Die Gartenlaube (1887)/Heft 32

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[517]

No. 32.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Der lange Holländer.

Novelle von Rudolph Lindau.
(Fortsetzung.)


Jenkins brachte Büchner an Bord der „Aurora Belisle" und verließ uns erst, als wir die Anker gelichtet hatten und die Barke mit der Ebbe langsam aus der Bai dem offenen Meere zu schwamm. Es war ein schöner Abend. Die Sonne ging hinter den schwarzen Hakkonibergen unter und röthete den breiten, mit Schnee bedeckten Krater des Fusi-Yama. Das tiefblaue Meer war sanft bewegt und mit Hunderten von Fischerbooten bedeckt, deren Insassen, wenn wir in ihrer Nähe vorbeifuhren, uns „Glückliche Fahrt!" zuriefen. Die straff gezogenen Segel waren mit lauer Luft leicht gefüllt und durch die Raaen und Taue zog ein leises Summen, das zur Ruhe einlud. Büchner hatte sich auf dem Deck lang ausgestreckt, die Hände unter dem Kopf, die Augen weit geöffnet, und schaute in die Höhe mit einem Ausdruck tiefen Friedens auf dem stillen Gesichte. Ja, von dem Augenblick an gefiel mir der Mann – ich weiß selbst nicht warum.

Es gab bei dem ruhigen Wetter wenig zu thun. Ich setzte mich auf eine Bank neben dem Platze, wo Büchner lag.

„Friedliche Fahrt,“ sagte ich.

Er machte ein zustimmendes Zeichen mit dem Haupte.

„Hoffentlich bleibt das Wetter gut," setzte ich hinzu.

Er richtete sich halb in die Höhe, und auf den einen Ellenbogen gestützt, musterte er langsam den ganzen Horizont. „Kein Wölkchen am Himmel.“

„Schlechtes Wetter kommt unverhofft.“

„Ja, das ist wahr,“ sagte er.

Aber diesmal blieb das Wetter unverändert günstig, bis ich nach zehntägiger Reise die Anker vor Francis Morrisson’s Hong in Shanghai fallen ließ. Während dieser wenigen Tage war ich nun von früh bis spät mit Büchner zusammen. Er aß natürlich mit mir. Ich trinke an Bord nie etwas Anderes als Wasser, Thee und Kaffee, aber ich fragte meinen Passagier, ob er Wein oder nach Tisch ein Glas Brandy nehmen wolle. Er dankte. Ich hatte ihn, wie gesagt, beim ersten Anblick für einen Trinker gehalten. Seine Geschichte kannte ich damals nur unvollkommen, und seine Weigerung, ein Glas Wein zu nehmen, verdroß mich. Sie kam mir wie eine Heuchelei vor; ich war überzeugt, er hätte sich eine Kiste Spirituosen mit an Bord gebracht und tränke des Nachts, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Aber ich hatte


Das Feuerschiff „Adlergrund“ im Hafen von Swinemünde.
Nach einer Photographie von Th. Politzky in Swinemünde.


[518] mich geirrt: er hielt sich, wie ich es that, ausschließlich an Wasser und Thee. Nur an der Art, wie er sich einschenkte und das Glas hielt, sah ich noch, daß er nicht immer so mäßig gewesen war. Trinker gehen nämlich mit Flüssigkeiten sorgfältiger um als andere Menschen. Sie füllen das Glas bedächtig bis zu einer bestimmten Höhe, sie scheinen jedesmal genau abzumessen, was sie nehmen. Und dann stürzen sie das Getränk nicht etwa hinunter – kein ordentlicher Trinker thut das – sondern sie legen alle fünf Finger um das Glas, führen es sorgfältig zum Munde und leeren es langsam. Wenn Büchner sein Wasser aus einem dunklen Glase zu sich genommen hätte, so hätte man wetten mögen, er trinke kostbaren Wein: so große Aufmerksamkeit widmete er der einfachen Handlung.

Am vierten oder fünften Tage nach unserer Abfahrt von Yokohama – es war mir, als kennte ich meinen Passagier seit einem Jahre, obgleich wir nicht viel mit einander gesprochen hatten – fragte ich ihn, ob er sich immer mit Wasser und Thee begnügte. Ich, so setzte ich hinzu, fände ein Glas Claret oder Sherry unvergleichlich schmackhafter als ein Glas Wasser und gäbe jenen Getränken den Vorzug, sobald ich am Lande wäre. Er antwortete anscheinend unbefangen, er könne keine Spirituosen vertragen und habe ihnen deßhalb entsagt. Er fühle sich seitdem wohler. Während der ersten Zeit sei ihm die Enthaltsamkeit etwas schwer geworden, aber jetzt denke er gar nicht mehr daran; jedoch verkehre er am liebsten mit Menschen, die sich, wie er, mit Wasser begnügten.

„Nun,“ sagte ich, „dann werden Sie mich in Shanghai nicht gern sehen, denn dort stehe ich meinen Mann beim Trinken.“

„Ich werde Sie unter allen Umständen gern sehen,“ antwortete er. „Sie haben sich sehr freundlich gegen mich gezeigt. Auch Doktor Jenkins habe ich lieb gewonnen,“ fuhr er fort. „Früher achtete ich nicht darauf, wenn ich gute Menschen antraf. Jetzt macht es mir Freude und ich bin ihnen dafür dankbar.“

Ich kann nicht recht sagen, weßhalb solche und ähnliche einfache Worte meine Zuneigung zu dem Manne vermehrten. Aber es war so. Ich hätte schon damals dem langen Holländer von Herzen gern etwas zu Liebe gethan. Später, nachdem ich seine Frau kennen gelernt hatte, wurde ich gut befreundet mit den Beiden, und wenn ich in Shanghai war, so schlug ich mein Hauptquartier immer bei ihnen auf, obgleich mein Geschäft mich für gewöhnlich zu Morrisson zog, an den die „Aurora Belisle“ fest konsignirt war.

Während Büchner sich in Yokohama aufhielt, war James Rawlston von seiner Reise nach Shanghai zurückgekehrt. Seine erste Sorge war gewesen, sich mit seiner Schwester in Verbindung zu setzen. Diese war mit ihm am Tage nach seiner Ankunft bei Frau Onslow zusammengetroffen.

„In meinem Hause kann ich Dich nicht empfangen,“ hatte sie mit großer Traurigkeit gesagt „Auch darf ich Dich nicht besuchen. Du billigst meine Haltung sicherlich.“

Das that James Rawlston nun zwar nicht, denn er konnte nicht begreifen, weßhalb Büchner ihm noch immer zu zürnen schien. Rawlston’s Schuld war es doch sicherlich nicht, daß der Diebstahl verübt worden war und daß sich ein schwerer Verdacht auf Büchner gelenkt hatte. Es wäre dem Amerikaner unter allen Umständen lieber gewesen, seine Schwester hätte sich mit dem reichen Francis Morrisson verheirathet, anstatt mit dem unbemittelten langen Holländer. Aber wenn er, Rawlston, geneigt war, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, so hätte man ihm dafür Dank wissen sollen. Büchner’s Benehmen ihm gegenüber war nicht zu rechtfertigen. Rawlston sprach in diesem Sinne mit Frau Onslow. Diese empfahl ihm, das Thema in Gegenwart seiner Schwester lieber nicht zu berühren. Sie hinge in voller Liebe an ihrem Ehegemahl und sei der Ansicht, daß der von Rawlston unmittelbar nach dem Diebstahl offen ausgesprochene Verdacht die Hauptursache von Büchner’s Unglück gewesen sei. „Sie haben in Edith eine treue Schwester,“ schloß Frau Onslow; „aber muthen Sie ihr nie zu, zwischen Ihnen und ihrem Mann zu wählen. Sie wird sich bemühen, beide Verbindungen aufrecht zu erhalten, aber im Falle der Nothwendigkeit einer Wahl würde sie sicherlich auf Büchner’s Seite treten, wie schwer es ihr auch fallen möchte.“

Rawlston mußte sich dabei beruhigen. Aber seine Zuneigung zu Büchner wuchs dadurch nicht. Er traf mit seiner Schwester gelegentlich bei Frau Onslow zusammen. Das war besser als sie gar nicht zu sehen. Aber der richtige Verkehr, wie er zwischen Schwester und Bruder bestehen sollte, war es doch nicht.

Prati hatte nicht aufgehört, oft bei Frau Onslow zu erscheinen. Zu den kleinen Vereinigungen, die bei ihr stattfanden, gesellte sich bald auch Herr Morrisson. Größer wurde der Kreis nicht. Die Gesellschaft bestand außer den Wirthen immer aus denselben Personen: Rawlston, Edith, Prati und Morrisson.

Diese Zusammenkünfte waren harmloser Natur. Die Kosten der Unterhaltung wurden ausschließlich von Frau Onslow getragen. Rawlston war mürrisch; Edith saß still in sich gekehrt da, mit einer Handarbeit beschäftigt, die sie wohl aufgenommen hatte, um ihre Schweigsamkeit und Zurückhaltung weniger auffällig erscheinen zu lassen; der geschmeidige Italiener hatte einen freundlichen Gruß und ein freundliches Lächeln für Jedermann – aber auch er war der Alte nicht mehr. Eine geheimnißvolle Sorge schien an ihm zu nagen, und er saß oftmals da, anscheinend mit schweren Gedanken beschäftigt, die mit Frau Onslow’s philosophischen Abhandlungen sicherlich nichts gemein hatten; auf Francis Morrisson hatte die gedrückte Stimmung der Anderen ihren Einfluß nicht verfehlt. Das war die einfachste Erklärung dafür, daß er, sonst so heiter und anregend, den langen Abend ruhig verbringen konnte, ohne etwas Anderes zu thun, als hier und da einige artige Worte an den einen oder anderen der Anwesenden zu richten. Er saß gewöhnlich im Schatten, etwas vom Tisch entfernt, auf dem die Lampe brannte, die das bleiche Gesicht der still arbeitenden Edith hell beleuchtete.

Herr Onslow wohnte den Gesellschaften, die er „meiner Frau feierliche Thees“ benannt hatte, selten und auch dann gewöhnlich nur auf kurze Zeit bei. Er fand die Genossen, die er im Klub oder bei Bekannten antreffen konnte, ungleich mehr nach seinem Geschmack als die steinernen Gäste seiner Frau. „Höchst achtungswerthe Menschen,“ sagte er, „aber unglaublich langweilig!“ Der Frau Edith gefielen sie augenscheinlich, denu sie war Frau Onslow’s regelmäßigster Gast, bis sie sich eines Tages, einen Monat etwa vor Büchner’s Rückkehr, plötzlich beunruhigt fühlte. War es recht, daß sie ohne Wissen ihres Mannes, möglicherweise gegen dessen Wünsche, häufig und regelmäßig mit ihrem Bruder zusammentraf? Sie richtete diese Frage an Frau Onslow, die zunächst meinte, Büchner werde sicherlich nichts dagegen einzuwenden haben, daß seine Frau ihren Bruder sehe. Aber als Edith darauf entgegnete, dann sei es wohl das Einfachste, sie schriebe ihrem Manne, was vorginge, da wurde Frau Onslow nachdenklich und sagte, bei seinem Gesundheitszustand sei es schwer, zu wissen, wie er eine solche Nachricht aufnehmen werde, es dürfte sich deßhalb empfehlen, sie ihm mündlich zu machen. Edith war damit einverstanden, nahm sich jedoch vor, ihre Besuche bei Frau Onslow in Zukunft einzuschränken oder dieselben so zu verlegen, daß sie ein Zusammentreffen mit ihrem Bruder und Herrn Morrisson nicht zu befürchten hatte. An Prati dachte sie nicht. Diesen treuen Freund durfte sie überall und täglich sehen, ohne zu befürchten, ihren Mann dadurch zu erzürnen. Aber James und Herr Morrisson kamen nicht in ihr Haus, und sie durfte sie auch nicht regelmäßig an fremden Orten antreffen, wenigstens so lange nicht, bis sie die besondere Erlaubniß ihres Mannes dazu erhalten hatte.




8.

Das Wiedersehen zwischen Edith und ihrem Mann war ein unbeschreiblich herzliches. Beide waren so erregt, daß geraume Zeit lang weder sie noch er Worte finden konnte, bis endlich Edith dem ergreifenden Auftritt dadurch ein Ende machte, daß sie ihre Thränen trocknete und den alten scherzenden Ton aus ihrer Mädchenzeit anzuschlagen versuchte.

„Nun laß Dich einmal ordentlich betrachten,“ sagte sie. „Ich will sehen, ob ich Dir ein gutes Zeugniß ausstellen kann.“ Sie musterte ihn aufmerksam und dann setzte sie hinzu: „Nein, ich bin nicht zufrieden mit Dir. Du siehst viel zu schmal aus. Man hat Dich in Yokohama wahrscheinlich schlecht genährt. Und dann, wie kannst Du nur bei der Hitze, die wir haben, so warm gekleidet gehen? Du siehst aus wie ein Missionär. Das muß Alles von jetzt bis auf heute Abend vollständig anders werden. Also komm nur zunächst zum Essen – und dann werde ich nach Deinen Sachen sehen.“

[519] „Du gefällst mir auch nicht,“ sagte Büchner, seine Frau mit inniger Liebe betrachtend. „Wo sind Deine hellen Augen und Deine frischen Farben geblieben?“

„Die hat der heiße Sommer fortgenommen; aber jetzt wird Alles gut werden. Merke Dir, ich lasse Dich nie wieder auf so lange Zeit fort!“

„Ich gehe auch nicht wieder. Es war recht einsam da drüben.“

„Warst Du denn immer allein, mein armer Georg?“

„Nein, ich verkehrte mit Doktor Jenkins. Ein guter Mann! Auch die Bekanntschaft mit ihm verdanke ich Prati. Wo steckt der übrigens?“

Dieser ließ nicht lange auf sich warten. – Die Begrüßung zwischen den beiden Freunden war herzlich, jedoch ruhiger seitens des Italieners, als man nach dessen gewöhnlichem Gebaren erwarten durfte. Es war vielmehr, als ob zwei Engländer sich wiedersähen: ein kräftiger Händedruck – und damit basta. Unter gewöhnlichen Verhältnissen wäre es zwischen dem Deutschen und Italiener ohne eine herzhafte Umarmung nicht abgegangen. Büchner, der von Natur zurückhaltend und ein Feind lebhafter Gemüthskundgebungen war, bemerkte Prati’s Ruhe nicht, aber nach einer Weile fiel ihm doch das stille Wesen seines Freundes auf.

„Fehlt Ihnen etwas, Prati?“ fragte er theilnehmend, und um seine Sorge für das persönliche Wohl Prati’s zu verbergen, fügte er hinzu: „Es ist doch nichts Unangenehmes im Geschäfte vorgefallen?“

„Durchaus nicht. Alles geht nach Wunsch. Aber ich bin etwas abgespannt. Der Sommer war diesmal recht schwer und ich habe mehrere weite Ausflüge ins Innere gemacht, die nicht gerade Erholungsreisen waren. Hinter Sutschow sieht es erschrecklich aus. Es wird Jahrzehnte dauern, ehe sich das Land von den Verheerungen der aufständischen Tai-ping erholen kann. Ueberall Trümmer und furchtbares Elend. Die Leute verhungern zu Tausenden und unter den Ueberlebenden wüthen Pestilenz und Cholera. Ich habe eigentlich ganz gute Nerven, aber diesen Sommer ist ihnen doch ein Bischen zuviel zugemuthet worden. Das ist Alles! Die kühle Jahreszeit wird mich schon wieder gesund machen.“

Als Prati sich entfernt hatte, begann Edith ausführlich zu erzählen, wie sie während der Abwesenheit ihres Mannes gelebt hatte. Sie war voll des Lobes der unermüdlichen Aufmerksamkeit und Freundschast von Prati und Frau Onslow und brachte das Gespräch, anscheinend unbefangen, auf die geselligen Abende, die sie bei dieser zugebracht hatte. Büchner sagte kein Wort und machte keine Bewegung, als von dem häufigen Zusammentreffen mit James Rawlston und Francis Morrisson die Rede war. Edith aber wollte eine Erklärung von ihrem Mann über diesen Punkt haben und fragte geradezu, ob er es billige, daß sie die Beiden oftmals gesehen habe. Er schwieg eine Weile und sagte dann milde:

„Ich weiß, wie sehr Du Deinen Bruder liebst. Also sieh’ ihn, so oft Du es wünschest. Ich zürne ihm nicht mehr … aber … nun, wozu soll ich Dir lange Erklärungen machen, da Du ja doch ohnehin weißt, wie ich fühle – ich für meine Person sehe ihn lieber nicht.“

Von Morrisson war nicht weiter die Rede gewesen. Büchner stellte seiner Frau augenscheinlich frei, ihn zu sehen oder nicht, ganz wie es ihr gefiel.

„Wirst Du Frau Onslow einen Besuch machen?“ fragte Edith schüchtern.

