Die Gartenlaube (1888)/Heft 12
Die Alpen sind von vielen deutschen Kaisern überschritten worden, die in Hesperiens Fluren Sieg und Ruhm ernten wollten: diesmal ging eines deutschen Kaisers Alpenfahrt von den Seegestaden des Mittelmeeres über den Brenner, damit er den Thron seiner Väter besteige. Eine ruhmreiche Vergangenheit liegt hinter ihm; seine Thaten, sein ganzes Wesen haben ihn zum Liebling des Volkes gemacht. Ein herzliches Willkommen ruft es dem neuen Kaiserpaare entgegen und alle die Wünsche, welche die Herzen erfüllten, als des Reiches Kronprinz erkrankt im Süden weilte, alle die Gebete gelten jetzt dem deutschen Kaiser, der in der Mitte seines Volkes weilt, dem zweiten, der des neuen Reiches Krone trägt!
Friedrich Wilhelm Nikolaus Karl wurde am 18. Oktober 1831 im Neuen Palais bei Potsdam geboren, des damaligen Prinzen Wilhelm einziger Sohn. Seine Bildung wurde durch vortreffliche Lehrer geleitet: Ernst Curtius, der ausgezeichnete Alterthumsforscher, war 1844 als junger Professor der Berliner Universität vorzugsweise mit seiner Erziehung betraut worden und hat seinen Zögling auch 1849 auf die Universität Bonn begleitet. Der Prinz gab sich mit Eifer geschichtlichen Studien hin: er erhielt den Doktorhut an den Universitäten Bonn, Königsberg und Oxford und wurde Rektor der Universität Königsberg.
Im Jahre 1849 war er in das 1. Garderegiment eingetreten. Seine ersten Kriegsstudien im Felde zu machen, gab ihm der schleswig-holsteinische Krieg 1864 Anlaß, obschon er dort nicht im Feuer stand. Hohen Kriegsruhm aber gewann er im Feldzug von 1866, wo ihm der Oberbefehl über die zweite preußische Armee übertragen worden war. Hervorrückend aus den Bergpässen des schlesischen Gebirges, gewann er die Siege bei Nachod, Trautenau und Skalitz, und sein rechtzeitiges Erscheinen und Eingreifen in die Entscheidungsschlacht von Königgrätz, wo er die Höhen von Chlum, den Schlüssel der Stellung von Benedek, erstürmte und der ersten Armee den Weg zum Siege bahnte, ist eine jener Kriegsthaten, welche ihm unvergänglichen Ruhm sichert. Wie muthig auch von Sadowa aus die Preußen empordrangen gegen die Batterien, mit denen der österreichische Feldherr jene Höhen bewehrt hatte: unentschieden schwankte das Zünglein des Kampfes, und der weiße Kirchthurm von Chlum ragte, dem Anschein nach unerreichbar, über die Pulverwolken des Geschützkampfes; denn mit außerordentlicher Tapferkeit kämpften die Oesterreicher. Da schlugen von rückwärts die Kugeln ein in die Gruppe ihrer Heerführer und die Garden des preußischen Kronprinzen, vom Eilmarsch nicht ermattet, drangen unwiderstehlich die Höhe hinauf und siegten nach der [182] tapfersten Gegenwehr. Noch auf dem Schlachtfelde, während im eisernen Halbkreis die deutschen Heerscharen vordrangen, umarmte der König seinen Sohn und übergab ihm den Orden pour le mérite. In einem nur als Manuskript gedruckten Werke hat der Kronprinz seine Erfahrungen und Erlebnisse in diesem Kriege niedergelegt. Ebenso beschrieb er seine später im Jahre 1869 unternommene Reise nach dem Morgenlande, die ebenfalls nur als Manuskript gedruckt worden.
