Die Gartenlaube (1887)/Heft 33

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[533]

No. 33.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Der lange Holländer.

Novelle von Rudolph Lindau.
(Schluß.)

Der Komprador hatte auf der Goldbarre, die er in einem von Prati’s Koffern gefunden, auf den ersten Blick den ihm wohlbekannten Stempel seines Geschäftsfreundes Ki-tschong erkannt, und dieser hatte aus seinen Büchern den unzweifelhaften Nachweis führen können, daß diese Goldbarre, im Werthe von etwa fünfhundert Dollars, einen Theil des Geldes bildete, das er Büchner eingezahlt hatte, und das diesem, in einer bis dahin unaufgeklärten Weise, abhanden gekommen war. Als man einmal auf die richtige Spur des Diebes geleitet war, klärte sich das ganze Geheimniß wie von selbst auf.

Prati hatte sich einen Schlüssel zur Kasse zu verschaffen gewußt. Dies war ihm leicht gemacht worden. In dem Kassenschrank befand sich nur in seltenen Fällen baares Geld. Derselbe diente in erster Linie und gewöhnlich dazu, die Hauptbücher des Hauses und gewisse Werthpapiere – Konnossemente, Wechsel, Kontrakte, Versicherungsscheine etc. – in feuerfestem Verwahr zu halten. Nicht nur stand die Kasse während der Komptoirstunden gewöhnlich offen, von Niemand sonderlich bewacht, da das, was dieselbe enthielt, für keinen Dieb Geldeswerth hatte, sondern es war verschiedene Male vorgekommen, daß Prati während längerer Beurlaubungen von Büchner dessen Vertretung übernommen und auf diese Weise den Kassenschlüssel Wochen lang zu seiner Verfügung gehabt hatte. Da war es ihm leicht gewesen, sich von einem chinesischen Schlosser einen Nachschlüssel machen zu lassen, und selbst an demselben so lange zu feilen, bis er die Kasse ebenso gut öffnete, wie der richtige.

Mittagsruhe in der Sommerfrische.
Originalzeichnung von E. Ravel.

[534] Der Diebstahl war nun an einem Dienstag Abend verübt worden. Am vorhergehenden Sonntag hatte Prati zu einem seiner häufigen Ausflüge in das Innere Shanghai verlassen. Eine Tagereise hinter der Stadt, am Montag Abend, war sein Boot von den Tai-ping-Rebellen aufgehalten worden, und er hatte zu seiner Bestürzung bemerkt, daß er keinen Passirschein besitze. Die Rebellenhäuptlinge waren stets bereit, jedem Fremden, der in den von ihnen überzogenen Landstrichen reisen wollte, ein derartiges Schriftstück auszustellen. Aber ohne im Besitz eines solchen zu sein, war es gefährlich, manchmal sogar, wie in dem vorliegenden Falle, unmöglich, die Grenzen der von den Tai-ping beherrschten Provinz zu überschreiten. Prati besaß einen Paß in bester Ordnung, mit allen nöthigen amtlichen Siegeln versehen und von einem halben Dutzend „himmlischer“ und anderer „Könige“ visirt. Das Schriftstück war von ihm in Shanghai vergessen worden. Nun mochte Prati aber gewichtige Gründe haben, Niemand den Schlüssel zu seinem Schreibtisch anzuvertrauen, denn er bequemte sich dazu, selbst nach Shanghai zurückzukehren. Da die Strömung im Kanal, in dem er sich befand, die Rückreise im Boote zu einer sehr langwierigen gemacht haben würde, so befahl er den Bootsleuten bis nach einem bestimmten Orte zurückzugehen. Dort wollte er sie in der Nacht vom Dinstag auf Mittwoch wieder antreffen. Er selbst miethete einen von Menschenhand gezogenen Karren, wie dergleichen in China auf den Landstraßen gebräuchlich sind, um darin nach Shanghai zurückzukehren. Er verließ sein Boot Dinstag mit Grauen des Tages und langte gegen fünf Uhr Abends in der chinesischen Vorstadt von Shanghai an. Dort ließ er das primitive Fuhrwerk, dessen er sich bedient hatte, warten und begab sich zu Fuß nach seiner Wohnung. In der Nähe derselben begegnete er dem Kaufmann Ki-tschong, der ihm beiläufig erzählte, er komme soeben von Rawlston & Co., wo er zehntausend Dollars eingezahlt habe. Sieben Stunden später, etwas nach Mitternacht, war Prati wieder auf seinem Boote.

Ueber die Art, wie der Italiener einen Theil dieser Zeit angewandt hatte, fehlen bestimmte Nachrichten, jedoch ist es leicht, dies mit nahezu vollständiger Sicherheit festzustellen. Prati war – so erklärt man sich die Sache – ohne bemerkt zu werden, in das Komptoir gelangt. Er hatte sein Pult geöffnet, um den Paß herauszunehmen. Und in demselben Pulte mochte wohl auch der Nachschlüssel zur Kasse gelegen haben. Das Komptoir war leer. Da trat die Versuchung an den Italiener heran und fand ihn schwach. Dicht neben ihm lagen zehntausend unbewachte Dollars. Er öffnete die Kasse, bemächtigte sich des Goldes, schloß den Schrank wieder und war verschwunden. Der Diebstahl hatte im Verlaufe einer halben Minute verübt werden können. Die Zeit von fünf bis sechs Uhr ist die ödeste Stunde für das Straßenleben in der Niederlassung von Shanghai. Die Fremden sitzen dann gewöhnlich bei Tisch. Die unbeschäftigten Diener pflegen dies zu benutzen, um zu schlafen. Prati hatte auf dem Rückwege zur chinesischen Stadt, wobei er die wenigst belebten Straßen gewählt haben mochte, keinen Bekannten angetroffen; und um halb sieben Uhr rollte er bereits wieder auf seinem Schiebkarren dem Orte zu, den er seinen Bootsleuten bezeichnet hatte und wo er dieselben auch richtig antraf.

Der größte Theil der entwendeten zehntausend Dollars war wahrscheinlich sofort gegen Seide umgetauscht worden. Die Rebellen, mit denen Prati auf seiner damaligen Reise verkehrt hatte, kümmerten sich wenig darum, wie das Geld erworben war, das sie für die von ihnen gestohlene Seide bekamen. Sie selbst hatten Interesse daran, den Ursprung des Geldes zu verbergen, da die obersten Häuptlinge, die für ihre eigene Rechuung unbarmherzig raubten und plünderten, darauf hielten, daß von ihren Untergebenen strenge Manneszucht beobachtet wurde. Die Goldbarren mit dem Stempel Ki-tschong’s waren sicherlich sofort eingeschmolzen worden. Wie es gekommen, daß eine Goldbarre in Prati’s Besitz geblieben war, darüber schwanken die Ansichten. Einige nehmen an, er habe nicht mehr gewagt, das Ki-tschong-Gold auszugeben, nachdem der Diebstahl bekannt geworden war, Andere glauben – und diese Ansicht hat die Wahrscheinlichkeit für sich, – daß Prati, mit jener eigenthümlichen Unvorsichtigkeit, welche gewisse Handlungen der verschlagensten Verbrecher kennzeichnet, kein Bedenken getragen hatte, einen Theil des gestohlenen Gutes zurückzubehalten, in einem verschlossenen Koffer, zu dem er den Schlüssel bei sich trug, und in dem es Niemand, auch keinem Diebe, eingefallen sein würde, Gold zu suchen. Als der Italiener acht Tage nach dem Verschwinden des Goldes wieder in Shanghai eintraf, war die polizeiliche Untersuchung längst beendet. Weder Rawlston noch der Polizei-Inspector hatten dabei an Prati denken können, den sie an dem Tage, an dem das Verbrechen begangen worden war, weit von Shanghai glauben mußten. Der Komprador erinnerte sich nachträglich, daß Prati’s chinesischer Diener, der seinen Herrn nach Sutschow begleitet hatte, von den Unannehmlichkeiten gesprochen, die ihnen das Fehlen des Passes verursacht hatte. Aber dieser Umstand war vom Komprador in keinen Zusammenhang mit dem Diebstahl gebracht morden und er hatte ihn in der Aufregung jener Tage schnell vergessen. Auch auf Ki-tschong hatte die kurze, unverdächtige Begegnung mit Herrn Prati auf der Straße so wenig Eindruck gemacht, daß er derselben gar nicht erwähnt hatte. Es waren ihm an jenem Tage und zur selben Zeit auch noch andere Mitglieder des Rawlston’schen Hauses zu Gesicht gekommen. Er hatte an Keinen von diesen als an den möglichen Dieb der zehntausend Dollars gedacht. Hätte er damals von dem Zusammentreffen mit Prati gesprochen, so würde dies auch nicht genügt haben, einen begründeten Verdacht auf den Italiener zu lenken. Seine unfreiwillige kurze Anwesenheit in Shanghai konnte durch die Umstände, welche dieselbe begleiteten, vollständig erklärt werden.

Rawlston war geradezu betroffen, als Büchner’s Unschuld nun sonnenklar vor ihm stand. Der Vorwurf, den Andere ihm wiederholt gemacht hatten, er habe Büchner zu Grunde gerichtet, gewann plötzlich an Schärfe. Fast empfand er Bedauern darüber, daß die Wahrheit nun ans Licht gekommen sei. Aber diese Empfindung machte schnell bessern Gefühlen Platz, die ihn drängten, dem gekränkten Manne jede mögliche Genugthuung zu verschaffen. Er begab sich schnurstracks zu Francis Morrisson, den er von ähnlichen Gesinnungen Büchner gegenüber beseelt fand und mit dem er sich nach kurzer Unterredung dahin verständigte, die ganze Kolonie, da sie sich als solche, absichtlich oder nicht, an der Kränkung Büchner’s betheiligt hätte, solle nunmehr förmlich und feierlich ihre wohlgesinnte Theilnahme an dessen Schicksal zu erkennen geben, und zwar in der üblichen Form: durch Ueberreichung einer Ehrengabe.

Rawlston und Morrisson gehörten zu den einflußreichsten Mitgliedern der fremden Niederlassung. Sie zweifelten nicht daran, daß ihre auf Büchner bezüglichen Vorschläge allgemeine Zustimmung finden würden, und sie irrten darin auch nicht. Nachdem jeder von ihnen mit einigen der reichsten Kaufleute der Kolonie gesprochen hatte, konnte eine Liste, in dereingeladen wurde, Herrn Georg Büchner ein „Testimonial“ zu überreichen, in Umlauf gesetzt werden, an deren Spitze die besten Namen von Shanghai mit nicht unerheblichen Beiträgen prangten, und die sich schnell mit zahlreichen Unterschriften bedeckte. Shanghai war damals reich und Kleinlichkeit in Geldsachen gehörte nicht zu den Eigenthümlichkeiten der „Pioniere“. Die Beiträge zu dem „Büchner-Testimonial“ ergaben bald die stattliche Summe von neuntausend und etlichen Dollars. Morrisson und Rawlston thaten sich zusammen, um dieselbe auf zehntausend Dollars abzurunden. Sodann fand eines der beliebten „Meetings“ im Klub statt, in dem Morrisson den Vorsitz führte, und das nach kurzer Berathung, wie in der Zeitung zu lesen war, mit dem Beschlusse endete, ein aus zehn Personen bestehender Ausschuß – derselbe wurde auf der Stelle durch Acclamation ernannt – solle Herrn Büchner die Summe von zehntausend Dollars in geeignet scheinender Weise überbringen, als „ein Zeichen der Theilnahme und der Hochachtung der Kolonie für deren verehrtes Mitglied Herrn Georg Büchner“.

Frau Onslow theilte dies Edith vertraulich mit. Man wollte die Freude haben, Büchner angenehm zu überraschen. Aber derselbe mußte in irgend einer Weise auf die außerordentliche Kundgebung vorbereitet werden. Edith zeigte sich erfreut über die Nachricht. Das Geld war ihr gleichgültig. Sie hatte sich niemals arm gefühlt und es fehlte ihr die richtige Schätzung von Geld und Geldeswerth. Aber sie war stolz auf die ihrem Manne gezollte Verehrung. Nun endlich würde er wieder erhobenen Hauptes durch die Straßen von Shanghai gehen!

Edith’s Empfindungen in Bezug auf Prati waren zunächst getheilter Natur gewesen. Im ersten Augenblick, nachdem sie erfahren, was er verübt, hatte sie nur Bestürzung gezeigt: Prati, [535] der treue Freund, die Stütze ihres unglücklichen Mannes, Prati ein Dieb! – Es erschien unglaublich, und doch war es so. Der Unglückliche! – Aber gleich darauf hatten die berechtigten Gefühle der Gattin die Oberhand gewonnen. Prati also war an dem Unglück ihres geliebten Georg schuld. – Der Elende! In heller Entrüstung eilte sie nach ihrem Hause zurück, dem Schmerz um einen Unwürdigen, unter dem Büchner litt, Einhalt zu thun. Sie vergaß alle Rücksichten, die sie seit ihrer Verheirathung gewöhnt war auf ihres Mannes Zustand zu nehmen.

„Georg!“ rief sie ihm entgegen, sobald sie ihn erblickte, „der Dieb ist entdeckt.“

Er sah sie erstaunt an.

„Prati, – ja Prati ist der Dieb!“

„Allmächtiger Gott!“ sagte Büchner leise und sank auf den Sessel zurück, von dem er sich beim Eintritt seiner Frau erhoben hatte.

Diese, ohne die Niedergeschlagenheit ihres Mannes zu beachten, vielleicht ohne sie zu bemerken, erzählte in fliegender Hast Alles, was sie soeben von Frau Onslow erfahren hatte. Büchner hörte stumm zu. Von Zeit zu Zeit schüttelte er das Haupt.

