches als Station der Londoner Missionsgesellschaft für dieses Gebiet eine gewisse Bedeutung beanspruchen darf. Vorher unbewohnt, ist Samarai seitdem der Sammelpunkt einer kleinen Gemeinde von etlichen 30 Eingeborenen geworden, die zum Theil als Bekehrte gelten und von den benachbarten Inseln herstammen. Da gerade Sonntag war, so fand sich, als wir landeten, das ganze Völkchen am Strande versammelt; bald ging es an ein Händeschütteln, wobei Mancher neben seiner Grußformel „denani“ bereits einen leisen Wunsch nach Tabak äußerte. Man erzählte uns von einem „Dimdim“ (weißen Mann), als seltenem Gast der Insel, und bald begrüßte uns derselbe in englischer Sprache. Er hatte sich seit kurzer Zeit hier niedergelassen, um Kopra und Trepang zu machen, und nannte sich „Smith“! Als er sich aber angelegentlich nach unserer Flagge erkundigte und erfuhr, daß es die deutsche sei, da entpuppte er sich als guter Danziger, der auf einmal deutsch sprach, auch nicht „Smith“, sondern ganz anders hieß. So werden unsere braven deutschen Landsleute zuweilen unter ganz anderem Namen in der Welt umhergeschleudert und – manche haben Ursache zu solcher Neubenennung. Der Genannte, seines Zeichens ein Seemann, war früher an Bord des berüchtigten Arbeiterschiffes „Hopeful“ gewesen, das im Jahre 1884 in jenem Gebiete Gräuelthaten verübte, die wirklich einmal zur Untersuchung gelangten, welche mit einem Todesurtheil gegen den Kapitän, Steuermann und Arbeiteragenten endeten. Nebenbei bemerkt, wurde dieses Urtheil nicht vollzogen, weil die öffentliche Meinung in Queensland es nicht zu fassen vermochte, daß Weiße wegen einiger „Niggers“ die wohlverdiente Strafe erleiden sollten.

Außer der Tätowirung der Frauen, welche Sitte selbst die Mission noch nicht auszurotten vermochte, ist im Uebrigen bei den Eingeborenen alle Originalität bereits verschwunden. Doch eilten die Bewohner der Nachbarinseln herbei und brachten mir Allerlei, darunter manches Eigenthümliche, zum Kauf: große viereckige Holzschilde, Armbänder aus einem menschlichen Unterkiefer, und selbst Menschenschädel! – angeblich Trophäen erschlagener Feinde vom Festlande her, mit denen die Insulaner früher in steter Fehde lebten, sich gegenseitig überfielen und – aufaßen! War mir auch Manches neu auf Samárai, so hatte ich doch einen alten Bekannten zu begrüßen, den „Baubau“, wie dieses eigenthümliche Rauchgeräth in Port Moresby und an der Südostküste heißt. Der Baubau, hier „Kirä“ genannt, ist ein Stück Bambu mit einem kleinen Loch zur Aufnahme einer primitiven Cigarrette, mit einem Decker aus einem Baumblatt. Wie die beigegebene Abbildung (S. 296) der rauchenden Weiber zeigt, wird zunächst das Bamburohr mit Rauch gefüllt, und letzterer alsdann aus dem kleinen Loche gesogen; eine Rauchmethode, die an kraftvoller Wirkung alle anderen übertrifft. Man sieht zuweilen, daß Männer schon nach wenigen Zügen wie betäubt umfallen.

Wir beschlossen, Chas oder Teste-Insel, diesen am weitesten nach Südost vorgeschobenen Posten des Archipels, anzulaufen. Der Glockenfels (Bell-Rock), ein isolirter steiler Felsenkegel, ist der Wegweiser für die Insel, welche einem langgestreckten, grünen Hügel ähnelt, aber viel bestelltes Land aufweist. Wir ankerten an der unbewohnten Nordseite der Insel. Aber bald [296] hatten uns die Eingeborenen bemerkt und eilten an den Strand herab, um uns über den Berg nach dem Dorfe der Südseite zu geleiten, die von einem ausgedehnten Riff begrenzt wird. Schon auf dieser kurzen Tour bemerkte ich aus dem Benehmen der zum Theil englisch radebrechenden Eingeborenen, daß dieselben schon häufig mit Europäern in Verkehr gestanden, und war daher freudig überrascht, in dem Dorfe selbst noch so viele Originalität vorzufinden.

Baubauraucherinnen auf Samarai (Dinner-Insel).

Vor Allem war es die Eigenartigkeit des Baustils, welche meine Aufmerksamkeit erregte. Die Häuser (vergl. die untenstehende Abbildung) stehen auf soliden, rund behauenen Pfählen mit einer runden Scheibe, zum Schutze gegen Ratten u. dergl., und sind an der Giebelseite zum Theil mit buntbemaltem Schnitzwerk versehen. Das mit Kokospalmblättern belegte Dach besteht aus einer Art Schilf oder Gras, die Wände sehr praktisch aus verstellbarem Mattenwerk von Kokospalmblatt. Unsere Abbildung zeigt neben dem Hause noch ein Grab, in Miniaturform eines Hauses, aber außer diesem Denkmal des Todes auch ein Bild des Lebens in Gestalt einer Töpferin, die für Teste-Insel eine besondere Bedeutung erlangt. Verdankt die Insel doch der Töpferei ihren Wohlstand und ihre bevorzugte Stellung als Handelscentrum der Ostspitze Neu-Guineas. Der treffliche Thon, aus dem die Insel besteht, liefert das Material und machte die Töpferei überhaupt möglich. Bei meinem Interesse für Keramik ließ ich gleich ein paar Weiber, Meisterinnen in dieser Kunst, antreten, um die Fabrikation kennen zu lernen. Das Herz des Prähistorikers schlug heftiger, als ich eine einfache Methode noch von Lebenden gehandhabt sah, in welcher unsere werthen Vorfahren des Steinalters ihre Töpfe herstellten, Töpfe, deren Reste, als Scherben in kostbaren Schränken verwahrt, den Stolz des Forschers erregen. Hier hätte man mit Hilfe der vereinigten Weiber in kurzer Zeit ganze Museen füllen können, denn jede Insulanerin ist selbstredend auch Töpferin, das gehört zu ihrer Erziehung, und diese Kunstfertigkeit wird schon in früher Jugend ausgebildet. In der That ist die Fabrikationsweise die denkbar einfachste. Außer einer Muschelschale zum Glätten bedient sich die Töpferin nur ihrer Finger, mit denen sie den in eine lange, dünne Wurst gerollten Thon spiralig aufrollt, bis er die gewünschte Größe erreicht. Das Randmuster, in ebenso einfacher Weise mittelst gabelförmiger Stäbchen aus Bambu eingeritzt, ist hier, wie anderwärts, eine Art Handelsmarke, mit welcher die Verfertigerin ihr Fabrikat schützt.

Häuser und Grabstätte in Hausform auf Chas (Teste-Inseln).

Chas zählt gegenwärtig kaum mehr als 300 Bewohner, echte Melanesier, das heißt Papuas, die sich alle mehr oder minder zum Christentum bekennen. Wie die Eingeborenen selbst mit einem gewissen Stolz erzählten, waren sie vorher arge Kannibalen, die ihre Raubzüge namentlich nach Barsiraki (Moresby-Insel) ausführten, woher wahrscheinlich die Schädel stammen, welche ich als letzte Zeugen einer glücklicher Weise untergegangenen Bildungsstufe hier erhielt.

Wir besuchten selbstredend auch die Missionsanstalt und fanden hier in einem hübschen Wohnhause den Lehrer, einen Schwarzen von den Loyalitäts-Inseln, der früher Matrose war und uns während unseres Besuches viel von seinen Fahrten auf einem Walfischfänger erzählte. Dabei hatte er auch ziemlich gut Englisch gelernt, was bei den meisten dieser Lehrer sonst nicht der Fall ist. Die Londoner Gesellschaft lehrt den Eingeborenen überhaupt nicht Englisch, sondern bemüht sich, dieselben in der eigenen Sprache zu unterrichten, was bei der Unzahl melanesischer Sprachen und Dialekte natürlich eine äußerst schwierige Sache ist.

Der Lehrer, welcher, wie dies stets der Fall ist, über Mangel gewisser Lebensbedürfnisse klagte, da das jährliche Missionsschiff noch fällig war, gab uns zwei alte Hühner und eine Ananas als Gegengeschenk. Letztere, die erste und einzige, welche wir auf unseren bisherigen Fahrten überhaupt gesehen hatten, bestimmte ich zu einer Bowle, bei der wir auf der Reise nach Cooktown Sylvester feiern wollten. Das Meer war an jenem Abende ruhig wie ein Spiegel; der Dampfer glitt daher sanft wie ein Schwan durchs Wasser. Die Bowle war in Ermangelung von etwas Anderem im Wasserfilter angerichtet, Steuerleute und Maschinisten hatten ihren Theil bekommen, Kapitän Dallmann und ich saßen behaglich auf dem Quarterdeck, um bei dem Labetrunke all der Lieben daheim und der theuren Heimath selbst zu gedenken, es herrschte eine feierliche Stimmung! Eben wollte ich die Gläser füllen; da – eine unerwartete Schwenkung – ein Krach und unsere Bowle lag am Boden! Ja! ja! Die kleine „Samoa“ hatte so ihre Mucken und spielte uns auch diesmal einen Streich! Mit der Bowle war es also aus und mit der Sylvesterfeier ebenfalls. Was war zu thun? – nichts! – wir krochen zur Koje! Und damit „Gute Nacht“!



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Zwei gelungene Portraits.