„Es geht wohl nicht gut anders,“ antwortete Büchner; „sie würde es mir übelnehmen, wenn ich sie nicht aufsuchte, und sie ist eine gute Frau. Wir wollen lieber gleich heute Abend zu ihr gehen, dann ist die Sache abgemacht, und ich brauche nicht mehr lange darüber nachzudenken.“

Edith willigte freudig ein, und die Beiden verbrachten den Abend bei ihrer redseligen Freundin. Diese verstand es, Alles in ihrer Unterhaltung zu vermeiden, was Büchner unangenehm hätte berühren können, so daß dieser zufrieden von dem Besuche den Heimweg antrat und unterwegs zu Edith sagte: „Sie ist doch wirklich eine herzensgute Frau. Und wenn ich bedenke, wieviel ich ihr zu verdanken habe! Geh’ recht häufig zu ihr und unterhalte Dich dort, so gut Du kannst, natürlich auch mit Deinem Bruder. Es ist mir eine Beruhigung, mir sagen zu können, daß Du durch meine Schuld nicht entbehrst, wonach Du Dich sehnst. Hörst Du, Edith? Sieh Deinen Bruder recht oft. Es macht mir Freude. Ja, sicher, jetzt, da ich darüber nachgedacht habe: es macht mir Freude, ich bitte Dich darum.“

„Du guter Mann!“ sagte Edith.

Die nächsten Monate gingen ruhig vorüber. Büchner machte sich viel im Komptoir zu thun, unternahm lange Spaziergänge und Spazierritte mit Prati und trieb sich in einem schmalen leichten Boote, einem „Outrigger“, auf dem Wussong umher. Das kleine Fahrzeug aus Mahagoniholz, ein Meisterstück der Schiffbaukunst, war auf einer Gewerbeausstellung in San Francisko durch eine Medaille ausgezeichnet worden. Wer es nach Shanghai gebracht hatte, weiß ich nicht mehr. Es war dort lange unverkäuflich geblieben, weil sich kein Liebhaber für das theure Spielzeug gefunden, bis Prati es eines Tages entdeckt und für Büchner gekauft hatte, der von jeher ein großer Freund des Rudersports gewesen war. Der lange Holländer nahm das hübsche Geschenk dankbar an, ließ es mit großer Sorgfalt in Stand setzen und begab sich damit, sobald es tüchtig war, auf den Wussong. Für einen reißenden Strom mit zahlreichen Strudeln und Schnellen und häufig starker Wellenbewegung war das leichte Fahrzeug nun aber nicht berechnet, und Prati machte sich klar, als er Büchner in demselben durch den Hafen fahren sah, daß er seinem Freunde ein etwas gefährliches Geschenk gemacht hatte. Aber der lange Holländer war einer der besten und sichersten Ruderer der fremden Kolonie und ein ausgezeichneter Schwimmer. Wenn sein Boot auch wirklich zu Schaden kommen sollte, so war bestimmt anzunehmen, daß er selbst sich aus demselben mit Leichtigkeit so lange würde halten können, bis ihm Hilfe käme. Daß er sich unterhalb des Hafens hinauswagen sollte aus dem Bereich der Schiffe, die dort zu jeder Jahreszeit vor Anker lagen – an eine solch’ waghalsige Thorheit brauchte man nicht zu denken. Büchner hegte auch nicht entfernt die Absicht, etwas Aehnliches zu unternehmen, und seine weitesten Fahrten brachten ihn auf die andere Seite des Wussong, bis wohin Prati ihn von scharfen Matrosenaugen beobachtet wußte. Denn Jack (englischer Spitzname für den Matrosen) sagte sich natürlich, einmal werde das kleine Ding doch wohl kentern, und dann seien für Denjenigen, der mit seinem Boote am schnellsten am Orte des Unfalls eintreffe, wohl einige zwanzig Dollars zu verdienen.

Der Sommer verging – die Tage wurden kürzer, die Spazierritte mußten verkürzt, die Fahrten auf dem Wussong ganz eingestellt werden. Es kamen die langen Abende, und Büchner war während derselben nicht selten allein.

Frau Edith hatte von der ihr ertheilten Erlaubniß, mit ihrem Bruder bei Frau Onslow zusammenzutreffen, anfänglich nur bescheidenen Gebrauch gemacht. Aber die harmlosen Besuche, die ihre einzige Zerstreuung bildeten, waren mit der Zeit häufiger geworden. Die Wirthschaft gab ihr, wie allen anderen Frauen in Shanghai, nichts zu thun. Sie hatte nicht gelernt, sich um Küche, Speisekammer und Wäscheschrank zu bekümmern. Das war Sache des Cook, des Boy und der Ama (Koch, Diener, Kammerfrau). Was sollte sie thun, während Georg im Komptoir arbeitete oder auf dem Wussong lag oder seine langen einsamen Spaziergänge machte, die ihm, dem Anscheine nach, ein Bedürfniß geworden waren? Besuche empfing sie nicht und hatte deßhalb auch keine zu erwiedern. Sie konnte doch nicht den ganzen Tag Romane lesen und sticken, und es war natürlich, daß sie sich bisweilen auch nach anderer Gesellschaft sehnte, als der des nachdenklichen Mannes, der ihr am Abende unendlich freundlich und liebevoll, aber wortkarg und traurig in dem stillen Salon gegenübersaß, bis die Uhr endlich, manchmal nach recht langer Weile, ankündigte, es sei nun an der Zeit, nach der ermüdenden Einförmigkeit des Tages die nächtliche Ruhe zu suchen. Sie bedurfte nicht so vieler Ruhe. Sie war jung! Bei Frau Onslow wurde sie mit offenen Armen empfangen, verzogen, wie sie es als Mädchen gewöhnt gewesen war. Ihr Bruder überhäufte sie seit ihrer Versöhnung mit Aufmerksamkeiten aller Art. Herr Morrisson brachte ihr neue Bücher. Selbst Herr Onslow entrichtete seinen Tribut, indem er ihr Geschichten aus der Shanghaier Gesellschaft erzählte, der sie seit ihrer Verheirathung fern stand, aber die für sie natürlich ein Interesse bewahrt hatte.

Das Wetter war rauh und unfreundlich geworden. Drei Abende hinter einander hatten Büchner und Edith sich allein gegenüber gesessen. Prati war auf einem seiner zahlreichen Ausflüge in das Innere und durfte erst in einer Woche etwa zurück erwartet werden.

[520] „Willst Du nicht zu Frau Onslow gehen?“ fragte Büchner.

„Was willst Du ganz allein anfangen, mein armer Georg?“ antwortete Edith.

„Ich habe noch zu thun unten im Komptoir – geh nur, mein Kind.“

„Wenn Du es erlaubst.“

Er hing ihr den Mantel um und half ihr in die Sänfte, die sie zu Frau Onslow tragen sollte. Dann kehrte er in das stille Zimmer zurück, in dem er nachdenklich lange Zeit auf- und abging. Endlich öffnete er die Thür zur Veranda. Der rauhe Wind blies in das Zimmer, das Lampenlicht flackerte in die Höhe. Er schloß die Thür hinter sich und trat auf die offene nasse Terrasse. Er blickte in die Höhe, er suchte seinen Stern, aber dunkles dichtes Gewölk lagerte niedrig und schwer über ihm. Aus der Ferne vernahm er das Rauschen des Wussong. „Es muß Hochwasser sein,“ sagte er im Selbstgespräch.

Er trat in das Zimmer zurück. Der Tisch war mit Büchern bedeckt. Er nahm eines davon, einen neuen Roman, und begann darin zu lesen. Aber seine Aufmerksamkeit erschlaffte bald. Er gab es auf, dieselbe anzustrengen, warf sich in den Sessel zurück, bedeckte das Gesicht mit der Rechten und blieb unbeweglich, wie ein in Schlaf Versunkener. Endlich vernahm er im Garten das helle Rufen der „Chair-Kulis“. Er erhob sich, strich sich mit der Hand über die Stirn, athmete tief auf und ging seiner Frau entgegen.

Diese trat elastischen Schritts mit leicht gerötheten Wangen in das Zimmer. „Frau Onslow läßt Dich herzlich grüßen. Nun, was hast Du ohne mich angefangen?“

„Ich hatte noch zu arbeiten und ich habe gelesen. Woher kommen all’ die neuen Bücher, die auf dem Tische liegen?“

„Kleine Aufmerksamkeiten des Herrn Morrisson.“

Die Besuche bei Frau Onslow wiederholten sich noch zweimal in derselben Woche, jedesmal auf Büchner’s Anregung; dann kam Prati zurück und leistete seinem Freunde des Abends Gesellschaft. Es war Vollmondszeit. Das Wetter hatte sich gebessert. Die beiden Freunde machten nach dem Essen lange Spaziergänge, so daß Edith gewöhnlich schon von Frau Onslow heimgekehrt war, wenn Büchner von seiner Promenade wieder nach Hause kam. Aber bald verschwand Prati von Neuem auf mehrere Tage.

„Darf ich zu Frau Onslow gehen?“ fragte Edith am Abend nach der Abreise des Italieners.

„Welche Frage! Natürlich, mein Kind. Viel Vergnügen!“

Dann drei Stunden später: „Frau Onslow läßt Dich herzlich grüßen. Wie hast Du den Abend verbracht?“

Und immer dieselbe Antwort: „Ich hatte noch zu arbeiten. Ich habe etwas gelesen. Die Zeit ist mir ganz schnell vergangen.“ Und eines Abends der Zusatz: „Welch’ schöne Blumen Du mitgebracht hast!“

„Herr Morrisson war so liebenswürdig, mir den Strauß zu schenken.“

Das ging noch ein halbes Dutzend Male so, und dann fing die gewsssenhafte kleine Frau an, sich Vorwürfe zu machen. Sie durfte ihren Georg nicht jeden Abend allein lassen; es war nicht denkbar, daß er immer arbeitete und las. Der Aermste langweilte sich wahrscheinlich tödlich.

„Gehst Du heut Abend nicht zu Frau Onslow?“

„Nein, ich bleibe bei Dir.“

Büchner’s Gesicht verklärte sich. „Meine gute Edith!“

„Siehst Du, daß Du Dich freust, mich hier zu haben. Weßhalb schicktest Du mich jeden Abend fort?“

„Ich schicke Dich nicht fort.“

„Nun gehe ich auch nicht wieder.“

Der Abend verging schnell und angenehm. Aber es giebt in einer einzigen Woche sieben – lange sieben Abende. Sie erschienen Edith mit jedem Tage länger. Ein unbeschäftigter Mann ist etwas Schreckliches!

„Willst Du nicht rauchen? Prati hat mir gesagt, es sei jetzt kein Thee zu kaufen, Du dürftest wieder rauchen.“

„Nein, Kind, es hat mir Mühe genug gekostet, es mir abzugewöhnen. Jetzt entbehre ich es nicht, und ich mag es mir nicht noch einmal angewöhnen, um es später wieder aufgeben zu müssen.“

Nach zehn oder zwölf Tagen war es Büchner wieder, der Edith bat, zu Frau Onslow zu gehen, und an demselben Abend, nachdem Edith gegangen war, ohne sich mehr als nöthig bitten zu lassen, erschien Prati. Er fand Büchner allein, noch nachdenklicher als gewöhnlich und erfuhr im Laufe des Abends die Ursache der besonderen Traurigkeit seines Freundes.

Das Gespräch zwischen Beiden lenkte sich in natürlicher Weise auf die abwesende Hausfrau. Prati hatte sich nach ihr erkundigt, und Büchner ihm geantwortet, sie befinde sich ganz wohl, sie sei zum Besuch bei Frau Onslow.

Darauf gerieth das Gespräch ins Stocken.

„Woran denken Sie eigentlich?“ fragte der Italiener.

Büchner begann langsam und leise zu sprechen; es war, als denke er laut: „Edith ist bei Frau Onslow. Ich habe sie gebeten, sich zu zerstreuen. Hier ist es einsam. Dies ist nicht das Haus, in dem sich eine junge Frau wohlbefinden kann. Ich bin traurig und Edith hat in meiner Gesellschaft keine Freude. Ihre Jugend sehnt sich nach Glück. Sie hat redlich versucht, es zu finden in dem freudlosen Kreise, in den mein Dasein gebannt ist. Vergeblich! Ich sehe wohl, wie sie nach Sonne und Wärme dürstet und sie in dem kalten Schatten, in dem ich lebe, dahin welkt. Ich selbst habe ihr die Thür des Gefängnisses geöffnet und sie ins Freie geführt. Aber sie fühlt sich dort ohne mich nicht sicher und flattert ängstlich nach ihrem Käfig zurück. Die treue Seele mag sich nicht freuen, weil ich traurig bin. Neulich kehrte sie heim mit Blumen, einem Zeichen, wie schön Gottes Welt da draußen ist. Und hier ist es öde und kalt, und ich allein halte sie zurück! …“ Er blickte starr vor sich hin. „Graue Dämmerung rings umher! – Ich möchte, es wäre dunkle Nacht!“

Prati fand kein Wort des Trostes. „Wollen wir einen Spaziergang machen?“ fragte er leise.

Keine Antwort.

„Raffen Sie sich auf, Büchner!“

„Wozu.“

Prati sah wohl, daß er an diesem Abend nicht helfen konnte. Er drückte Büchner die Hand und begab sich zu Frau Onslow. Als er die Treppe hinaufging, vernahm er freundliches Lachen, und deutlich unterschied er den hellen Klang von Edith’s frischer Stimme. Während er die Anwesenden begrüßte, sagte Frau Edith: „Herr Morrisson, erzählen Sie auch Herrn Prati die reizende Geschichte, sie wird ihm gefallen und wir hören sie gern noch einmal.“ Herr Morrisson ließ sich nicht lange bitten. Edith lauschte seinem Vortrag mit glänzenden Augen und stimmte wieder ihr fröhliches Lachen an, als er geendet hatte. Prati konnte an der Geschichte nichts Komisches finden, aber er sagte mit seinem verbindlichen Lächeln: „Sehr hübsch.“

Bald darauf entfernten sich die Anderen, und Prati blieb mit Frau Onslow allein. Er erzählte von seinem Besuche bei Büchner. Frau Onslow hörte aufmerksam zu.

„Was Büchner von den Blumen sagte, macht mich nachdenklich,“ bemerkte sie, als Prati geendet hatte. „Morrisson hatte sie Edith geschenkt.“

„Sie glauben doch nicht, daß Büchner eifersüchtig ist?“

„Nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Er weiß so gut wie Sie und ich, daß er sich auf Edith’s Liebe und Treue unbedingt verlassen kann.“

„Nun, was glauben Sie?“

„Er grämt sich über seine Ohnmacht, Edith glücklich zu machen: er bildet sich ein, daß dies Anderen gelingen könnte. Er denkt dabei vielleicht an Morrisson, – wie der Kranke an den Gesunden: mit einer Art von Neid, aber ohne Uebelwollen für den Andern.“

„Ich quäle mich nun seit bald drei Jahren mit Büchner,“ sagte Prati. „Ich habe es ehrlich versucht, ihn von seinem Elend zu heilen. Aber, Gott sei es geklagt, ich habe nichts erreicht, und heute fühle ich mich entmuthigt.“

„Sie waren ihm ein treuer Freund, Herr Prati, niemals hatte Jemand einen besseren, als Büchner in Ihnen besitzt. Sie haben Ihre Pflicht getreulich geübt. Der Beste kann nicht mehr als sein Bestes thun. Das haben Sie gethan. Aber ich fürchte, unserm Freunde ist nicht mehr zu helfen; er ist ein gebrochener Mann.“

„So geben auch Sie die Hoffnung auf, ihn je wieder froh zu sehen?“ fragte Prati verzweifelt.

„‚Je‘ ist ein langes Wort. Die Zeit heilt Alles. Aber ich komme wieder auf meinen alten Gedanken zurück. Edith und Büchner müssen China verlassen. Man müßte in Amerika oder in Europa etwas für sie zu thun finden.“

„Das ist auch meine letzte Hoffnung,“ sagte Prati. „Ich werde darüber nachdenken; wir kommen später darauf zurück.

[521]

Generalfeldmarschall Graf von Moltke.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von R. Huthsteiner.

[522] Ich sage Ihnen heute Lebewohl. Von Büchner habe ich mich schon verabschiedet, er wird es wohl seiner Frau bestellen, ich vergaß, ihr zu sagen, daß ich morgen wieder nach Sutschow gehe.“

„Sie sind ja soeben zurückgekehrt.“

„Ich konnte nicht Alles erledigen, was ich dort zu thun fand. Gegen Ende der Woche hoffe ich wieder in Shanghai zu sein. Auf Wiedersehen, Frau Onslow!“




9.

Es war Prati’s letzte Reise. Er kehrte von derselben lebend nicht zurück. Er erkrankte in dem verpesteten Lande an der Cholera und starb auf dem Großen Kanal, eine Tagereise vor Shanghai.

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die ganze fremde Niederlassung; nur Edith und Büchner, die mit Wenigen verkehrten, erfuhren davon zunächst nichts. Frau Onslow empfand tiefe Betrübniß darüber. Ihre größte Sorge aber war, wie Büchner diesen neuen Schlag ertragen werde. Sie sandte einen Boten zu Edith und bat diese um ihren Besuch. Edith erschien bald darauf. Sie erkannte sofort an Frau Onslow’s Miene, daß diese eine Trauerbotschaft zu machen habe, und fragte ängstlich, was vorgefallen sei. Frau Onslow erzählte es in möglichst schonender Weise.