„Der Arme!“ sagte er, als Frau Edith geendet hatte. Und unwillkürlich die Worte wiederholend, die Prati in seiner Erzählung über das Schicksal der Brüder Joseph und Anselm gebraucht hatte, fügte er hinzu: „Was muß er gelitten haben!“

„Der Arme?“ rief Frau Edith entrüstet. „Der Elende, der Heuchler, der Dich und mich unglücklich gemacht hat!“

„Er hat dafür schwer gebüßt.“

Edith war einige Sekunden sprachlos. „Für diese Art von Edelmuth,“ brachte sie gereizt hervor, „fehlt mir in der That das Verständniß.“

„Ja“ sagte Büchner, „ich fürchte, wir werden uns darüber nicht verständigen. Du hast vollkommen Recht.“

„Aber bist Du denn nicht froh – wäre es auch nur um meinetwillen, – daß Du nun in Aller Augen wieder makellos dastehst?“

„Ja, ich freue mich in der That … Deinetwegen. Mir ist es gleichgültig – ich bin fertig.“

„Georg, versündige Dich nicht.“

„Ich bin fertig, fertig, fertig!“ wiederholte er und sah sie mit weit geöffneten Augen befremdlich an. Er preßte die linke Hand auf das Herz und hob und senkte sie wieder in schnellen, harten Schlägen: „Ach, Edith, wenn Du wüßtest, wie sie mich Alle gequält haben!“

„Alle? O Georg!“

„Nein, Du nicht, Du warst treu – Du – und Prati …“

„Nenne mich nicht mit dem Nichtswürdigen!“

„Du hast Recht, verzeihe mir!“

Er fühlte sich gänzlich vereinsamt. Es war dunkel geworden. – „Ich will etwas an die freie Luft gehen,“ sagte er sanft. Edith sah ihm kopfschüttelnd nach. – Sie zürnte ihm wegen seiner Schwäche für Prati. –

Während der nächsten Tage wurde dem langen Holländer das Geld zurückgegeben, das er auf dem amerikanischen Konsulat vor etwa drei Jahren niedergelegt hatte, „zur freien Verfügung der Herren Rawlston & Co., bis zu dem Tage, an dem die abhanden gekommenen zehntausend Dollars wieder in deren Besitz gelangt sein würden.“ – Diese Summe sollte später aus dem Nachlaß Prati’s gedeckt werden. Bei der Prüfung jener Hinterlassenschaft hatte sich übrigens herausgestellt, daß Prati’s Vermögen in den letzten Jahren nicht unerhebliche Einbuße erlitten. Von den glänzenden Geschäften, über die er Büchner Abrechnungen geliefert und von denen er angegeben hatte, sie seien durch die Vermittlung von Rawlston & Co. ausgeführt worden, war weder in Prati’s noch in Rawlston’s Büchern eine Spur zu entdecken. Die ersteren erschienen übrigens ohne besondere Bedeutung, denn seit zwei und einem halben Jahre waren in denselben nur noch wenige Eintragungen gemacht worden. In einem Notizbuche, das in Prati’s Pulte vorgefunden wurde, entdeckte man den flüchtigen Bleistiftentwurf eines Kontokorrents. Dasselbe hatte keine Unterschrift. Auf der rechten Seite stand 10000 und zweimal die Zahl 1200. Die andere Seite war beinah vollgeschrieben. Zuerst las man die Ziffer 2000, dann folgten verschiedene größere und kleinere Beträge, deren Gesammtsumme nahe an 12400 ausmachte. Rawlston schloß nach einigem Nachdenken, daß er das Konto Büchner’s bei Prati vor sich habe. Die Zahl 10000 bezeichnete augenscheinlich die gestohlene Summe; 2400 bildeten zweijährige Zinsen auf jenen Betrag zu dem, wenn auch hohen, doch in Shanghai nicht ungebräuchlichen Satze von 12% – Die Ziffer 2000 entsprach dem Darlehn, das Prati seinem Freunde gemacht hatte, um die fehlenden zehntausend Dollars an Rawlston & Co. zurückerstatten zu können; die übrigen Summen endlich bezeichneten aller Wahrscheinlichkeit nach verschiedene Beträge, die Prati im Verlauf von zwei Jahren an Büchner geborgt oder demselben unter dem Vorwande ausgezahlt hatte, daß sie den Nutzen geschäftlicher Unternehmungen darstellten, die für gemeinschaftliche Rechnung ausgeführt waren. – Der Italiener erschien demnach als ein eigenthümliches Gemisch von Ehrlichkeit und Spitzbüberei. Es lag kein Anzeichen dafür vor, daß er über den von ihm verübten Diebstahl Gewissensbisse empfunden hatte; den von seinem Freunde erlittenen Geldverlust hatte er dagegen reichlich wieder getilgt. Frau Onslow verstand nun erst die Geschichte der beiden Brüder, die Prati ihr einmal erzählt hatte. – „Fallen ist traurig, ist jammervoll – aber es ist verzeihlich, Liegenbleiben ist schlimm,“ hatte er gesagt, um einen Dieb zu entschuldigen. Er hatte große Anstrengungen gemacht, sich wieder emporzurichten und im tiefsten Innern ihres guten Herzens bemitleidete Frau Onslow den reuigen Sünder. Es war ihr jedoch nicht möglich, ihm zu verzeihen. „Ein Dieb ist ein Dieb – etwas Häßliches!“ und sie hörte ruhig mit an, wenn der Italiener in ihrer Umgebung allgemein verdammt wurde.

Edith hatte es nicht ohne Zagen unternommen, Büchner auf den Besuch der Abgesandten der Kaufmannschaft vorzubereiten. Sie fürchtete, seine Menschenscheu werde ihren Wünschen Widerstand leisten. Sie gebrauchte viele Worte, um Büchner mit dem Vorhaben seiner Mitbürger – ohne des Ehrengeschenks zu erwähnen – bekannt zu machen, dann schloß sie mit einer Bitte: „Thu’ es mir zu Liebe und sei recht freundlich mit den Herren! Sie sind mir beinah ganz fremd geworden, aber es wird mir leicht werden, wieder unbefangen mit ihnen zusammenzutreffen, wenn ich einmal gesehen habe, wie hoch Du in ihrer Achtung stehst.“

„Ich bin es Dir schuldig und thue es gern,“ hatte Büchner geantwortet, und damit war die Angelegenheit in befriedigender Weise erledigt worden.




10.

Der Tag war gekommen, an dem die Abgesandten der fremden Niederlassung Herrn Büchner den angekündigten feierlichen Besuch machen wollten. Edith hatte Alles darauf vorbereitet. Der hübsche Speisesaal zu ebener Erde, das größte Gemach des Hauses, war überfüllt mit Blumen und Ehrenkränzen, die von den ehemaligen Freunden und Genossen Büchner’s als ein ferneres Zeichen der Theilnahme an dessen Geschick seit frühem Morgen eingetroffen waren. Der lange Holländer hatte es sich ruhig gefallen lassen, daß man ihm statt des gewöhnlichen bequemen Hausanzuges seine besten Kleider hingelegt, und er hatte dieselben, ohne eine Bemerkung zu machen, angezogen. – Mit dem Glockenschlage zwölf erschienen die Abgeordneten in schwarzen Fräcken, mit weißen Binden und den sonst nur bei Hochzeiten und Leichenbegängnissen gebräuchlichen hohen Hüten. An ihrer Spitze ging Francis Morrisson, der unter dem Arm ein großes Portefeuille aus rothem Leder trug. Sie stellten sich in feierlicher Ordnung an dem einen Ende des Saales auf und beschieden sodann den chinesischen Diener, der sie mit stummer Verwunderung beobachtet hatte, Herrn und Frau Büchner zu bedeuten, daß man sie erwarte. Gleich darauf öffnete sich die Thür, und Büchner, von seiner im Weiß gekleideten Frau gefolgt, trat in das Zimmer. Er blieb einen Augenblick an der Schwelle stehen, verneigte sich tief und sagte leise, doch so, daß Alle es verstehen konnten:

„Ich danke Ihnen, meine Herren für die große Ehre, die Sie mir erweisen.“

Darauf näherte er sich der Gruppe der Abgesandten und reichte einem Jeden, Rawlston mit inbegriffen, die Hand, die sie Alle herzlich drückten und schüttelten. Sodann gesellte er sich wieder zu seiner Frau, die in der Mitte des Zimmers stehen geblieben war und dem Auftritt mit einem Gemisch von Rührung, Freude und Stolz beigewohnt hatte. Und nun trat Herr

[536]

Huldigung Karl’s V. in Gent.
Nach dem Oelgemälde von Alb. de Vriendt.

[537] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [538] Francis Morrisson mit dem großen rothen Portefeuille hervor. Er öffnete dasselbe, – und man sah, daß es, gleich einem Brautgeschenk, mit blendend weißem Atlas gefüttert war, – entfaltete einen beschriebenen Bogen, der darin lag, räusperte sich und begann mit lauter, fester Stimme eine Adresse an Herrn Georg Büchner zu lesen. In wohltönenden, sorgfältig gewählten Ausdrücken war darin gesagt, daß Büchner von einem großen Unglück heimgesucht worden sei, daß er dasselbe mit männlichem Muth, ohne ein Wort der Klage ertragen und in seiner Gattin, einem Vorbilde aller edlen Frauen, eine muthige Gefährtin gefunden, die in unwandelbarer Treue an seiner Seite gestanden habe; der gütigen Vorsehung sei es zu danken, daß das Unglück, unter dem Büchner Unverdientes erduldet, sich nunmehr von ihm abgewandt habe. Deß müsse sich jeder Gute freuen, deß freue sich die gesammte Kolonie, und als ein Ausdruck dieser herzlichen Theilnahme überreiche sie Herrn Büchner hiermit eine Ehrengabe, die er zu empfangen gebeten werde, „für sich und die Seinen als ein dauerndes Zeichen der Liebe und Achtung seiner Mitbürger“.

Frau Edith rannen die Thränen – Thränen des Glücks, über die Wangen, die ganze Versammlung – und es befanden sich darunter einige recht rauhe Männer – war sichtlich ergriffen. Und Büchner? Er lauschte der Rede starr und stumm, aber er verstand die Worte nicht. Er begriff nur, daß man ihm Wohlwollen bezeigte, und er empfand, daß er sich dessen nicht mehr freuen konnte. Unwiderstehlich wie die Fluth drang der Jammer über sein Elend auf ihn ein und bemächtigte sich seines ganzen Wesens. Die letzten Jahre der Einsamkeit zogen vor seinem Geiste vorüber. Er sah sich verachtet, ausgestoßen von der Gesellschaft, des Diebstahls verdächtig, ein Trinker; er sah sein düsteres, kaltes Heim, das selbst die lichte Erscheinung Edith’s nicht zu erleuchten und zu erwärmen vermocht hatte; er sah, wie sie an seiner Seite freudenlos dahinwelkte, und er sah den Urheber all seines Elends, Prati, den ängstlichen Freund – und er zürnte ihm nicht. Sein Glück war dahin, das, was man ihm jetzt bot, machte es nicht wieder erstehen. Sie kamen zu spät mit ihren Glückwünschen und mit ihrem Troste. Was kümmerte ihn jetzt noch Anerkennung? Er hatte abgerechnet – abgerechnet mit Allem. Er war fertig mit dem Glück, mit der Hoffnung und mit dem Leben!

Morrisson hatte geendet und legte das geschlossene Portefeuille auf den Tisch. – Büchner wollte sprechen, danken. Die Stimme versagte ihm. Wie ein Greis bewegte er den Kopf leise hin und her, und einem gänzlich Hilflosen gleich erhob er zitternd beide Hände. Ein rauher Laut – ein Seufzer, ein Stöhnen – entrang sich seiner Brust. Noch einmal richtete er einen trostlosen Blick auf Alle, die gekommen waren, ihn zu erfreuen, darauf wandte er sich langsam ab und schritt der Thür zu. Dort blieb er einige Sekunden stehen, seine Lippen bewegten sich, aber man vernahm nicht, was er sprach – und dann war er gegangen.

Edith eilte ihm nach, nicht, ohne einem jeden der Anwesenden die Hand gedrückt zu haben. „Die Freude hat ihn überwältigt,“ wiederholte sie dabei verwirrt. – „Sehr erklärlich, sehr natürlich,“ erwiederten die Gäste, „er ist nicht mehr an Freude gewöhnt. Grüßen Sie ihn herzlich! Wir hoffen, Sie und ihn bald wiederzusehen.“

Sie entfernten sich höchlichst befriedigt mit der Art, wie sie ihren Auftrag ausgeführt hatten, und mit dem tiefen Eindruck, den dies auf den langen Holländer gemacht zu haben schien. Sie wußten plötzlich Alle, daß er seit Jahr und Tag das Trinken aufgegeben hatte:

„Wie die kleine Frau an ihm hängt – er muß ein edler Mann sein – eine Seele von Mensch – nun wird er bald wieder der Alte sein – ich freue mich schon darauf, ihn im Klub und auf der Kegelbahn zu sehen. – Es müßte ihm dort ein feierlicher Empfang bereitet werden.“ – Dieser Vorschlag fand begeisterte Zustimmung: ein silberner Pokal sollte ausgeschoben und es dabei so eingerichtet werden, daß Büchner ihn gewinnen müsse. Diese Frage beschäftigte die Mehrzahl der Abgesandten auf dem Heimwege.

Ich befand mich während der ganzen Zeit in Shanghai und hatte Büchner oftmals gesehen. Er fühlte sich zu mir hingezogen – das kann ich mir nachsagen, ohne mich zu rühmen; denn wenn ich einmal einen Tag hatte vorübergehen lassen, ohne bei ihm vorzusprechen, so besuchte er mich an Bord der „Aurora Belisle“, während er sonst doch nicht gern zu irgend Jemand ging. Ich glaube deßhalb auch, daß ich seinem Herzen näher stand als seine alten Bekannten in Shanghai. – Weßhalb? – Vielleicht weil ich ihm von Anfang an vertrauensvoll entgegengetreten war, sodann, weil ihm die schöne Reise, die wir von Yokohama nach Shanghai zusammen gemacht hatten, in guter Erinnerung geblieben sein mochte, und endlich – Sie dürfen dies nicht für eine Eitelkeit halten – weil ihm das ruhige Wesen des alten Seemanns vielleicht besser gefiel als die laute Zutraulichkeit der Leute auf dem Lande. Denn ich bin schweigsam – wenn ich nicht spreche. Sie verstehen, was ich sagen will: ich kann lange Geschichten erzählen und thue es ganz gern, aber wenn ich nichts zu sagen habe, so verhalte ich mich ruhig. Ich störe nicht leicht Jemand durch mein Sprechen. Büchner fühlte sich bei mir willkommen und unbeobachtet. Manchmal kam er an Bord und sagte: „Guten Tag!“ und ging dann nach hinten, wo er sich niederlegte, mit dem Kopfe auf die Schiffswand, um den Wussong vorüberfließen zu sehen. Er hatte eine eigenthümliche Zuneigung zu dem Strome gefaßt. – Nach einer Stunde sagte er: „Auf Wiedersehen!“ Und die vier Worte waren Alles, was ich während seines Besuches von ihm gehört hatte. – Ein anderes Mal war er gesprächiger. Das heißt nach seiner Art: hier und da einige Worte, die ich mir dann am Abend, wenn ich auf dem Deck spazieren ging, zusammenreimen mußte, um sie zu verstehen. Das Auffallendste an ihm in der letzten Zeit war sein ewiges Nachdenken und Grübeln, und ich fand heraus, daß seine Gedanken sich unausgesetzt mit seiner Frau, seinem verstorbenen Freunde und auch mit Francis Morrisson beschäftigten. Seine Frau beklagte er: sie führe an seiner Seite ein freudenloses Dasein, und das könne nie besser werden, so lange er lebe. Morrisson nannte er häufig „den liebenswürdigen Herrn Morrisson“, aber es klang nicht freundlich in seinem Munde, und das fiel mir auf; denn es war nicht seine Art, sich über Andere unfreundlich oder spöttisch zu äußern; von Prati sprach er nie anders, als von seinem Freunde: „Er war für Andere ein schlechter Mensch, aber für mich war er gut,“ sagte er. „Alle dürfen ihn verachten – auch Edith – aber ich kann es nicht und ich will es nicht!“ Die letzten Worte: „Ich will es nicht“ wiederholte er mehrere Male mit besonderem Nachdruck, gleichsam als weise er eine an ihn gerichtete Zumuthung zurück. Ich habe mir gedacht, daß über diesen Punkt zwischen ihm und seiner Frau eine Meinungsverschiedenheit bestand, die gelegentlich zu unerfreulichem Wortwechsel führen mochte.