Allbekannt sind zwar die Augenblicksphotographien des Hexenkünstlers Ottomar Anschütz, und es haben besonders die Storchbilder und die Manöverbilder seinen Ruf bis in die entferntesten Theile unserer Heimath getragen. Die Wenigsten wissen jedoch, wie dergleichen Bilder zu Stande kommen, und man hat im Allgemeinen keine Ahnung von der Mühe, welche solche Aufnahmen nach der Natur verursachen. Der Photograph hat hier nämlich nicht mit Menschen zu thun, die unter Aufbietung aller Willenskräfte es über sich gewinnen, einige Sekunden lang auch nicht mit den Wimpern zu zucken. Bald gilt es, den Verlauf äußerst rascher Bewegungen in einer Reihe von Bildern auf die Platte zu bannen – so bei den Aufnahmen nach galoppirenden Pferden, Springern, Diskuswerfern –; bald steht der Photograph vor der womöglich noch schwierigeren Aufgabe, die besonders charakteristische Stellung eines Thieres zu fixiren. Dazu gehören aber nicht bloß ausgezeichnete Apparate mit Verschlüssen, welche die lichtempfindliche Platte nur während des kleinsten Bruchtheils einer Sekunde bloßlegen; dazu gehört auch künstlerischer Geschmack oder wissenschaftlicher Sinn, um die vortheilhafteste Stellung des aufzunehmenden Thieres zu ermitteln; dazu gehört endlich eine Engelsgeduld, um abzuwarten, bis das Thier so gefällig ist, sich in der gewünschten Stellung zu zeigen. Auch muß der Augenblicksphotograph sich einen kleinen zoologischen Garten mit passenden Gehegen halten und sich auf die Ablichtung der Insassen für seine Zwecke verstehen.

Meister Reineke’s allergetreuestes Konterfei.

Diese Eigenschaften und Erfordernisse besitzt nun Ottomar Anschütz in Lissa (Posen) wie wohl keiner unter den Mitstreitern auf dem Gebiete der Augenblicksphotographie. Das beweist unter Anderem der nebenstehend abgebildete Fuchs. Dieses hervorragende Exemplar des listigsten aller Thiere hat freilich zu dem Zwecke seine Freiheit einbüßen müssen; doch hat dies anscheinend seiner Munterkeit bisher keinen Eintrag gethan, und Meister Reincke ist nach wie vor bereit, Alles zu übertölpeln und auch Alles zu würgen und zu morden, was ihm in den Wurf kommt. Bis zur Wiedererlangung der goldenen Freiheit sitzt er in dem Anschütz’schen „Atelier“, das heißt in einem Zwinger, in dessen hohe Wände an einer möglichst versteckten Stelle eine Oeffnung angebracht ist, gerade groß genug für das Glas des Photographischen Apparates. Vor dieser Oeffnung sitzt nun der Photograph geduldig und unbeweglich wie die Katze vor dem Mauseloch, und wartet den Augenblick ab, wo das Wild, nach welchem er mit seiner Linse zielt, entweder von selbst oder durch einen Helfershelfer gereizt, sich zu einer Stellung bequemt, in welcher es sich vom künstlerischen oder wissenschaftlichen Standpunkt aus vortheilhaft darstellt. Lange braucht das Thier jedoch nicht zu „stehen“. Es genügt im günstigsten Falle ein Tausendstel Sekunde zu der Aufnahme, und sein Bild ist für alle Zeiten auf eine Platte gebannt, nach welcher es ein Leichtes ist, Tausende von Exemplaren anzufertigen.

Nimrod, wie er leibt und lebt.

Leichter war die Photographie des Vorstehhundes anzufertigen, welche unsere zweite Abbildung wiedergiebt. Immerhin bedurfte es aber besonderer Vorkehrungen, um den getreuen Nimrod in die gewünschte Stellung des einer Wildfährte nachspürenden Jagdhundes zu bringen. Herr Anschütz verfuhr hierbei in folgender Weise: er schleifte mit einem todten Hasen oder irgend einem anderen Wild über die Bahn des Zwingers und ließ dann den Hund los, welcher sofort die Spur verfolgte. Diesen Augenblick benutzte nun der Photograph, um den Apparat einzustellen, worauf der Verschluß desselben geöffnet und nach etwa ein Fünfhundertstel Sekunde auf elektrischem Wege geschlossen wurde.

Das Hundebild wie auch das Fuchsbild gehören zu einer größeren Reihe von Augenblicksaufnahmen nach Hunden, Katzen, Affen und Rehen. Sobald sich Herrn Anschütz eine sichere Aussicht bietet, eine Entschädigung für seine großen Opfer zu finden, gedenkt er auch eine größere Katzenart in den Bereich seiner Thätigkeit zu ziehen, über welche die von ihm herausgegebenen kleinen Musterkarten eine bequeme Uebersicht gewähren. G. van Muyden.     




Das Scherenrecht.

Erzählung von Otto Sigl.0 Mit Illustrationen von J. Watter.

Von den vielen im Jahre 1780 in Deutschland regierenden Häuptern war Aebtissin Mathilde wohl das geringste an Machtfülle, gewiß aber das liebreizendste. Sie stammte aus fürstlichem Geschlecht und regierte seit wenigen Monaten ein reichsunmittelbares adeliges Stift am Bodensee. Wer sich eine Aebtissin nur als gestrenge Matrone in düsterer Ordenstracht vorstellen konnte, mochte nicht wenig überrascht sein, wenn ihm die Gebieterin des Stiftes vor Augen trat. Zählte doch die [298] weltliche Aebtissin und Stiftsmutter Mathilde erst einundzwanzig Jahre und trug weltliches Gewand, das sich in dunklen Falten um ihre anmuthige und vornehme Gestalt schmiegte. Die jugendliche Klosterfürstin herrschte nicht etwa über weltentsagende Nonnen, sondern über ein Dutzend altadeliger Fräulein, deren klösterliche Verpflichtungen keineswegs drückend waren. Sie hatten lediglich zu bestimmten Zeiten in den Chor zu gehen und ihre Andacht gemeinsam zu verrichten, gehörten aber keinem religiösen Orden an.

Das kleine Reich der Aebtissin umfaßte ein Kloster mit Park zunächst einer Reichsstadt sowie einige Güter am Ufer des Sees mit ihren Bewohnern. Innerhalb dieses Gebietes regierte Frau Mathilde unumschränkt, sogar als Herrin über Leben und Tod mit dem Blutbann ausgestattet. Von diesem verantwortungsvollen Fürstenrecht wurde aber bei der friedsamen Art des Stiftsvolkes seit Menschengedenken kein Gebrauch gemacht. Im Uebrigen verstand die Prinzessin vortrefflich, ihre Würde zu entfalten, wenn sie an der Spitze ihrer Edelfräulein zum Chor schritt oder den Amtsbürgermeister der Nachbarstadt in feierlicher Audienz empfing. Nicht umsonst hatte sie einige Wochen am Hofe Maria Theresia’s verweilt und von deren zugleich patriarchalischer und majestätischer Haltung ihren Theil abgesehen, der nun der jungen Stiftsmutter allerliebst zu Gesicht stand.

So war es gekommen, daß Frau Mathilde trotz ihrer Jugend und gewinnenden Anmuth doch sich bei allen Stiftsdamen in gebührendem Respekt erhielt.

Wenn aber die schöne Aebtissin frohgemuth mit ihren geputzten Fräulein in stattlichen Karossen über Land oder in vergoldetem Schiffe auf dem See spazieren fuhr, mochte wohl Jedermann sie nicht nur als das liebreizendste, sondern auch als das sorgenloseste aller regierenden Häupter preisen.

An einem herrlichen Sommertage jedoch zeigten die Züge der Aebtissin nicht den geringsten heitern Ausdruck. Frau Mathilde saß im Erker eines Gemaches voll weicher, großblumiger Polstermöbel und vergoldeter Gueridons; die bis auf den Boden reichenden Damastvorhänge waren zurückgezogen und gestatteten einen weiten Ausblick über den See und seine reizvollen Ufer. An jenem Tage aber streifte der Blick der Fürstin kaum flüchtig das ihr sonst so liebe Landschaftsbild. Eben so hörte sie nur zerstreut auf die munteren Reden der ihr gegenüber sitzenden Stiftsdame.

Fräulein Benigna von Elmenau war die Aelteste des Stifts. Ihr Haar glänzte ohne Puder silberweiß; an jugendlicher Frische jedoch that es Benigna ihren jüngsten Gefährtinnen zuvor. Stets gleiche sonnige Heiterkeit und milde verständige Ruhe hatten ihr bald das Vertrauen ihrer neuen Oberin erworben. In allen Fragen, welche außer dem Bereich des rechtskundigen Kanzleidirektors und des hochwürdigen Stiftsvikars lagen, holte Mathilde den Rath der mütterlichen Freundin ein. Benigna galt insbesondere als Staatssekretärin für weibliche Angelegenheiten – bei einem Dutzend zusammen hausender Edelfräulein mit ihren nach Rang und Alter steigenden Ansprüchen und Launen wahrlich keine Sinekure! Außerdem wär Fräulein von Elmenau auch das Arrangement der Vergnügungen des kleinen Hofes anvertraut.

So hatte Benigna eben für den verlockenden Nachmittag einen Ausflug auf eines der Stiftsgüter vorgeschlagen.

„Ich bin durchaus nicht in der Stimmung zu einer frohen Fahrt, liebe Elmenau. Es wird wohl am besten sein, ich verlasse heute und in den nächsten Tagen die schützenden Mauern des Klosters nicht,“ erwiederte Frau Mathilde mit einem Seufzer.

„Sie sprechen in Räthseln, gnädigste Frau; es ist doch nichts Schlimmes vorgefallen?“ fragte das Fräulein besorgt.