„Mein armer, armer Georg! – Der gute treue Prati!“ rief Edith, und dann brach sie in Thränen aus. „Wie soll ich es Georg mittheilen?“ sagte sie weinend. „Ach, ich bin recht unglücklich; ich fühle mich vollständig rathlos.“

Frau Onslow erbot sich, die schwere Aufgabe zu übernehmen, Büchner die Nachricht von dem Tode seines Freundes zu bringen. Davon wollte Edith nichts hören. „Nein,“ sagte sie, „das darf ich Niemand überlassen. – Aber, liebe Frau Onslow, kommen Sie in einer Stunde etwa; dann ist es wohl besser für ihn, auch noch Andere als mich zu sehen.“

Die muthige kleine Frau trocknete ihre heißen Thränen und machte sich auf den Weg, die schwere Pflicht zu erfüllen, die sie sich auferlegt hatte.

Genau eine Stunde später erschien Frau Onslow in dem Büchner’schen Hause, wo Todtenstille herrschte. Der Diener sagte, Herr und Frau Büchner seien im Salon. Frau Onslow hatte nicht die Gewohnheit, sich bei guten Freunden anmelden zu lassen. Aber sie lauschte einen Augenblick, ehe sie einzutreten wagte. Alles war still. Als sie die Thür öffnete, erblickte sie Büchner vor dem Tisch sitzend und in seiner Rechten die Hand Edith’s haltend, die neben ihm stand. Er war sehr bleich, seine Augen waren trocken, auch schien es Frau Onslow nicht, als ob er geweint hätte. Der Redefluß der guten Frau war versiegt angesichts des großen Schmerzes, dessen Zeugin sie war. Sie drückte ihrem Freunde stumm die Hand, dann winkte sie Edith abseits und fragte, wie Büchner die Trauernachricht aufgenommen habe. Edith sagte nur: „Ach, der Arme!“

Die Beerdigung Prati’s fand am nächsten Morgen statt. An der Spitze der Leidtragenden, unmittelbar hinter dem Sarge, schritt der lange Holländer, alle übrigen Anwesenden um Hauptes Länge überragend. Er blickte starr auf die mit Blumen bedeckte Bahre, die vor ihm dem Kirchhof zugetragen wurde, und er bemerkte nicht, daß Aller Augen auf ihn gerichtet waren. Es war ein ergreifendes Schauspiel, wie der große starke Mann mit seinem Schmerze kämpfte, um Fassung zu bewahren, und wie er sie bis zum Ende nicht verlor.

Nachdem ein Priester die Trauerrede gehalten und man die Leiche in die Gruft gesenkt hatte, warfen die Anwesenden in üblicher Weise ein Jeder etwas Erde auf den Sarg und zogen sich still zurück; dann schaufelten die Todtengräber das offene Grab zu. Von dem Sarge war längst nichts mehr zu sehen, aber Büchner hatte seinen Platz neben der Gruft nicht verlassen und starrte noch immer nach der Stelle, wo die letzten Blumen unter der darauf geworfenen Erde verschwunden waren. An der Thür des Kirchhofes drehte Mancher, der Prati das letzte Geleit gegeben hatte, noch einmal den Kopf nach Büchner um. Dieser stand wie festgebannt auf derselben Stelle. Da berührte Edith, die sich mit Frau Onslow dem Leichenzuge in einem Wagen angeschlossen hatte, sanft den Arm ihres Mannes. Er wandte sich langsam zu ihr.

„Komm nach Hause,“ sagte sie. Darauf folgte er den Anderen. Unterwegs sprach er kein Wort, und Edith versuchte nicht, ihn zu trösten.

Der italienische Konsul hatte, gleich nachdem er die Anzeige von Prati’s Tode empfangen, dessen Nachlaß versiegeln lassen. Im Laufe des Tages, an dem das Begräbniß stattgefunden, erschien er sodann in Begleitung eines Kanzleibeamten, um das Inventarium der Hinterlassenschaft auszunehmen und in Gemeinschaft mit Rawlston nach Prati’s Testament zu suchen, da ein solches auf dem Konsulate nicht niedergelegt worden war. Aber es fand sich keines. Darauf bat der Konsul, Herr Rawlston möchte einen verständigen Diener zu seiner Verfügung stellen, der ihm bei der Aufzeichnung aller in Prati’s Zimmer vorgefundenen Gegenstände behilflich sein könnte. „Die Arbeit muß sorgfältig gemacht werden,“ sagte der Konsul; „sie wird wohl einen ganzen Tag in Anspruch nehmen, denn nicht eine Stecknadel darf in dem Nachlaßverzeichniß fehlen.“

„Ich werde Ihnen den Komprador hinaufschicken“ antwortete Rawlston, „das ist ein gewandter Mann, auch spricht er gut englisch, außerdem können Sie sich noch von Prati’s Boy helfen lassen.“

Der Konsul dankte; er setzte sich in des Verstorbenen Zimmer auf einen Sessel und begann zu lesen, während der Kanzleibeamte unter dem Diktat des Komprador’s und des Boy Alles niederzuschreiben begann, was diese als Herrn Prati angehörig bezeichnen konnten.

Die Arbeit währte schon seit einer Stunde, und der Konsul war trotz des ununterbrochenen Kommens und Gehens der Diener sanft eingeschlafen, als er plötzlich aus seinem Schlummer geweckt wurde durch den eigenthümlichen hellen Ausruf, der die Ueberraschung der Chinesen zu erkennen giebt.

„Ai–joh!“

Der Konsul wandte sich um und erblickte den Komprador und den Boy vor einem alten ledernen Koffer stehend, den sie soeben aus dem Schlafzimmer herbeigeschleppt, und dessen Inhalt, aus Kleidern und Büchern bestehend, sie auf dem Boden ausgebreitet hatten.

Der Komprador hielt einen gelblichen glänzenden Gegenstand von der Größe und Form eines kurzen kleinen Lineals in der Hand.

„Das gehört zu dem Ki-tschong-Golde,“ sagte er lakonisch.

Der Konsul verstand nicht, was das heißen sollte. Es wurde ihm bald erklärt. Und noch vor dem Essen wußten Rawlston und Wallice und Morrisson und Onslow und ganz Shanghai, mit der üblichen Ausnahme von Büchner und Edith, die ihre Wohnung seit dem Begräbniß nicht wieder verlassen hatten, daß Prati, den man am Morgen feierlich zur Erde bestattet hatte, der Dieb der zehntausend Dollars gewesen sei, für den der arme Büchner jahrelang gegolten hatte.

Die Geschichte war ziemlich verwickelt, aber die Aufklärung eine vollständige.

(Schluß folgt.)




Der Hitzschlag und Sonnenstich.

Von Dr. Otto Franz.

Alljährlich fordert im Sommer eine Krankheit von unserer Armee ihre Opfer, welche als eine Berufskrankheit im strengsten Sinne des Wortes bezeichnet werden muß, da sie fast nur beim Militär und zwar bei marschirenden Gruppen vorkommt: diese Krankheit ist der Hitzschlag. In den sechs Sommern von 1875 bis 1880 erkrankten daran in der preußischen Armee 501 Soldaten, von denen 102 starben; im letzten Sommer 1886 allein hatte die Armee 272 Kranke und 14 Todte in Folge von Hitzschlag. In wie viele Familien unseres Vaterlandes haben diese Zahlen unerwartetes Leid und namenlosen Schmerz gebracht!

Das Wesen dieser Krankheit, welche so alt zu sein scheint wie die Armeen überhaupt, war lange Zeit in Dunkel gehüllt. Man betrachtete den Hitzschlag früher als ein unvermeidliches Uebel, als die einfache Folge der Marschstrapazen und der großen Hitze im Sommer und bezeichnete die Krankheit dementsprechend als Ohnmacht, Erschöpfung, Stickfluß oder Schlagfluß. Erst in den letzten Jahrzehnten gewann man die Ueberzeugung, daß es sich hierbei um schwere innere Veränderungen des Körpers handle, welche nicht plötzlich, schlagartig, sondern ganz allmählich sich während des Marsches vollziehen und bei einer gewissen Höhe den [523] Tod des Mannes herbeiführen. Namentlich haben die Temperaturmessungen, welche amerikanische, englische und deutsche Militärärzte in schweren Fällen von Hitzschlag angestellt haben, zum ersten Male Licht über das Wesen dieser Krankheit verbreitet. Man fand Körpertemperaturen von ganz unglaublicher Höhe, wie man sie bis dahin von keiner einzigen fieberhaften Krankheit kannte, nämlich zwischen 42° und 45° C.(!) Die normale Körpertemperatur beträgt bekanntlich etwa 37° C. In fieberhaften Krankheiten steigt sie, je nach der Schwere der Krankheit, bis auf 39° und selbst 41°. So hohe Körpertemperaturen, wie beim Hitzschlage, sind sonst nur noch beim Wundstarrkrampf (Tetanus) beobachtet worden.

Diese wichtige Thatsache läßt keinen Zweifel darüber bestehen, daß das Wesentliche des Hitzschlages eine außerordentliche Steigerung der Körpertemperatur auf dem Marsche ist, bis zu einer Höhe, bei welcher der Organismus nicht mehr leben kann.

Nach Hiller – dessen lichtvoller Darstellung[1] wir hier im Wesentlichen folgen – wirkt die erhöhte Körpertemperatur hauptsächlich auf das Nervensystem nachtheilig ein, in geringeren Graden durch Symptome der Erschlaffung, ganz ähnlich wie im Fieber, in höheren Graden durch Lähmung der nervösen Centralorgane, des Gehirns und des verlängerten Marks, von welchen die Nerven für die Athmung und Herzthätigkeit ausgehen.

Die Erscheinungen, unter welchen der Hitzschlag bei marschirenden Truppen zu Stande kommt, sprechen in der That für diese Annahme. Man muß hier nur unterscheiden zwischen den Symptomen der bloßen körperlichen Erhitzung und denjenigen des Hitzschlages, beziehungsweise den nervösen Symptomen.

Beim Beginne eines Marsches werden stets nur die ersteren wahrgenommen. Der Soldat schwitzt stark; der Schweiß läuft ihm tropfenweise über das Gesicht und die Hände. Das Gesicht ist in Folge starker Erweiterung der Hautadern dunkel geröthet und gedunsen; die Hände erscheinen aus dem gleichen Grunde wie geschwollen; auch die Augen sind meist geröthet. Der Blick ist gewöhnlich zu Boden gerichtet und glotzend, der Mund halb geöffnet und die Athmung etwas beschleunigt. Der Waffenrockkragen und die beiden obersten Knöpfe sind (laut Vorschrift) geöffnet. Die Haltung des Mannes ist um diese Zeit noch eine gerade und straffe. – Alsbald tritt jedoch das zweite Stadium der Erkrankung ein. Symptome der Erschlaffung und Abstumpfung machen sich bei der marschirenden Truppe bemerkbar. Der Gesang und die Fröhlichkeit sind verstummt. Die Unterhaltung stockt; nur ab und zu hört man noch eine einzelne Bemerkung oder ein kurzes Kommandowort. In langen Reihen aufgelöst marschirt die Truppe zu beiden Seiten des Weges im Gänsemarsch lautlos dahin. Dabei hat sich die Haltung des einzelnen Mannes wesentlich verändert. Den Rumpf mehr oder weniger stark vorn übergebeugt (zur Erleichterung der Rückenlast), den Helm gewöhnlich etwas in den Nacken geschoben behufs Entblößung der Stirn, das Gewehr lose unter dem Arm, den Blick starr zu Boden gesenkt, marschirt er anscheinend mechanisch und apathisch weiter. Er hat keine Neigung zur Unterhaltung mehr, kein Interesse mehr für landschaftliche Reize oder für die Vorgänge in seiner Umgebung. Der Gesichtsausdruck ist ernst, fast verdrießlich; die Athmung ist beschleunigt und nicht selten keuchend. Der Mann hat augenscheinlich Mühe, sich und seine Last vorwärts zu tragen. Wird ein Halt gemacht, so legt oder setzt er sich ungesäumt zu Boden. Hiller hat durch zahlreiche Messungen der Körpertemperatur von Mannschaften des Grenadier-Regiments Nr. 11 (Breslau) nachgewiesen, daß die Körperwärme bereits in diesem Stadium ausnahmslos mehr oder weniger beträchtlich gesteigert ist, und zwar auf 38 5° bis über 40° C., also auf volle Fieberhöhe.

Bei einzelnen Leuten, namentlich bei jungen und ungeübten oder durch Krankheit, beziehungsweise durch Ausschweifungen geschwächten Soldaten erreicht die nervöse Erschlaffung schon in diesem Stadium einen solchen Grad, daß sie ohnmächtig und hinfällig werden, austreten müssen und sich erschöpft zur Seite des Weges niedersetzen. Es ist dies das sogenannte Schlaffwerden auf dem Marsche, ein Ereigniß, das mit Unrecht in der Armee bisher gering geschätzt wurde. Man hielt diese Erscheinungen bisher für Symptome physischer Ermüdung. Daß sie dies nicht sind, geht daraus hervor, daß an wärmeren Marschtagen die Symptome der nervösen Erschlaffung bereits zu einer Zeit auftreten, wo von einer Ermüdung der Muskeln bei so kräftigen jungen Leuten offenbar noch nicht die Rede sein kann. In einem Falle von Schlaffwerden – der Mann brach gerade während der Messung im Maisfelde ohnmächtig zusammen – fand Hiller eine Körpertemperatur von 40,2“ C.(!) Fälle von Schlaffwerden pflegen dem Hitzschlage in größerer Zahl voraus zu gehen. Sie sollten, sagt Hiller, den Truppen stets ein Warnungssignal sein, welches drohende Hitzschlaggefahr anzeigt.

Beim wirklichen Hitzschlage (drittes Stadium) nehmen die nervösen Erscheinungen sehr bald einen schweren und bedrohlichen Charakter an. Der Mann empfindet das Gefühl drückender innerer Hitze, welche ihm die Sinne raubt. Er wird benommen und apathisch; auf Fragen giebt er nur zögernd und unvollkommen Antwort. Dazu gesellen sich häufig Schwindelgefühl, Dunkelwerden vor den Augen, Klingen in den Ohren und andere Sinnesstörungen. Die Athmung wird alsbald unregelmäßig und unterbrochen; der Puls ist jagend und kaum fühlbar. Nicht selten erlischt hierbei auch noch die Schweißabsonderung der Haut – ein sehr bedenkliches und meist verhängnißvolles Symptom, da hiermit der letzte und oft allein thätige Abkühlungsfaktor auf dem Marsche erlischt. Die Körpertemperatur steigt nun rasch in die Höhe. Mehr und mehr schwindet dem Manne das Bewußtsein. Er hört und sieht nicht mehr; er antwortet nicht mehr auf Fragen. Taumelnd und stolpernd bewegt er sich anscheinend besinnungslos noch einige Schritte weiter, um dann in wenigen Augenblicken niederzustürzen. Gewöhnlich treten noch Krämpfe oder Muskelzuckungen hinzu. Wird nicht rechtzeitige und zweckentsprechende Hilfe gebracht, so tritt entweder sofort oder nach Verlauf von einigen Stunden unter Lähmung der Athmung und der Herzthätigkeit der Tod ein.

Nicht immer erfolgt das Zusammenbrechen des Mannes (Hitzschlag) schon auf dem Marsche, sondern häufig erst nach Erreichung des Marschzieles, beim Austheilen der Quartierbillette, nach der Ankunft im Quartier, nach Ablegung des Gepäcks und der Waffen. Ja selbst noch einige Stunden nach beendetem Marsche sind plötzliche Todesfälle und schwere nervöse Erkrankungen (Delirien, Geistesstörungen, Krämpfe, Lähmungen) als Nachwirkungen der hoch gesteigerten Körpertemperatur beobachtet worden.