Der deutsch-französische Krieg 1870 rief ihn wieder ins Feld: ihm war das Oberkommando über die dritte Armee übergeben worden, welche die süddeutschen Truppen bildeten. Von dieser Armee kamen dem deutschen Volke die ersten ermuthigenden Siegesnachrichten zu: der Kampf bei Weißenburg, die Schlacht bei Wörth, in welcher General Mac Mahon bei aller Tapferkeit den deutschen Truppen unterlag, deren ausgezeichnete Führung der seinigen überlegen war. Und wieder sollte in der entscheidenden Schlacht von Sedan dem preußischen Kronprinzen zugleich mit dem Kronprinzen von Sachsen der Ruhm des eigentlichen Kampfes zufallen, während aus dem Hauptquartier des Königs der Schlachtplan hervorging, der das eiserne Netz um den gefangenen Feind zusammenzog. Der Sturz des Napoleonischen Kaiserthums, die Gefangennahme des großen Heeres und des mächtigen Monarchen sind glänzende Blätter im Ruhmesalbum des fürstlichen Heerführers. Als Paris eingeschlossen wurde, siegte der Kronprinz bei Villeneuve und Montrouge und half mit seinem Heere den unlöslichen Ring um des Feindes Hauptstadt bilden. In Versailles wurde er am 28. Oktober zugleich mit dem Prinzen Friedrich Karl zum General-Feldmarschall ernannt.
Am 18. Januar 1871, nachdem König Wilhelm zum deutschen Kaiser proklamirt worden, erhielt der Kronprinz die Würde als Kronprinz des Deutschen Reichs, den Titel kaiserliche Hoheit und nach der Unterzeichnung der Friedenspräliminarien in Berlin am 22. März das Großkreuz des Eisernen Kreuzes. Als General-Inspekteur der vierten Armee-Inspektion mußte er oft nach Süddeutschland sich begeben, wo ihm stets des Volkes wärmste Sympathien entgegenkamen.
Oft vertrat er in den letzten Jahren den Kaiser, in Wien und Stockholm, in Madrid und Rom. Nach dem Nobilingschen Attentat war er von Juni bis Dezember 1878 der Vertreter des Kaisers in allen Regierungsangelegenheiten, und im Jahre 1881 wohnte er als solcher dem Leichenbegängniß des Kaisers von Rußland in St. Petersburg bei.
Ein Freund der Wissenschaften und Künste, denen er seine Mußestunden weihte, hat er stets dem Gediegenen und Werthvollen seine Theilnahme geschenkt, mochte es sich um archäologische Studien handeln, um die Interessen der Gelehrsamkeit und Fragen des grauen Alterthums, wie bei den Ausgrabungen von Olympia, oder um Erzeugnisse neuer Dichtung, wie er denn Gustav Freytag, der in seinem Hauptquartier zum Theil den Feldzug von 1870 mitmachte, mehrfach ausgezeichnet hat und auf Emanuel Geibels Grab den verdienten Lorbeerkranz niederlegen ließ.
Volksthümlich war stets des Kaisers Art und Weise; die Soldaten im Kriege nannten ihn „unsern Fritz“ und zahlreiche Anekdoten berichten von seiner guten Laune, seinen glücklichen Einfällen, seinem leutseligen Sinne. Vorurtheilsfrei, ein Sohn der modernen Zeit, hat er stets das Vermächtniß des Großen Friedrich, die Toleranz in Glaubenssachen, vertreten und sich mehrfach in solchem Sinne beschwichtigend ausgesprochen, wenn mit erbittertem Fanatismus religiöse Gegensätze auf einander platzten.
Seine imponirende Heldengestalt hat noch bei der Jubiläumsfeier der Königin Viktoria im vorigen Jahre die Bewunderung der englischen Bevölkerung erregt: wie eine kräftige deutsche Eiche ragte er hervor unter den Lords der englischen Inseln, welche glänzend die Majestät umgaben, deren Scepter über alle Kontinente reicht.