„O, nichts von Bedeutung,“ versetzte die Aebtissin mit einem Versuch, zu lächeln. „Eine Kindergeschichte im buchstäblichen Sinn, die nur etwas unkindlich ausging und die ich für immer abgethan glaubte. Doch Sie sollen Alles erfahren; wem anders könnte ich hier mein Herz ausschütten, als meiner theuren Elmenau!“

„Hm, hm – was werde ich zu hören bekommen, am Ende gar einen kleinen vorstiftlichen Roman einer erlauchten Aebtissin?“ scherzte das Fräulein.

Eine flüchtige Röthe überzog die Wangen der Fürstin.

„Sie sind auf der richtigen Fährte und doch wieder nicht ganz, meine kluge Benigna. Romane finden wenigstens einen Abschluß – aber ich schulde Ihnen ja den Anfang. Wie ich Ihnen schon erzählt, schwärmte mein Vater seit seinem Pariser Aufenthalt für Rousseau und dessen Naturevangelium. Diesem Umstande verdanken wir Geschwister, daß wir in unserem idyllischen Sommerschlößchen Walding erzogen wurden. Als das einzige Mädchen unter drei lebhaften Knaben wuchs ich in der Ungebundenheit des Landlebens ein Bischen wild in die Höhe. Am liebsten jedoch schloß ich mich beim Spielen einem Genossen meiner Brüder an. Es war dies Franz Werner, der Sohn des Schloßgärtners, dessen Frau meine Amme gewesen. Da Franz, ein hübscher aufgeweckter Junge, sich höchst lernbegierig erwies, so ließ ihn mein gütiger Vater vollständig am Unterricht seiner Kinder theilnehmen. Als mein ältester Bruder, der Erbprinz, mit einem Hofmeister die Hochschule bezog, durfte Franz seine Studien theilen und ihn sogar später auf seinen großen Reisen begleiten. So währte es drei Jahre, bis ich wieder in Walding mit meinem Bruder zusammentraf – und mit Franz Werner …“

„Dem Helden des unkindlichen Romans?“ schaltete Benigna neckend ein.

„Sein Aeußeres wäre wohl dazu angethan gewesen! Bald aber überzeugte ich mich, daß sein Charakter sich nicht eben so vortheilhaft entwickelt hatte. So mancher Zug, dessen Keim schon im Knaben hervorgetreten, hatte sich zum Schlimmen entfaltet: vor Allem ungestümes Wesen und romanhafte Exaltation. Werner’s ganzes Empfinden war so maßlos wie jede Aeußerung desselben. So übertrieb er auch eine gewisse vornehme Manier, welche er sich im Verkehr mit den jungen Edelleuten angeeignet [299] hatte. Schon in der Art, sich völlig wie ein Kavalier zu kleiden, mit Sporen und Reitpeitsche zu paradiren, verkündete sich der Hang, sich über seine gesellschaftliche Stellung zu erheben. Unser Beisammensein gestaltete sich sonach ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Schon beim ersten Wiedersehen leuchtete aus seinen flammenden Blicken für mich die Erkenntniß, daß unsere harmlosen Jugendbeziehungen mit einem Schlag sich geändert hatten. Binnen Kurzem mußte ich es mit Schrecken erkennen: Franz Werner war in sinnloser Leidenschaft zu mir entbrannt!“

„Und die jugendliche Prinzessin war wirklich nur erschrocken darüber?“ meinte das alte Fräulein lächelnd.

„Wie sollte ich nicht! Werner war mir stets ein lieber Jugendgespiele, nicht mehr. Durch steigende Zurückhaltung suchte ich seine unziemliche Gluth abzukühlen – vergebens! So mußte denn kommen, was unausbleiblich war. Als mich Werner eines Nachmittags allein im Park traf, erdreistete er sich, mir eine stürmische Liebeserklärung zu machen. Maßlose Phantasie und blindes Vertrauen auf seine Unwiderstehlichkeit rissen ihn über alle Schranken der Vernunft hinweg. Entfliehen sollte ich mit ihm in ferne Lande, wo kein Unterschied des Ranges zwei Herzen trennte, die für einander geschaffen. Er hatte sogar schon einen abenteuerlichen Plan ausgedacht, wie die Flucht ins Werk gesetzt werden könnte.

Eine Weile blieb ich sprachlos vor Bestürzung; Zorn und Schmerz über den Verblendeten erstickten mir das Wort. Bald aber gewann der erstere die Oberhand und gab mir die Sprache wieder. Mein Blut wallte übermächtig auf, in diesem Moment erschien alle schwesterliche Liebe für Werner und unsere gemeinsam verlebte glückliche Jugendzeit wie ausgelöscht.

Bebend vor Entrüstung stieß ich den Verwegenen, der meine Hand ergriffen, von mir.

‚Fort, fort von hier, Undankbarer,‘ rief ich aus, ‚sonst wäre ich gezwungen, Ihnen durch meinen Vater Ihre Stellung im fürstlichen Hause klar machen zu lassen. Wagen Sie es nie mehr, mir vor Augen zu treten!‘“

„O, so hart konnte unsere herzensgute Fürstin sein! Fanden Sie gar keinen Milderungsgrund für das romantische Verbrechen?“ fragte Benigna.

„In jenem Augenblicke nicht, später freilich urtheilte ich milder! Franz Werner war kreidebleich geworden und rang vergebens nach Worten.

‚Also so ist’s gemeint, so bitter ernst,‘ brachte er endlich hervor. ‚Nun gut – durchlauchtigste Prinzessin sollen von dem Anblick meiner plebejischen Person nie mehr belästigt werden.‘

Dabei machte er mir eine ceremoniöse Verbeugung und entfernte sich wankenden Schrittes. Ich habe ihn seitdem nicht wiedergesehen.“

„Und damit hatte der Jugendroman ein jähes Ende gefunden?“ forschte Fräulein von Elmenau.

„So hoffte ich. Aber denken Sie sich meine Bestürzung, liebe Benigna, als mir heute früh ein Brief gebracht wurde, den ein junger Mann an der Pforte abgegeben. Der Ueberbringer bemerkte, daß er sich gestatten würde, Nachmittags wieder vorzusprechen, um gnädigen Bescheid auf seine Bittschrift zu holen. Fürwahr, eine seltsame Bittschrift! Doch lesen Sie selbst, Benigna, und rathen Sie mir, was ich thun oder lassen soll.“

Neugierig nahm das alte Fräulein den Brief entgegen. Derselbe lautete, nach Weglassung der Titulaturen, welche sorgfältig eingehalten waren, folgendermaßen:

„Fürchten Sie nicht, daß ich abermals mich erkühne, die Schranken meiner Niedrigkeit zu übersteigen. Die Lektion, welche Sie mir ertheilt, war nur allzu deutlich. War ich doch so thöricht, unter dem Banne holden Zaubers einen Moment die Fürstenkrone auf Ihrem Haupt zu vergessen. Noch hallen in meiner Seele die Worte nach, womit Sie mich auf immer aus Ihrem Angesicht verbannten. Und dennoch wage ich jetzt die Bitte, nur einmal noch, nur auf wenige Minuten Sie wiedersehen zu dürfen. An einer Wende meines Lebens angelangt, hege ich den heißen Wunsch, Ihre Verzeihung und – wäre es nicht allzu kühn – Ihre Freundschaft wieder zu erringen. Ich bin im Begriff, mich nach Indien in Englands Dienst anwerben zu lassen. Schon Manchem ist es geglückt, mit dem Degen in der Faust zu ungeahnten Ehren aufzusteigen. Da mich die Reise zum Werbebureau nahe an den Mauern vorbeiführte, darin Sie als Gebieterin walten, wäre es übermenschliches Entsagen, wenn ich Ihnen nicht noch einmal ins Auge sehen dürfte. Ein versöhnend Wort, ein beseligender Blick als Wegzehrung, und ich fühle mich gestählt, nach den höchsten Zielen zu streben. O, versagen Sie die letzte Bitte Ihrem einstigen Jugendgespielen nicht! Sie dürfen es unbesorgt: nicht ein Wort soll über meine Lippen kommen, das Sie verletzen könnte.

In frohester Hoffnung harrt auf beglückenden Bescheid
 Durchlauchtigster gefürsteter Aebtissin
  unterthänigster Franz Werner.“

Kopfschüttelnd legte Fräulein von Elmenau das Schreiben aus der Hand, das sie mit höchster Aufmerksamkeit durchgelesen, während die junge Fürstin unruhig im Zimmer auf und ab geschritten war.

„Ihre Schilderung war nur zu treffend,“ nahm Benigna das Wort. „Ein exaltirter Kopf – welches Königreich im Mond denkt er sich wohl zu erkämpfen! Und beabsichtigen Sie, seine Bitte zu erfüllen, Gnädigste?“

„Das frage ich mich ja immer und immer wieder, ohne zu einem Entschluß zu gelangen,“ erwiederte die Prinzessin erregt. „Empfange ich Werner nicht, so ist zu befürchten. daß er sich zu einem unüberlegten Schritt hinreißen, vielleicht gar ein Wiedersehen zu erzwingen versucht. Eben so gewagt scheint es mir, seinen Besuch anzunehmen. Sagen Sie selbst, nachdem Sie den Brief gelesen, liebste Elmenau, ob ich trotz aller Versprechungen beruhigt sein darf, daß er seine Leidenschaftlichkeit zügelt! Welche Gefahr in diesen Mauern, wo jedes unbedachte Wort nur zu willige Lauscherinnen findet; denken Sie an unser Dutzend, liebste Benigna!“

„Nun, nun – Eine dürfen gnädigste Aebtissin doch ausnehmen,“ bemerkte das alte Fräulein mit einem feinen Lächeln. „Und diese Eine hat vielleicht sogar schon guten Rath zur Hand.“

Gespannt blickte Frau Mathilde auf. „Und der wäre? – Geschwind heraus damit!“

„Ich meine, Sie sollen Werner unbedingt vorlassen. Was ist denn Auffälliges dabei, wenn Sie einen Unterthan Ihres Vaters empfangen, um ihm auf seine Bittschrift Bescheid zu geben? Um unberufene Ohren und Augen fernzuhalten, nehmen Sie den Besuch im Basteigarten an, den Ihre Vorgängerin von der Stadt angekauft. Ich begleite Sie und lasse Sie wohl auch auf einige Minuten allein, wenn Sie dem Tollkopf ins Gewissen reden wollen. Natürlich bleibe ich für alle Fälle als Schutzengel in der Nähe. Ist Ihnen mein Vorschlag genehm, gnädigste Frau?“

„O, gewiß wird’s so am besten sein, meine kluge Geheimräthin. Wenn ich Sie zur Seite weiß, bin ich ja beruhigt – und doch gäbe ich viel darum, wenn die Audienz vorüber wäre!“ erwiederte die Aebtissin mit einem Seufzer.