Am Tage meiner Abreise von Shanghai, eine Woche etwa, nachdem Büchner die Ehrengabe der Kolonie überbracht worden war, kam er in der Dämmerung an Bord. Ich hatte mich bereits von ihm und seiner Frau verabschiedet; aber es freute mich, ihn noch einmal zu sehen, und ich hieß ihn an der Treppe willkommen.

„Weßhalb haben Sie keinen Sampan (chinesisches Boot) genommen?“ fragte ich. „Die Ebbe läuft heute stark. Ihr ‚Outrigger‘ ist in solchem Wasser gefährlich.“

„Nein, das kennt mich,“ antwortete er.

Er schwang sich an Bord, nachdem er sein Fahrzeug an der Treppe befestigt hatte.

„Ich wollte Ihnen noch einmal Lebewohl sagen, Kapitän.“ Er blickte nach dem grauen Novemberhimmel. „Sie werden Wind bekommen,“ fuhr er fort, und dann, auf den Wussong deutend, der zischend und gurgelnd an der Schiffswand vorüberzog. „Wie er singt und ruft!“

Nachdem er einige Minuten gleichgültig die Vorbereitungen zur Abreise, die an Bord getroffen wurden, beobachtet hatte, zog er sich die schwere Jacke aus, mit der er gekommen mar, und legte sie nach Matrosenart sorgfältig gefaltet in ein kleines Packet zusammen.

„Was machen Sie?“ fragte ich.

„Ich mache es mir bequem. Ich will noch eine Spazierfahrt unternehmen und will in meinen Bewegungen nicht beengt sein.“

Er schwenkte die langen Arme hin und her, als versuche er, ob sie auch gut in den Gelenken arbeiteten.

„Sie würden besser thun, nach Hause zu fahren,“ sagte ich; „in einer Stunde haben wir dunkle Nacht.“

„In einer Stunde bin ich zu Hause,“ antwortete er leise und nachdenklich. – Er zauderte noch einige Sekunden, endlich sagte er: „Es muß geschieden sein. Also noch einmal, leben Sie wohl, Kapitän, [539] und bewahren Sie mir ein gutes Andenken!“ Er stieg behende die Treppe hinab, nahm mit Sicherheit in dem schwankenden Fahrzeuge Platz, löste das Tau und stieß ab. Ein einziger Ruderschlag brachte ihn hinter das Schiff. Ich sah ihm nach. Sein Gesicht war mir zugewandt, aber er blickte nicht wieder auf. Es war ein Antlitz so starr und kalt wie das eines Todten. – Er spielte anfänglich mehr mit den Rudern, als daß er arbeitete, und bog langsam nach dem entgegengesetzten Ufer ab. – Herr Boswell, der Steuermann, hatte sich zu mir gesellt.

„Herr Büchner sollte sich mit dem kleinen Ding nicht zu breit vor den Strom legen,“ sagte er.

Es war, als ob der lange Holländer es vernommen hätte, denn in demselben Augenblick schlug er mit dem einen Ruder kräftig ein; das Boot machte eine viertel Wendung und lag gerade mit der vollen Strömung. Und nun begann Büchner wirklich zu arbeiten. Wie ein großes Pendel schwang der lange Körper vor- und rückwärts. Ich erkannte an der regelmäßigen Geschwindigkeit und dem großen Umfang der Bewegungen, daß Büchner sich, weit ausgreifend, mit der ganzen Kraft seines schweren Körpers auf die Riemen legte.

„Wenn Herr Büchner noch zehn Minuten so weiter fährt, so gebraucht er eine Stunde, um zurückzukommen,“ bemerkte der Steuermann. Er setzte das Glas, das er in der Hand hielt, ans Auge und beobachtete den Davoneilenden etwa eine halbe Minute lang, dann reichte er mir das Instrument, ohne ein Wort zu sagen.

Büchner war bereits über die Sutschow-Creek hinaus und näherte sich dem Ausgang des Hafens.

„Mein Boot,“ rief ich, „und die vier besten Männer!“

Jedermann verstand, was es galt. Eine Minute später hielt ich das Steuerruder der Gig: „Nun Leute! Euer Bestes!“

Alle hatten sie den langen Holländer lieb gewonnen, wennschon der stille Passagier kaum je mit einem von ihnen gesprochen hatte. Wir flogen durch die Bai. Das kleine Fahrzeug erbebte bei jedem Ruderschlag. Von den Schiffen aus, an denen wir vorbeifuhren, blickte man uns nach. Man meinte wohl, wir liefen ein Rennen gegen Zeit. Aber so hatten meine Leute noch in keiner Regatta gearbeitet. – Jetzt waren wir an Sutschow-Creek vorüber, In weiter Entfernung sah ich den „Outrigger“, und durch das Glas konnte ich erkennen, daß der lange Holländer noch immer mit voller Kraft ruderte. Der eine und der andere meiner Leute versuchte, sich nach ihm umzudrehen – aber die schwere, schnelle Arbeit gestattete es nicht.

„Nun, Kapitän?“ fragte der Mann am Schlagruder.

„Vorwärts, Männer! Ich sehe ihn.“

Und die Schwingungen der Leute über den Riemen wurden noch weiter und schneller. Es war ein kalter Abend – aber der Schweiß rann ihnen von den Stirnen.

Die Entfernung zwischen uns und dem „Outrigger“ verringerte sich. Ich zog ein Tuch aus der Tasche und stand auf und winkte damit. Es kam mir vor, als ob Büchner jetzt langsamer führe.

Ich sah durch das Glas. – Richtig! Er hatte die Riemen gehoben und ließ sich vom Strome treiben.

Ich gab das Signal. „Eins, zwei, drei: Hurrah!“ und noch einmal: „Eins, zwei, drei: Hurrah!“ riefe wir Fünf wie aus einer Kehle.

Der Wind trug den Schall zu dem Flüchtigen. Aber der hatte die Ruder wieder ergriffen, und sein Fahrzeug flog vor uns dahin. – Die Jagd hatte schon über eine halbe Stunde gedauert. – „Vorwärts, Leute! Muth!“ – Sie keuchten schwer, aber arbeiteten tapfer weiter. Die Nacht brach schnell herein. – Kaum konnte ich das Boot vor mir noch auf dem grauen Wasser unterscheiden. – „Was ist das?“ – Ich suchte es mit dem Glase – da schwamm es – leer! Nach wenigen Minuten lagen wir daneben.

Die Leute beugten die Köpfe bis dicht über das Wasser und sahen scharf aus nach allen Richtungen. Nirgends eine Spur vom langen Holländer. Im Boote fanden wir seinen Hut und die sorgfältig zusammengelegte Jacke. Wir suchten das Wasser noch eine halbe Stunde lang ab. Da war es dunkle Nacht geworden, und wir mußten die Rückfahrt antreten. Bald darauf ging der Mond auf, und es wurde wieder heller. Auf halbem Wege, den Strom hinauf, kam uns eine dunkle Masse entgegengeschwommen: die „Aurora Belisle“. Boswell hatte schon vom Deck aus gesehen, daß wir fünf Mann an Bord des Gig waren; und als auch der leere „Outrigger“ aufgezogen wurde, da brauchte ich ihm nicht erst zu sagen, was vorgefallen war.

Am nächsten Morgen begegneten wir, noch im Fluß, einer Bark, die nach Shanghai ging. Der gab ich einen Brief für Frau Onslow mit. An Frau Edith zu schreiben hatte ich nicht den Muth.

Wir bekamen schlechtes Wetter und machten eine lange Reise bis Hongkong. Bei meinem dortigen Agenten fand ich von Frau Onslow einen Brief, der mir von dem Jammer ihrer Freundin erzählte. Die Leiche Büchner’s war nicht gefunden worden. Sein Freund, der Wussong, hatte sie hinausgetragen in das graue Meer.

Ich kehrte damals nicht nach Shanghai zurück, da ich Fracht für London bekam und im December nach dort absegelte. Ich war jedoch mit Frau Onslow in Verbindung geblieben und erfuhr durch diese im Laufe der Zeit, Edith habe ein ganzes Jahr in vollständiger Zurückgezogenheit verbracht, den Verstorbenen beweinend, ihrem Schmerze allein lebend, ohne Trost zu suchen, ja zunächst ohne Trost empfangen zu wollen. Aber der friedliche Bote hatte nicht allzu lange vergeblich an das junge Herz geklopft. Ungefähr zwei Jahre, nachdem ich Shanghai verlassen hatte, schrieb mir Frau Onslow, Edith habe endlich dem langen, treuen Werben Francis Morrisson’s nachgegeben und sich mit diesem vermählt. „Jedermann,“ so schloß der Brief, „wünscht ihr von Herzen, sie möge an seiner Seite das Glück finden, das sie durch ihre treue Liebe für unsern armen verstorbenen Freund, nach dem schweren Trübsal, das sie erduldet, so reichlich verdient hat. Aber sie sieht noch nicht glücklich aus, wenn sie auch wieder ruhig und freundlich geworden ist und von ihrer Menschenscheu geheilt erscheint. Sie würden in der stillen Frau mit den ernsten Augen die lachende Edith Rawlston kaum wiedererkennen. – Und wissen Sie, Kapitän, was sie am meisten zu Francis Morrisson hingezogen hat? – Daß er Georg’s Freund im Unglück war, daß er stets an seine Unschuld glaubte, daß er den Armen in seinem Elend bemitleidete und ihm hilfreich zur Seite stand. Das hat ihn der guten kleinen Frau theuer gemacht; das hat sie ihm nie vergessen; das allein war es, was ihm zuerst die Thüren ihres Hauses wieder öffnete, die, nach Büchner’s Tode, außer für ihren Bruder und für mich, ein Jahr lang Jedermann verschlossen blieben. – Als ich erkannte, wie die Sachen lagen, daß Francis Morrisson Edith liebte, daß es der Zweck seines Lebens sein würde, sie glücklich zu machen, da habe ich gethan, was in meinen Kräften stand, um die Trauernde dem neuen Werben zuzuneigen. Es ist mir endlich gelungen – und ich glaube damit ein gutes Werk gethan zu haben.“

Der nächste Sommer brachte mich wieder nach Shanghai. Aber meine Freunde Morrisson und Onslow waren vor der Hitze nach Chefoo im Norden entflohen, wohin ich ihnen nicht folgen konnte.

Eines Tages machte ich dem Kirchhof meinen Besuch. Ich thue dies jedesmal, wenn ich nach Shanghai komme. Früher kannte ich dort Niemand, heute ruht dort so Mancher, den ich im Leben lieb gehabt habe. Ich suchte nicht nach Büchner’s letzter Ruhestätte, denn ich wußte, ich würde sie nicht finden können. Aber als ich durch die stillen Reihen schritt, fiel mein Blick auf ein mit frischen Blumen bedecktes Grab; darauf stand ein Kreuz aus schwarzem Marmor. – Der Stein trug ein Datum – aber keinen Namen!

Ich blieb sinnend stehen. – Wie kam das Grab eines Namenlosen zu solch’ liebevollem Blumenschmuck? Da erblickte ich den Todtengräber und winkte ihn herbei.

„Wer ruht in diesem Grabe?“ fragte ich.

„Ein Fremder, ein Italiener, so hat man mir gesagt.“

„Und wer sorgt für das Grab?“

„Frau Francis Morrisson. Augenblicklich bin ich damit beauftragt, da sie verreist ist. Der Fremde hier soll eines Herrn Büchner, des ersten Mannes von Frau Morrisson, treuer Freund gewesen sein; aber Herr Büchner hat auf diesem Friedhof keine Stätte, und so kommt die Frau und betet an dem Grabe des Fremden, als wie an dem ihres verstorbenen Mannes. Eine treue Frau – und eine mildthätige Frau. – Gott segne sie!“

Dazu sagte ich: „Ja und Amen!“




[540]
Kleine Bilder aus der Gegenwart.
Das fescheste Zeugl.