Was die Ursache des Hitzschlages anbetrifft, so wird allgemein angenommen, daß die große Hitze im Sommer schuld an der Ueberhitzung der Mannschaften auf Märschen sei. Stabsarzt Dr. Hiller hat indeß nachgewiesen, daß die Hitze bei uns im Sommer niemals solche Grade erreicht, daß dadurch allein eine Steigerung der Eigenwärme zu Stande kommen kann. Die Lufttemperatur, bei welcher in den letzten 12 Jahren das Auftreten von Hitzschlag im deutschen Heere beobachtet worden ist, liegt zwischen 19,2° und 22,40° R. (im Schatten) oder 22° bis 28° C., ist also 10° bis 15° C. kühler als das menschliche Blut. Der Grund dafür, daß es trotzdem bei einer solchen Lufttemperatur so häufig zum Auftreten von Hitzschlag im Heere kommt, liegt in der Kleidung des Soldaten. Dieselbe ist eine Winterkleidung, berechnet für die kühleren Jahreszeiten, aber ungeeignet für den Sommer, da sie die Abkühlung des durch den Marsch erhitzten Körpers des Soldaten beträchtlich hindert. Sie führt bei der gesteigerten Wärmebildung des Körpers auf dem Marsche zu einer schweren Störung der Wärmebilanz, deren Resultat das Ueberwiegen der Wärme-Einnahmen des Organismus über die Wärme-Ausgaben, oder die Steigerung der Körpertemperatur bildet. Durch die Muskelarbeit beim Marschiren mit Gepäck wird die Wärmebildung im Körper ungefähr auf das Doppelte der in der Ruhe gebildeten Wärme gesteigert: dem gegenüber ist aber die Wärme-Abgabe des Körpers schon bei milder Sommertemperatur (15° R.) durch unsere Soldatenkleidung um mehr als das Dreifache (gegen den nackten Körper) verzögert, und zwar sowohl im schwitzenden als im nicht schwitzenden Zustande. Ein mäßiger Wind von nur 4 bis 7 Meter Geschwindigkeit begünstigt die Abkühlung des schwitzenden Körpers bedeutend. Dagegen bilden Windstille und feuchte Luft schon bei mittlerer Lufttemperatur (+ 16° R.) ein beträchtliches Hinderniß für die Abkühlung des Körvers, was auch durch die Erfahrung vollkommen bestätigt wird. Hiller faßt das Ergebniß seiner Untersuchungen in folgenden Worten zusammen: „Der marschirende Infanterist würde zur Sommerzeit, wenn er ganz nackt wäre, aber schwitzte, beinahe das Vierfache derjenigen Wärme nach außen abgeben können, welche er in seiner gegenwärtigen Kleidung abgeben kann, oder anders ausgedrückt, der Infanterist würde zur Sommerzeit, wenn er nur halb so warm gekleidet wäre als bisher, auf dem Marsche ungefähr das Doppelte an Wärme nach außen abgeben – was genügen würde, um jeder gefahrdrohenden Steigerung der Eigenwärme vorzubeugen.“

Sehr wesentlich gesteigert wird dies Hinderniß für die Abkühlung noch durch Bestrahlung von der Sonne. Da nur ein verschwindend kleiner Theil der Körperoberfläche des Soldaten (Gesicht und Hände) entblößt ist, so macht sich der erwärmende Einfluß der Sonnenstrahlen auch in erster Linie in den Kleidungs- und Ausrüstungsstücken des Soldaten geltend. Gerade die überwiegend dunkelfarbigen Uniformstücke unseres Heeres absorbiren bedeutend mehr Wärme aus den Strahlen der Sonne, als hellfarbige und weiße Stoffe. Dementsprechend fand Hiller in den verschiedenen Kleidungs- und Ausrüstungsstücken des Infanteristen nach durchschnittlich einstündiger Bestrahlung nicht selten Temperaturen von 38° bis 44° C., also weit über die Körpertemperatur. Daß unter solchen Verhältnissen die Wärme-Abgabe des Körpers beinahe ganz aufhört, daß nunmehr bei fortschreitender gesteigerter Wärmebildung durch die Muskelarbeit die Eigenwärme des Infanteristen von Minute zu Minute beträchtlich steigen muß, kurzum, daß nunmehr alle Chancen zum Auftreten des Hitzschlages im Beginnen sind, liegt auf der Hand. Wie die Erfahrung lehrt, kommt Hitzschlag bei Märschen in der Sommersonne, auf Wegen ohne Schatten, am häufigsten vor.

Indeß auch bei bedecktem Himmel, wenn durch hohen Feuchtigkeitsgehalt der Luft und geringe Luftbewegung im Sommer der Abkühlung des schwitzenden Körpers Schwierigkeiten entgegengesetzt sind, kommt Hitzschlag häufig genug zu Stande. Es geht hieraus zugleich hervor, daß der eigentliche Hitzschlag etwas Anderes ist als der Sonnenstich. Der Sonnenstich beruht, wie schon der Name sagt, auf einer unmittelbaren Wärmewirkung der Sonnenstrahlen auf entblößte Körpertheile, insbesondere auf den Kopf. Es kommt dadurch an der äußeren Haut zu Aetzwirkungen leichten Grades, ähnlich den Verbrennungen (Blasenbildung, Röthung, Entzündung), am Kopfe hingegen zu Entzündungen in den tieferen Theilen, insbesondere in den Hirnhäuten und im Gehirn, welche unter Schwindelgefühl. Delirien, Bewußtlosigkeit, Krämpfen und selbst ausgesprochenen Geistesstörungen (Manie, Tobsucht) innerhalb weniger Stunden bis zu einigen Tagen in der Regel zum Tode führen. Der Sonnenstich kommt eben so häufig, ja noch häufiger bei der Civilbevölkerung vor als beim Militär, insbesondere bei Feldarbeitern und Handwerkern, welche im Sommer zur Mittagszeit im Freien schlafen, ferner bei Bergsteigern und Schwimmlehrern, welche außer den sie unmittelbar treffenden Sonnenstrahlen noch die von dem Wasserspiegel beziehentlich von den Felswänden und Gletschern reflektirten Sonnenstrahlen oft stundenlang zu ertragen haben. Beim Militär sind die Erscheinungen des Sonnenstichs, wenn sie während des Marsches auftreten, in der Regel mit den in mancher Hinsicht ähnlichen Symptomen des Hitzschlages vereinigt, so daß viele Aerzte die Namen „Sonnenstich“ und „Hitzschlag“ ganz im gleichen Sinne gebrauchen.

Für die Verhütung des Hitzschlages folgt aus obigen Darlegungen, daß nächst der regelmäßigen Zuführung von Wasser zum Körper behufs [524] Unterhaltung der Schweißbildung, eine dem Klima und der Jahreszeit angemessene Erleichterung der Kleidung das wichtigste und sicherste Mittel ist, um das Auftreten von Hitzschlag und überhaupt das Zustandekommen einer das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit schädigenden Steigerung der Eigenwärme zu verhüten. Welche Art der Erleichterung sich für die Soldaten, mit gleichzeitiger Rücksicht auf das Kriegsverhältniß, am besten eignet, muß der Einsicht der leitenden militärischen Behörden überlassen bleiben. Hiller selbst empfiehlt einen leichten waschbaren Sommer-Waffenrock (Drillich) an Stelle der bisherigen Drillichjacke, ferner das Tragen wollener Hemden darunter, zur Vermeidung von Erkältung bei starkem Schweiße, und einen ausgiebigen Gebrauch des Mantels im Sommer, welcher außerdem wasserdicht gemacht werden soll. Die deutsche Heeresleitung, welche noch kürzlich ihre Fürsorge für die Armee durch zweckmäßige Abänderung der Ausrüstung derselben bethätigt hat, wird sicherlich auch diesen für die Gesundheitspflege und die Leistungsfähigkeit unseres Heeres wichtigen Fragen ihre volle Aufmerksamkeit zuwenden. So schließen wir mit der Hoffnung, daß der Sommer nicht mehr fern sein wird, in welchem die bisher alljährlich und mit großer Regelmäßigkeit von unserer Armee geforderten Opfer an Menschenleben durch Hitzschlag aufhören oder doch zu den Seltenheiten gehören werden.




Moltke in den Sommerferien.

Wenn der Frühling kommt, der Schnee aus den Gängen des Thiergartens hinweg schmilzt und das erste junge Grün Bäume und Sträucher deckt, hält es den Feldmarschall nicht länger in Berlin. Den langen Winter hindurch hat er tagtäglich von Morgens sieben Uhr am Schreibtische gesessen, Berichte und Eingaben studirend, denkend und arbeitend. Mit seiner charakteristischen festen Handschrift, die dadurch, daß er sich immer nur einer Gänsefeder bedient, ein fast alterthümliches Gepräge erhält, hat er seine Bemerkungen niedergeschrieben, die, in der strengen Logik ihrer Gedankenentwicklung, in der überzeugenden Richtigkeit ihrer Schlüsse, in ihrer knappen, alles Ueberflüssige vermeidenden Fassung noch immer unerreicht dastehen und Zeugniß geben von der ungeschwächten Schärfe dieses wunderbar klaren Geistes, an dem die Jahre spurlos vorüber zu gehen scheinen. Fast keine Sitzung des Reichstages hat er versäumt; eines der pflichttreuesten Mitglieder, hat er den Saal nur selten vor dem Schluß der Verhandlungen verlassen, oft erst gegen sechs Uhr zurückkehrend, um abgespannt und erschöpft sein einfaches Mittagsmahl einzunehmen. In seinem Arbeitszimmer warten neue Stöße von Briefen, neue Arbeiten auf ihn; nur selten gönnt er sich eine halbe Stunde der Ruhe, und oft sieht man bis tief in die Nacht hinein hinter den Fenstern über dem großen Portal des Generalstabsgebäudes die stille Lampe brennen, bei deren Schein der Siebenundachtzigjährige für die Sicherheit des Vaterlandes arbeitend sitzt, während gegenüber bei Kroll das lustige Berlin sich amüsirt.

Schloß Creisau.
Originalzeichnung von R. Püttner.

Nun aber scheint die Sonne so verlockend; die Staare sind angekommen; aus der starren Ruhe des Winters erwachend, beginnt die Natur sich zu regen; der Frühling lockt mit seiner jungen Schönheit hinaus aufs Land. Nach der arbeitsvollen Winterszeit sehnt sich der Feldmarschall nach der Ruhe des Sommers. Schwerfälligkeit in den Vorbereitungen der Abreise, langes Vorherbestimmen des Reisetages kennt er nicht. Ein mäßiger Koffer genügt, um die Bedürfnisse für den Sommer aufzunehmen; in einer halben Stunde ist er gepackt; ein sonniger Morgen bestimmt den Entschluß zur Abfahrt. Nie sieht man den Feldmarschall heiterer, als wenn er im schlichten Civilanzug Berlin verläßt, um sich auf sein schlesisches Gut Creisau zu begeben. Ungeduldig die Ankunft des Zuges erwartend, wandelt er, die Hände auf den Rücken gelegt, den Perron des Bahnhofs Friedrichsstraße auf und ab. Wenn er das Interesse bemerkt, das seine Erscheinung erregt, zieht er sich möglichst zurück; er möchte am liebsten ganz unbemerkt bleiben, was ihm freilich nie gelingt; denn Jedermann kennt ihn und Alle grüßen ihn achtungsvoll. Regelmäßig wählt der Feldmarschall den Morgens nach Breslau abgehenden Schnellzug zur Reise. Er liebt es, am Tage zu reisen und vom Fenster des Koupés aus die Gegend zu betrachten. Bei der ihm eigenen scharfen Beobachtungsgabe entgeht Nichts seinem Blick. Er beobachtet den Stand der Saaten, die Verschiedenartigkeit des Anbaus, die Veränderungen der Vegetation, je mehr der Zug nach Osten vorrückt; er kennt jeden Höhenzug, jeden Flußlauf im Gelände; er weiß die Namen aller sichtbar werdenden Ortschaften zu nennen, ja selbst die Besitzer der meisten Güter, an denen die Eisenstraße vorbei führt. Immer wählt er seinen Platz so, daß er das Gesicht der Fahrtrichtung zuwendet; unbekümmert um Zug und Staub steht er am offenen Fenster, wenn in blauer Ferne die Kontouren des Riesengebirges sich abheben, und verfolgt mit den scharfen grauen Augen die Thäler und Höhenzüge. In weitester Entfernung erkennt er die feinen Linien der Chausseen; er weiß, von wo sie kommen, über welchen Gebirgsrücken sie führen, welche Ortschaften sie verbinden. Nie benutzt er ein Glas, um in die Ferne zu blicken; nur beim Lesen kleiner Schrift bedient er sich eines Binocles. Sein Blick hat ein eigenthümlichss Wahrnehmungsvermögen für jede geringste Abweichung von dem Horizontalen oder Senkrechten; die [525] unbedeutendste Neigung einer Mauer, einer Säule erkennt er sofort, wo die Augen von Hunderten, die täglich darauf ruhten, nichts bemerkten.

In Kohlfurt wird zu Mittag gespeist. Mitten unter den Gästen, die der Zufall hier an den bereit stehenden Tafeln zusammengeführt, sitzt der Feldmarschall. Es würde ihm nicht einfallen, vorher ein besonderes Diner zu bestellen; wo alle Anderen satt werden, wird es auch für ihn genügen. Flüsternd geht die Mittheilung von Tisch zu Tisch: „Das ist Moltke!“ und mit staunendem Interesse betrachten die Zunächstsitzenden ihren berühmten Tischnachbar.

In Schweidnitz wartet der Wagen, der Moltke nach halbstündiger Fahrt nach seinem Gute bringt.

Vor der Einfahrt in den geräumigen Gutshof steht eine 1870 gepflanzte Eiche, unter derselben ein Granitblock mit dem eingehauenen Datum: „Sedan 1. 9. 1870.“ Das große, im Renaissancestil erbaute Schloß liegt von den Wirthschaftsgebäuden getrennt durch eine grüne Mauer von Bäumen und Sträuchern. Zwei Kanonen sind vor demselben aufgestellt. Sie wurden dem Feldmarschall durch das Telegramm des Kaisers vom 18. August 1871 zum Geschenk gemacht und sind aus dem vorigen Jahrhundert stammende, in Soissons eroberte bronzene 15 Centimeter-Kanonen in Blocklafetten. Eine steinerne Treppe führt zu dem Portal des Schlosses hinan, durch das man in einen geräumigen Vorsaal tritt. Alle Zimmer des Schlosses sind groß und weitläufig. Nirgends zeigt sich eine Spur von Luxus; da sind keine Portièren, keine Teppiche, keine weichen Fauteuils, in denen man behaglich versinkt, nichts von all dem Komfort, mit dem die verwöhnten Wohlhabenden unserer Zeit ihre Häuslichkeit auszustatten lieben. Alles kennzeichnet die Bedürfnißlosigkeit des Besitzers. Moltke hat es niemals geliebt, sich zu verwöhnen; in seinem arbeitsvollen Leben war kein Raum für den Genuß träger Bequemlichkeit. Wie er, wenn er spricht oder schreibt, alles Ueberflüssige vermeidet, nur den Kern der Sache im Auge haltend, so hat auch alles Ueberflüssige des äußeren Lebens niemals Einfluß auf ihn gewinnen können, und wie er seine großen Erfolge hauptsächlich dem Umstand verdankt, daß keine Nebensache jemals die Richtung seines Blicks ablenkte oder irrte, da sein Auge immer das Richtige erkannte und festhielt, so legt er auch den Lebensformen, die ihn umgeben, nur wenig Werth bei. In antiker Größe betrachtet er die Arbeit als das Beste des Lebens und als den schönsten Genuß desselben das Bewußtsein strenger Pflichterfüllung. Wie die ganze Denkungsart und Sinnesweise dieses seltenen Mannes im wahrsten Sinne des Wortes vornehm ist, wie während eines langen thatenreichen Lebens niemals auch nur der Schatten einer selbstsüchtigen Handlung auf dieselben fiel, so ist auch der Eindruck des Heims, welches er sich geschaffen; ohne Prunk, ohne weichliche Bequemlichkeit, aber still, groß und vornehm.

Der Feldmarschall liebt sein Creisau, wie man eben seine eigene Schöpfung liebt, und in der That ist Creisau, wie es sich heute dem Auge zeigt, seine eigenste Schöpfung. Als er im Jahre 1868 das Gut kaufte, war es ziemlich vernachlässigt und heruntergekommen; jetzt ist es wirthschaftlich und landschaftlich eins der schönsten Güter im Kreise. Der Park, der sich an das Schloß anschließt, ist von dem Feldmarschall ganz neu geschaffen; er selber ging mit dem Nivellirinstrument in mühevoller Arbeit umher, den Lauf der Wege bestimmend, die er, jede unnöthige Steigung vermeidend, durch das hügelige Terrain führte; er selber bestimmte die Anpflanzung der Baumgruppen, die Anlage der Bosketts, die Ausfüllung von Vertiefungen, die Ausrodung unbrauchbaren Buschwerks. Zu Hunderten ließ er seinen Lieblingsbaum, die Eiche, pflanzen, wohl bewußt, daß nach menschlicher Berechnung er selber nicht mehr die Vollendung dessen erleben werde, was er schuf aber unbeirrt den Blick auf die Zukunft gerichtet. „In hundert Jahren muß es hier schön sein,“ äußerte er einst, und die Natur, dankbar für die Pflege, die ihr zu Theil ward, lohnt doch schon jetzt dem Manne, der sie liebt. Er, der mit 68 Jahren anfing, die ersten Bäume zu pflanzen, kann jetzt nach 20 Jahren schon in ihrem Schatten spazieren gehen; mächtig hat der gute Boden die Pflanzungen in die Höhe getrieben; die schwachen Bäumchen sind erstarkt; die Eichenalleen haben sich geschlossen, und schon tritt der Plan des Ganzen in die Erscheinung, den feinen Schönheitssinn des Schöpfers bekundend.

Grabkapelle im Park zu Creisau.
Originalzeichnung von R. Püttner.