Benigna schaute betroffen auf ihre jugendliche Gebieterin … „So bangt Ihnen doch vor dieser Begegnung? Sollte am Ende der junge Mann Ihnen mehr, als Sie zugestehen “

„Ich weiß, was Sie sagen wollen“ fiel ihr Frau Mathilde ins Wort. „Nein, nein, Sie dürfen unbesorgt sein, meinem Herzen ist Franz Werner völlig fremd. Wohl gab es eine Zeit, wo auch dies Herz sich stürmisch geregt,“ setzte sie wie gedankenverloren hinzu. „Doch nur zu bald mußte es unter dem Machtspruch der Staatsklugheit verstummen. Aber lassen wir die Vergangenheit, liebste Benigna! Ich habe längst wieder Frieden gefunden, und die Erinnerung kann mir keine Erdenmacht rauben!“




Im Basteigarten, der von den übrigen Gärten durch eine Hecke geschieden war, weilte am Nachmittag Frau Mathilde mit Benigna an einem lauschigen Plätzchen an der Mauer, welches wie geschaffen war, neugierige Blicke fernzuhalten.

Als Franz Werner sich um die festgesetzte Stunde am Klosterthor einfand, war der Pförtner bereits von Benigna unterrichtet, daß der Fremde in einer Bittschrift sich einen Landsmann der Aebtissin genannt und diese daher die Gnade habe, ihm selbst auf sein Gesuch zu antworten. Die hohe Frau geruhe dem jungen Mann im Basteigarten in ihrer Gegenwart Audienz zu ertheilen. Außerdem hatte er den Auftrag, am Eingang des Klosters zu warten und den jungen Mann nach der Audienz wieder hinauszugeleiten.

[300] Mit tiefer Verbeugung begrüßte der Thorwart den Fremden und geleitete ihn in den Garten. Franz Werner war ein schlanker Jüngling, mit feurigen, aber unruhigen Augen und dunklem Haar, das sich ungepudert unter dem keck aufgestülpten Dreispitz ringelte. Auch sein nach vornehmem Zuschnitt gefertigter Anzug wollte gar nicht zu einem hilfsbedürftigen Bittsteller passen.

Franz Werner begrüßte die Fürstin mit einer ceremoniellen tiefen Verbeugung. Als er das Haupt wieder erhob und Frau Mathilde voll ins Auge faßte, flammte es verrätherisch über sein Antlitz. Wohl hatte er die Prinzessin sich aus dem Sinn zu schlagen versucht. Er hatte sogar nach anderen Sternen ausgeschaut – um leichter zu vergessen, wie sich der zum Selbstbetrug nur zu geneigte Jüngling vorspiegelte. Bei alledem blieb das Bild der liebreizenden Prinzessin stets seinem Herzen und noch mehr seiner verletzten Eitelkeit gegenwärtig. Als Dritte im Bunde war seine Phantasie stets geschäftig, Luftschlösser zu bauen, auf deren Höhe sich das stolze Fürstenkind und der Gärtnersohn begegnen könnten. Aber in dem Moment, da nach langer Trennung die Prinzessin schöner als je vor Franz Werner stand, zerstoben alle Phantasien vor der holden sinnberückenden Wirklichkeit.

Die junge Stiftsmutter hatte wohl geglaubt, einen matronenhaften Eindruck zu erzielen durch die Art, wie sie sich zu der Audienz gekleidet. Aber die schwarzseidene Robe mit weißem Spitzenausputz und der lang wallende dunkle Schleier brachten das zarte Inkarnat ihres Angesichts erst recht zur Geltung. Prinzessin Mathilde sah heute verführerischer aus als in großer Staatstoilette. Auf ihrem Antlitz lagerte ein Hauch von Befangenheit, welche Franz Werner in seiner allzeit gefälligen Einbildungskraft zu seinen Gunsten deutete. „Wenn sie trotz alledem mich doch geliebt hätte – mich noch liebte?“ fuhr ihm blitzschnell durch den Sinn.

Die Aebtissin hatte die kleine Verlegenheit rasch überwunden. „Sie wünschen mich zu sprechen, Werner,“ nahm sie mit Hoheit das Wort. „Ich habe diesen Wunsch in Erinnerung an unsere frohen Kindertage gern erfüllt.“

„Tausend Dank für so viel unverdiente Huld, durchlauchtigste Prinzessin,“ entgegnete der Jüngling lebhaft. „Ich wußte ja, daß ich an Ihr edles Herz nicht vergebens …“

„Keinen Dank, Werner,“ unterbrach ihn die Aebtissin. „Lassen Sie mich lieber hören, wie es Ihnen ergangen ist seit jenem … seit wir uns nicht mehr gesehen,“ verbesserte sie sich.

„Ach, was ich auch immer erlebt haben mag – wie ausgelöscht erscheint mir Alles jetzt, da mir ein Glück beschieden, welches ich nicht zu träumen gewagt. O, dürfte ich diese hohe Gunst als freundliches Vorzeicheu deuten, daß durchlauchtigste Fürstin mir nicht mehr zürnen und ...“

Hier hielt Werner plötzlich inne; seine Blicke fielen auf Fräulein von Elmenau, welche bei Annäherung des jungen Mannes einige Schritte zur Seite getreten war und angelegentlich einen Oleanderstrauch betrachtete. Frau Mathilde bemerkte wohl die Ursache von Werner’s Zögern.

„Vor meiner lieben Benigna von Elmenau dürfen Sie offen reden, vor der bewährten Freundin habe ich kein Geheimniß; sie weiß sogar, was Sie hierhergeführt – und was sich ehedem zugetragen.“

„Und dürfte ich dennoch die verwegene Bitte aussprechen, mir nur ein paar Minuten Gehör für mich allein zu schenken, Durchlaucht?“

Frau Mathilde blickte fragend auf Werner. Seine Haltung war anscheinend gelassen und ehrfurchtsvoll.

„Was hätte ich auch zu befürchten?“ sagte sie beruhigend zu sich selbst und erwiederte mit scherzendem Ausdruck. „Wenn Sie mir etwa das Vertrauen schenken, Ihre Beichte zu hören, Werner, so läßt uns wohl meine liebe Benigna ein wenig allein. Aber auf ein paar Minuten nur, länger wird das Sündenregister wohl nicht währen,“ setzte die Aebtissin mit einem bezeichnenden Blick auf Fräulein von Elmenau hinzu. Diese verbeugte sich mit verständnißvollem Lächeln und begab sich auf die nahe gelegene Terrasse, welche Aussicht über den See bot.

Die Prinzessin setzte sich auf eine Marmorbank nieder und hieß Werner auf einer anderen Bank Platz nehmen.

„Nun erzählen Sie mir, wie sich Ihr Leben gestaltet hat, seit Sie Walding verlassen,“ begann sie mit freundlicher Würde, doch nicht mit ganz sicherem Tone. Es vermehrte ihre Beklommenheit, da sie bemerkte, wie Werner’s Blicke mit dem alten unseligen Feuer verzehrend auf ihrer Gestalt hafteten, und vollends, da sie das erregte Beben seiner Stimme vernahm.

„O durchlauchtigste Prinzessin – hieße es nicht die kostbaren Minuten vergeuden, die mir zugemessen sind, wenn ich von mir erzählen sollte, von dem inhaltlosen Dasein, das ich gefristet, seit ein Engel mit dem flammenden Schwert mich aus dem Paradiese verstoßen?“

„Wenn ich Sie ferner anhören soll, Werner, so bitte ich dringend – um unserer Jugendfreundschaft willen –: kein Wort von dem, was vergeben und vergessen sein soll!“

„Vergessen – wie vermöchte ich das, wenn im Wachen wie im Traume nur Ein Bild vor meiner Seele steht, den Frieden meiner Tage und die Ruhe meiner Nächte stört, mich gegen alle bessere Vernunft mit trügerischen Hoffnungen umgaukelt …“

„Halten Sie ein, Herr Werner, ich glaubte Sie gereifter zu finden, sonst hätten Sie mich nie mehr gesehen. Ist dies der Dank, daß ich so bereitwillig Ihre Bitte erfüllt?“

Bei diesen Worten hatte sich die Aebtissin rasch erhoben. Die hochaufgerichtete schlanke Gestalt erbebte. Aus dem gluthübergossenen Gesicht leuchteten die tiefblauen Augen theils in Zorn theils in Mitleid mit dem Unseligen, der noch immer im Bann seiner hoffnungslosen Leidenschaft sich quälte. Aber wie schön war sie in dieser Erregtheit! Franz Werner, das haltlose Kind des Augenblicks, fand nicht die Kraft, solchen Reizen gegenüber sich zu beherrschen. In der Bewegung der jungen Fürstin glaubte er nur allzu hoffnungsvoll zu lesen, daß unter der Maske stolzer Abweisung doch ein wärmeres Gefühl sich berge. Und wäre es auch nur die holde Täuschung eines Moments – dieser Moment sollte ihm gehören. Wenn er nur einmal die süße Gestalt umfangen durfte in seliger Trunkenheit – mochte dann geschehen was wolle.