Ja, das ist noch eine Wiener Specialität, eine der letzten, die es giebt: der „Fiaker“, unter welcher Benennung man das Gefährte sowie dessen Lenker versteht, diese zwei untrennbaren Begriffe, die zusammen gewachsen sind wie Pferd und Mensch im Centauren! Der Wiener Fiaker hat eine hohe Fahrtaxe, und er besitzt eine bewundernswerthe Fertigkeit, sie zu überschreiten. Ueber den behördlich festgestellten Tarif setzt er sich eben so kühn hinweg wie über das Verbot des Schnellfahrens. Er eilt wie der Sturmwind über das Straßenpflaster dahin, und wenn er am Ziele angelangt ist, rechnet er auf die Großmuth Derjenigen, die er so rasch befördert hat. Aber damit allein ist sein Wesen nicht erschöpft. Der Wiener Fiaker fühlt sich als ein wichtiges gesellschaftliches Element. Er weiß, daß Jemand, der zur eleganten Welt gehören will, seiner Mithilfe nicht entrathen kann. Selbst wer Equipage hält, muß sich zuweilen in einem „feschen Zeugl“ sehen lassen; sonst trifft ihn aus dem Munde maßgebender Zeitgenossen das niederschmetternde Urtheil, nicht „fesch“ zu sein. Und es ist, nebenbei bemerkt, ein Vergnügen, im Fiaker durch die Straßen zu fliegen; sogar der Kaiser und die Erzherzoge bereiten sich dasselbe, so oft sie können, und es giebt bestimmte Gelegenheiten, bei denen ein Fiaker – nach den gestrengen Satzungen einer exklusiven Lebewelt – für „nobler“ gilt als die glänzendste Karrosse mit stolzem Wappen, und „nobel“ sein, das ist ja einer der Träume jedes echten Wieners. Weil der Fiaker weiß, welches internationalen Rufes er sich erfreut, fällt es ihm nicht ein, die Rolle eines demüthigen, bescheidenen Dieners des Publikums zu spielen. Mit starkem Selbstbewußtsein, herausfordernd um sich blickend, sitzt er auf dem Kutschbock, und zwischen ihm und seinen ständigen Kunden – seinen „Kavalieren“, wie er sich ausdrückt – bildet sich eine Art von freundschaftlichem Verhältnisse heraus. Er sieht ein, daß er ohne den „Kavalier“ nicht bestehen kann, aber er macht auch kein Hehl aus der Ueberzeugung, daß der „Kavalier“ ohne ihn – kein „Kavalier“ wäre. Der „fesche“ Fiaker und der „fesche“ Fahrgast fraternisiren mit einander. Wenn letzterer mit Vorliebe den Vorträgen der sogenannten „Volkssänger“ und den Produktionen vorortlicher Musiker lauscht, so begnügt der Fiaker sich nicht damit, diesen Kunstgattungen und ihren Vertretern hohe Verehrung zu bekunden, sondern er tritt gern auch als ausübender Künstler auf. Eine Reihe von Fiakern, der „Bratfisch“, der „Baron-Schau“, der „Xandl“ etc. (durchwegs keck erfundene Spitznamen) thun sich als Jodler, Kunstpfeifer, Koupletsänger u. dergl. m. hervor, und es ist nichts Seltenes, daß ein Fiaker Jemanden zu Volkssängern führt, im Laufe des Abends aber selbst das Podium betritt, unter jauchzendem Beifalle sich hören läßt, in später Nachtstunde dann wieder zu Peitsche und Leitseil greift und ruhig sein Gewerbe betreibt: ein neuer Cincinnatus, der zum Pfluge zurückkehrt, nachdem er die höchsten Ehren genossen hat.

Das fescheste Zeugl in Wien.0 Originalzeichnung von W. Gause.

Das „Fiakerlied“, dessen Popularität jeder Beschreibung spottet, feiert den Wiener Zweispänner mit jener Mischung von Lustigkeit, Eigenlob und Sentimentalität, welche ein Ganzes von so ausgesprochener Lokalfarbe bildet. Man singt in allen Gasthäusern den Text, alle Leierkästen spielen die Melodie, und am liebsten hören die Wiener es vom Fiaker selbst vortragen, und besonderer Jubel bricht los, wenn auf das „Fiakerlied“ das „Komfortabellied“ folgt, eine satirische „Dichtung“, in welcher der billigere und allerdings weniger elegante Einspänner verspottet wird – zum Gaudium der „noblen Leute“, die an den Fiaker gewöhnt sind, wie der „nicht noblen“, denen sogar der „Komfortabel“ zu kostspielig ist. Nicht nur die Dialektworte, sondern auch das Wesen des „Fiakerliedes“ muß dem Nichtwiener wie ein Räthsel erscheinen, wenn er miterlebt, wie schon der Beginn des wunderlichen Sanges zündend wirkt:

„I hab’ zwa harbe Rapperln,
Sein eing’spannt in meinen Wag’n,
Mein Zeugerl müssen’s kennen,
’s is ’s Schönste auf’n Grab’n;
Denn i bin a Fiaker,
Kein Zweiter is net da,
Komm’ i mit meine Schießer,
So schreit gleich All’s: Halloh!’“

Unter den feschen „Zeugln“, die Wien besitzt, hat unser Zeichner das „fescheste“ ausgewählt: dasjenige, das die Nummer 32 trägt. Man findet den Rosselenker hier zweimal: mit seinem Fahrzeug und als Portrait. So sieht er wirklich aus! Ein Sportsman in Kleidung und Haltung, eine Kopie „seines“ Barons, das heißt seines wichtigsten Klienten. Er fährt eben an der Tribüne vor, auf welcher das Publikum des Trabwettfahrens im Prater versammelt ist, Damen und Herren erwartungsvoll wie die Spanier vor dem Stiergefecht. Die Herren, die ihn prüfend umstehen, sind Preisrichter, deren fachmännischem Auge er ruhig Stand hält. Die Scene ist historisch. Der „Zweiunddreißiger“, der fesche Karl, hat an dem letzten Trabwettfahren nicht theilnehmen dürfen, weil im entscheidenden Augenblicke sein Riemzeug einen Schaden erlitt. Aber einen Ehrenpreis bekam er doch; denn sein „Zeugl“ erschien zu tadellos, als daß er leer hätte ausgehen dürfen. Der „Zweiunddreißiger“, Karl Hinterberger heißt er in seinen Dokumenten, ist ein Hätschelkind der „Kavaliere“ – und in diesem Falle verdienen letztere thatsächlich diesen Titel; denn in der Regel steht das „fescheste Zeugl“ nur dem Geburtsadel zur Verfügung, und wenn dieser gewohnheitsmäßig den Karl duzt, so soll in vertraulichen Stunden der Karl hinwieder manchen Grafen und Fürsten mit dem brüderlichen „Du“ erfreut haben, ohne damit Anstoß oder Aerger zu erregen. Das „fescheste Zeugl“ wird in einer Kulturgeschichte Wiens nicht unerwähnt bleiben dürfen. Eine Menge Wiener Eigenthümlichkeiten ist vor dem Sturmwinde einer neuen Zeit zerstoben; der Fiaker allein hat sich erhalten als ein Wahrzeichen, dem keine Stadt etwas Aehnliches zur Seite stellen kann, und der „Zweiunddreißiger“ ist gar ein auserwählter! o–.     

[541]

Entdeckungsfahrten des deutschen Dampfers „Samoa.“

VI. Längs der vorher ungekannten Nordostküste. b. Von Berlinhafen bis Humboldt-Bai.
Für die „Gartenlaube“ mitgetheilt von Dr. O. Finsch (Bremen).

Im Mars der „Samoa“.

Wir dampften dem Endziel unserer Reise entgegen. Berlinhafen lag hinter uns. Das Torricelligebirge verschwand nach und nach oder rückte weiter ins Innere, und die Küste bestand nunmehr aus weitem Vorland und Hügeln, auf denen ein dichter Wald sich erhob. Kokoshaine und Menschen, wie stets fast unzertrennlich verbunden, wurden spärlicher und hörten allmählich ganz auf. Wir konnten also wenigstens eine Nacht unbehelligt von den Eingeborenen zu Anker gehen und freuten uns dieser Ruhe.

Weiter westwärts belebte sich die Küste, und mit spannender Erwartung näherten wir uns einer Buchtung, welche auf den Karten als die „Attak-Bai“ verzeichnet ist. Wir hatten kurz vorher in Massilia, einem Küstendorfe, phantastisch ausgerüstete Krieger gesehen (vgl. untenstehende Abbildung). Sie trugen als Kriegsschmuck eine Art herzförmige Schilde aus Rohr und gespaltenen Eberhauern auf der Brust; ihre Nasen verzierten runde längs durchschliffene Schweinehauer und an ihrem linken Arme staken in einem Ringe aus der Trochusmuschel Dolche aus dem Schenkelknochen des Casuars. Auf ähnliche martialische Erscheinungen in der Attak-Bai konnten wir im Voraus gefaßt sein. Kriegerisch genug lautet ja ihr Name. Sie erhielt ihn von d’Urville, der sie zuerst 1827 sichtete. Ein Anzahl stark bewaffneter Canus mit Eingeborenen ruderte nämlich der „Astrolabe“ zum Empfange entgegen und schoß einen Pfeil ab, worauf das „Kriegsschiff“ schleunigst Segel beisetzte und seewärts verschwand. Uns wurde derselbe Willkomm zu Theil; denn noch ehe der Anker fiel, hatten wir eine ganze Flotille, an 40 Canus mit schreienden und lärmenden Eingeborenen, längsseit. Wie vor 50 Jahren führten sie unzählbare Bündel von Pfeil und Bogen mit sich, um sie zunächst zum Kauf anzubieten. Ich hatte schon genug von dem Zeug auf der bisherigen Reise gesichert und freute mich, als die Leute Besseres, sogar ganz neue Dinge hervorbrachten. So Kürasse, in zierlicher Korbflechtarbeit, aus gespaltenem Rottang (vergl.Illustration S. 542), eine Art Wehr, die bisher von d’Albertis nur im Inneren des Flyflußgebietes nachgewiesen wurde. Außerdem trugen sie große, viereckige Holzschilde mit kunstvoller Schnitzarbeit in schwungvollen Mustern und den vorher erwähnten Brustschmuck. Die Leute schienen von sehr kräftigem Körperbau und stattliche, große Figuren. Der größte dieser Kämpen, den es mir unter vielen Mühen zu messen gelang – denn er zitterte wie Espenlaub und mochte denken, es gehe ihm an den Kragen – maß 1 Meter 70 Centimeter. Sie waren aber Radaumacher ersten Ranges, die bis spät in den Abend hinein mit uns handeln und feilschen wollten und erst durch den schrillen Pfiff der Dampfmaschine verscheucht werden mußten. So lag nun die „Samoa“ friedlich als „erstes Schiff“ in der Attak-Bai, und ich durfte bei einer Pfeife in aller Muße die Erlebnisse des Tages niederschreiben. Umtaufen konnte ich die Bucht nicht mehr; sie wird nach wie vor den kriegerischen Namen führen; aber zur Ehrenrettung der rohrgepanzerten Eingeborenen gab ich wenigstens dem östlichen Kap den friedlichen Namen „Concordia“.

Gleich hinter dem Angriffshafen färbte sich das Seewasser wiederum grün, was die Nähe einer Flußmündung andeutete. Wir erreichten sie bald, und ich nannte den Fluß „Sechstroh“ nach unserem ersten Officier.

Auch hier zeigten sich Eingeborene am Ufer, die durch Geschrei, Winken und Schwenken grüner Zweige unsere Aufmerksamkeit zu erregen suchten und uns an Land einluden. Aber wir sahen, daß bei der herrschenden Brandung und den Untiefen ein Landen schwierig sein würde; denn viele Eingeborene wateten weit ins Wasser und kamen kaum brusttief hinein. Damit war nichts erreicht, und so bedienten sich einige Beherzte der primitivsten Fahrzeuge und kamen auf irgend einer größeren Baumwurzel oder ein paar zusammengebundenen Stück Bambu ankutschirt (vergl. Abbildung S. 543). Canus, reichlich bemannt und bewaffnet, folgten, und bald waren wir von schreienden und lärmenden Eingeborenen umringt.

Krieger aus Massilia.

Der Sechstroh, den bisher keine Karte verzeichnete, liegt kaum drei Seemeilen von der „holländischen“ Grenze, dem 141. Meridian, und so dampften wir lustig nach der etwa sieben Meilen entfernten Humboldt-Bai, um unseren westlichen Nachbarn einen Besuch abzustatten. Freilich warnten uns die Flußbewohner, aber, wie wir meinten, nur aus Konkurrenzneid, um den Eingeborenen der nahen Bai nichts zukommen zu lassen.

Humboldt-Bai, von d’Urville 1827 zuerst gesichtet und benannt, wurde 1858 von dem holländischen Kriegsdampfer „Etna“ das erste Mal besucht und aufgenommen. Seitdem sah sie sechs weitere Schiffe, alles große Kriegsdampfer, wie den „Challenger“ (1875), aber noch nie hatte ein so kleines unter Handelsflagge hier vorgesprochen; war doch auch die „Samoa“ das erste deutsche! Alle Berichte, holländische wie englische, sprechen sich sehr ungünstig über die Bewohner aus, die sich als sehr wüst, unverschämt und diebisch gezeigt hatten. Schon auf der „Etna“ war Allerlei gestohlen worden; ja man hatte selbst auf Officiere mit Pfeil und Bogen angelegt, und es gelang nur mit vieler Mühe, der feindseligen Haltung der Eingeborenen wegen, sich in den Dörfern Einlaß zu verschaffen. Wir durften uns daher auf Allerlei gefaßt machen; doch das russische „nitschewo“ (es macht nichts) war auch hier unsere Losung. Aber was war das? Hatte Pestilenz oder Krieg die Eingeborenen vernichtet? waren sie ausgewandert? An den Ufern der Bai war keine Spur von ihnen, nicht einmal Ruinen von Hütten oder dergleichen; die Bai war todt, ausgestorben! Wo blieben die großartigen Pfahlbauten, wie sie die „Etna“- und „Challenger“-Berichte schildern? Wir sollten sie bald kennen lernen; denn weit im Westen stieg plötzlich eine Rauchsäule auf, noch eine, mehrere, und aus der Oeffnung in jenem Winkel nahten sich Canus. Wir dampften ihnen entgegen; denn dort lag die geschützte Innenbai, in der sich die Dörfer befinden mußten. Mit einer Ungenirtheit, als verkehrten hier [542] täglich Dampfer, versuchten die Eingeborenen, noch als wir in Fahrt waren, an Bord zu klettern, und als der Anker fiel, umgab uns bereits eine große Anzahl Canus, die sich fortwährend vermehrte. Die Leute machten in der That keinen guten Eindruck, schon der völligen Nacktheit wegen, und überboten an Lärm und Zudringlichkeit alle bisher gesehenen. Aus dem Bericht der „Etna-Reise“ hatte ich einige Worte gelernt und konnte die Eingeborenen gleich in ihrer Sprache anreden. "Wapimeh", Freund, ging es hin und her, aber "szigo" (Eisen) blieb das Hauptwort im Munde der Eingeborenen. Auch Canus mit Weibern, die Bananen und Yams anboten, fehlten nicht, und unter ihnen gab es ganz hübsche Gestalten. Die Mädchen gingen wie die Männer total nackend; aber die Frauen hatten ein Stück Tapa sarongartig um die Hüften geschlungen, was ihnen sehr gut stand, besonders im Verein mit der gefälligen Haarfrisur: sie trugen dünne gedrehte Stränge, welche à la pony abgeschnitten und nicht selten roth gefärbt waren, an ihren Ohren hing meist eine Unzahl dünner Schildpattringe, sonst hatten sie wenig Schmuck. Aber seit der Ostspitze Neu-Guineas sahen wir hier zuerst Tätowirung wieder, und zwar in einer neuen, durchaus originellen Form, zu welcher bei manchen Weibern als besonders hochgeschätzte Verzierung noch mächtig aufgeworfene Ziernarben, in schwungvollen Schnörkeln auf Achsel und Schultern, hinzukamen.