Dieser Park ist die stäte Freude und Beschäftigung des Feldmarschalls während seines Sommeraufenthalts. Auch in Creisau ist er immer früh auf. Er kennt nicht die vorbereitende Bequemlichkeit eines Morgennégligés. Schlafrock und Pantoffeln existiren nicht unter seinen Garderobestücken. Sobald er aufgestanden ist, kleidet er sich zum Ausgehen an; nie bedient er sich der Hilfe seines Dieners beim Ankleiden; kein Wetter hält ihn ab, stundenlang draußen zu sein. Die einzige Koncession, die er dem herabströmenden Regen macht, ist das Hinaufschlagen des Rockkragens, aber dann muß es schon stark kommen. Nachdem er, meist um sieben Uhr, seinen Kaffee getrunken hat, erledigt er bis gegen zehn Uhr schriftliche Arbeiten; dann geht es hinaus. In der Brusttasche des Rocks steckt die Gartenschere; in der Hand trägt er einen Stock, der sich zur Baumsäge spannen läßt. So wandert er, vom Alter kaum gebückt, durch die Gänge seines Parks, bleibt hier und dort stehen, um einen dürren Zweig abzusägen oder mit der Schere die Wildschößlinge zu beschneiden. Bisweilen muß ihn der Förster begleiten, um hier und da einen Baum zu fällen, der eine Aussicht verwachsen hat; denn schon sind die Anlagen auf dem Entwickelungspunkt angekommen, wo es den dichtgepflanzten Bäumen zu eng wird neben einander und wo der schwächere, der nach dem ewigen Gesetz der Natur neben seinen kräftigeren Nachbarn verkümmerte, weggeschlagen werden kann.

Nicht immer aber entschließt sich der Feldmarschall dazu, einem solchen verkümmerten Bäumchen vollends das Leben zu nehmen; oft wendet er gerade seine Sorgfalt einem Bäumchen zu, das nicht vorwärts kommen kann. Es ist derselbe Zug seiner Natur, die immer bereit ist, dem Schwachen zu helfen, der sich auch hier [526] bethätigt. Sorgfältig verschneidet er die überhängenden Zweige, um dem Kleinen Luft und Licht zu schaffen, und freut sich, wenn es ihm gelingt, Leben und Blühen bei demselben hervorzurufen. Wie er Hunderten seiner Mitmenschen geholfen hat und in seiner stillen Weise noch immer hilft, so zieht es ihn auch hier zu den Schwachen; dieser starke Geist, der in seiner Jugend die harte Schule des Lebens durchmachte, der aus eigener Kraft das geworden, was er ist, war immer bereit, von dem Ueberschuß seiner Kraft an den Schwächeren abzugeben, dem zu helfen, der nicht, wie er, es vermocht hat, den Kampf des Lebens zu bestehen ohne andere Stütze als die Energie des Willens und die hart erworbene Fähigkeit des Entsagens. In der Brust dieses schlichten Mannes schlägt ein warmes mitfühlendes Herz, und niemals hat er unter der Last seines Ruhms und seiner Ehren es verlernt, menschlich zu fühlen und zu handeln.

Bis an den Fuß eines mit Fichten dicht bewachsenen Hügels ziehen sich die Anlagen hin. Auf dem Gipfel desselben öffnet sich ein schöner Blick auf den ganzen Komplex des Gutshofes; weit hinten sieht man die Thürme der Stadt Reichenbach. Hier hat der Feldmarschall eine kleine Kapelle erbaut; in derselben steht ein Sarg, die Ueberreste seiner früh verstorbenen Gemahlin enthaltend. Fast täglich besucht er diesen stillen Ort, um einen Blüthenzweig, eine Rose auf den Sarg zu legen und mit entblößtem Haupt der Verstorbenen zu gedenken. Tiefe Stille herrscht hier oben; die dunklen Nadelhölzer stehen ernsthaft umher, und durch die blauglasigen Fenster fällt gedämpftes Sonnenlicht in den kleinen Raum. Um die Thür aber und über das Dach hinweg schlingt eine Kletterrose ihre üppigen Ranken; Tausende von Blüthen und Knospen winken herab mit duftender Pracht und umschließen wie die Verheißung immer neu erstehenden Lebens die Stätte des Todes.

Von dem Gutshof her tönt jetzt die Glocke, welche die Leute nach der Mittagspause zur Arbeit ruft. Es ist 1 Uhr, die Stunde des Mittagessens im Schloß. Eine Viertelstunde vor Beginn desselben wird vor dem Hause das Tamtam gerührt, um alle Bewohner zum Essen zusammen zu rufen; denn nicht einsam lebt der Feldmarschall in diesem. Einer seiner Neffen, ein anerkannt tüchtiger Landwirth, führt ihm die Bewirthschaftung des Gutes; ein zweiter, Hauptmann im Generalstab, ist sein Adjutant und begleitet ihn für den Sommer nach Creisau, mit ihm seine junge Frau, eine geborene Komtesse Moltke, und deren drei Kinder. Diese ganze Familie sammelt sich um den Mittagstisch. Der Feldmarschall ist ein großer Kinderfreund. Willig läßt er sich von den Kleinen aus seinem Arbeitszimmer heraus an den Tisch ziehen; freundlich fragt er nach ihren kleinen Erlebnissen und dankt für die Blumen, die sie ihm während seiner Abwesenheit auf den Arbeitstisch gestellt haben.

Das Mittagsmahl selbst geht rasch vorüber. Der Feldmarschall liebt es nicht, lange bei Tisch zu sitzen. Im höchsten Grade mäßig, ißt er nur wenig und liebt einfache Hausmannskost. Sein tägliches Getränk ist ein leichter Moselwein, von dem er jedoch kaum eine halbe Flasche täglich genießt. Nach Tische wird eine Cigarre angesteckt; dann zieht sich der Feldmarschall zurück, um eine Stunde zu ruhen, die eingelaufenen Zeitungen zu lesen und Unterschriften zu erledigen.

Das Arbeitszimmer des Feldmarschalls ist im höchsten Grade einfach gehalten. Weiße Tüllgardinen vor den Fenstern, damit das Licht frei hereinfallen könne, ein großer offener Schreibtisch mit einem einfachen Rohrsessel davor, ein alterthümliches Sofa mit einem Mahagonitisch machen so ziemlich das Ameublement aus. Ein eigenthümlicher Schmuck ist ein fast die ganze eine Wand einnehmender Stammbaum der Familie Moltke. Es ist dieses eine Arbeit des Feldmarschalls, die Frucht mühevollsten Studiums in vielen ihm bereitwillig geöffneten Archiven und Kirchenbüchern. Vom Jahre 1220 beginnend, wo der Stammvater des Geschlechts, ein Ritter Mathäus Moltke, zuerst aktenmäßig nachweisbar ist, breitet sich die Familie, ohne Unterbrechung von Vater auf Sohn weitergeführt, in die verschiedensten Zweige aus; in Schweden, Oesterreich, Württemberg, Preußen leben Angehörige des Geschlechtes; in Dänemark gehören dieselben zu den reichst begüterten des Landes. Durch fünf Jahrhunderte erhielt sich der alte Stammsitz der Moltkes Toitenwinkel und Samow in Mecklenburg in dem Besitz des Zweiges, dem der Feldmarschall entsprossen ist und der bereits drei Feldmarschälle aufweist. Noch der Vater Moltke’s war in Mecklenburg angesessen, bis die Napoleonischen Kriegsjahre ihm auch diesen letzten Besitz entrissen. Jetzt hat der Feldmarschall sich aufs Neue angesiedelt in den lieblichen Fluren Schlesiens, umgeben von den Schlachtfeldern des großen Königs.

Nachmittags wird, wenn das Wetter es nur irgend zuläßt, spazieren gefahren, immer im offenen Wagen. Wie man den Feldmarschall selbst bei schlechtestem Wetter nie mit einem Regenschirm sieht, so sieht man ihn auch nie im geschlossenen Wagen. Sein eiserner, durch die Strapazen seiner zahlreichen Reisen abgehärteter Körper scheint unempfindlich gegen die Unbilden der Witterung, und wenn er ausfährt, so will er auch sehen. Meilenweit durchstreift er im Wagen die Umgegend. Wenn er eine größere Tour unternimmt, bezeichnet er vorher auf der Karte den Weg, der gefahren werden soll, und giebt nachher aus dem Gedächtniß dem Kutscher die Straßen an, die er einzuschlagen hat, sich niemals auch nur in der Wahl eines Feldweges irrend.

Wenn Besuch im Hause ist, wenn die jüngere Generation der Neffen und Nichten sich um den Chef der Familie versammelt hat, dann liebt es der Feldmarschall, sich Nachmittags am Croquett zu betheiligen. Er kann unermüdlich eine Partie nach der andern spielen, fast immer des Sieges gewiß. Abends um 8 Uhr wird Thee getrunken. Der Morgenkaffee, das Mittagessen um 1 Uhr und Abends der Thee sind die einzigen Mahlzeiten, die der Feldmarschall genießt. Niemals hat er Essen und Trinken als etwas Anderes betrachtet, als die Befriedigung einer natürlichen Nothdurft; niemals hat er den materiellen Genüssen des Lebens eine Herrschaft über sich eingeräumt. Wie er ein mäßiger Esser ist, so ist er auch ein mäßiger Raucher; dagegen ist er, wie Viele, die geistig angestrengt arbeiten, ein starker Schnupfer und geht nie aus, ohne die Dose bei sich zu führen.

Nach dem Thee kommt der allabendliche Whist. Es ist bekannt, daß der Feldmarschall fast keinen Abend hingehen läßt, ohne seine Partie zu machen. Während aller Feldzüge, die er leitete, war die Partie seine tägliche Erholung. Er gebrauchte sie, um seine Gedanken auf etwas Mechanisches abzuleiten, sie gewissermaßen zu einer Ruhepause zu zwingen. Um gut zu spielen, mußte er dem Gang des Spieles aufmerksam folgen, und wie er nichts, was er unternimmt, halb thut, so beherrscht er auch dies Spiel mit vollendeter Meisterschaft.

Sonntags besucht der Feldmarschall regelmäßig die in dem eine halbe Stunde entfernten Dorf Gräditz gelegene Kirche. Meistens geht er zu Fuß hin und zurück. Als ihm einst einer seiner Verwandten Vorwürfe machte, daß er bei Regen und Wind nicht habe anspannen lassen, um zu fahren, antwortete er: „Bei dem Wetter konnte ich doch unmöglich Kutscher und Pferde hinausjagen.“ Diese Rücksichtnahme auf Andere kennzeichnet vollkommen den Mann, der niemals an sich selber denkt, der oft in fast herber Weise ihm gebotene Dienstleistungen zurückweist, von Jugend auf gewohnt, sich selber zu helfen, und dem es peinlich ist, wenn er bemerkt, daß seinetwegen Umstände gemacht werden.

Von Zeit zu Zeit kommt einer der Officiere vom großen Generalstab von Berlin herüber zum Vortrag. Dann kann der Feldmarschall wieder Tage lang am Schreibtisch sitzen, bis die Arbeit beendet ist und er wieder die Muße findet, sich des Landlebens zu freuen. Dann wandelt er wieder unter seinen Bäumen einher: die schlanke Gestalt im einfachen Gehrock ist etwas vornüber gebeugt; der Schritt ist noch immer elastisch und leicht; das gänzlich bartlose Gesicht von zarter blasser Farbe mit seinem fein geschnittenen Profil zeigt die Runzeln des Alters. Aber in diesen festen charaktervollen Kopf hat das Leben nicht die tiefen Furchen eingegraben, welche Genüsse und Leidenschaften hinterlassen; nur die geistige Arbeit hat ihre edlen Linien auf seine hohe Stirn und um die ernsten Augen gezogen. Edel und vornehm ist die ganze Erscheinung, über der wie ein Hauch die Reinheit eines langen Lebens liegt, das nie getrübt wurde von Allem, was niedrig ist.




[527]

Magdalena.

Von Arnold Kasten.
(Fortsetzung.)
8.

Graf Hochberg blieb eine Zeit lang wie fest gebannt stehen; dann sank er in einen Lehnstuhl und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Als er sie wieder sinken ließ, hatten seine todesblassen Züge einen furchtbaren, beinahe irrsinnigen Ausdruck angenommen. Er starrte lange vor sich hin auf den Boden.

„Der gefälschte Wechsel,“ murmelte er, „ein häßliches Wort! Bin ich denn wirklich ein – Fälscher?!“ –

Plötzlich sprang er auf. „Der Niederträchtige!“ rief er in einem Anfalle zügelloser Wuth. „Warum ließ ich ihn fortgehen? Warum habe ich ihn nicht zu Boden geschlagen, zertreten? Mir diesen Schimpf, diese Schmach! – Wer ist dieser Mensch? Warum drängt er sich in mein Leben? Warum verfolgt er mich? Warum wirft er mir aus dem Hinterhalt die Schlinge um den Hals und zerrt mich zu sich heran? Will er mich vernichten?“

Graf Erich fiel wieder in das vorherige finstere Brüten zurück. Er kenne ihn schon seit seiner Jugend, hatte der Konsul gesagt, und dem Grafen war es jetzt plötzlich, als kenne er Felsing auch. Ja, einmal hatte es ihm geschienen, als ob er diese Stimme schon gehört hätte! In Ruitenheim, hatte Felsing gesagt, in Ruitenheim, wo er vor Jahren die Liaison mit der schönen Magdalena hatte!

Der Graf versank in ein langes, peinvolles Nachdenken, er fühlte immer deutlicher die Nähe eines Feindes, eines planmäßig und unerbittlich vorgehenden Feindes, gegen den aller Widerstand vergeblich war. Die Drohung mit dem Staatsanwalt ging ihm auch plötzlich in schreckensvoller Klarheit auf. Es war so augenscheinlich – Felsing wollte ihn vernichten, an Vermögen und Ehre; er hatte die ganze Sache mit dem schurkischen Treiber abgekartet. Allmächtiger Gott! Wegen Fälschung verhaftet, vor Gericht gestellt, verurtheilt, ins Zuchthaus – nein, nimmermehr, das nicht! Aber wo Hilfe finden und Rettung? Es gab keine mehr – außer Einer! Wie ein Blitz zuckte der Gedanke in dem gequälten Hirne auf. Ja, das war es – ein rasches Ende – und zwar jetzt gleich!

Der Graf hob entschlossen das Hanpt, trat an seinen Schreibtisch und öffnete das Fach, wo sein Revolver lag. Indem er ihn langsam herausnahm, sah er sich noch einmal in dem schönen Raum um, den die Sonnenstrahlen vergoldeten. Hier war er ein glücklicher Mann gewesen, beneidenswerth vor Tausenden, und nun stand der Tod neben ihm und wich nicht mehr, bis er ihn zu Boden geworfen hatte, regungslos ausgestreckt – nein, nicht daran wollte er denken, er mußte fest bleiben und das Nöthige noch ordnen.

Und wenn es dann aus war mit ihm, was dann? Würde mit ihm aus der Welt schwinden, was er gethan? War dann der Haß des Unerbittlichen gesättigt? Oder würde er ihn noch über das Grab hinaus verfolgen, ihn, seine Frau, die unschuldigen Kinder?!

Mit diesen Gedanken legte sich eine furchtbare Bangigkeit auf seine Brust.

Wenn er sich noch einmal, noch tiefer vor Felsing demüthigte, noch einmal zu ihm ginge, ihn anflehte? – Nein! Es würde ja doch nichts nützen, Felsing würde ihn wieder mit seinem eiskalten Hohne überschütten – nein, mochte kommen, was da wollte, das konnte er nicht mehr! Also sterben! Vielleicht daß, wenn er sich selbst dem Hasse Felsing’s zum Opfer gebracht, dieser wenigstens Frau und Kinder verschonte! Eine gerichtliche Klage konnte nach seinem Tode ohnedies nicht mehr angestrengt werden, wenn der Wechsel eingelöst wurde, und seiner Familie blieb so immerhin noch so viel, daß sie nicht in Noth gerathen konnte.

Nachdem der Graf seinen Entschluß gefaßt hatte, kam eine verhältnißmäßige Ruhe über ihn. Er begann die nöthigen Anordnungen niederzuschreiben, überhaupt noch ein wenig Ordnung zu schaffen. Es war halb vier Uhr. Er wußte, daß um vier Uhr seine Frau mit Gabriele von ihrer Spazierfahrt zurückkehrte. Bis dahin konnte Alles vorüber sein.

Er klingelte seinem Diener und sagte demselben, daß er zu arbeiten habe und ungestört sein wolle.

„Lassen Sie Niemanden eintreten,“ fügte er hinzu – „hören Sie. Niemanden! Und machen Sie ein kleines Feuer in dem Kamin! Ich finde, es ist etwas frostig hier. Ist Hans zu Hause?“ frug er sodann, während der Diener das bereits im Kamin geschichtete Holz in Brand setzte.

„Nein, Herr Graf! Er ging vor einer Viertelstunde mit dem Herrn Doktor aus.“

„Es ist gut. Sie können gehen.“

Aber der Diener, ein alter Mann mit weißen Haaren, zögerte.

„Gestatten mir der Herr Graf,“ begann er, an der Thür stehen bleibend, „Ihnen im Namen meiner kranken Tochter, die ich heute besuchte, aufs Herzlichste zu danken für die reichliche Unterstützung, welche Sie ihr zukommen ließen. Die Kinder sind nun in guter Pflege, und auch meiner Tochter geht es jetzt, wo die große Sorge von ihr genommen ist, besser. Sie ist wieder ganz heiter und glücklich und wünscht mit ihren Kindern dem Herrn Grafen Gottes reichen Segen, Gesundheit und ein langes Leben.“

Der Alte küßte dabei respektvoll des Grafen Hand.