Seitdem aber ist mit der schweren Erkrankung des allgemein beliebten Fürsten eine „Fluth des Wehs“, um mit dem englischen Dichter zu sprechen, über unser Land hereingebrochen: bange Befürchtungen lösten sich ab mit hoffnungsvollen Lichtblicken; alltäglich brachte der Telegraphendraht Berichte über das Befinden des erhabenen Kranken, und die Theilnahme des deutschen Volkes und aller Völker folgte diesen wechselvollen Berichten mit tiefer Niedergeschlagenheit oder auch mit gehobener Stimmung. Heiße Segenswünsche begleiteten den heimkehrenden Monarchen, den seine hohe Sendung und sein unerschütterliches Pflichtgefühl ins Vaterland zurückriefen. Hat doch die deutsche Kaiserkrone einen würdigen Träger gefunden, und berechtigt ist der in Millionen Herzen lebendige Wunsch, daß dieser Machtfülle in der Hand eines edlen und berufenen Fürsten eine lange Dauer beschieden sein möge.
Kaiserin Viktoria ist die älteste Tochter der Königin von England, die Princeß Royal von Großbritannien und Irland; sie ist geboren am 21. November 1840. Kaiser Friedrich ist mit ihr vermählt seit dem 25. Januar 1858. Von den Kindern dieser Ehe leben noch sechs: die Prinzen Wilhelm und Heinrich, die Prinzessinnen Charlotte, Viktoria, Sophie und Margarethe.
Die Kaiserin ist wie der Kaiser eine Freundin der Künste und Wissenschaften, welche in ihr eine erhabene Schutzherrin finden werden. Eine ausgezeichnete Gattin und Mutter, ist sie den deutschen Frauen ein leuchtendes Vorbild, und die treue Liebe, mit welcher sie den kranken Gatten pflegt, hat ihr die Herzen in unserem Volke zugewendet.
So begrüßt Deutschland sein Kaiserpaar mit warmer Huldigung, mit treuer Hingebung! Möge unter dem Scepter des Kaisers Friedrich über den deutschen Landen der Friede walten mit allen seinen Segnungen: aufblühendem Handel und Verkehr, glanzvoller Entfaltung von Kunst und Wissenschaft, schönem Einklang der Staatsmacht und der Volkswünsche, harmonischem Zusammenwirken der Parteien für das allgemeine Wohl! Das wird der Kaiser walten und das walte Gott!
Alle Rechte vorbehalten.
Auf die Mittheilung Beatens, daß Prinzeß Thekla mit ihrer Tochter Lothar in Neuhaus besuchen würden, gab Claudine keine Antwort. Es war so still in dem Zimmer, daß selbst das leise Ticken der kleinen brillantbesetzten Taschenuhr hörbar ward, die auf dem Schreibtischchen in zierlichem Perlmutterständer hing. Beate schaute sehnsüchtig durchs Fenster; sie wäre am liebsten gegangen. Sie dachte an ihren Hausfrauenposten, den sie heute, gerade heute treulos verlassen, und dann sah sie eine Männergestalt in dem dämmerigen Korridor des Neuhäuser Schlosses, wie sie vor einer Thür stand, auf der in Kreideschrift zu lesen war: „Verbotener Eingang!“ Und sie sah, wie dieser Mann den Kopf schüttelte und langsam umwendete. – Er durfte nicht so fort – nein, nein! Vielleicht käme er nie wieder!
Sie sprang plötzlich empor.
„Verzeih’, Claudine, ich möchte doch lieber heim; Du weißt, es ist allerlei zu besorgen.“ Die Lüge erstarb ihr auf den Lippen; sie war jäh erröthet. „Leb’ wohl, mein Schätzchen!“
„Adieu, Beate!“
„Um des Himmelswillen, Du bist krank, Claudine!“ rief Beate und starrte ihre Kousine an, erst jetzt bemerkend, daß deren Antlitz völlig entfärbt war.