Krieger im Rottang-Panzer von der Attak-Bai.

Da wir von unserem Ankerplatz kaum den Eingang der Binnenbai sehen konnten, beschlossen wir einen Ausflug in dieselbe und ließen das Whaleboot klar machen, sehr zum Schrecken unserer Miokoschwarzen, die, in bunte Uniformen gesteckt, äußerst respektvoll aussahen, aber nach Gewehren verlangten; denn sie fühlten sich unter so vielen ihrer schwarzen Brüder doch ziemlich ungemüthlich.

Die eigene Landessitte mochte ihnen kein gutes Prognostilon stellen; denn nur vier Weiße und eben so viel Schwarze wären gegenüber so vielen Eingeborenen in Neu-Britannien wohl eine große Verlockung gewesen, sie zu erschlagen und wenigstens die Schwarzen – aufzufressen. Dies mochte unseren braven „Neu-Pommern“, wie sie jetzt auf einmal officiell heißen sollen, in den Sinn kommen, daher die erklärliche Entmuthigung derselben. Aber „go on! pull! pull!“ (rudert, rudert) war die Aufmunterung, und wir gelangten glücklich in die Binnenbai. Sie hat mehrere kleine Buchten, und schon in der ersten sahen wir ein Pfahldorf, so merkwürdig und originell, wie ich es bisher nirgends in Neu-Guinea angetroffen. Ich kannte vollständig im Wasser auf Pfählen erbaute Dörfer zur Genüge von der Südküste Neu-Guineas, aber was waren jene elenden Hütten in Port Moresby, Hood-Bai etc. gegen diese stattlichen Häuser, oder wenigstens gegen die hervorragendsten derselben! Doch rudern wir nach Tobadi dem größten Pfahldorfe, von welchem wir einen Theil, denn das ganze Dorf zählt 32 Häuser, hier im Bilde kennen lernen (vergl. S. 545).

Frau und Mädchen von der Humboldt-Bai.

Das größte Gebäude ist links der sogenannte „Tempel“, von dem schon die „Etna-Reise“ eine Ansicht giebt, leider total falsch. Der allgemeine Eindruck desselben ist der eines achteckigen, unten auf niedrigen senkrechten Wänden ruhenden, nach oben spitz zulaufenden, pagodenartigen Gebäudes, von 50 bis 60 Fuß Höhe, aus Ried oder Gras. Dasselbe ist am unteren Rande mit Guirlanden aus ausgeblasenen Schildkröteneiern, in seinen vier Absätzen mit kunstvoll geschnitzten Querbalken, gleich Friesen, im Uebrigen mit großen Holzschnitzereien verziert, welche bunt bemalte Thiere (Fische, Eidechsen, Vögel) darstellen und ebenso wie die dazwischen angebrachten Palmenwedel weit vom Dache herausstecken. Die Spitze selbst ist offen und mit einer runden Scheibe bedeckt, aus der eine roh geschnitzte menschliche Figur, in sitzender Stellung, über dieser ein fliegender Vogel als äußerster Schmuck thront. Ein wahrhaft bewundernswerther Bau, nur mit Hilfe von Steinwerkzeugen errichtet und jedenfalls der großartigste der Steinzeitperiode! Wir bestiegen die bereits an einer Seite eingesunkene Plattform vor dem „Tempel“, einen ungeheueren Bau auf Pfählen von 50 bis 60 Fuß Länge, und gelangten über dieselbe ins Innere. Dies war den Holländern 1858 nur nach vielen Mühen möglich geworden, während man den Challenger-Forschern nicht einmal den Eintritt in ein Haus erlaubt hatte. Freilich fragten wir nicht erst lange, und hier und da Einen zur Seite schiebend, gelangten wir in das Heiligthum.

Es herrschte ziemliche Dunkelheit in demselben, so daß wir zunächst fast nichts sehen konnten. Nach und nach orientirte man sich und konnte die kunstvolle und geschickte Ineinanderfügung des wunderbaren Dachstuhles bewundern, dessen einzelne Theile nur an einander gebunden waren. Das Innere enthielt im Ganzen wenig. Eine Anzahl mit Sand gefüllte Feuerstellen, hölzerne [543] Kopfkissen, ein paar der großen, aus einem ausgehöhlten Baumstamm gefertigten Trommeln, wie sie allenthalben in Neu-Guinea vorkommen, und die „heiligen“ Flöten. So bezeichnet sie der Bericht der Etna-Reise! Ich versuchte sogleich auf einer zu blasen, welche Profanation wegen ihres Mißerfolges viel Heiterkeit bei den Eingeborenen erregte, die uns zum Wiedersehen einluden und als echte Enthaltsamkeitsfreunde mit Wasser bewirtheten. Daß dieses Gebäude nicht religiösen Zwecken dient, also kein „Tempel“ ist, kann meines Erachtens keinem Zweifel unterliegen. Vielmehr dient es als „Junggesellenhaus“ zum Aufenthalt der unverheiratheten jungen Männer, sowie für Versammlungen der Männer im Allgemeinen. Die Unzahl im Innern aufgehangener Schweineschädel waren die Souvenirs gehaltener Schmausereien und Festlichkeiten, bei denen auf der Plattform getanzt wird.

Ganz ähnlich dem „Tempel“ waren die großen Wohnhäuser, welche von mehreren Familien bewohnt werden und von denen Tobadi unter 32 Gebäulichkeiten im Ganzen nur 12 aufzuweisen hat. Wir fanden nirgends Anstand, in das Innere zu gelangen, das in Abtheilungen getrennt war und allerlei Hausrath, darunter wahre Magazine von Töpfen enthielt. Die Bewohner, zwar aufdringlich und keck, zeigten sich nicht unfreundlich, aber diebisch. Dem Kapitän Dallmann war gleich im ersten Hause das seidene Taschentuch eskamotirt worden; meine rothen Zeuglappen, die ich als neuguinesisches „Taschengeld“ für kleine Geschenke und Ankäufe bei mir trug, folgten nach, und als ich mit Zeichnen des Tempels beschäftigt war, versuchte mir ein Biedermann den Schuh auszuziehen. Wohl mehr aus Neugier; denn diese Humboldtianer waren ein wißbegieriges Volk, die Alles und Jedes an uns, von der Farbe der Haut bis zum Inhalt unserer Taschen kennen und, was ihnen gefiel, z. B. Fernrohr, Taschenuhr etc., haben wollten.

Es war Zeit, daß wir nach der „Samoa“ zurückkehrten; denn um sie lagen Canus in erschreckender Weise versammelt, und der erste Steuermann, mit zehn Leuten Alles in Allem, hatte vollauf zu thun, um das Deck klar zu halten. Der Dampfer glich einem Jahrmarkt zu Wasser; nicht weniger als 75 Canus, je zu vier bis acht Mann, lagen längsseit. Und diese Leute führten Unmassen von Pfeil und Bogen, fertig zum Gebrauch, mit sich, und Einzelne hatten bereits im Anlegen Probe geübt, waren aber durch ein kräftiges „Donnerslag!“ und ähnliche Kraftausdrücke in gutem Plattdeutsch abgeschreckt worden. Aber die Eingeborenen gewöhnten sich bald an dieses Idiom, wie sie bereits die Dampfpfeife kannten und es mußte zu anderen schuldlosen Hilfsmitteln gegriffen werden. Abblasen des heißen Wasserdampfes schaffte etwas Luft, aber nur für kurze Zeit; denn lachend kamen die Eingeborenen bald wieder. Dieser kleine Scherz erhöhte nur den Lärm, und wir hatten nicht Hände genug, um die Emporkletternden wieder über die Railing zurückzubefördern. Das ist ein gar anstrengendes Geschäft, und da wir hier doch nichts weiter zu thun hatten, strichen wir die Segel, das heißt machten Dampf auf und nahmen Abschied von der Humboldt-Bai.

Die „Samoa“ hatte eine Reise vollendet, welche zur Kenntniß der Nordostküste Neu-Guineas ohne Zweifel einen wesentlichen Beitrag lieferte. Außer drei netten, praktikablen Häfen und einem großen, schiffbaren Flusse hatten wir den Nachweis der sicheren Befahrung eines vorher nicht besuchten Küstenstriches von 250 Seemeilen Länge gegeben: Resultate, mit denen wir wohl zufrieden sein durften.

Auf Baumwurzeln.




Magdalena.

Von Arnold Kasten.
(Fortsetzung.)
9.

Graf Erich hatte sich nach dem Weggang seiner Frau wieder vor seinen Schreibtisch gesetzt. Nach der fürchterlichen Aufregung kam jetzt eine körperliche Müdigkeit über ihn, die ihm das Peinliche seiner Situation wie mit einem Schleier wohlthätig verhüllte. Aber dies dauerte nur kurze Zeit, und bald genug fühlte er seine entsetzliche Lage und besonders die von Felsing drohende Gefahr aufs Neue mit allen ihren Schrecken. In einer Stunde wollte seine Frau zurück sein und mit ihr kam dann auch wohl die Entscheidung, ob seine Ehre wenigstens gerettet war, oder ob er, um der Schande zu entgehen, sein Leben von sich werfen mußte; denn das stand unabänderlich fest bei ihm: er konnte und wollte nicht weiter leben beschimpft, entehrt, ausgestoßen aus der Gesellschaft! Es war ihm, als sollte er eine Stunde lang über einem Abgrund hängen, jeden Augenblick befürchtend, daß der dünne Zweig, um den sich krampfhaft seine Hände klammerten, reiße und er hinabstürze in die Nacht!

Wie schnell das Alles gekommen war! Er erinnerte sich, daß er vorgestern früh noch frei war von der furchtbaren Last, die ihn jetzt zu Boden drückte. Er war in Geldverlegenheit, mehr nicht; dieselbe hätte sich gehoben so oder so. Und um dieser Verlegenheit zu entgehen, that er wider seinen Willen eigentlich, sinnlos, den einen falschen Schritt, den er so gern wieder zurückgezogen hätte! Aber erbarmungslos unabänderlich ist das Geschehene. Mit dem einen unbedachten Schritt hatte er das schwere Verhängniß heraufbeschworen, dem er nun vielleicht erliegen mußte! – Zuweilen war es ihm, als habe er die folgenschwere That gar nicht gethan, als sei Alles nur ein Phantom, das ihn überallhin verfolge, still, körperlos, unfaßbar, aber auch unentrinnbar wie die Luft, die ihn umgab.

Warum hatte er nicht vor Unterzeichnung des unheilvollen Papiers den Doktor angehört? Alles wäre dann anders gekommen. Verhängnißvoller Zufall! Oder doch vielleicht nicht bloßer [544] Zufall? War es das Walten einer höheren Macht, welches sich hier kundgab? War es Sühne alter Schuld, was er erduldete? Hatte die Nemesis ihn ereilt? – Magdalena! Wie durch einen Nebel sah er die schattenhafte Gestalt der Armen wieder, die um ihn den Tod erlitten! Und ihr Kind, das sie ihm sterbend anvertraut – sein Sohn – wo war er? Wie Posaunenschall des jüngsten Gerichts dröhnte ihm jetzt die Frage in den Ohren – und er hatte keine Antwort darauf!

Er überhörte vollständig, daß die in den Vorsaal führende Thür sich nach mehrmaligem Klopfen öffnete und Richard Reiter ins Zimmer trat.

„Entschuldigen Sie, Herr Graf –“

„Ah, Sie, Herr Doktor,“ fuhr der Graf auf, „welch’ ein neues Unheil haben Sie mir mitzutheilen?“

„Kein Unheil! Im Gegentheil, Herr Graf,“ erwiederte Richard, „ich bringe gute Nachrichten. Mein Freund Emil Felsing, welcher von seinem Vater den Verlauf der Unterredung erfuhr, will Alles aufbieten, um eine Verständigung mit Ihnen herbeizuführen. Die Zusicherung, daß das fragliche Papier an Sie ausgeliefert werden solle, hat er bereits erhalten, und mehr noch: auch das Versprechen, daß der Konsul noch einmal bei Ihnen vorkommen und Ihnen die Ordnung Ihrer Geschäftsangelegenheiten anbieten werde.“

Der Graf schüttelte ungläubig den Kopf

„Seien Sie versichert, Herr Graf“ fuhr Richard fort, „daß mein Freund sich glücklich schätzt, Ihnen, den er hoch verehrt, einen Dienst erweisen zu können, und zweifeln Sie nicht, daß es ihm gelingen wird, er ist ein seltener, vortrefflicher Mensch von ganz ungewöhnlichem Charakter.“

Richard hatte Gründe zu diesem Ausspruch, denn die Unterredung der beiden jungen Männer hatte Emil’s liebste Hoffnungen zerstört und doch seine Hilfsbereitschaft nicht vermindert. Richard war nicht im Stande gewesen, ihn, nachdem Gabriele seine Braut geworden, mit falschen Vorsttiegelungen hinzuhalten, seiner geraden Natur war Ehrlichkeit in solchen Dingen Lebensbedürfniß. So hatte er ihm in bescheidenen Worten sein unbegreifliches Glück mitgetheilt und hinzugefügt: „Du verlangst wohl keine Betheuerung von mir, daß Alles in meiner Brust begraben geblieben wäre, wenn ich nur die entfernte Möglichkeit gesehen hätte, daß sie Dich lieben könne. Aber sie hatte bereits die schlechtere Wahl getroffen!“

Und Emil hatte ihm erbleichend die Hand gereicht und nach einigen Momenten des Stillschweigens geantwortet: „Ich gönne Dir Dein Glück, aber der Schlag trifft mich hart und ich werde Zeit brauchen, bis ich darüber hinaus bin. Inzwischen beunruhige Dich nicht über mich, es muß jetzt für ihren Vater gehandelt werden“ – und er hatte ihm das Resultat der Besprechung mit seinem Vater mitgeteilt.