Ehe sich’s die Prinzessin versah, lag Werner ihr zu Füßen und umklammerte ihre Hand, die er mit heißen Küssen bedeckte, während er sich in hastigen, unzusammenhängenden Worten mühte, seinem heißen Begehren, seinem sinnlosen Hoffen Ausdruck zu verleihen. Vor Schreck und Entrüstung drängte sich Mathilden alles Blut zum Herzen und pochte dann wieder stürmisch an die Schläfen. Kaum vernahm sie mehr die sich überstürzenden Worte;

[301]

Illustration zu der Erzählung: „Das Scherenrecht“ von Otto Sigl.
Nach einer Originalzeichnung von J. Watter.

[302] nur mechanisch rang sie, ihre Hand von seinen lodernden Küssen zu befreien.

Mit einem Male aber fuhr die Aebtissin jählings aus ihrer Starrheit empor und blickte entsetzt nach einer Richtung. Eben hatte sie gesehen, wie zwei Stiftsdamen, darunter die wegen ihrer bösen Zunge „das Stiftskreuz“ genannte Gräfin Hochburg, auf dem Weg sich nahten. Aus deren überraschten Gebärden entnahm Frau Mathilde, daß die Beiden die Situation bemerkt hatten.

„Mein Gott, die Fräulein!“ entrang es sich ihren Lippen.

Ein einziger Blick unterrichtete Werner von der peinlichen Lage, in welche er die Fürstin gebracht. Jäh, wie sein ganzes Thun, war auch der Ausweg, den ihm der Augenblick eingab.

Statt die Aebtissin loszulassen, zog er sie gewaltsam an sich. „Ich rette Ihre Ehre, selbst um den Preis meines Lebens; nur verschweigen Sie meinen ehrlichen Namen!“ stieß er hervor. Blitzschnell erfaßte er sodann das mit kostbaren Brillanten besetzte Kreuz der Prinzessin, riß es mit einem gewaltigen Ruck von der feinen Venetianerkette und eilte, das Kleinod in der Hand haltend, davon. Tödlich erschrocken über das so Unerwartete sank die Fürstin mit einem Schrei des Entsetzens auf die Bank zurück.

Die beiden Fräulein, welchen Werner nunmehr auf dem engen Kiespfad entgegenstürmte, flohen mit gellendem Angstruf zur Seite. Werner hatte absichtlich, als er in die Nähe der Damen gekommen, das Kreuz hoch erhoben und in der Sonne glitzern lassen, dazu so drohende Gebärden gemacht, daß der ursprüngliche Gedanke der Fräulein, hier eine pikante Liebesscene belauscht zu haben, sofort unterging in der tödlichsten Furcht vor einem Raubanfall. Sie schrieen aus vollem Halse: „Räuber, Mörder, zu Hilfe!“ als der Flüchtling an ihnen vorüber war. Auf das Gezeter eilten ein paar Gärtner mit ihren Werkzeugen herbei, während zugleich der Pförtner und Knechte aus den nahen Oekonomiegebänden dem vermeintlichen Räuber den Weg verlegten. Im Nu war Werner, der nur scheinbar Widerstand leistete, gefangen; das Kreuz in seiner Hand sprach nur zu deutlich, mit wem man es zu thun habe.

Als Benigna den Schreckensruf der Aebtissin vernahm, eilte sie erschrocken zu ihrer Gebieterin. Kaum vermochte diese in wenigen, mühsam gekeuchten Worten den Vorgang zu erklären.

„Eilen Sie, Benigna, befreien Sie den Unglücklichen,“ setzte sie dringend hinzu.

„Nein, liebste Fürstin, das darf jetzt nicht geschehen. Der Unselige mag einstweilen die Folgen seiner Verblendung tragen. Später wollen wir auf seine Befreiung denken, aber Ihr Ruf soll nicht unschuldig leiden. Außer mir weiß Niemand, in welcher Beziehung Werner zu Ihnen stand, und er selbst wird nichts verrathen. Wenn Sie jetzt enthüllen, daß der Raub nur Komödie war, ist die böse Nachrede förmlich herausgefordert. Im Uebrigen sind Sie ja Herrin über Leben und Tod auf Ihrem Gebiet, und es bleibt Ihnen das Recht, zu begnadigen, und die Möglichkeit, Werner’s Flucht zu begünstigen.“

Inzwischen hatten die zwei Stiftsdamen, als sie den Räuber dingfest gemacht sahen, sich wieder herangewagt, um nach der Aebtissin zu sehen. So war dieser einstweilen jeder weitere Einwand abgeschnitten. In halber Betäubung gelangte sie, von den Fräulein gestützt, auf ihr Zimmer, und wie willenlos ließ sie sich auf Zureden der sorgenden Benigna zu Bett bringen. Binnen Kurzem begann die Prinzessin zu fiebern. Sie hielt nur noch den einen Gedanken fest, ehe es zum Aeußersten kommen sollte, Alles der Wahrheit gemäß zu offenbaren, mochte daraus entstehen was wolle. In der nächsten Zeit wäre sie aber gar nicht im Stande gewesen, ihrer edlen Regung zu folgen. Das Fieber steigerte sich bis zu völligem Phantasiren, und der Stiftsmedikus verordnete unbedingte Ruhe und Abgeschlossenheit.

(Schluß folgt.)




Das erste Jahr im neuen Haushalt.

Eine Geschichte in Briefen. 0 Von R. Artaria.


V. 0 1.

Den 6. Januar. 
Das neue Jahr ist gekommen und hat uns kein Wiedersehen gebracht, meine Marie! Das war mir sehr schmerzlich – ist es doch das erste Mal seit unseren Kinderjahren, daß wir nicht mit einander Blei gossen und Schiffchen schwimmen ließen. Erinnerst Du Dich noch an mein räthselhaftes Gußprodukt vom vorigen Jahre? Du meintest: ein Herrscherstab mit einer Blumenkrone; ich meine jetzt mehr und mehr: es sei nur ein – Kochlöffel gewesen!

Denn mit meinen Herrscheraussichten steht es sehr schwach; das habe ich neulich erfahren, als ich versuchte, mit einem energischen Sturm die Heimreise für die Weihnachtsfeiertage bei Hugo durchzusetzen. Er war von Anfang an dagegen, das heißt, seine Mutter war es, weil sie fand, die Reise koste doch viel und wir seien ja „eben erst heimgekommen“. Ich merkte gleich, daß sie ihn beeinflußt hatte, hielt es aber für besser, zu schweigen, bis Mamas letzter dringender Brief kam, und dann, als wir nach Tisch beim gemüthlichen Kaffee saßen, begann ich meinen Angriff. Hilfstruppen standen auch bereit: vor Tisch war ein Karton aus S. angekommen, worin mir die Blüthner ein paar Sachen zur Ansicht schickte, ein Hütchen aus Crème-Plüsch mit grüngoldenen Federchen und einen kleinen Federmuff – reizend, sage ich Dir, und nicht einmal theuer, wie gemacht zu meinem dunkelgrünen Kleid. Aber ich wollte Hugo zeigen, daß ich sogar am Nothwendigen sparen kann, damit er dann meinem Urtheil traut, wenn ich etwas für unumgänglich erkläre. Er aber schien gar nicht einmal zu ahnen, was mich dieser Verzicht kostete, sondern sagte nur obenhin: „Natürlich, natürlich, wozu brauchst Du hier einen so eleganten Hut!“

Ich überwand mich, darauf nichts zu antworten; als ich ihm aber nun auf Grund dieser Ersparniß die Heimreise vorschlug, da fing er an, den Kopf zu schütteln, immer stärker, trotzdem ich ihn mit Bitten, Schmeicheln und Küssen bestürmte. Zuletzt sagte er ganz bestimmt: „Es geht nicht. Für die paar Feiertage – denn von Urlaub ist ja keine Rede – können wir nicht so viel Geld ausgeben. Schlage Dir’s aus dem Sinn!“

Darauf hin brauchte ich mir denn gar keine Mühe zu geben, um so zu weinen, wie es Mama allemal thut, wenn sie bei Papa etwas durchsetzen will. Schließlich giebt er ja immer nach, auch wenn er anfangs noch so bestimmt erklärte: es geht nicht. Aber merkwürdig, darin ist Hugo anders. Er stand ganz kaltblütig auf und holte – nicht etwa kölnisches Wasser, sondern das Ausgabebuch, schlug es auf und sagte:

„Wie viel haben wir im November bereits voraus gebraucht?“

Und das war ja richtig, eine ganze Menge Geld war mir durch die Hand gegangen, und für was? Für einen Keller voll dummer, langweiliger Steinkohlen, einen Klafter Holz, Kartoffeln, Küchenregale, wasserdichte Stiefeln für Hugo und lauter solche Dinge, an denen kein Mensch Freude haben kann. So hatte ich schon fünfzig Mark vom December vorausgenommen, ohne mir etwas dabei zu denken, und nun sollte das diese Folge haben!

Mein Gott, man nimmt eben Geld irgend woher, wenn man keines hat! So dachte ich bisher; Hugo aber bewies mir mit einer unangenehmen Deutlichkeit, daß dies nicht möglich sei und die Reise sich ganz von selbst verbiete.

„Aber, Hugo, wenn ich es doch so gern möchte!“ schluchzte ich ganz außer mir.