„Nein, o nein!“ wehrte diese. Und jetzt zog eine wahre Purpurgluth über Stirn und Wangen. „Ich bin gesund, ganz gesund! Geh’ nur,“ drängte sie dann, „geh’, ich bin völlig kräftig, ich begleite Dich hinunter. – O, sicher hast Du noch vieles vorzubereiten und sage Joachim gleich, wenn Du ihn triffst, daß er fortgehe, ehe die Damen anlangen; er ist so scheu, weißt Du, so sonderbar.“
„Er braucht sie ja gar nicht zu sehen! Ich habe mein Zimmer für mich,“ murmelte Beate.
„O, da kennst Du Prinzeß Helene nicht!“ klang es bitter.
„So?“ fragte Beate, indem sie neben Claudine die Treppe hinunter schritt. „Na, da gieb mir doch einige Winke über diese kleine Prinzessin; von Lothar ist kein Wort herauszubringen.“
„Beate – ich – weißt Du, ich bin nicht unparteiisch genug, um gerecht zu sein. Sie mag mich nicht, glaube ich, und kehrt mir gegenüber stets die schnippische Seite heraus. [183] Diejenigen, denen sie wohl will, sind entzückt von ihr. Sie ist ein Sprühteufelchen, anziehend, ohne gerade hübsch zu sein, voller Leben, launisch –.“ Sie stockte. „Ja, ja,“ sagte sie dann leise, „sie ist sehr reizend, sehr – und nun leb’ wohl, Beate!“
„Willst Du weinen?“ fragte die Kousine, „Du hast so glänzende Augen!“
„Nein,“ sagte Claudine, „ich will nicht weinen.“
„Na, dann Adieu, Herzenskind, und denke an frische Toiletten. Lothar will ein Fest geben; ich meine, Du wirst dann selbst diese ‚sehr reizende‘ Prinzessin ausstechen, und nicht wahr, Du leihst mir ein wenig Deinen Rath; ich bin in der Hofetikette so unerfahren wie ein kleines Kind. Adieu, Schatz, leb’ wohl!“
Claudine eilte ins Haus zurück in ihr kleines Stübchen. Ihr war, als sei die Welt aus den Fugen gegangen seit gestern; sie wußte ja nur zu gut, warum Prinzeß Thekla ihr zweites Töchterchen nach Neuhaus brachte!
„Verloren!“ flüsterte sie, „verloren für immer! – Aber kann man denn etwas verlieren, was man nie besessen?“
Sie war nicht ärmer als bisher, und doch – seit gestern, seit diesem bunten schrecklichen Gestern hatte sich riesengroß eine Hoffnung in ihr Herz gedrängt; sie hatte wider Willen an seinen nächtlichen Ritt tausend süße thörichte Gedanken geknüpft. Hoffen und Bangen hatte sie bewegt bis zum grauen Morgen. Als sie dann nach einem kurzen Schlummer erwachte, stand wieder sein Bild vor ihr, wie sie es gestern Abend gesehen in dem dämmernden Lichtschein ihres Fensters.
Welche Thorheit! Er war nicht gekommen, um mit liebendem Auge ihren Schatten zu erspähen; er hatte kontrolliren wollen, ob sie daheim sei, wie es ehrbaren Mädchen ziemt! O, er war sehr besorgt um die Ehre seines Namens!
Sie preßte die Hände vor die Augen, so fest, daß sie Feuerfunken zu sehen vermeinte; aber mitten darinnen gaukelte eine zierliche Mädchengestalt. Sie ließ die Arme wieder sinken – und schaute durchs Fenster. War sie überhaupt noch bei Sinnen? Durch die rothen Flecke, die noch vor ihren Augen tanzten, leuchtete von jenseit des Gitters die Purpurlivree des herzoglichen Dieners, und nun stürzte Fräulein Lindenmeyer bereits ins Zimmer:
„Claudinchen! Fräulein Claudine, die Hoheiten!“
Mit schwankendem Schritt trat Claudine vor den Spiegel, setzte das weiße Strohhütchen auf, ließ sich von Fräulein Lindenmeyer den blaugefütterten Sonnenschirm in die Hand drücken und ging hinunter. Sie sah kaum, daß auf dem hohen Bock des sehr niedlichen zweisitzigen Wagens der Herzog in eigenster Person die Zügel hielt. Mechanisch beugte sie sich auf die Hand der Herzogin, deren zartes Gesicht vor Wonne über diese Spazierfahrt leuchtete.