„Das freut mich, lieber Friedrich,“ erwiederte lächelnd Graf Erich, „es freut mich sehr. Es ist gut jetzt, Friedrich, gehen Sie!“

Nachdem der Diener das Zimmer verlassen hatte, verriegelte Graf Erich beide Thüren, dann setzte er sich an den Schreibtisch, um einen Brief an seine Frau zu schreiben.

„Liebe Claire,“ begann er, aber schon nach diesen Worten stockte er. Ob er ihr Alles mittheilte? Nein, das ging nicht, sie sollte doch wenigstens noch die Möglichkeit haben, an seine Unschuld zu glauben – um ihrer selbst willen!

Er begann wieder zu schreiben:

„Meine Lage ist unhaltbar geworden, und ich sehe mich in der bitteren Nothwendigkeit, Euch zu verlassen. Laß nach meinem Tode durch Deinen Notar, den Justizrath, sofort das hiesige Anwesen und Hochberg verkaufen. Der Erlös wird hinreichen, nicht nur meine und Eugen’s Verbindlichkeiten zu decken, sondern auch Dir und den Kindern noch eine erträgliche Existenz zu bereiten. Konsul von Felsing ist im Besitze eines Wechsels, bei dessen Ausstellung mir in unbegreiflicher Uebereilung ein verhängnißvolles Versehen passirte. Diesen Wechsel einzulösen soll die erste Sorge des Justizraths sein. Es hängt viel davon ab. In allen unser Vermögen und den Verkauf der Güter betreffenden Angelegenheiten weiß der Justizrath Bescheid. Uebertrage ihm Alles!

Grüße die Kinder! Ich umarme sie und Dich, mein geliebtes Weib! Lebt wohl und verzeiht mir! Es muß sein! Dein Erich.“

Er faltete den Brief und adressirte ihn: „An meine Frau.“

„Ah, das wäre geschehen,“ sagte er mit einem Seufzer der Erleichterung. „Nun meine Papiere noch ordnen.“

Er schloß ein zweites Fach des Schreibtisches auf. Es war sein „geheimes“ Fach und enthielt alte Briefe und Erinnerungen, zum Theil aus seiner frühesten Jugend! Das Beste schien ihm, Alles zusammen zu verbrennen. Er mochte es nicht mehr ansehen, brauchte er doch kaltes Blut. Rasch nahm er eine große Anzahl von Briefen und verschiedenen Gegenständen. Haarlocken, Schleifen, vertrocknete Blumen, einen Fächer, einen Schlüssel aus dem Fach. Aber indem er sich anschickte, sie ins Feuer zu werfen, zögerte er doch.

„Zu was man das Alles aufbewahrt!“ murmelte er. „Man scheut sich, es wegzuwerfen, zu vernichten, und sieht es doch nur dann wieder, wenn man sich auf ewig davon trennen muß!“

Durch seine Finger glitt eine Anzahl von Frauenbriefen, die er einst in Paris während seines dortigen Aufenthalts als Attaché erhalten hatte. Dieser hier war von der Marquise Ernomville, ein gefährlicher Brief – der Marquis hatte Verdacht geschöpft, und wenig fehlte, so hätte er ihn der Zofe abgenommen! Zahlreiche Billets rührten von Fernande, der Schauspielerin am Gymnase, her; sie stand mit der Orthographie auf sehr gespanntem [528] Fuße. – Dann folgte eines – es duftete wahrhaftig noch nach beinahe dreißig Jahren – von der schönen Lady Ellen, sie liebte dieses starke, verrätherische Parfüm; diese blonde Locke war von ihr. Welch wunderbar langes Haar sie hatte! Hier war auch ihr Bild – wie sah das nun verblaßt aus!

Briefe eines Jugendfreundes folgten, der sich wegen einer unglücklichen Liebe in Rom erschossen hatte. Der Graf sah sie nicht ohne Bewegung. Er hatte den jungen Mann sehr geliebt und herzlich betrauert, auch einen Selbstmord wegen solcher Ursache damals unbegreiflich gefunden.

Wer ihm dort gesagt hätte, daß auch er so enden würde, und aus welchen Ursachen!

Plötzlich sprang er, wie von einer Feder emporgeschnellt, auf. „Was ist das?“ rief er im Tone des Entsetzens aus. „Wehe mir! Der Brief Magdalenens! Ihr Abschiedsbrief, noch uneröffnet!“ Er war damals zu feig gewesen, ihn zu erbrechen, und hatte ihn im Laufe der Zeit fast vergessen. Nun mußte er ihm wieder in die Hände fallen, nach fünfundzwanzig Jahren, in seiner Todesstunde! – Ob er ihn öffnete? Er zauderte. – O, diese Geschichte hatte einen ernsteren Schluß als die anderen! – Magdalena! – Leibhaftig stand sie wieder vor ihm mit ihren glühenden und doch so traurigen Augen. Jahre lang hatte sie ihm Ruhe gelassen, aber in der letzten Zeit – seltsam – hatte er diese Augen wieder zu sehen gewähnt, ihren Blick wie aus weiter, weiter Ferne auf sich gerichtet geglaubt. Nachts im Traume, wachend, ja mitten in der heitersten Gesellschaft hatte ihn plötzlich der Blick erschreckt.

Er dachte eine Zeitlang nach. Plötzlich öffnete er den Brief und las, und las, lange, lange, wiewohl es doch nur ein paar Zeilen waren, die da geschrieben standen.

Der Brief entfiel seiner Hand.

„Warum,“ murmelte er, „warum auch that sie den verzweifelten Schritt?! Ich hätte sie ja nicht im Stiche gelassen. Ich verließ sie, ja, aber konnte ich anders?! – Und ich wollte ja für sie sorgen, für sie und das Kind! – Hätt’ ich den Brief nicht gelesen!“

Merkwürdig: der Brief enthielt kein Wort der Klage! Aber wie Dolche durchbohrten die einfachen Abschiedsworte das Herz des Grafen.

„Alles will ich Dir verzeihen,“ stand da zu lesen, „ich begreife, daß ich nicht Dein Weib werden kann, aber ich bitte Dich, werde unserem Kinde ein Vater!“

Und er hatte sich die ganze lange Zeit her nicht um dasselbe gekümmert! Was mochte aus ihm geworden sein? Es war ein Knabe, und wenn er noch lebte, war er jetzt ein Mann! Ein Mann! Sein eigen Fleisch und Blut und für ihn doch nur ein Unbekannter – ein Mann!

Er hatte das Kind ja nie gesehen, nicht einmal an dem Tage, als man es ihm aufs Schloß brachte, wo er eben mit seiner jungen Frau eingezogen war. Damals hatte ihm der Ueberbringer des Kindes gedroht – ah, welch abscheuliche Erinnerung! – Was hatte er nachher nicht Alles gethan, um des Kleinen habhaft zu werden! Umsonst! Spurlos verschwunden! Ob er nicht aufs Neue nach ihm forschen lassen sollte? Thorheit! Es war ja zu spät, zu spät, für Alles zu spät! – Nur zu Einem war noch Zeit, und auch diese war ihm karg zugemessen.

Er sah auf die Uhr.

„Ich muß mich beeilen!“ sagte er, warf die Papiere in das Kaminfeuer und sah mit gefalteten Händen in die Flammen. – „Mein Weib! – Meine Kinder!“ seufzte er, indem er eine Photographie vom Schreibtisch nahm und wiederholt küßte. „Lebt wohl! Gott schütze Euch, und mir – sei er gnädig!“ Er setzte sich in den Stuhl vor seinem Schreibtisch und griff nach dem Revolver.

In diesem Augenblicke wurde ein starkes Pochen an der Thür des Seitengemachs hörbar. Der Graf horchte. Das Klopfen wiederholte und verstärkte sich. Dazu hörte der Graf jetzt die Stimme seiner Frau.

„Erich! Erich! Oeffne mir!“ rief sie.

Der Graf besann sich einen Augenblick. Was sollte er thun? Dann legte er mit einem raschen Entschlusse den Revolver in die offene Schreibtischlade und schob diese zurück.

„Ich komme,“ erwiederte er und ging, die Thür zu öffnen.

Sie wurde ungestüm gegen ihn aufgedrückt, und blaß, mit verstörten Zügen, die seltsam genug gegen den graziösen Luxus ihrer Toilette kontrastirten, stand die Gräfin auf der Schwelle. Sie trat hastig ein und warf einen geängstigten Blick durch das Zimmer; als sie nichts Bedrohliches wahrnahm, milderte sich wohl ihr Ausdruck etwas, aber sie sank völlig erschöpft, die Hand auf das Herz gedrückt, in den nächsten Fauteuil und flüsterte mit heiserem Tone:

„Warum hast Du Dich eingeschlossen, Erich?“

„Ich hatte dringend zu arbeiten,“ erwiederte er befangen und ziemlich unsicher, indem er sich abwandte und Papiere auf dem Tisch über einander schichtete. Er fuhr zusammen, als er sich plötzlich krampfhaft umfaßt fühlte und die heftige Bewegung der sonst so gelassenen und haltungsvollen Frau sich unter strömenden Thränen an seinem Herzen Luft machte.

„O Erich, Erich, was wolltest Du thun?! Was hast Du vor? Leugne es nicht, ich weiß es, aber ich lasse Dich nicht mehr los, bis Du mir heilig versprichst –“ ein Schluchzen erstickte ihre Worte; sie raffte sich aber wieder auf, und an ihrem Gatten emporgerichtet, mit beiden Händen sein Gesicht fassend, rief sie, die noch immer wunderschönen Augen dringend in die seinigen geheftet:

„O mein geliebter Mann, ich kann ja nicht leben, wenn ich Dich nicht mehr habe! Erbarme Dich über meine Todesangst, wenn Du nicht an Dich selbst denken willst – um Gotteswillen, thue das nicht!“

Der Graf hielt in tiefster Erschütterung die schlanke, in Schmerz bebende Gestalt in seinen Armen. Das war es, was er allein gefürchtet hatte, diese entsetzliche Verschärfung seiner letzten Qual … er fühlte fast seine Kraft unterliegen gegenüber dem warmen Strom, der von diesem zärtlichen Frauenherzen ausging; er fühlte, daß er sie in ihren glücklichsten Zeiten nicht so heiß geliebt hatte als jetzt in dieser bangen, furchtbaren Abschiedsstunde. Denn das blieb sie doch, und mit verzweiflungsvoller Schärfe schnitt das Bewußtsein davon durch das Herz des Mannes, der sein Weib zum letzten Male in den Armen hielt. Seine Lippen ruhten auf ihrem duftenden braunen Haar, auf der faltenlosen Stirn; dann sagte er mit mühsamer Fassung und Verstellung, indem er sie sanft von sich löste und in den Sessel niederließ:

„Du bist heute sehr aufgeregt, liebes Herz, und läßt Dich zu seltsamen Irrthümern hinreißen. Beruhige Dich doch! Du siehst, daß ich hier in ganz gewöhnlichen Geschäften sitze. Sie werden mich noch ungefähr eine Stunde kosten, ich komme dann hinüber, um Dich abzuholen, wenn Du mich jetzt allein lassen willst.“

„Wenn ich Dich jetzt allein lasse,“ wiederholte sie mit unheimlichem Tone, ihn starr fixirend, „dann öffnest Du jene Schublade und holst daraus hervor, was ich vorhin,“ sie deutete auf das Schlüsselloch, „in Deiner Hand sah. Entrüste Dich nicht – in solchen Lagen giebt es keine Rücksichten mehr.“ Der Graf machte eine Bewegung, aber in demselben Moment war seine Gemahlin aufgesprungen und faßte seine Hände, indem sie hastig, flüsternd fortfuhr. „Ich war vor einer halben Stunde hier, um Dich abzuholen, und hörte die Worte, die der Konsul gegen Dich ausstieß. ich verstand sie nur halb, aber als ich ihn fortgehen sah mit seinem drohenden Gesicht, da überfiel mich die Ahnung eines großen Unglücks. Ich konnte nicht mehr von der Thür weg, ich sah Dich schreiben und Papiere verbrennen und – Gott, Erich,“ rief sie von Neuem heftig schluchzend, „ist es denn möglich, daß Du das thun wolltest?! Kann es so mit Dir, mit uns stehen?! Komm,“ sie legte in angstvoller Zärtlichkeit den Arm um seinen Hals und suchte ihn zu sich niederzuziehen, „gieb mir endlich das Vertrauen, auf das Deine Frau doch Anspruch hat, wir wollen überlegen – es giebt gewiß einen Ausweg – und im letzten schlimmsten Fall – nimm mich mit Dir, Erich! Ich kann nicht ohne Dich leben – wenn es sein muß, gehen wir zusammen!“

Sie zog ihn nach dem Divan und lehnte liebkosend ihr Gesicht an seine Wange, allein seine düstere Miene hellte sich nicht auf und er starrte unverwandt vor sich hin, während sie dringend fortfuhr:

„Du hast sicher nur nicht gewagt, mir und den Kindern große Opfer zuzumuthen, nicht wahr, Erich? Und ich Thörin ahnte nicht, wie es mit Dir stand, und gab Geld mit vollen Händen aus! Das soll Alles anders werden. Verkaufe auch noch Hochberg, wenn das Haus hier nicht ausreicht – wir gehen ins Ausland, fangen an einem andern Ort klein an und haben und behalten uns, mein geliebter Mann!“

[529]

Ventnor auf der Insel Wight.
Originalzeichnung von H. Schaumann.

[530] Die liebevollste Ueberredung klang aus ihrer weichen Stimme, aber der Graf schüttelte hoffnungslos den Kopf „Zu spät!“ murmelte er düster.

„Nein, Erich, nicht zu spät,“ erwiederte voll Energie die muthige Frau, „Du hast ganz gewiß noch eine Möglichkeit der Rettung. Sind denn Deine Verpflichtungen so groß, daß sie auch durch den Verkauf von Hochberg nicht gedeckt würden? Doch nicht? Siehst Du wohl? Nun, und dann ist noch unsere Einrichtung da, meine Brillanten und der werthvolle Schmuck, den Du mir im Laufe der Jahre schenktest. Das Alles zusammengelegt muß ja reichen!“

Graf Erich sah voll Ergriffenheit in ihr zuversichtliches Gesicht, das von Liebe und Großmuth leuchtete.

„O wunderthätiges Frauenherz!“ sagte er, indem er ihre Hand an die Lippen zog. „Und wie wenig habe ich das um Dich verdient, mein gutes Weib!“

Sie schlang lebhaft die Arme um ihn und rief: „Sage das nicht, liebster Erich, ich fühle es ja in dieser Stunde, wie unzertrennlich wir verbunden sind. Du hast Dich ja wohl in der letzten Zeit anderen Interessen zugewandt, und ich will nicht sagen, daß es mich nicht manchmal heimlich schmerzte, so von Dir vernachlässigt zu werden. Aber die Liebe zu Dir wurde dadurch nicht in meinem Herzen erschüttert und Alles, was wir jetzt leiden werden, scheint mir geringfügig in dem Gedanken, daß Du mir erhalten bleibst – und nicht aufgehört hast, mich zu lieben!“

„Claire, Claire,“ rief der Graf verzweiflungsvoll. „Du marterst mich! Ich verdiene Deine Liebe und Aufopferung nicht; ich habe als vollständiger Egoist gehandelt, nur an mich selbst gedacht und Euch dadurch ins Verderben gerissen!“

„Ja, als Egoisten habe ich Dich immer gekannt,“ lächelte die Gräfin mit Thränen in den Augen, „damals, als ich die Blattern hatte, und Du Tag und Nacht nicht von mir wichest und immer nur voll Angst warst, ob mich die paar kleinen Narben im Gesicht nicht entstellen würden – oder damals, in Eckartshausen, als die Pferde mit meinem Wagen durchgingen und nach dem Schloßgraben rannten, wie Du da aus dem Fenster des ersten Stockwerks heruntersprangst und Dich ihnen in den Weg warfst, daß Du beinahe beide Beine gebrochen hättest und heute noch ein wenig hinkst – o, ein ganz klein wenig,“ fügte sie liebkosend hinzu, „man sieht es kaum und Du bist heute immer noch ein rüstiger schöner Mann – etwas eitel zwar, aber auch das steht Dir gut! Und die tausend Gelegenheiten, wo Du Deinen Freunden hilfreich warst, den Armen wohlthatest – nein, mein Erich, Du sollst Dein warmes, liebes Herz nicht lästern, ohne daß ich Einsprache thue.“

„Was hilft dies Alles,“ versetzte finster der Graf. „Ich habe daneben schwer, unverzeihlich gefehlt … und das Schlimmste weißt Du noch nicht … meine Ehre ist nicht mehr fleckenlos! Felsing hat einen Wechsel von mir in Händen, der mich in unrettbarer Weise kompromittirt. Ich ließ mich verleiten – in der Meinung, daß Niemand dadurch geschädigt werde – Gott, ich kann Dir nicht erklären, wie es kam – es war …“

„Ich brauche keine Erklärung,“ entgegnete die Gräfin, „möglich, daß Du übereilt gehandelt hast. Diese Geschäftsangelegenheiten sind Dir fremd, und Dein Hauptunrecht war, Dich als Kavalier überhaupt mit solchen Dingen zu befassen, aber Eines weiß ich gewiß und verbürge mich mit meinem Leben dafür: etwas Unehrenhaftes begehen hast Du nie gewollt!“

Die Augen des Grafen leuchteten und er rief, seine Frau fest an sich drückend, mit dem ersten Aufathmen eines gepreßten Herzens:

„Gott segne Dich für dieses Wort, meine geliebte Claire, Du weißt nicht, was Du mir damit wiedergiebst! Es ist fürchterlich, sich selbst … zu verachten! Ich habe namenlos gelitten in dem Gedanken, daß nicht einmal in Euren Augen mein Andenken rein sein wird! Und wenn jetzt das Aergste kommt, wenn ich doch dem Schicksal und Felsing’s unbarmherziger Härte weichen muß – dann wirst Du wenigstens mich nicht verdammen, wenn alle Anderen meinen Namen in den Schmutz ziehen …“

„Das werden sie nicht,“ entgegnete die Gräfin sich erhebend, sehr blaß, aber die festeste Entschlossenheit in den Augen.