„Aber, Emmy, wenn es doch durchaus nicht angeht!“ erwiederte er mit einer empörenden Kaltblütigkeit. „Sei nicht so unvernünftig, kleines Weib! Ich muß jetzt fort. Mache, daß Du helle Augen hast, bis ich wiederkomme!“

Damit ging er; bat mich nicht einmal um Verzeihung, sondern ging!

O, ich fühlte mich doch so unglücklich! Der schöne Weihnachtsabend zu Hause versunken und dafür die Aussicht, ihn bei der Schwiegermutter zuzubringen, mit ihrem alten Hausfreund, dem langweiligen Notar Reutter, der maschinenmäßig lange Abende durch Whist spielt und jedes Mal, wenn er einen König auswirft, dazu sagt: „Jetzt kommt der Käfig und sticht den Bupf!“ Das ist sein einziger Witz, und sie hört ihn seit dreißig Jahren!

Noch lag ich in meinen Thränen mit dem Kopf in der Sofa-Ecke, als es klopfte. Ich fuhr auf, wischte schnell die Augen ab und sah Doktor Brandt vor mir stehen; ich hatte über all der Aufregung ganz unsere Verabredung vergessen, an jenem Tage mit einander zu musiciren. Du weißt, daß er sehr gut Violine spielt, aber er hat auch eine schöne Tenorstimme und singt zum Beispiel die „Winterreise“ ganz ergreifend, „aus der Tiefe seiner eingebildeten Schmerzen heraus“, wie Hugo sagt, der ihn nicht besonders liebt. Ich mache mir ja auch nicht viel aus ihm; aber seine Bitte, ihn als „Verbannungsgenossen“ zu dulden, konnte ich ihm doch nicht abschlagen. Andere Leute langweilen Einen auch und machen nicht einmal Musik! Nun, ich steckte also die Lichter an (Klavierlampen waren auch bisher ein großer, aber vergeblicher Wunsch!) und beugte mich dann so tief als möglich über die Noten, die ich aussuchte. Er sah mich dabei beobachtend an und sagte mit seinem gelassenen Ton:

„Sie haben geweint, gnädige Frau?“

Ich wischte hastig die Tropfen ab. „O, es ist nichts, nicht der Mühe werth –“

„Nicht der Mühe werth, sich zu verstellen, allerdings,“ erwiederte er. „Naturen wie die Ihre bringen das nicht fertig. Wozu auch? Glauben Sie nur, ich sehe sehr wohl, wie auch Sie sich hier nicht an Ihrem Platze fühlen – unglücklich sind –“

Herrgott, nein, aber so Etwas! Augenblicklich versiegten meine Thränen, und mich erfaßte ein fürchterlicher Zorn über eine solche Dreistigkeit.

[303] „Da sind Sie vollständig im Irrthum,“ sagte ich so scharf wie möglich, „und ich verbitte mir jede solche Unterstellung Ihrerseits. Ich habe geweint, ja, weil – weil ich meine Eltern nicht an Weihnachten sehen werde, und …“ ich fühlte selbst, daß dies unglaubwürdig heraus kam und sah es auch an seinem Gesicht. Dabei fing mir die Stimme schon wieder an zu beben, ich machte also eine entschlossene Wendung: „Und nun spielen wir endlich, statt die Zeit mit solchen Reden zu verderben.“ Dabei gab ich ihm sein a an.

Er verneigte sich schweigend und griff nach der Geige; dann begannen wir unsere Sonate, es war die F-dur von Beethoven. Und nun siehst Du, Marie, es ist doch etwas Herrliches um die Musik! Wie der erste Satz frisch und freudig daherströmte, dann das süße Andante kam mit dem sehnsuchtsvollen Klang und hinterher das graziöse Scherzo – ich spielte mir das Herz immer leichter und hatte während des prachtvollen Finale’s das Gefühl, als bekäme ich die größten Herrlichkeiten geschenkt. Es ging brillant und als wir geendet hatten, sprach ich mein Entzücken aus. Er sah starr vor sich hin:

„Ja, Musik ist ein gutes Surrogat für Glück –“

„– sagt Heyse in einer seiner Novellen,“ fiel ich ihm sofort unerbittlich ein.

„Es sagen’s außer ihm noch Viele,“ erwiederte er großartig. „Sie freilich, die Sie glücklich zu sein behaupten, können darüber keine Erfahrung haben.“

Ich wollte ihm eben tüchtig erwiedern, da hörte ich ein Geräusch in dem dunklen Hintergrund des Zimmers und sah, mich umwendend, Hugo’s Mutter, schwarz und ernsthaft wie immer dastehen, als trete ein Gespenst ins Zimmer. Wir hatten über dem Spielen ihr Klopfen überhört, ich eilte auf sie zu, bat sie, abzulegen und zündete rasch die große Lampe an. Sonst bleibt sie nicht, wenn Hugo ausgegangen ist, diesmal aber legte sie ab, nahm den Thee an, den ich ihr anbot, und musterte, während wir tranken, mit ihren scharfen Augen den jungen Herrn, welcher, offenbar sehr geärgert über die Störung, in unartigem Schweigen dasaß und meine Versuche, ihn meiner Schwiegermutter einigermaßen näher zu bringen, hartnäckig ignorirte. Endlich stand er auf und ging mit einer kurzen Entschuldigung.

Kaum hatte sich die Thür hinter ihm geschlossen, so kam die strenge Frage. „Musicirt dieser Herr öfter mit Dir, Emmy?“

Nun sieh, Marie, es ist doch mit der Empfindlichkeit eine kuriose Sache. Warum ärgert Einen nun so ein Ton gleich bis ins innerste Herz hinein, daß man nicht anders kann, als auch gereizt erwiedern? Hugo hat mir wohl darüber schon gepredigt, aber das versteht er nicht, die Männer sind ja vollkommen harthörig für solche Stimmennuancen. Ja, ich gestehe es, ich bin empfindlich, aber das ist nun einmal meine Eigenthümlichkeit, also sollte man sie schonen, ändern kann ich mich darin nicht. Deßhalb erwiederte ich auch ziemlieh kühl:

„Jawohl, wir wollen jede Woche einmal spielen.“

„Dann solltest Du Dir Hugo’s Gegenwart ausbitten!“

„Warum? Es ist nichts Unrechtes dabei!“

„Es ist unschicklich,“ erwiederte sie jetzt auch scharf, „und eine junge Frau muß auch den leisesten Schein meiden.“

„Es fällt mir nicht ein, mich nach der Meinung dieses kleinen Nestes zu richten,“ fuhr ich heraus und bereute es eigentlich auf der Stelle. Denn statt nun auch loszulegen, sah sie mich nur einige Sekunden schweigend an, mit einem Ausdruck von Trauer, der mir schon öfter in ihrem Gesichte auffiel. Dann sagte sie in dem eisigen Ton, der mich immer und immer wieder von ihr abstößt:

„Für eine erwachsene Person sprichst Du manchmal noch sehr unvernünftig. Uebrigens muß ich jetzt nach Hause. Hugo, scheint’s, kommt doch nicht mehr.“

Ich holte ihre Kleider, dabei trat sie an den Flügel und sah den noch dastehenden Karton. Sie warf einen ganz entsetzten Blick hinein, nahm dann das schillernde Müffchen heraus, vorsichtig, als könne es beißen, und sagte, es hoch haltend, mit einem langsamen, vernichtenden Kopfschütteln: „Unglaublich! Das willst Du doch hoffentlich nicht anschaffen?“

„Ich thäte es sehr gerne, wenn ich konnte,“ erwiederte ich, trotz aller guten Vorsätze doch wieder spitz, „aber es ist mir zu theuer.“

„Du würdest auch allgemein damit auffallen.“

„Daran läge mir nichts,“ wollte ich schon wieder losfahren, besann mich aber und sagte nur: „Ich werde auch meinen Hut weitertragen, obgleich er zu dem neuen Kleid nicht paßt!“

„Du könntest Dir ja einen neuen dazu machen,“ erwiederte sie nun auch mit einer Anstrengung zur Freundlichkeit. „In meiner Jugend machten wir uns Alles selbst (lieber Gott, das sieht man ihrem Hut heute noch an), und es schiene mir eine sehr große Wohlthat für die Gesellschaft, wenn alle Frauen des Mittelstandes, statt Schneiderrechnungen zu bezahlen, die weit über ihre Verhältnisse gehen, sich ihre Kleider mit einer einfachen Hilfe im Haus arbeiteten. So macht man’s hier, liebe Emmy, und es sollte mich sehr wundern, ob Dir nicht bald diese gute Sitte des ‚kleinen Nestes‘ nachahmungswerth vorkommen wird.“

Ich dachte an die Vogelscheuchen, die hier in guter Sitte auf allen Straßen wandeln, und that nur innerlich einen hohen Schwur! Aber ich schwieg und begleitete die alte Frau mit dem Licht hinaus. Nie, nie werden wir uns innerlich nahe kommen!

Ich wollte Dir den Weihnachtsabend erzählen, liebste Marie, und bin so ins Plaudern gerathen. Aber das thut nichts. Der Brief bleibt bis morgen liegen, und ich opfere der Freundschaft eine Zwanzigpfennigmarke, um Dich für den verlorenen mündlichen Herzenserguß zu entschädigen! Für heute adieu!




Blätter und Blüthen.

Thomas Carlyle’s Gattin. Ueber Dichtergattinnen und Schriftstellerfrauen berichtet die litterarische Chronik wenig genug. Solche sensationelle Ereignisse, wie der Selbstmord der geistreichen Charlotte Stieglitz, die damit ihren Gatten zu dichterischem Schaffen anspornen wollte, haben sich in neuerer Zeit nicht zugetragen. Damals in der jungdeutschen Zeit folgte ein Essay auf den andern, welche alle die That jener eigenartigen Dichterfrau beleuchteten. Die Gattinnen von Schriststellern kommen neuerdings fast nur in Betracht, wenn sie selbst zur Feder greifen und im Litteraturkalender neben ihren Männern in Reih und Glied stehen.