Der Graf reichte dem Doktor, als dieser ihm das Nöthige aus einander gesetzt, dankbar, aber mit trübem Lächeln die Hand, er hatte den Glauben an eine günstige Wendung verloren.

In der Thür begegnete Richard der jungen Gräfin; sie warf dem sich Entfernenden einen glänzenden Blick nach und eilte dann zu ihrem Papa, der so auffallend blaß und niedergeschlagen in seiner Divan-Ecke saß und nicht einmal die gewohnte Cigarre rauchte.

„Bist Du unwohl, lieber Papa?“ begann sie, sich zärtlich an ihn schmiegend. „Was fehlt Dir denn?“

„Unwohl? Nein, mein Kind, ich befinde mich wohl,“ erwiederte der Graf.

„Gottlob! Ich dachte nur, weil Mama erst sagte, sie fahre mit Dir aus, und dann doch allein fuhr –“

„Ich konnte sie leider nicht begleiten“ – unterbrach der Graf seine Tochter – „dringende Geschäfte“. Es trat eine kleine Pause ein.

„Bist Du schlechter Laune, Papa?“ begann Gabriele aufs Neue mit ihrem freundlichsten Lächeln.

„Ich? Nein, mein Kind!“ erwiederte der Graf. „Warum fragst Du?“

„Weil ich gern etwas mit Dir besprechen möchte, was ich lieber verschieben würde, wenn –“

„Nein, nein. sprich nur!“

„Ich weiß nicht, Papa, ob es nicht klüger wäre, es dennoch zu verschieben?“ sagte sie mit einer gewissen Altklugheit.

Der Graf hatte eine leichte Anwandlung von Ungeduld. Aber er bezwang sich und erwiederte freundlich: „Was machst Du für Umstände, Gabriele! Sprich nur! Das muß ja etwas besonders Wichtiges sein?“

„Das ist es auch, lieber Papa! Aber bitte, setze Dich einen Augenblick! Wenn Du immer auf- und abgehst, kannst Du ja nicht recht aufmerken. So, hierher, Papachen!“ Sie zog ihn in einen Lehnstuhl, setzte sich neben ihn auf die Lehne desselben und fuhr in schmeichlerischem Tone fort: „Weißt Du, Papa, es kommt mir in letzter Zeit vor, als ob Mama mit dem Gedanken umgehe, mich – mich – zu verheirathen.“

Der Graf schaute erstaunt auf.

„Ja,“ fuhr Gabriele fort; „sie machte schon ein paar Mal Andeutungen und gestern fragte sie mich direkt, ob mir Graf Rattwitz gefallen würde. Ich habe gleich ‚Nein‘ gesagt, denn er gefällt mir ganz und gar nicht. Darauf meinte sie dann, sie wolle nicht in mich dringen, obwohl es Dein Wunsch wäre, mich bald standesgemäß verheirathet zu sehen.“

„Mein Wunsch?“ erwiederte Graf Erich zerstreut. „Nun ja, es würde mich freuen, gewiß, aber auch ich will keineswegs in Dich dringen, Du bist noch so jung, daß davon noch nicht die Rede zu sein braucht.“

Die Uhr zeigte ein Viertel vor sechs. Der Graf erhob sich, um durchs Fenster zu sehen. Aber die kleine Gräfin ließ sich nicht so leicht abschütteln. Sie folgte ihrem Vater durch das Zimmer. „Nicht? Ah, das ist lieb von Dir, Papachen, das ist lieb!“

Sie sprang bei diesen Worten an ihrem Vater empor und küßte ihn herzhaft. „O, wie froh bin ich, lieber Papa! Ich habe gar keine Lust, schon von Euch zu gehen, und wenn es einmal später sein soll, möchte ich nach meinem Herzen wählen können, nicht wahr, Papa?“

„Gezwungen sollst Du niemals werden,“ erwiederte der Graf ernst.

Gabriele flog ihm wieder an die Brust. „Mein lieber, guter, süßer, einziger Papa! Ich hab’ es ja gewußt. Siehst Du, Papachen, so wie Alice Teezek und Eugenie Wilding und die meisten meiner Freundinnen – so möchte ich mich nicht verheirathen, nein, niemals!“

„Wie so?“ frug der Graf. „Alice Teezek und Eugenie Wilding haben durchaus standesgemäße Partien gemacht.“

„Wohl, Papa!“ entgegnete Gabriele. „Aber das ist es ja eben: so standesgemäß wie sie möchte ich mich gerade nicht verheirathen.“

„Was sagst Du da, Gabriele?“ sagte der Graf erstaunt, „nicht standesgemäß?“

„Nein, lieber Papa, so nicht!“ sagte sein Töchterchen entschieden „Was haben denn Alice und Eugenie von ihren Männern? Den ganzen Tag sind sie in den Kasernen, auf der Reitbahn, auf der Jagd, des Abends im Theater und des Nachts im Klub. Ja, Papa, Eugenie hat es mir gestanden, daß ihr Mann oft erst des Morgens nach Hause kommt, wenn er die ganze Nacht mit Alicens Mann und andern Herren im Klub gespielt und oft die größten Summen verloren hat, so daß er dann den ganzen folgenden Tag Kopfweh hat und verdrießlich ist. Nur in Gesellschaft oder im Theater ist er bei ihr und liebenswürdig gegen sie, sonst gähnt und brummt er. Papa, ich glaube, daß er sie gar nicht liebt.“

Der Graf ging unruhig im Zimmer auf und ab. „Aber,“ sagte er endlich, „was geht denn das Alles uns an? Wie kommst Du nur auf solche Gedanken?“

„O Papa,“ erwiederte mit komischem Ernst die kleine Gräfin; „ich habe mir das Alles sehr reiflich überlegt und bin zu dem Entschlusse gekommen, daß ich niemals einen Mann heirathen werde, den ich nicht liebe, der mich nicht liebt; denn das, lieber Papa, ist doch die Hauptsache!“

Der Graf meinte Schritte zu hören. Er ging zu der nach dem Vorsaal führenden Thür und horchte.

„Aber Du hörst mich ja gar nicht, Papa!“ schmollte Gabriele.

Ein eintretender Diener meldete den Baron Breda.

„Wie ungeschickt! Der langweilige Mensch! Adieu, Papa, ich flüchte mich!“ rief halblaut Gabriele und eilte an dem im nächsten Augenblick eintretenden Baron vorüber zur Thür hinaus.

Auch dem Grafen kam dieser Besuch äußerst ungelegen.

„Entschuldigen Sie mein Eindringen. lieber Graf“ begann Breda. „Ich suchte eigentlich die Frau Gräfin – man sagte mir, sie sei ausgefahren, und ich hoffte von Ihnen zu erfahren, wann sie zurückkehren wird.“

„Meine Frau?“ frug der Graf.

„Ja, ich muß sie nothwendig einen Augenblick sprechen.“ Und auf einen fragenden Blick des Grafen fuhr Breda fort:

[545]

Das Pfahldorf Tobadi in der Humboldt-Bai.
Nach einer Skizze von Dr. O. Finsch gezeichnet von A. v. Roeßler.

[546] „Es handelt sich um die Patronage eines Wohlthätigkeits-Unternehmens, wo die Frau Gräfin ja noch nie gefehlt hat.“

„Ich bedaure, Ihnen keine Auskunft geben zu können,“ erwiederte Graf Erich, „die Sache läßt sich ja wohl bis morgen verschieben?“

Breda befand sich in einiger Verlegenheit. Er war gekommen, der Gräfin ohne Zeugen einen Brief ihres Sohnes Eugen zuzustellen, um dessen rasche Beförderung ohne Vorwissen seines Vaters der junge Mann ihn dringend ersucht hatte. Der Brief war in der That äußerst pressant. Eugen schrieb dem Baron, daß er Schulden halber seine Entlassung aus der Armee habe nehmen müssen und so schnell als möglich Berlin und Europa verlassen wolle. Man möge ihm unverzüglich die nöthigen Mittel an eine bestimmte Adresse schicken. Wie sollte Breda diesen Brief nun an die Gräfin gelangen lassen, ohne daß der Graf es merkte? Der Dienerschaft ihn anzuvertrauen, wäre gefährlich gewesen, da der Graf ihn durch einen Zufall dann doch in die Hände bekommen könnte. Breda blieb eine Weile unschlüssig stehen, aber da der Graf ihn jetzt vollständig zu ignoriren schien und nur beständig zum Fenster hinausschaute, so blieb ihm schließlich nichts Anderes übrig, als sich zu empfehlen.

Graf Erich athmete auf, als Breda das Zimmer verlassen hatte. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß es nur noch wenige Minuten bis sechs war. Seine Aufregung wuchs jetzt von Sekunde zu Sekunde. Endlich hörte er einen Wagen in den Hof fahren. Er eilte ans Fenster. Ja, es war ihr Wagen. Jetzt stieg sie aus.

Der Graf bemühte sich vergeblich, ihr Gesicht zu sehen, um aus dem Ausdruck desselben auf das Resultat ihres Schrittes schließen zu können. Sie wendete es nicht nach seiner Seite. Die kurze Zeit, bis sie oben sein würde, kam ihm unerträglich vor – da – da – der Graf murmelte einen Fluch zwischen den Lippen – da trat ihr eben Breda in den Weg, redete sie an und begleitete sie zurück ins Haus. Der lästige Schwätzer! Wie lange mochte er sie mit seinen Nichtigkeiten hinhalten, während er hier wartete wie der Verdammte auf Gnade!

Wenn das noch lange währte, mußten seine aufs Aeußerste gespannten Nerven reißen!

Endlich – endlich hörte er ihre Schritte. Die Thür öffnete sich und mit Entsetzen sah der Graf in das todesblasse, verstörte Gesicht seiner Frau, welche zu schwanken schien, indem sie auf ihn zutrat.

„Gott, Claire!“ rief der Graf aus. „Was ist geschehen? Es war vergeblich? Er hat Dir das Papier verweigert?“

Die Gräfin versuchte ein Lächeln. Aber ihre Züge, ihr ganzer Körper gehorchten ihrem Willen nicht mehr. Mit äußerster Anstrengung hielt sie sich noch auf den Füßen.

„Nein, nein,“ stammelte sie, „hier – hier ist das Papier!“

„Aber um Gotteswillen, was ist Dir denn? Sprich doch, ich beschwöre Dich!“

„Ich kann nicht, Erich – sei ruhig – laß mich – ich bitte Dich, nur jetzt – nur einen Augenblick allein!“

Mit Mühe schleppte sie sich in das Nebenzimmer, während der Graf vor Schreck gelähmt, an die Stelle gebannt, ihr nachstarrte.

„Was war das?“ murmelte er. „Den Wechsel halt’ ich hier – und doch – kann es denn noch ein neues Unglück geben?“

„Ich muß es wissen!“ rief er endlich, sich ermannend, aus und eilte auf die Thür des Nebenzimmers zu.

Sie war verschlossen.

Er klopfte, erhielt aber keine Antwort.

„Claire! Claire!“ rief er verzweiflungsvoll, indem er aufs Neue und immer stärker pochte.

Plötzlich taumelte er zurück. Er hatte im Nebenzimmer einen leisen Schrei gehört, welchem ein schwerer Fall und ein Klirren wie von zerbrochenem Glase folgte.

„Jesus Maria!“ stammelte er und blieb eine Weile schwer athmend stehen, während er wie vom Fieber geschüttelt an allen Gliedern zitterte. Dann rannte er wieder an die Thür, rüttelte mit wüthender Kraft an den Flügeln, bis sie endlich nachgaben und aus einander fuhren.

Der Anblick, welcher sich ihm bot, als er in das Gemach stürzte, erfüllte ihn mit wahnsinnigem Schrecken. Die Gräfin lag der Länge nach am Boden ausgestreckt, neben ihr ein umgestürzter Tisch, der Revolver und ein zerschelltes Glas, in welchem noch ein Löffel steckte. Sie mußte im Fallen durch Glassplitter verletzt worden sein, denn von der Stirne floß ihr das Blut über die Wangen.

Außer sich gebracht durch diesen Anblick, stürzte der Graf auf seine Frau zu. Er ergriff ihre kalte regungslose Hand.

„Claire! Claire! – Todt!“ drang es in unartikulirten Lauten aus seiner Kehle. Dann sank er besinnungslos neben ihr nieder.




10.

Einige Minuten, nachdem Graf Erich in das Nebenzimmer eingedrungen war, hatte sich die Thür des von ihm verlassenen Zimmers geöffnet, und auf der Schwelle desselben war Konsul Felsing in Begleitung seines Sohnes Emil erschienen. Dieser, von einer warmen Sympathie für den Grafen getrieben, hatte, nachdem die Gräfin seinen Vater verlassen, nicht geruht, bis er den Letzteren dazu gebracht hatte, unmittelbar darauf mit ihm zum Grafen zu gehen, um diesen zu versöhnen und ihm Hilfe in seiner schwierigen Lage zuzusagen.

Es war aber ein schwerer Kampf gewesen, welchen Emil Felsing da zu bestehen gehabt. Er hatte seinen sonst so gütigen Vater, der nicht leicht einem von ihm geäußerten Wunsche widerstand, hart und unbeugsam gefunden, die finsteren Brauen zusammengezogen und jede seiner Bitten mit feindlichem Hohne gegen den Grafen beantwortend. Es war zu heftigen Reden und Gegenreden gekommen, bis endlich Emil in starker Erregung ausrief:

„Dies trennt uns, Vater, ich kann Dich nicht mehr lieben und verehren wie bisher, wenn Du einem Unglücklichen die Rettung mit solcher Grausamkeit verweigerst.“

Felsing hatte ihn darauf ein paar Minuten lang schweigend, mit durchbohrenden Blicken angesehen, und allmählich war ein böses Lächeln über sein Gesicht gezogen.

„Ja, so ein Graf darf nicht untergehen,“ sagte er endlich mit bitterem Hohne, „darüber müßten sich alle Bande der Natur lösen. Sei es denn, ich will Dir den Willen thun, wenn es der edle Herr auch gerade um Dich wahrlich nicht verdient hat!“

„Um mich? Wie so, Vater? Graf Hochberg ist mir immer mit der größten Freundlichkeit begegnet.“

Statt der Antwort schlug Felsing ein grelles, höhnisches Lachen auf, um dann plötzlich in seine vorige finstere Schweigsamkeit zurückzufallen. So hatten sie den Weg hierher stumm zurückgelegt und standen nun im Gemache des Grafen, das seltsamer Weise leer war, obgleich der Diener ihnen doch gesagt hatte, der Graf sei in diesem Zimmer.