„Wie wolltest Du es hindern?“

„Indem ich selbst zu Felsing gehe – sofort – und ihn zwinge, mir den Wechsel herauszugeben“ rief sie glühend. „Das ist der einzige Weg und er führt sicher zum Ziel. Ich werde siegen, verlaß Dich darauf, in einer Stunde hast Du das Papier! O, den Gedanken hat mir Gott eingegeben –“

Sie erhob sich eilig, aber der Graf faßte ihren Arm. „Das geht nicht,“ sagte er nach einem Augenblick inneren Kampfes, „das kann ich nicht dulden, Claire.“

Was geht in diesem Augenblicke nicht?“ rief sie mit einer großartigen Ueberlegenheit. „Verlieren wir keine Minute weiter – ich gehe, das ist beschlossene Sache, Du bringst mich nicht davon ab. Hast Du das Unglücksgeld für den Wechsel noch?“

„Ja, hier, unberührt, aber es reicht nicht, um ihn einzulösen.“

„Wie viel fehlt?“

„Dreißigtausend Thaler!“

„Nun, der Justizrath brachte mir vierzigtausend und Eugen kann noch einen Tag warten. Mag der Elende Alles nehmen! Aber das Papier, das Deine Ehre bedroht und Dein Leben, das bringe ich Dir zurück –“

„Ich will es selbst holen“ rief Graf Erich.

„Und mit einem einzigen Zorneswort Alles verderben?“ erwiederte sie. „Mein Erich, das geschieht nicht. Du hast Dich eben noch des Unrechts gegen mich angeklagt. Ich fordere jetzt meine Genugthuung: eine Stunde lang laß meinen Willen über dem Deinen gelten; dann will ich wieder mein Lebenlang Deine nachgiebige, folgsame Frau sein.“

Sie küßte ihn zärtlich und wiederholt, um jede Entgegnung zu verhindern, wandte sich dann rasch, klingelte dem Diener und befahl anzuspannen.

„Und nun,“ sagte sie zu ihrem Gemahl, nachdem der Diener sich wieder entfernt hatte, „nun versprich mir noch, mich hier ruhig zu erwarten, nichts zu unternehmen, mich nicht aufzusuchen, dies Zimmer vor einer Stunde nicht zu verlassen! Willst Du mir Dein Wort darauf geben?“

„Ja!“ erwiederte der Graf.

„Gut,“ erwiederte sie und wandte sich zum Gehen. Aber an der Schwelle kehrte sie nochmals um, faltete bittend die Hände und sah ihren Gatten mit einem unbeschreiblichen Blicke an.

„Ach, Erich, verzeihe, aber ich muß noch eine Sicherheit mit mir nehmen.“ Sie trat rasch an den Schreibtisch und holte aus der Schublade die Waffe heraus; ein Zittern ging dabei durch ihre Glieder und ihre Augen füllten sich aufs Neue mit Thränen.

Er wandte das Haupt ab und ein qualvoller Seufzer entrang sich seiner Brust.

„Ich schließe sie drinnen ein,“ hörte er noch ihre leise, liebevolle Stimme sagen, „bis ich zurück bin. Es ist besser so, liebster Mann!“

(Fortsetzung folgt.)




Das Feuerschiff „Adlergrund“.

(Mit Illustration S. 517.)

Drohen die offen am Tage liegenden Felsenriffe und Klippen schon häufig dem Schiffer Gefahr, so muß er sich doch bei Weitem noch mehr vor denjenigen Erhebungen des Meeresbodens hüten, welche nicht völlig die Oberfläche erreichen, sondern noch in der Höhe von einigen Metern Wasser über sich haben.

Solch ein unsichtbares Riff befindet sich etwa sieben Meilen südlich von der Insel Bornholm in der Ostsee. Stubbenkammer auf Rügen ist eben so weit davon entfernt. Den Seefahrern ist es unter dem Namen „Adlergrund“ eine gar unliebsame Bekanntschaft.

Die Versuche, diesem Riff, welches beiläufig eine Längsausdehnung von einer deutschen Meile in west-östlicher Richtung besitzt, durch Sprengung zu beseitigen, sind nicht vollständig gelungen. Deshalb sah sich die Marineverwaltung des Deutschen Reiches, in dessen Seebezirk sich jene Untiefe befindet, veranlaßt, als warnendes Seezeichen hier das Feuerschiff „Adlergrund“ vor Anker zu legen. Wie alle Fahrzeuge dieser Art, welche man auch sonst noch häufig, aber meistens in größerer Nähe des Landes, zum Signaldienst verwendet, macht sich dasselbe durch seinen feuerrothen Anstrich bei Tage weithin bemerklich; seinen Mast krönt der „Topkorb“, ein zwiebelförmiges Korbgeflecht von schwarzer Farbe. Des Abends aber wird an dem Maste der Leuchtapparat emporgezogen, eine gewaltige Laterne, aus welcher acht Lampen mit Doppelbrennern einen hellen Lichtschein in die Nacht hinaussenden.

[531] um die Leuchte des „Adlergrund“ von anderen in der Nähe befindlichen Feuersignalen zu unterscheiden, hat man dafür das sogenannte „Blinkfeuer“ gewählt. Die Laterne befindet sich in fortwährend kreisender Bewegung um den Mast, welche durch ein sehr starkes Uhrwerk im Schiffsraum hervorgerufen wird. Da nun die Reflektoren der Lampen nicht parallel zu der cylinderförmigen Laternenscheibe stehen, sondern einen Winkel mit derselben bilden, verdunkeln sie bei der Drehung zeitweilig das Licht, welches sie sonst verstärken, und es entsteht dadurch jedesmal eine Dunkelpause von 20 Sekunden, nach welcher dann ein zweimaliges, schnell auf einander folgendes Aufblinken des Lichtes von je 2 Sekunden Dauer folgt.

Bei nebligem Wetter läßt bei Tag und Nacht eine Sirene ihre weithin gellende Stimme hören. Alle drei Minuten warnt je ein hoher und ein tiefer Ton des von Dampfkraft geblasenen Rieseninstrumentes, dessen Schall in unmittelbarer Nähe wahrhaft infernalisch wirkt, die vorüberfahrenden Schiffe. Ist die Sirene oder ihre Dampfmaschine schadhaft, so tritt während der Einschaltung der Reservesirene, beziehungsweise Reservemaschine, welche Manipulation immerhin einige Zeit in Anspruch nimmt, ein anderes akustisches Signal in Thätigkeit. Aus zwei auf dem Achterdeck des Schiffes befindlichen Geschützen erfolgt dann alle fünfzehn Minuten ein Doppelschuß; dazwischen wird von drei zu drei Minuten mit der Schiffsglocke geläutet.

So ist unter allen Umständen Gelegenheit gegeben, vorüberziehende Schiffe vor den Gefahren des Riffes zu warnen.

Zwölf Mann Besatzung befinden sich auf dem „Adlergrund“: ein Schiffsführer, ein Steuermann, ein Maschinist und neun Matrosen.

Ihr Dienst ist anstrengend und das Leben auf dem weltfernen Feuerschiff einförmig. Wird es Abend, dann gilt es zunächst, den schweren Leuchtapparat in die Höhe zu winden, welcher Tags über auf Deck in einem Gehäuse steht. Ist die See ruhig, so thut das Uhrwerk seine Schuldigkeit und dreht die Laterne. Aber wenn Poseidon zürnt, dann kann es wohl vorkommen, daß bei den Schwankungen des Schiffes die mechanische Kraft ihren Dienst versagt, und dann muß die Laterne von Menschenhand gedreht werden. Das Uhrwerk läuft jedesmal in einer halben Stunde ab und muß alsdann von dem wachehabenden Matrosen, den ein Glockenschlag vorher benachrichtigt, wieder aufgezogen werden.

Am Tage hat die Mannschaft mit der Instandhaltung des Schiffes ebenfalls genug zu thun.

„Adlergrund“ ist jedoch nicht bloß Signalstation. Das Schiff ist auch bereit zur Aufnahme und Verpflegung von etwaigen Schiffbrüchigen. Ferner nimmt der Schiffsführer täglich Peilungen und Strombeobachtungen vor, deren Ergebnisse von Zeit zu Zeit durch Vermittelung der Marinebehörde der deutschen Seewarte in Hamburg mitgetheilt werden, so daß wir unser Feuerschiff als ein zwar kleines, aber nicht unwichtiges Glied des vaterländischen Seewesens zu betrachten haben.

Zu den Unannehmlichkeiten des Aufenthaltes auf dem „Adlergrund“ gehört auch der Umstand, daß die Besatzung nur in langen Zwischenpausen mit dem Festlande in Verkehr tritt. Denn es vergehen jedesmal vier Wochen, bis wieder das Postschiff der Station, ein Segelkutter aus Swinemünde, eintrifft, neuen Brot- und Kohlenvorrath, sowie Briefe und Zeitungen aus der Heimath bringend. Swinemünde, welches gegen vierzehn Meilen vom „Adlergrund“ entfernt ist, dient dem Feuerschiffe auch als Winterhafen, den es jedoch in milden Wintern oft nur auf Wochen bezieht.

Natürlich ist es, daß dieselben Mannschaften nicht das ganze Jahr hindurch hier Dienst leisten können. Sie werden zeitweilig von Reserveleuten abgelöst, so daß sie alljährlich einen Urlaub von zwei bis drei Monaten im Kreise der Ihrigen genießen können.

Ehre und Anerkennung den Wackeren, die sich dort auf wogender See dem Dienste der Menschheit gewidmet haben! Georg Köhler.     


Blätter und Blüthen.

Ein geschichtliches Gemälde von Ernst Wichert. Auf einer Leinwand von größten Dimensionen hat diesmal der Königsberger Dichter Ernst Wichert ein Geschichtsbild aus der Vergangenheit der Ostseeprovinzen ausgeführt, welches eben so von der regen Phantasie und geschickten Hand dieses Schriftstellers, wie von seinen eingehenden historischen Studien Zeugniß ablegt. Der Roman führt den Titel „Der große Kurfürst in Preußen“ und besteht aus drei Abtheilungen, von denen die zweite und dritte je zwei Bände haben (Leipzig, Karl Reißner). Ein so umfangreiches Werk setzt eine gewisse Ausdauer seitens des Lesers voraus, und es bedarf nicht unbedeutender schriftstellerischer Vorzüge, um einen an leichtere Lektüre gewöhnten Geschmack an ein so bändereiches Werk zu fesseln.

Die Handlung des Romans spielt in jener Zeit, in welcher der große Kurfürst die gegen seine Souverainetät rebellirenden Städte und den sich in trotzigem Selbstgefühl auflehnenden Adel der Provinz unter seinen eisernen Willen beugte. Die Städte und der Adel kokettirten mit der polnischen Oberlehnshoheit und wollten einen großen Theil ihrer alten Vorrechte wahren. Sollen wir nun für den geschichtlichen Helden des Gemäldes, den Kurfürsten, der gewaltsam den Widerstand der Städte brach, Sympathie empfinden, so muß er uns als ein Vorkämpfer des Fortschrittes erscheinen, welcher zum Besten des Gemeinwesens und des ganzen Volkes in verrottete Zustände das Licht eines neuen Geistes trägt und das geschriebene Recht zu Boden tritt zu Gunsten eines neuen, welches dem Staate zum Heil gereicht.

Ernst Wichert hat dies wohl eingesehen – und die erste Abtheilung seines Werkes: „Konrad Born“, schildert uns mit lebhaften Farben die Willkür eines brutalen Junkerregiments, gegen welches kein Recht zu finden ist. Die Verführung der Töchter des Landes gehört zum höheren Sport; der alte Wildhüter wird im Wortwechsel von einem Junker getödtet; seine Stieftochter Gabriele flüchtet aus dem Vaterhause und geräth in das Schloß der Herren von Kalckstein, in welchem zerrüttete Zustände herrschen. Diese Kämpfer für die Rechte des Adels sind brutale Feudalherren, die allen Gelüsten die Zügel schießen lassen. Im Verlaufe des Romans wird uns die innere Zerrüttung der Familie noch näher geschildert: die Schwestern und Schwägerinnen beeilen sich, den bei der Erbschaft begünstigten Bruder hochverrätherischer Aeußerungen und Bestrebungen anzuklagen, Anklagen, die ihn zuletzt auf das Schaffot führen.

Der Held der ersten Abtheilung, Konrad Born, ist eine frei vom Dichter erfundene Gestalt, welche mit ihren persönlichen Abenteuern, die oft in die geschichtliche Haupthandlung eingreifen, auch in den späteren Abschnitten des Werkes die Theilnahme fesselt. Die zweite Abtheilung trägt den Titel „Schöppenmeister Rohde“, und ihr Held ist der unerschrockene Königsberger Bürger, der gegen die Souveränetät des Kurfürsten protestirt, so lange sie nicht in den Urkunden der Städte anerkannt ist, der gegen die neue eiserne Gewalt bei der polnischen Oberhoheit Schutz sucht, der vom Kurfürsten verhaftet, vors Gericht geschleppt und zu lebenslänglicher Festungshaft verurtheilt wird. Die dritte Abtheilung behandelt den Hochverrathsproceß gegen Christian Ludwig von Kalckstein, der zum Tode verurtheilt wird und das Schaffot besteigen muß.

Und neben diesen durch ihre geschichtliche Bedeutung und ihr tragisches Schicksal uns nahegerückten Männern erhebt sich auf einem mit dem Relief großer Thaten geschmückten Piedestal die Gestalt des Kurfürsten selbst, dessen Herrschertugenden, mögen sie auch hier und dort in tyrannischen Eigensinn ausarten, doch unsere Bewunderung erregen. Da mag Konrad Born seine tüchtigen militärischen Dienste, seine Betheiligung an der Schlacht bei Warschau, seine Kämpfe mit den Tataren, die Errettung des Edelfräuleins Blanche, die sich ihm mit rücksichtsloser Hingebung in die Arme wirft, obschon er auf ihre Hand verzichten muß, seine Liebe zu Barbara, des Schöppenmeisters Tochter, die er auch als Gattin heimführt, in die Wagschale werfen: Alles, was sich in dieser Welt der Abenteuer zuträgt, die an und für sich bei der lebendigen Darstellung Wichert’s uns in Spannung halten, vermag doch kaum ein Gleichgewicht herzustellen mit dem Theile des Werkes, welcher der geschichtlichen Chronik angehört, und um so weniger, als gerade die Processe gegen die beiden Hochverräther mit einer aus den Akten schöpfenden Treue, mit größter Ausführlichkeit und mit der Vorliebe des tüchtigen Juristen für alle Vorgänge beim Proceßverfahren früherer Zeiten dargestellt werden.

Von den Charakteren fesselt außer Konrad Born und den Titelhelden der zwei letzten Abtheilungen besonders die leidenschaftliche Blanche mit ihren herausfordernden Abenteuern und die nicht minder kühn ins Leben sich stürzende Gabriele, die edel gehaltene Barbara, der gelehrte Beamte Sandius und seine ernste Tochter Livia, die Helden der Schuhmacherwerkstatt, unter denen der weisheitsvolle Altgeselle Nathanael den ersten Platz behauptet. Die polnischen Hof- und Adelsscenen haben glänzendes Kolorit und sind in eine ironische Beleuchtung gerückt.