Eine Ausnahme macht die Gattin Thomas Carlyle’s, welche in den vierbändigen „Memoiren über Carlyle’s Leben“, die J. A. Froude herausgab, eine hervorragende Rolle spielt. Carlyle selbst, einer der begabtesten Schriftsteller Englands, wird auch von seinen Gegnern, trotz seiner Eigenart und mancher Schrullen in Sinnes- und Schreibweise, als einer der besten Köpfe Albions anerkannt. Uns Deutschen hat er stets die wärmste Sympathie entgegengebracht, besonders unserem Goethe, und seine umfangreiche Geschichte Friedrich’s des Großen beweist zur Genüge, wie angelegentlich er sich mit Studien über unsere politische und geistige Entwicklung befaßt hat. Ja, sein Stil hat etwas Jeanpaulisirendes und weist auf die deutsche Quelle hin, aus welcher er so manche Anregung geschöpft hat.

Die Bekanntschaft, welche Carlyle 1821 mit Miß Jane Welsh, der Tochter eines Arztes in Haddington, machte, der früh ein Opfer seines Berufes geworden, wurde entscheidend für sein ganzes Leben. Nicht als ob der Liebe Götterstrahl, wie es bei dem Dichter heißt, gleich in die Herzen geschlagen wäre, getroffen und gezündet hätte: dazu war die Persönlichkeit Carlyle’s wenig geeignet, denn seine Gestalt war eckig, sein Kopf äußerst lang, sein Haar dicht und buschig; nur seine tiefblauen Augen hatten etwas Gewinnendes. Von Miß Welsh wird berichtet, daß sie schwarze Haare, dunkle große Augen, die von leisem Spott glänzten, eine blasse Gesichtsfarbe, eine breite Stirn hatte und den Eindruck großer geistiger Lebendigkeit machte. Doch bei ihrer ersten Begegnung mit Carlyle gehörte ihr Herz ihrem Lehrer Irving; dieser erwiederte zwar ihre leidenschaftliche Neigung, aber er hatte sich für ein anderes Mädchen, eine Miß Martin, so interessirt, daß er sein Herz nicht mehr frei fühlte – und Fräulein Welsh weigerte sich, andere Worte von ihm zu hören, als die eines Freundes, nachdem er ihr erzählt, daß er das Herz jener Miß Martin mit Hoffnungen und Wünschen erfüllt habe. Obschon sie also nach dieser Seite keine Aussicht hatte für einen lebenslänglichen Bund, konnte sie doch anfangs für Carlyle, „den großen knochigen Mann mit der ehernen Stirn“, der in das Haus ihrer Mutter eingeführt worden und an Irving’s Stelle als Mentor auf dem Gebiete der neuen Litteratur getreten war, keine Liebe empfinden.

Im Jahre 1823 schrieb Miß Jane ihm einen Absagebrief. „Mein Freund, ich liebe Sie, ich wiederhole es, obschon der Ausdruck unvorsichtig ist. Die besten Gefühle stehen mit der Liebe zu Ihnen in Beziehung. Aber wären Sie mein Bruder, so würde ich Sie gleichfalls lieben. Nein, ich will ihre Freundin sein, ihre treueste, ergebenste Freundin, so lange ich die Lebensluft athme, aber ihre Frau – niemals. Niemals, und wären Sie so reich wie Krösus, und so geehrt und berühmt, wie Sie es noch sein werden.“

Was es mit diesem „niemals“ bei den Ablehnungen leidenschaftlicher Freier oft für eine Bewandtniß hat, das wurde auch hier bald klar; denn im Jahre 1826 schon wurde Miß Welsh die Frau Carlyle’s. Die Mutter war gegen die Ehe: doch Jane hatte ihr schon früher ihr ganzes Vermögen auf Lebenszeit zugesichert. Erst allmählich hatte Jane sich zu dem Versprechen herbeigelassen, sie wolle, wenn der Freund als Schriftsteller Glück mache, es mit ihm theilen.

Ob die Ehe eine glückliche war? Carlyle bekannte zwar, daß er, wenngleich Andern gegenüber so eigensinnig wie ein Maulthier, doch seiner Frau gegenüber lenksam und willig sei, und von der hohen Meinung, die sie von ihm hatte, legt ein Brief Zeugniß ab, den sie kurz vor der Verheirathung an ihre Tante schrieb: sie nennt ihn darin einen der gescheitesten und abgeklärtesten Männer ihrer Zeit; „er besitzt alle die Eigenschaften, die ich bei meinem Gatten für nöthig erachte: ein warmes treues Herz, um mich zu lieben, einen gewaltigen Verstand, um mich zu beherrschen, und eine Feuerseele, um der Leitstern meines Lebens zu sein. Ausgezeichnete Gaben dieser Art erfordern aber immer schon einen gewissen Grad von überlegener Einsicht bei denen, die sie gehörig zu würdigen wissen. In den Augen der Kanaille, der armen seelenlosen elenden Kerle, sind dieselben bloße Thorheit, und es ist ja lediglich die Kanaille, die über anderer Leute Angelegenheiten schwatzt. Das ist also mein zukünftiger Gatte, kein großer Mann nach des Wortes gewöhnlichster Bedeutung, aber wahrhaft groß in dem ursprünglichen natürlichen Sinn des Wortes: ein Gelehrter, ein Dichter und Philosoph, ein reicher und edler Mensch, der sein Adelspatent vom allmächtigen Gott verliehen erhielt und dessen hohe Männlichkeit nicht nach dem liliputischen Zollstabe gemessen werden darf.“

In dieser Charakteristik hat Miß Welsh ihrer eigenen geistigen Bedeutung ein schönes Zeugniß ausgestellt; doch sollte es in der Ehe nicht an Irrungen und Störungen fehlen, obgleich dieselbe, nach dem Tode der Mutter, auf einer festen finanziellen Grundlage ruhte. „Seitdem Du berühmt geworden,“ hatte Miß Welsh zu ihrem Gatten gesagt, „macht man Dich zum Centrum aller Verrückten.“ Vornehme Damen machten ihm den Hof, vor allem eine geistreiche Weltdame, Lady Harriet Ashburton, die seine Gloriana, Königin seines Feenreichs, wurde und im [304] Guten und Bösen einen merkwürdigen Einfluß auf ihn ausübte. Wegen dieser unterhaltenden witzigen Dame kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Carlyle und seiner Frau; die letztere verließ ihn sogar einmal und reiste zu ihren Verwandten nach Liverpool; doch kehrte sie bald wieder zu ihm zurück.

In den letzten Jahrzehnten konnte sie sich der glänzenden Auszeichnungen erfreuen, die ihrem Gatten zu Theil wurden. Als er zum Rektor der Universität Edinburgh ernannt worden, verhinderte sie nur ihre Kränklichkeit ihn dahin zu begleiten; doch die Telegramme mit den freudigen Nachrichten regten sie so auf, daß es nur eines heftigen Schrecks bedurfte, um ihrem Leben ein Ziel zu setzen. Sie sah es mit an, wie ihr Hündchen in Hydepark überfahren wurde, rettete dasselbe, nahm es auf den Schoß in ihren Wagen – und saß leblos darin, als sie zu Hause ankam. Der von Schottland heimkehrende Carlyle sah sie nur als Leiche wieder. †     

Hartmann’s Kindernährflasche mit Wärmemesser. Die Kindernährflaschen, welche mit Skala zum Abmessen der Milch und allerlei praktischen Bemerkungen für die Ernährung des Kindes versehen sind, kommen schon seit geraumer Zeit vor. Neuerdings wurde durch die Handlung von Ernst Witter in Unterneubrunn bei Eisfeld eine Milchflasche in den Handel gebracht, welche außerdem noch mit einem Thermometer versehen ist. Die Idee ist nicht übel, da das Thermometer die Temperatur zuverlässiger anzeigt als das Gefühl unserer Haut. Nur muß man sich vor Gebrauch dieser Flaschen auch an der Hand eines richtig die Wärme anzeigenden Thermometers überzeugen, ob das an der Flasche befestigte den an ein derartiges Instrument zu stellenden Anforderungen entspricht.