Ein Mißverständniß vermuthend, holte Emil den Diener herbei, welcher ebenfalls erstaunt war und, als er die Thür des Nebenzimmers geöffnet fand, in dasselbe eintrat. Mit verstörter Miene kehrte er zurück.

„Ein Unglück!“ rief er zitternd aus. „Ein Unglück!“

Bestürzt sahen die beiden Besucher sich an, und mit einem bangen Vorgefühle eilten sie nun auf die Thür zu, aus welcher im gleichen Augenblick der Graf, todesblaß, das Haar wirr über die Stirn hängend, den Revolver in der Hand, trat.

Als er Felsing erblickte, zuckte er zusammen, wie wenn er plötzlich auf eine Schlange getreten wäre.

„Ist es möglich?“ knirschte er; „Sie wagen es noch, hierher zu kommen? Wollen Sie Ihr Opfer sehen? Wohl, da drinnen liegt sie – in ihrem Blute – und dieses Blut –“ seine Stimme nahm bei diesen Worten einen furchtbaren Ausdruck an – „dieses Blut sollst Du mir bezahlen, Elender!“

Er erhob die Waffe gegen Felsing, aber mit Blitzesschnelle hatte sich Emil vor den Vater gestellt, um ihn mit seinem Leibe zu decken.

Auch Richard, Gabriele, Hans und der Haushofmeister waren, von dem Diener gerufen, herbeigeeilt und starrten jetzt auf die unheimliche Gruppe. Richard hatte sich am frühesten gefaßt und war dem Grafen in den Arm gefallen.

„Nein, laßt ihn!“ rief jetzt Felsing, indem er seinen Sohn zurückdrängte und dicht vor den Grafen hintrat. „Laßt ihn! Er versteht sich auf Menschenopfer! Schießen Sie zu, Graf Hochberg-Eckartshausen, und wie Sie vor fünfundzwanzig Jahren Magdalena in den Tod gejagt, so tödten Sie nun auch mich und diesen hier –“ er stellte sich, während er dies sprach, neben Emil und ergriff dessen Hand – „Ihren und Magdalenas Sohn!“

(Fortsetzung folgt.)


[547]

Blätter und Blüthen.

Der Graf von Paris. Schwerlich wird der Enkel Louis Philippe’s jemals die Krone seines Großvaters tragen, obschon er jetzt den Anhängern der Bourbons und der Orleans, der königlich gesinnten Partei in Frankreich, als der einzig berechtigte Thronkandidat erscheint. Gleichwohl ist es immer von Interesse, sich ein Bild des vielbesprochenen Prinzen entwerfen zu können, welcher gegenwärtig von der republikanischen Regierung aus Frankreich verbannt ist. Ein solches Bild entwirft uns der unter dem Pseudonym „Graf Vasili“ schreibende „große Unbekannte“ in dem soeben erschienenen ersten Bande des Werkes über „Die Gesellschaft in Paris“.

Der Graf von Paris, obgleich auch der Kandidat der Legitimisten, der Anhänger des Grafen von Chambord, würde stets nach den Grundsätzen des Julikönigthums regieren; er ist kein Prätendent, der durch ungesetzliche Gewaltthat die Herrschaft an sich reißen würde; er hält es für seine Pflicht, sich bereit zu halten, wenn Frankreich ihn rufen sollte, aber er hofft dies nicht und wünscht dies nicht, weil nur gefährliche und furchtbare Umwälzungen dazu führen könnten: er hegt keine chimärischen Hoffnungen wie der Graf Chambord sie hegte; er sieht nur eine schwerlastende Pflicht vor sich, die er unter Umständen würde übernehmen müssen. Sein geheimes Ideal wäre, bis ans Ende seiner Tage als großer Herr in der Straße von Varennes und im Schlosse von Eu leben zu können, umgeben von Freunden, seine Kinder friedlich erziehend, einen hervorragenden, aber wenig lästigen Platz in der Gesellschaft einnehmend und auf einem Fuß von Gleichheit mit den fremden Prinzen verkehrend.

Persönliche Freunde besitzt der Graf von Paris nicht; er lebt in vollkommener Gemeinschaft der Neigungen und Empfindungen mit der Gräfin, einer Prinzessin Isabelle von Orleans-Montpensier, die sehr jung ihren Vetter geheirathet hat, einer trefflichen Gattin und Mutter, welche dabei den Sinn für Musik und Litteratur hegt und pflegt, heiter ist, sich lebhaft zu unterhalten versteht, eine glänzende Toilette liebt, gern mit der ganzen Pracht ihrer Edelsteine erscheint, ohne besondere Eleganz und weibliche Koketterie, aber auch eine kühne Reiterin und Jägerin ist. Eine Schönheit ist sie nicht; ihre Nase ist etwas lang, ihre Augen sind klein, ihr Mund ist groß, aber sie hat schöne Zähne.

Wenn der Graf von Paris seine Besucher empfängt, an seinem Schreibtisch stehend, so hat man nicht den Eindruck, als würden seine Züge sich auf den Münzen scharf und bedeutsam ausprägen, etwa wie die Napoleon’s III., der mit seinem sanften, träumerischen Gesicht, mit seinem verlorenen Blick, den geschlossenen Lippen, die nur selten ein verführerisches Lächeln zeigten, sich eher für das geprägte Abbild eines kaiserlichen Herrschers eignete. Ja, unser Berichterstatter hat gegen die Züge des Grafen von Paris einen sehr bedenklichen Einwand; er findet, daß er einem deutschen Fürsten ähnlich sehe, nicht einem der kleinen Durchlauchten, die sich ähnlich wie der Baron von Gondremark im „Pariser Leben“ in den Strudel der französischen Hauptstadt stürzen, immerhin aber doch einem, wenn auch hochstehenden deutschen Fürsten. Er ist groß von Gestalt; seine Haltung ist noch ganz jugendlich; das Haupt neigt er ein wenig zur Seite. Freundlich und wohlwollend empfängt er seine Besucher; er erhebt sich, um sie zu begrüßen; sein Händedruck ist herzlich; sein Blick fest und frei wie der Blick eines ehrlichen Mannes, der etwas auf seine moralische Würde hält. In diesem ruhigen blauen Auge liegt nichts, was an einen königlichen Abenteurer erinnerte; sein Schreibtisch, voll von Büchern und Papieren, beweist, daß er ein fleißiger Arbeiter ist. Seine Unterhaltung ist angenehm und inhaltreich, ohne pedantisch zu sein; er liebt es, sich zu unterrichten, von Fachmännern zu lernen, mit denen er verkehrt, den Gegenstand des Gesprächs zu erschöpfen.

Der Graf von Paris arbeitet regelmäßig sechs bis sieben Stunden täglich; doch pflegt er auch körperliche Uebungen, er ist kein leidenschaftlicher Jäger, aber doch ein sicherer Schütze und sitzt gut zu Pferde. Als Schriftsteller hat er seine Reise nach Syrien beschrieben und ein Werk über die Londoner Arbeitervereine verfaßt, ein überaus fleißiges, auf den sichersten statistischen Arbeiten ruhendes Werk, welches so viel als möglich die Thatsachen sprechen läßt, und zwar in einem guten, logischen Stil, doch ohne alle originelle Geistesblitze.

Uns Deutsche interessirt natürlich die Frage, welche Politik der Graf von Paris verfolgen würde, wenn der allerdings wenig wahrscheinliche Fall einträte, daß er in Frankreich zur Herrschaft gelangte. Und die Antwort würde in so fern beruhigend lauten, als nach dem Portrait des Grafen Vasili der Graf von Paris nichts weniger als ein ehrgeiziger Soldat wäre, aus seinen persönlichen Neigungen daher keine Gefahr für den Frieden erwachsen würde. Aber die Portraits der unter dem Namen „Graf Vasili“ arbeitenden Gesellschaft von Pamphletisten, deren Vertreterin nach außen die sattsam bekannte Frau Juliette Adam in Paris ist, haben sich bis jetzt nichts weniger als treu und zuverlässig, sondern häufig als ungenaue oder böswillige Zerrbilder erwiesen, welchen keinerlei bleibender Werth zugeschrieben werden kann.

Huldigung Karl’s V. in Gent. (Mit Illustration S. 536 u. 537.) Kaiser Karl V., in dessen Reich die Sonne nicht unterging, war stolz auf „sein Gent“, die reichste Stadt von Flandern; war sie doch damals mit ihren 35 000 Häusern und 175 000 Einwohnern eine der bevölkertsten Städte Europas. Als Alba ihm rieth, die rebellische Stadt zu zerstören, soll er ihn auf den Belfried geführt und auf das Häusermeer hinweisend ihm treffend erwiedert haben: „Wie viel spanische Häute braucht man wohl, um einen solchen Handschuh zu machen?“ Er meinte Gent mit diesem Wortspiele, das in französischer Mundart Gand (gant = Handschuh) heißt, und auch zu Franz I. von Frankreich sagte er einmal scherzend: „Ich kann Dein Paris in meinen Handschuh stecken.“

Theuer war Karl V. diese Stadt auch aus einem andern Grunde; in ihren Mauern, in dem Fürstenhofe von Gent, hatte er am 24. Februar 1500 das Licht der Welt erblickt und hier, noch in der Wiege, die ersten Ehren der Welt und die ersten Huldigungen empfangen.

Am 7. März fand „Nachts“ zwischen neun und zehn Uhr die Taufe statt, und Gent entwickelte dabei ein festliches Gepränge, wie es ein solches seit jener Zeit kaum wieder geschaut hat. Vom Prinzenhof bis zur St. Johanniskirche wurde eine etwa drei Fuß hohe Holzgalerie errichtet, welche 39 Ehrenpforten schmückten. In einem wahren Feuermeer von Fackeln und Lampions schwamm die Stadt, als der glanzvolle Zug mit dem Täufling und den Pathen von dem Fürstenhof nach der Kirche ging; auf den Kanälen wogten beleuchtete Schiffe, deren Lichterglanz sich in den Fluthen spiegelte, und griechisches Feuer flammte von den Thürmen und Bastionen.

In der Taufe erhielt der Sohn Philipp’s des Schönen und der Johanna von Kastilien den Namen Karl, zum Andenken an seinen Urgroßvater Karl den Kühnen von Burgund.

Höchste Auszeichnungen wurden dem fürstlichen Kinde bei dieser Gelegenheit zu Theil. Kaiser Maximilian ernannte seinen 14 Tage alten Enkel zum Herzog von Luxemburg, welchen Titel auch die deutschen Kaiser Karl IV., Wenzel und Sigismund geführt, und aus welchem man Prophezeiungen für die künftige Größe des Neugeborenen ableitete. Reiche Geschenke wurden ihm von allen Seiten dargebracht – ein festlicher Akt, der auf unserem Bilde dargestellt ist. An der Wiege des zarten Kindes sitzt die noch etwas bleiche Mutter, hochbeglückt, ihrem über Alles geliebten, neben ihr stehenden Gatten einen Stammhalter geschenkt zu haben. Von rechts nahen sich die Ersten des Landes und der Stadt, um dem Erben ihre Huldigungen darzubringen. Fürst Karl von Croi, dem noch heute blühenden Fürstenhause angehörend, einer der Pathen des jungen Prinzen, überreicht einen in Silber getriebenen, theilweise vergoldeten Helm von kunstreicher Arbeit, der den Prinzen in allen Fährlichkeiten schirmen und bewahren soll. Der zweite Taufpathe, der Marquis von Berg, Fürst zu Vargas, bringt ein Prunkschwert dar, bestimmt, von dem zukünftigen Kaiser zur Ehre seines Hauses, zur Vertheidigung seiner Lande, zum Schutze der Bedrängten und Unterdrückten allzeit siegreich geführt zu werden. Die behäbigen Väter der Stadt Gent widmen dem innerhalb ihrer Mauern Geborenen ein kostbares, silbernes, vollständig ausgerüstetes Schiff, eine prächtige Zierde der kaiserlichen Tafel.

Im Vordergrunde des Bildes haben unter anderen auch die fürstlichen Frauen Platz genommen, die den Prinzen aus der Taufe hoben: Margareta von York, die Schwester Eduard’s IV., und Margareta von Oesterreich, die Tante des Prinzen, die als Kind mit Karl VIII. von Frankreich verlobt, von diesem aber zurückgeschickt worden war. Diese Damen bestimmten dem Prinzen goldene Schalen mit köstlichen Steinen und ein mit Edelsteinen besetztes Reliquiar in Form eines gekrönten Jungfrauenkopfes. Links kniet der Vertreter der flandrischen Prälaten, in deren Namen er das Alte und Neue Testament in reichem Einbande übergiebt, auf dem die Worte „Scrutamini scripturas“ („Forschet in der Schrift“) eingegraben sind. Es sind damit jedoch die Ehrungen noch nicht erschöpft, die dem Prinzen erwiesen wurden; an den Orden des goldenen Vließ, welchen Kaiser Maximilian seinem Enkelchen gleichzeitig verliehen, erinnern die Insignien desselben, die von dem Schilde im Hintergrund herabhängen. Noch Seltsameres widerfuhr aber dem 14 Tage alten Kinde: es wurde der Sitte der Zeit gemäß von seinem Großvater mit Claudia, der Tochter Ludwig’s XII., verlobt.

Der Künstler hat es verstanden, den kleinen Bräutigam dadurch zum sofort erkennbaren Mittelpunkte seines Bildes zu machen, daß er das Interesse sämmtlicher Anwesenden auf das unscheinbare Kindlein vereinigte, mit dessen zarter Erscheinung die stattlichen Gestalten der Männer mit ihren ernsten prächtigen Charakterköpfen glücklich kontrastiren. Anmuthig beleben die geschickt gruppirten Damen das Bild, deren Darstellung dem Künstler Gelegenheit bot, seine vorzüglichen Kenntnisse in der Geschichte der malerischen Kostüme seines Vaterlandes bestens zu verwerthen. Alb. Vriendt, Historienmaler in Brüssel, der Schöpfer des Bildes, ist kein Neuling auf diesem Gebiete; er und sein Bruder Julian haben schon eine Reihe denkwürdiger Ereignisse aus der Geschichte ihres Vaterlandes durch ihre Arbeiten verherrlicht. Alb. Vriendt verbindet in seinen Werken strenghistorische Auffassung mit einer wahrheitsgetreuen Ausführung aller Details, ohne sich indeß in Einzelheiten zu verlieren. Er gehört zu jenen zeitgenössischen Historienmalern, die umfassende historische und archäologische Studien über die Zeit machen, der sie ihren Stoff entnommen, und die sich hierdurch so eingehende Kenntnisse über den Charakter des in Frage kommenden Volkes und die Zustände des betreffenden Landes, bis herab auf das geringste Detail der Kostüme, des Schmuckes, der Bewaffnung, der Zimmereinrichtung etc. verschaffen, wie sie vor einigen Jahrzehnten höchstens ein Museumsdirektor hatte. Hans Boesch.