Der Ernst Wichert’sche Roman, nach beiden Seiten hin als Geschichtschronik und als Phantasieschöpfung, wird die Leser fesseln, ohne Hilfe jener Erregungsmittel, die eine krampfhafte Spannung hervorrufen, besonders auch durch seine gleichmäßig ruhige und klare Darstellungsweise, welche an geeigneten Stellen der Wärme nicht entbehrt und sich vor Allem von jeder altfränkischen Manierirtheit freihält. †      

Das Weir Mitchel’sche Kurverfahren, dessen wir in dem Artikel „Neurasthenie“ in Nr. 1 der „Gartenlaube“ 1887 erwähnt haben und über dessen Wesenheit uns mehrfache Anfragen aus dem Leserkreise dieses Blattes zugekommen sind, ist eine Art Fütterungskur, welche den Zweck verfolgt, in verhältnißmäßig kurzer Zeit, innerhalb weniger Wochen, den Ernährungszustand des ganzen Körpers zu verbessern, speciell das Nervensystem zu kräftigen. Eine überreichliche Zufuhr von stärkenden Nahrungsmitteln, absolute geistige Ruhe, möglichste Einschränkung aller aktiven körperlichen Bewegung, Massage und passive Körperbewegungen bilden die wesentlichen Momente dieser Kurmethode, zu deren Durchführung sogar die Entfernung der Patienten aus ihrer gewohnten Umgebung und Versetzung in neue Verhältnisse unter besonderer Wartung gefordert wird. Man beginnt die Kur bei geschwächten Individuen, welche nur ganz wenig zu essen gewohnt sind, mit Darreichung von Milch und geht erst allmählich zu großen Mahlzeiten über. Anfangs werden nur alle zwei bis drei Stunden Mengen von 90 bis 120 Kcm. Milch gegeben, und diese Portionen werden binnen wenigen Tagen so gesteigert, daß zwei bis drei Liter Milch innerhalb 24 Stunden genossen werden. Erst wenn die Verdauungsorgane durch solche mehrtägige Milchdiät in geeigneter Weise vorbereitet sind, wird die Menge der Speisen stätig gesteigert, so daß die Nahrungszufuhr am fünfzehnten Kurtage bereits eine erstaunliche Höhe erreicht.

Die Details dieser Fütterungskur und die Art der Steigerung der Ernährung wird am besten durch die von Dr. Burkart (Volkmann’s Sammlung klinischer Vorträge Nr. 245) mitgetheilten Speisezettel ersichtlich, die er bei einer Patientin anwendete, bei welcher wegen des guten Zustandes der Verdauungsorgane es nicht nöthig war, eine vorbereitende Milchdiät einige Tage hindurch vorzunehmen. Am Tage des Kurbeginnes bot der Speisezettel Folgendes: siebeneinhalb Uhr Morgens einen halben Liter Milch, zehn Uhr Morgens einen drittel Liter Milch; zwölfeinhalb Uhr eine Suppe mit Ei, 50 Gramm gebratenes Fleisch, Kartoffelpurée; dreieinhalb Uhr einen drittel Liter Milch; fünfeinhalb Uhr einen halben Liter Milch; acht Uhr einen halben Liter Milch, 50 Gramm kaltes Fleisch, Weißbrot, Butter.

[532] Am fünften Kurtage war die Nahrungszufuhr bereits folgendermaßen gesteigert: Morgens siebeneinhalb Uhr einen halben Liter Milch und zwei Zwieback; achteinhalb Uhr Kaffee mit Sahne, Weißbrot, Butter; zehn Uhr einen drittel Liter Milch, zwei Zwieback; zwölf Uhr einen halben Liter Milch; ein Uhr Suppe mit Ei, 100 Gramm Fleisch, Kartoffelbrei, 75 Gramm Pflaumenkompot; dreieinhalb Uhr einen halben Liter Milch; fünfeinhalb Uhr einen drittel Liter Milch, zwei Zwieback; acht Uhr einen halben Liter Milch, 60 Gramm Fleisch, Weißbrot, Butter; neuneinhalb Uhr einen drittel Liter Milch, zwei Zwieback. Nach weiteren acht Tagen lautete die Liste der Nahrungsmittel bereits folgendermaßen: siebeneinhalb Uhr Morgens einen halben Liter Milch, zwei Zwieback; achteinhalb Uhr Kaffee mit Sahne, 80 Gramm Fleisch, Weißbrot, Butter, geröstete Kartoffeln; zehn Uhr einen viertel Liter Milch, drei Zwieback; zwölf Uhr einen halben Liter Milch; ein Uhr Suppe mit Ei, 200 Gramm Fleisch, Kartoffelbrei, Gemüse, 125 Gramm Pflaumenkompot, süße Mehlspeise; dreieinhalb Uhr einen halben Liter Milch; fünfeinhalb Uhr einen drittel Liter Milch, 80 Gramm Fleisch; neuneinhalb Uhr einen drittel Liter Milch, zwei Zwieback.

Es ist begreiflich, daß bei solchem Speisezettel das Gewicht der Patienten ganz bedeutend zunimmt und mit dieser reichlichen Bildung von Fett und Blut das Allgemeinbefinden der Kranken wesentlich gebessert wird. Wir müssen aber doch aufs Dringendste anrathen, eine solche Mästungskur nur auf Empfehlung und unter der beaufsichtigenden Beobachtung eines Arztes vorzunehmen, da sich während der gesteigerten Nahrungszufuhr zuweilen Erbrechen und andere unangenehme Zufälle einstellen. Die Kurmethode ist nach dem amerikanischen Arzte Dr. Weir Mitchel, der sie zuerst empfahl, benannt; in Europa wurde sie demnächst von Dr. Plaifair in London und von Professor Binswanger in Jena eingeführt, dann von Burkart in Bonn geübt; in jüngster Zeit wird sie von Professor Leyden in Berlin gerühmt. Ich selbst habe diese Mastdiät, mit dem Gebrauche von Eisenwässern kombinirt, bei schweren Fällen von Blutarmuth und Nervenschwäche mit sehr günstigem Erfolge angewendet. Eine meiner Klientinnen nahm während vierwöchiger derartiger Kur um acht Kilo an Körpergewicht zu. Prof. Kisch in Prag-Marienbad.     

„Es schickt sich nicht!“ So lautet die Losung einer strengen Geheimpolizei, deren unerbittliches Urtheil unser Thun und Lassen richtet. Ob von eigenem Gefühl oder von der Meinung Anderer diktirt, ob den Anforderungen des Jetzt oder alten Ueberlieferungen des Einst entstammend: es tönt uns abmahnend und verweisend entgegen, wenn wir im Begriff sind, einen Verstoß gegen die Gebote der Schicklichkeit, gegen die Begriffe von Recht und Pflicht zu begehen.

Eine unsichtbare Macht leitet uns, wir folgen einem unausgesprochenen Gesetze, wenn wir im entscheidenden Augenblicke ohne die Wahl langen Besinnens und Erwägens das Richtige treffen.

Je höheren sittlichen Werth der Mensch besitzt, um so schärfer ausgeprägt wird die Beurtheilung der Grenze sein, welche dies „bis hierher und nicht weiter“ erheischt. Aber gerade diese Beurtheilung wird für manche althergebrachte Grenze des Schicklichen andere Kreise ziehen, um den Anforderungen der Zeit und zugleich dessen, was sich schickt, gerecht zu werden.

Denn das „es schickt sich nicht“ will ja nicht bloß bei dem Unterscheiden von Recht und Unrecht seine Macht erproben; es fällt auch da einen harten Richterspruch, wo seine Unantastbarkeit nicht recht am Platze ist, wo es mit gutem Gewissen auch vom Edelstdenkenden mit dem Namen „veraltetes Vorurtheil“ bezeichnet werden kann.

So manches junge Mädchen aus den „besseren Ständen“ arbeitet am Stickrahmen bis spät in die Nacht hinein, um ein kleines Taschengeld zur Befriedigung der hochgeschraubten Wünsche der Tyrannin „Mode“ zu erringen. Aber Niemand aus der Gesellschaft, der sie angehört, darf von dieser heimlichen Arbeit etwas ahnen – „es schickt sich nicht.“

In großen Städten ist das Geheimhalten leicht zu ermöglichen; es finden sich gefällige Hände, die den Verkauf der Arbeiten übernehmen; jedoch in kleineren Orten, wo eines Jeden Thun beobachtet wird, da übt das „es schickt sich nicht“ für den sich zaghaft Beugenden eine grausame Tyrannei.

Lieber entbehren, dürftige Mahlzeiten einnehmen, in jeder Weise auf Kosten der Gesundheit und des Wohlbehagens in der Familie leben, als nach außen zeigen, wie schwer es wird, Anderen, Begüterten, ihre Gebräuche nachzuahmen.

Das „es schickt sich nicht“ läßt es nimmer zu, die Wahrheit einzugestehen; ehrliche Arbeit wird in Acht und Bann gethan – man schämt sich ihrer. Hier sind Eitelkeit und Eigendünkel die Gewalten, welche das böse „es schickt sich nicht“ diktiren.

Und wollen wir gar noch der Tausende gedenken, die in lächerlicher Nachahmungssucht vor dem goldenen Kalbe, der „Mode“, opfern!

Der überspanntesten Geschmacksverirrung muß gehuldigt werden; Trachten, die den Schönheitssinn beleidigen, jedem guten Geschmack und besserer Einsicht Hohn sprechen, müssen angenommen werden, denn gegen den Strom kann man nicht schwimmen – „es schickt sich nicht.“

Unsere Zeit schreibt „Freiheit“ auf ihre Fahnen, und hier werden ewig neu die beengendsten Fesseln geschmiedet; aber da hilft weder Wort noch Beispiel; nur Wenige treten bescheiden zur Seite und belächeln die unschönen Thorheiten – andere Wenige möchten diesen wohl gerne folgen, aber ach: „es schickt sich nicht!“

Die Insel Wight. (Mit Illustration S. 529.) Portsmouth gegenüber, eine Stunde von der Südküste Englands entfernt, liegt die Insel Wight, ein zauberisches Eiland in dem stürmischen Kanal. Wir befinden uns hier unter dem 50. bis 51.° nördlicher Breite, also in einer Zone, welche ungefähr der Lage Sachsens entspricht. Und doch ist das Klima der Insel ein viel milderes; ein sonnigerer Himmel lacht auf die herrlichen welligen Fluren von Wight hernieder. Nur selten gefriert hier das Wasser, selten fällt der Schnee und oft feiern die Bewohner „grüne Weihnachten“. Hoch im Norden genießt man auf der Insel Wight alle Wohlthaten einer milden Witterung, wie sie an den Küsten der Riviera zu finden sind. Der Golfstrom, der vom mexikanischen Meerbusen die warmen Fluthen südlicher Meere an die Gestade Englands trägt, bewirkt diesen Zauber.

Die Insel Wight ist nicht groß: ihr Umfang beträgt etwa 100 Kilometer; ihr größter Durchmesser von Ost nach West 30 Kilometer; aber eine reiche Fülle prächtigster Landschaftsbilder ist auf diesem kleinen Raum zusammengedrängt.

Kein Wunder also, daß dieses Schmuckkästchen im Kanale von La Manche, seit altersher als Sommersitz und Ausflugsort von den Engländern hoch geschätzt wird, daß alte Burgen und Schlösser, Bade-Anlagen und Villen in reichstem Maße der Insel zur Zier gereichen. Max Nordau hat schon einmal die Insel unsern Lesern geschildert und sie „Die Flitterwochen-Insel“ genannt (vgl. Jahrg. 1880, S. 596). Und mit Recht; denn die neuvermählten reichen Engländer verleben nur zu gern den Honigmond in diesem „Wintergarten Albions“. Unsere heutige Abbildung zeigt uns das Leben auf der Insel von einer andern Seite: der Künstler führt uns nach dem malerisch gelegenen Bade-Orte Ventnor, an den Strand mit den zahlreichen Badegästen, und bei dem Anblick dieses Bildes erinnern mir uns, daß die Insel Wight auch ein Asyl für Brust- und Halskranke ist. Und von diesem Gesichtspunkte aus erscheint sie uns heute doppelt interessant; ist doch, während wir diese Zeilen niederschreiben, West Cowes an der Nordküste von Wight als Kurort für den Kronprinzen des Deutschen Reichs in Aussicht genommen worden. *      

Skat-Aufgabe Nr. 11.[2]

Von K. Buhle.

Ein ängstlicher Spieler tournirt auf folgende Karte:

(tr. B.)0 (p. B.)0 (c. B.)0 (car. B.)0 (car. D.) 0(car. 9.) 0(car. 8.) 0(tr. D.) 0(p. D.) 0(c. As)

und zwar die (car. 7.) und findet noch das (p. As)

Ist sein Spiel unverlierbar?


  1. „Der Hitzschlag auf Märschen, seine Ursachen und seine Verhütung.“ Vortrag, gehalten vor dem Officierkorps des 2. Schlesischen Grenadier-Regiments Nr. 11. Von Dr. Arnold Hiller, Stabsarzt (Breslau). Hierzu ein Anhang: „Ueber Erkennung und Behandlung des Hitzschlages.“ – 5. Beiheft zum „Militär-Wochenblatt“, Mai 1887 – Berlin, E. S. Mittler und Sohn.
  2. Diese gar nicht schwere Aufgabe ist im Lösungsturnier des Leipziger Skatkongresses gestellt, aber nur von wenig Bewerbern richtig gelöst worden.


Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 10 auf S. 484.

Vorhand gewinnt Grünsolo mit Schneider bei folgender Kartenvertheilung: Skat: sZ, sK.

Mittelhand: ew, gW, gO, eZ, rK, rO, r9, r8, r7, sO.
Hinterhand: rW, sW, gD, eK, eO, rZ, sD, s9, s8, s7,

denn es folgt z. B.

1. g7, gO, gD (− 14), 5. g9, eW, rW (− 4),
2. sD, gZ, O (+ 24), 6. eZ, eO, eD (+ 24),
3. g8, gW, sW (− 4), 7. e7, rK, eK (− 8),
4. r7, rZ, rD (+21), die übrigen Stiche gehören dem Spieler.

Dasselbe Resultat tritt ein, wenn Mittelhand im 6. Stich ein leeres r vorspielt oder bereits im 4. Stich eZ anbringt. – Dürften jedoch die Gegner eZ und rZ mit einander tauschen, so verliert Vorhand das Grünsolo mit Schneider, denn es folgt:

1. g7, gO, gD (− 14) 4. eZ, e7, sO (− 13)
2. eO! eD, gW (− 16) 5. eK! e8, rK (− 8)
3. rZ, sW, rD (− 23) 6. sD! gK, eW (− 17)

und Hinterhand macht überdies noch einen Stich auf rW.


Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

Touristen G. und Sch. in Hamburg. Sie wollen einen Ferienausflug in die Steierischen Alpen machen und wünschen von uns die Angabe einer handlichen und dauerhaften Karte, welche Ihnen als durchaus zuverlässiger Führer dienen kann. Als eine solche nennen wir Ihnen die „Karte der Steierischen Alpen und der Karawanken“, welche jüngst im Verlage der geographischen Anstalt von Ludwig Ravenstein in Frankfurt am Main erschienen ist. Diese Karte ist sorgfältig ausgeführt, übersichtlich und zuverlässig. – Uebrigens möchte vielen Touristen die Mittheilung willkommen sein, daß in demselben Verlage auch gleich vorzügliche Karten anderer Alpengebiete (Salzburger Alpen und Salzkammergut, Tiroler Alpen, Oesterreichische Alpen etc.) erschienen sind.

K. L. in B. Was ist für eine Innung geeigneter: eine Fahne oder ein Banner? lautet Ihre Frage. – Das Banner (vom französischen bannière) war nicht von Tuch oder Leinwand wie die Fahne (welch letzteres uralte Wort, gothisch fana, die allgemeine Bedeutung von Tuch und Gewebe hat), sondern von Pergament, Leder, Blech oder dünnen Holzplättchen, daher steif, während die Fahne meist zusammengefaltet ist, wenn sie nicht vom Winde bewegt oder die Fahnenstange horizontal gestellt wird. Josua Maaler, Bürger zu Zürich, bezeichnet in seinem 1561 erschienenen deutschen Wörterbuche das „paner“ als „das oberst Fänle“, und dementsprechend wird im Grimm’schen Wörterbuche bemerkt, daß Banner nicht nur in der Bedeutung von Heerfahne gebraucht wird, sondern daß man es nach Maaler auch als Hauptheerfahne nehmen kann. Nach dieser Deutung würde sich für eine Innung allerdings eine Fahne besser denn ein Banner eignen und letzteres vielleicht für einen Bund, eine Vereinigung von Innungen am Platze sein. Die Grenze zwischen Fahne und Banner ist jedoch nicht sehr scharf gezogen, und heut zu Tage steht es vollends Jedem frei, sich für eine Banner oder für eine Fahne zu entscheiden. Es werden dabei lediglich persönlicher Geschmack, persönliche Liebhaberei, persönliche künstlerische Anschauung, vielleicht auch praktische Nützlichkeitsgründe, da man auf einem Banner z. B. fortwährend das angebrachte Bild sehen kann, ausschlaggebend sein.

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Inhalt: Der lange Holländer. Novelle von Rudolph Lindau (Fortsetzung). S. 517. – Der Hitzschlag und Sonnenstich. Von Dr. Otto Franz. S. 522. – Moltke in den Sommerferien. S. 524. Mit Portrait S. 521 und Illustrationen S. 524 und 525. – Magdalena. Von Arnold Kasten (Fortsetzung). S. 527. – Das Feuerschiff „Adlergrund“. Von Georg Köhler. S. 530. Mit Illustration S. 517. – Blätter und Blüthen: Ein geschichtliches Gemälde von Ernst Wichert. S. 531. – Das Weir Mitchel’sche Kurverfahren. Von Prof. Kisch in Prag-Marienbad. S. 531. – „Es schickt sich nicht!“ S. 532. – Die Insel Wight. S. 532. Mit Illustration S. 529. – Skat-Aufgabe Nr. 11. Von K. Buhle. S. 532. – Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 10 auf Seite 484. S. 532. – Kleiner Briefkasten. S. 532.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.