Von der Schnepfe. Okuli – da kommen sie! – An lauen, feuchten Frühlingsabenden streichen sie dahin am Waldesrand im ersten Dämmerlicht, und der Waidmann freut sich des Meisterschusses, der das schwirrende Ziel so weidgerecht zu treffen wußte, nicht minder als der deliciösen Beute selbst. Auch hier übrigens war die Jagdmethode nicht immer die gleiche; noch im Anfang des vorigen Jahrhunderts fing man hier und da den vielgeliebten Vogel – in Fallen. „Der Waidmann,“ heißt es in den im Jahre 1710 in Weimar erschienenen ‚Jagd- und Waidwerksanmerkungen‘, „kömmt selbige zu fangen am füglichsten bey mit Fallen, welche, weiln sie bekannt genug, hier zu beschreiben nicht nöthig.“ Ueber die Art und Weise, wie die Waldschnepfe ihre Nahrung zu sich nimmt, hatte man damals noch verschleierte Begriffe; die Erkenntniß, daß sie dieselbe durch Saugen gewinne, lag noch im Dunkel. Gleichwohl war man bereits auf der Spur. „Es kan dieser Vogel,“ heißt es a. a. O., „seinen fingerlangen Schnabel vorne an der Spitzen (wenn er mit selbem in Sumpff reichet, und ein Würtzlein zu befinden merkte) etwa eines Daumens breit zusammen drucken und wieder von einander thun, als eine Drahtzange, welches durch gewisse hierzu von der Natur versehene Nerven im Schnabel geschieht, so sonsten kein Vogel haben wird.“ Ueber den kulinarischen Werth hingegen war man sich auch im Einzelnen schon völlig klar. „Solcher Vogel,“ heißt es, „wird wegen seiner Nahrung vor dem delikatesten mit geachtet; auch sogar wird sein Gescheide mit gegessen, weiln sich dieselbe mit nichts anderes nähret, als mit denen im Sumpfe und Frischen befindlichen Kräuter-Würtzeln.“ Auch sonst war man waidmännisch über Thun und Treiben des köstlichen Wildes au fait. „Sie ziehet Herbst-Zeit, wenn das Laub fället, und zwar des Nachts, nachdeme sie vorhero, wenn sich Tag und Nacht scheidet, vor die Höltzer fällt und sich mit Nahrung versieht“ … „Ihr Zug ist, zumal im Frühjahr, wann nemlich ein warmer Regen geschehen, schleunig und in wenig Tagen vorbey“ … „Auch es hecket sonsten die Schnepff allhier zu Lande, wiewohl wenig, hat meistens 3 bis 4 Junge, welche von einer drückenden und verborgenden Arth sind, wie das Feld-Hun.“

Die Naphthastadt Baku. Große Dinge begeben sich in Centralasien, ohne daß die europäischen Zeitungen eingehend davon Notiz nehmen. Rußland arbeitet daran, den Ueberlandweg nach Indien sich zu bahnen, und vollendet in aller Stille eine Etappe nach der andern. Im December 1886 wurde mit großer Feierlichkeit die Kaspibahn bis Tschardui[WS 1] eröffnet, wenige Tage darauf wurden auf dem Amu-Darja zwei Kriegsschiffe vom Stapel gelassen. Mit der Kaspibahn hat Rußland allen andern Nationen in Bezug auf den Ueberlandweg nach Indien den Rang abgelaufen. Den Mittelpunkt für diese ganze neue Handelsbewegung wird die alte Parsenstadt Baku am Ufer des Kaspischen Meeres bilden; sie hat Aussicht, die größte Handelsstadt des Ostens zu werden; sie beherrscht alle Verkehrswege nach Nord und Süd, nach Ost und West. Terrassenartig am hohen Westufer des Kaspischen Meeres auf der Halbinsel Apscheron gelegen, gewährt sie vom Meere aus gesehen einen großartigen Anblick: auf der einen Seite zeigen sich die stattlichen Gebäude der Marinestation, auf der andern die hohen Schornsteine und rauchenden Fabriken der Naphtha-Industrie; im Hintergrund ein steiler Berg mit einem Doppelgipfel. Das alte persische Khanschloß, einige Minarets und Kirchen heben sich aus den Häusergruppen hervor; dicht am Ufer überragt der cyklopisch gebaute Mägdethurm das Häusergewirr. Ein buntes Treiben belebt den Hafen und die Straßen: russische Dampfer und Kriegsbarkassen, turkmenische Barken, persische Schiffe liegen dort vor Anker; hier begegnet man Kaufleuten aus allen europäischen Ländern, russischen Beamten und Soldaten, persischen Juwelenhändlern, armenischen Lastträgern, tatarischen Kameltreibern und Eselkarawanenführern.

Um das Zehnfache schon hat sich jetzt Baku’s Bedeutung gesteigert, seitdem es durch die Eisenbahn mit Tiflis und Batum und dem Schwarzen Meere verbunden ist – und eine gleiche Steigerung steht jetzt nach Eröffnung der Kaspibahn in Aussicht.

Den Reichthum Baku’s bilden seine unerschöpflichen Steinölquellen. Weithin versendet es jetzt schon Brenn- und Heizmaterial; neue Industrien, neue Erfindungen werden in der Zukunft diesen Handel heben. Hat doch ein Amerikaner Tweddle bereits die kühne Idee gehabt, das Petroleum in gewaltigen Eisenröhren nach dem Ufer des Schwarzen Meeres zu pumpen und zu leiten. Von Tag zu Tag wird die naphthahaltige Erde in immer neuer rationeller Weise zur Herausgabe ihrer Schätze genöthigt. Dies Baku ist eine echte Naphthastadt; denn selbst die heißen staubigen Straßen werden mit Naphtha statt mit Wasser besprengt.

Auf der Halbinsel Apscheron, in der Nähe der jetzigen Fabrikstadt, stand der alte Feuertempel. Die Zeit ist vorüber, wo hier die frommen Anbeter des aus der Erde quellenden Elementes dem Feuergotte huldigten. Jetzt aber ist der Kultus desselben ein gewinnbringender geworden, und wo einst die Feueranbeter in ihren Hütten wohnten, da bauen sich jetzt die neuen Tempelhüter mit Hilfe des freundlichen Elementes stolze Paläste.

Allerlei Kurzweil.
Skat-Aufgabe Nr. 5.
Von K. Buhle.

Welche drei Karten müssen zu folgenden 7 Karten:

(p. A.)   (p. D.)   (p. 7.)   (c. Z.)   (c. K.)   (c. D.)   (c. 7.)

noch hinzukommen, um darauf das danach größte[2] und unverlierbare Spiel ansagen zu können?

Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 4 auf S. 236.

Im Skat liegt e7, s7. Die übrigen Karten sind so vertheilt:

Vorhand: eD, gD, gZ, gO, g9, g8, g7, sD, sK, s8,
Hinterhand: eZ, eK, e9, e8, rZ, rK, rO, r9, r8, r7.

Das Spiel geht für den Spieler verloren durch einen Schnitt im Anspielen seitens der Vorhand, denn der Gang des Spieles ist:

1. sK! s9, rZ (− 14),
2. sD, sO, rK (− 18),
3. s8, sZ, eZ (− 20),
4. rO, eD! rD (− 25),
5. gD, gK, eK (− 19).
Auflösung des Ketten-Räthsels auf S. 288.

HerkUles UnscHuld HeraLdik LausAnne ArdeNnen NumiDien Diogenes


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

Ein angehender Kanarienzüchter in B. Sie ersuchen uns um die Beantwortung einer ganzen Reihe von Fragen, die sich auf Kanarienzucht beziehen. Wir bedauern, Ihnen damit nicht dienen zu können, da die Erfüllung Ihres Wunsches zu viel Raum beanspruchen würde. Aber einen guten Rath, für den Sie uns gewiß dankbar sein werden, wollen wir Ihnen nicht vorenthalten. Sie gehören zu der leider nicht seltenen Klasse von Menschen, welche ohne genügende Vorkenntnisse irgend eine Zucht anfangen und zu ihrem eigenen Schaden ins Blaue hinein experimentiren. Das Erste, was Sie jetzt thun müssen, besteht in der Anschaffung guter Lehrbücher über Kanarienzucht. Das bekannte und weitverbreitete Buch von Dr. Karl Ruß „Der Kanarienvogel“ ist schon mehrfach in der „Gartenlaube“ empfohlen worden. Außerdem ist neuerdings ein treffliches Büchlein „Der Kanarienvogel“ von W. Bödker (Aug. Schröter’s Verlag, Ilmenau) erschienen. In einem der Abschnitte desselben: „Briefe an einen angehenden Kanarienzüchter“ werden Sie die Beantwortung der meisten von Ihnen an uns gerichteten Anfragen finden. Scheuen Sie die geringfügige Ausgabe für die Anschaffung der Fachlitteratur nicht; dieses Kapital wird Ihnen durch gute Entwickelung Ihrer Hecke reichliche Zinsen tragen. Die gefangenen Vögel haben auch das Recht, in rationeller Weise gepflegt zu werden.

Martha K. in Breslau. „Da wir Abonnenten der ‚Gartenlaube‘ sind,“ schließt die anonyme Zuschrift, die ausdrücklich auf den „Kleinen Briefkasten“ hinweist, wo eben so ausdrücklich zu lesen ist: „Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.“ Wie soll man dies denn noch deutlicher ausdrücken, damit es verstanden wird? – Uebrigens sind Ihre beigelegten Verse derart, daß wir auf Ihre Namensenthüllung nicht dringen wollen.

Prag. Dankend abgelehnt.


Inhalt: Götzendienst. Roman von Alexander Baron v. Roberts (Fortsetzung). S. 289. – Deutsche Kriegervereine. Von J. Steinbeck. S. 292. – Entdeckungsfahrten des deutschen Dampfers „Samoa“. IV. Englisches Gebiet in Ost-Neu-Guinea: Milne-Bai und Moresby-Archipel. Für die „Gartenlaube“ mitgetheilt von Dr. O. Finsch (Bremen). S. 295. Mit Illustrationen S. 289, 293 und 296. – Zwei gelungene Portraits. Von G. van Muyden. Mit Illustration S. 297. – Das Scherenrecht. Erzählung von Otto Sigl. S. 297. Mit Illustrationen S. 298, 299 und 301. – Das erste Jahr im neuen Haushalt. Eine Geschichte in Briefen. Von R. Artaria. V. S. 302. – Blätter und Blüthen: Thomas Carlyle’s Gattin. S. 303. – Hartmann’s Kindernährflasche mit Wärmemesser. Mit Abbildungen. S. 304. – Von der Schnepfe. S. 304. – Die Naphthastadt Baku. S. 304. – Allerlei Kurzweil: Skat-Aufgabe Nr. 5. Von K. Buhle. S. 304. – Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 4 auf S. 236. S. 304. – Auflösung des Ketten-Räthsels auf S. 288. S. 304. – Kleiner Briefkasten. S. 304.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Vergl. Jahrgang 1886 der „Gartenlaube“.
  2. Für die Werthberechnung gelten die vom Altenburger Skatkongreß angenommenen Grundsätze.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. seit 1999 Türkmenabat