Zerstreutheit. Kaum eine andere menschliche Schwäche hat so lächerliche Seiten wie die Zerstreutheit, die man einer verbreiteten Annahme zufolge hauptsächlich bei Gelehrten etc. voraussetzt, obwohl sehr häufig, und sogar häufiger noch bei ganz gewöhnlichen Sterblichen, deren Geist und Phantasie keine Ueberbürdung erduldet, entschiedene Anlagen zum „Konfusionsrath“ zu bemerken sind – nur erfährt die Welt ihre Streiche nicht. Von bekannten Männern erhalten sich solche Anekdoten um so hartnäckiger. Das Muster eines Zerstreuten war der in Berlin in guter Erinnerung stehende Professor Neander. Einmal wurde er auf dem Heimweg in den Straßen Berlins von einem Gewitter überrascht, so daß er zu einer Droschke seine Zuflucht nehmen mußte; aber leider fiel ihm nun nicht ein, wo er wohnte, und der Kutscher, der sich seine eigenen Gedanken gemacht haben mochte, wollte den seltsamen Fahrgast schon nöthigen, auszusteigen. Da nahte der rettende Engel in Gestalt eines ehrerbietig grüßenden Studiosen. Neander ruft ihn heran: „Sie, bitte, sagen Sie mal dem Kutscher, wo Professor Neander wohnt!“ – [548] Ein anderes Mal begegnete ihm bei Verlassen des Hauses vor der Hausthür ein Fremder. Derselbe fragt ihn sehr höflich, ob hier Professor Neander wohne und ob derselbe zu Hause sei? – Neander erwiedert höflich und scheinbar mit allem Bedacht: „Jawohl, er wohnt hier; klingeln Sie nur und fragen Sie, ob er zu Hause ist.“

Dem verstorbenen Komponisten Amilcare Ponchielli wird eine phänomenale Zerstreutheit nachgerühmt. Nach der Erstaufführung seiner „Promessi sposi“ eilte er auf die Bühne, um der Trägerin der Hauptrolle, der Sängerin Brambilla, die er später heirathete, sein Entzücken auszusprechen, und anstatt der Primadonna umarmte er eine alte Choristin. – In einem Koncerte, dessen Programm auch den „Stundentanz“ aus „Gioconda“ enthielt, wurde nach einer Nummer stark applaudirt. Ponchielli, aus seinen Träumen aufgeschreckt, verneigte sich dankend; man hatte aber Wagner’s „Tannhäuser-Marsch“ gespielt. In seiner Zerstreutheit passirte es ihm sogar, daß er einmal ein Polkamotiv orchestrirte und öffentlich aufführte, welches er unter seinen Notizen und Manuskripten fand, in der Meinung, es rühre von ihm her. Es war aber eine Polka von Strauß.

Von einem noch lebenden Staatsmann wird erzählt, daß ihm in Gesellschaften seine Zerstreutheit die ärgsten Possen spielt. So blieb er auf der Soirée in einem fremden Botschafterhôtel, nachdem sich alle Gäste entfernt hatten, allein mit dem Herrn des Hauses zurück, stets bestrebt, denselben zu unterhalten. Viertelstunde um Viertelstunde verging, der zerstreute Diplomat traf keine Anstalten, sich zu empfehlen. Die Unterhaltung wurde immer mühseliger und – langweiliger. Endlich nach einer peinlichen Stunde sagte er: „Wenn Excellenz befehlen, so lasse ich Ihren Wagen vorfahren!“ Der Unselige hatte bis dahin gemeint, er befinde sich in seinem Hause und müsse den Aufbruch des Botschafters in Ruhe abwarten.

Professor Mommsen’s Zerstreutheit, eine Folge seiner Vertiefung in die Arbeit, ist bekannt, man erzählt Wunderdinge davon; er soll z. B. einmal bei einem Friseur eine Kürzung seiner Philosophenfrisur veranlaßt haben, und als der Friseur die Operation für beendigt erklärte, sah Mommsen in den Spiegel und setzte sich wieder hin. Dabei gab er die trockene Weisung: „Sie sind zu kurz, ich wünsche sie länger!“ – Eben so passirt es dem gelehrten Herrn oft, daß er Briefe, die er bei seinen Ausgängen mit sich nimmt, um sie aufzugeben, am Abend in seinem eigenen Briefkasten an der Wohnungsthür wiederfindet.

Der Tabak und die Nerven. Man hat den Tabak vielfach als ein Volksgift bezeichnet, als ein Gift, das zwar eine gewisse Gewöhnung zuläßt, dessen ungeachtet jedoch im Laufe der Zeit seine üblen Wirkungen äußert. Von anderer Seite wurde dagegen der schädliche Einfluß des Tabakgenusses bestritten. Seitdem die Nervenschwäche eine so große Verbreitung unter den civilisirten Völkern erlangt hat, wurde das Rauchen vielfach mit derselben in Verbindung gebracht. Die Ansicht eines Specialarztes für Nervenleiden über diese Streitfrage dürfte darum für Freunde und Feinde des Rauchens gleich interessant sein. Dr. L. Löwenfeld schreibt unter Anderem in seiner soeben erschienenen Broschüre „Die moderne Behandlung der Nervenschwäche“ (Wiesbaden, J. F. Bergmann) ungefähr Folgendes:

Uebermäßiger Tabakgenuß vermag zweifellos das Nervensystem in nachtheiliger Weise zu beeinflussen; er führt insbesondere Störungen der Herzthätigkeit sowie eine eigenthümliche Unruhe und Appetitlosigkeit herbei. Mäßiges Rauchen wird dagegen unstreitig von sehr vielen Menschen ohne jedweden Schaden ertragen. Und nicht bloß dies! Mäßiger Tabakgenuß kann auch in verschiedenen Beziehungen sich nützlich erweisen.

Das Rauchen vermag bei vielen Personen Zustände gesteigerter nervöser Erregbarkeit zu mildern und an die Stelle lästiger Unruhe eine behagliche Gemüthsstimmung zu setzen. Neben den beruhigenden besitzt der Tabak aber auch anregende Eigenschaften: er ist im Stande, die geistige Arbeitsfähigkeit wie die körperliche Ausdauer zu erhöhen und in gewissem Sinne als Surrogat für Nahrungsmittel einzutreten. Bei nicht wenigen Menschen endlich übt der Tabak auf die Verdauung und Stuhlentleerung einen entschieden günstigen Einfluß aus.

Daraus ergiebt sich, daß wir nur das übermäßige Rauchen bekämpfen müssen. Nervenleidende sollen nur leichte Cigarren und von solchen im Allgemeinen nicht mehr als drei Stück täglich rauchen. Gänzliche Untersagung des Tabakgenusses muß aber vor allem in den Fällen eintreten, in welchen nervöse Störungen der Herzthätigkeit oder eine Neigung zu solchen vorhanden sind. *     

Grausame Strafen für Wilddiebe. Herzog Galeazzo Sforza von Mailand zwang den Dieb eines Hasen, denselben roh mit sammt dem ganzen Balge aufzuessen, an welcher Mahlzeit der arme Kerl gar jämmerlich gestorben ist. Herzog Vitolt von Littauen ließ die Verurtheilten lebendig in Bärenhäute einnähen und dann von Hunden hetzen und zerreißen. Der Erzbischof Michel von Salzburg nahm statt der Bärenhaut eine Hirschhaut, ließ den eingenähten Wilddieb auf den Markt bringen und dort zerreißen. Andere wurden lebend auf Hirsche geschmiedet, welche dann in Freiheit gesetzt wurden. So sah man 1666 in der Wetterau in einem Saatfeld einen Hirsch, auf welchem ein Mann in Ketten verwahrt saß, ganz blutig, mit zerrissenen Kleidern und zerfleischtem Leib, der ohne Unterlaß rief: „Ach, nehmt mir doch mein Leben, daß ich der unerträglichen Straf’, die ich nun in den dritten Tag ausgestanden, abkommen möge.“

Ebenso unmenschlich gingen die englischen Könige Heinrich II. und Richard I. mit Denjenigen um, die unberechtigter Weise gejagt hatten: es wurden ihnen nicht nur die Augen ausgestochen, sondern sie wurden auch noch auf andere bestialische Weise verstümmelt. Recht liebenswürdig war ein Herr am Rhein, der einen seiner Unterthanen, welcher ein Wildschwein erlegt hatte, zur Winterszeit in den Rhein jagte, wo er so lange stehen mußte, bis er eingefroren war. Trotzdem kam derselbe mit dem Leben davon, wenn er auch schwer an den Folgen dieser unmenschlichen Behandlung zu tragen hatte. Ein anderer Herr ließ einen Bauern aus demselben Grunde nackt ausziehen, an einen Baum binden und dort erfrieren. Die Gesetze kannten solche scheußliche Strafen nicht; es waren eben nur Willkürakte einzelner Herren, gegen welche die armen Bauern machtlos waren.

„Solche Wütheriche,“ sprach ein Eiferer gegen diese Grausamkeiten, „werden gemeiniglich dem Strick des höllischen Jägers zu Theil und ein fettes Wildbrät des Satans werden, wornach die bösen Geister ihre schwarzen Finger und Klauen lecken.“


Allerlei Kurzweil.


Schach.
Von Fr. Dubbe in Rostock.
SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.


Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 500.
Weiß: Schwarz: Weiß: Schwarz:
1. S g 3 – c 4 K d 4 – c 5 : 0 1. c 6 – f 5 :
2. D g 5 – e 3 : a) e 6 – f 5 : 0 2. D g 5 – f 5 : beliebig.
3. S c 4 – f 6 + K zieht. 0 3. S e 5 – c 6 + K d 4 – c 4 :
4. B, B setzt matt. 0 4. D f 5 – f 7 : (e 6) matt.

a) Weiß droht mit 3. D c 3 † oder g 3 † etc. – Auf 1. … g 7 – g 6 folgt 2. D d 8 †, K : S, 3. D c 7 : †, K d 4, 4. D c 5 matt. Falls 1. … c 7 – c 6 (c 5) so 2. D d 8 † nebst 3. D d 6 matt. Oder falls 1. … f 7 – f 6 so 2. S c 6 †, K c 4 :, 3. L c 6 : matt. – Die Vereinigung der beiden schönen Ideenspiele ist in höchst geschickter Weise und mit wenigen Mitteln prächtig durchgeführt. Ein feines Stück!


Räthsel.

Er kommt, er kommt, er ist herein,
Herz, klopfe nicht so sehr!
Es schwebt wie Frühlingssonnenschein
Die Freude um ihn her.
Des höchsten Glückes ganze Huld,
Die Alles macht genesen,
Wirst du mit heißer Ungeduld
Auf seinen Zügen lesen.
Denn immer offner liegt sein Herz,
Je weiter du gedrungen,
So daß die Freude fast ein Schmerz,
Wenn du ihn ganz verschlungen.

Drum liesest du nochmals zurück,
Ob nicht die Augen trügen,
Und trinkst dasselbe Himmelsglück
Nochmals aus allen Zügen,
Die alle zwar nur ausgewählt
Aus fünfundzwanzig Zeichen,
Zu Zauberworten doch vermählt,
Zu Bildern ohnegleichen.
„O Herrlicher, der ihn gesandt!
O weh, daß ich hier festgebannt!
Wie gern, zu danken, flög’ ich hin,
Weh, daß ich ohne Flügel bin!“
 J. G. Fischer.


Vorsetz-Räthsel.

Oftmals hast du’s gehört, doch nimmer erschaut es dein Auge;
Setze ein Zeichen ihm vor, sieh’, dann war’s König am Nil.


Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

S. in W. Um einen wasserfesten Kitt für Glas zu bereiten, löst man zunächst Hausenblase in schwacher Essigsäure auf. Außerdem bereitet man sich eine Lösung von feinstem Mastix in hochgradigem (95 procentigem) Sprit. Beide Lösungen müssen möglichst koncentrirt hergestellt werden. Zum Gebrauch mischt man dieselben, bestreicht damit die Bruchflächen und drückt sie fest auf einander.

H. T. in Crefeld. Auf eingezogene Erkundigung hin wurde uns von der hiesigen kaiserlichen Ober-Postdirektion mitgetheilt, daß eine Annahme von weiblichen Personen zur Beschäftigung im Reichs-Telegraphendienst schon seit längerer Zeit nicht mehr stattfindet.

Diskretion, Wien. Leider nicht geeignet. Besten Dank für das Anerbieten.



Inhalt: Der lange Holländer. Novelle von Rudolph Lindau (Schluß). S. 533. – Mittagsruhe in der Sommerfrische. Illustration. S. 533. – Kleine Bilder aus der Gegenwart. Das fescheste Zeugl. Mit Illustration. S. 540. – Entdeckungsfahrten des deutschen Dampfers „Samoa“. VI. (Schlußartikel.) Längs der unbekannten Nordküste. b. Von Berlinhafen bis Humboldt-Bai. Für die „Gartenlaube“ mitgetheilt von Dr. O. Finsch (Bremen). S. 541. Mit Illustrationen S. 541. 542, 543 und 545. – Magdalena. Von Arnold Kasten (Fortsetzung). S. 543. – Blätter und Blüthen: Der Graf von Paris. S. 547. – Huldigung Karl’s V. in Gent. Von Hans Boesch. S. 547. Mit Illustration S. 536 und 537. – Zerstreutheit. S. 547. – Der Tabak und die Nerven. S. 548. – Grausame Strafen für Wilddiebe. S. 548. – Allerlei Kurzweil: Schach. S. 548. – Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 500. S. 548. – Räthsel. Von J. G. Fischer. S. 548. – Vorsetz-Räthsel. S. 548. – Kleiner Briefkasten. S. 548.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.