„O, danke, danke, meine beste Claudine, es geht mir vortrefflich!“ sagte sie mit ihrer matten belegten Stimme, „wie soll es auch anders sein? Dieses himmlische Wetter, dieser Tannenduft, der Herzog als Wagenlenker und – Sie mir zur Seite! Sagen Sie selbst, meine Beste!“
Man war stundenlang in den Wäldern umhergefahren; vor einer einsamen Mühle am rauschenden Bach wurde Halt gemacht und die Herzogin hatte von der jungen, ganz bestürzten Müllersfrau ein Glas kühler Milch erbeten, während der Herzog dem Diener die Zügel zuwarf und plaudernd am Wagenschlag lehnte. Den ehrerbietig herzu geeilten Müller hatte er huldvoll nach dem Gange des Geschäftes gefragt und ihn geheißen, der Frau Herzogin die drei Buben vorzustellen, die mit den kleinen Prinzen just in einem Alter standen, und die fürstliche Frau hatte die blonden sonnverbrannten Kinder gefragt, was sie werden wollten, und auf die Antwort: „Soldaten!“ jedem für die Sparkasse einen blanken Thaler mit dem Bilde des Herzogs geschenkt. Dann war man weiter gefahren, heimwärts; denn die Abendsonne begann schon durch das Tannengezweig zu leuchten.
Die Herzogin that noch immer tausend Fragen; gewaltsam mußte Claudine ihre wild davon flatternden Gedanken zusammennehmen.
„Neuhaus hat Gäste,“ sagte jetzt die fürstliche Frau; „dort weht die Standarte unseres Hauses.“
„Ihre Durchlaucht Prinzeß Thekla,“ bestätigte Claudine mit matter Stimme.
„Und Helene?“
„Prinzeß Helene wird ebenfalls erwartet, Hoheit.“
„Adieu, du schöne Einsamkeit!“ seufzte die Herzogin.
Die Equipage näherte sich rasch der niedrigen Mauer des Neuhäuser Parkes; ihr entgegen rollten in scharfem Trabe zwei Landauer, die Kutscher und Diener in großer Livree. Man mußte sich unmittelbar an der Einfahrt begegnen, und in der That, der Herzog senkte grüßend die Peitsche, und die Herzogin winkte freundlich mit der Hand zu dem Wagen hinüber, in dessen braunseidenem Fond zwei Damen saßen, gegenüber Baron Lothar. Claudine sah, wie die junge Prinzessin, im koketten Reisemantel aus hellgrauer glänzender Seide mit blaugefütterten weiten Aermeln, unter dem zierlichen Strohhütchen hervor einen spöttisch verwunderten Blick zu ihr hinüber warf; wie Prinzeß Thekla die Lorgnette bei der Verneigung, die sie der regierenden Herzogin halb widerwillig angedeihen ließ, kalten Auges auf sie richtete und wie Lothar sie kaum zu beachten schien. Nach ein paar Sekunden war man an einander vorüber.
„Dort tritt die künftige Herrin in das Neuhäuser Schloß,“ sagte der Herzog, indem er sich wandte auf dem hohen Sitz, und seine blitzenden Augen streiften das bleiche Mädchengesicht.
„Du meinst wirklich, Adalbert? Welch Glück für die kleine Verwaiste!“
Er antwortete nicht. Claudine preßte die Hände um den Griff ihres Sonnenschirmchens; sie zwang sich gewaltsam, ihre tiefe Bewegung nicht zu verrathen. Ahnte der Herzog, wer es war, den sie im Herzen trug? – Sie konnte nicht hindern, daß eine heiße Röthe sich über ihr Antlitz ergoß, und jetzt begegnete sie abermals dem forschenden Auge des Herzogs.
„Sie ist ein verwöhntes kleines Geschöpf,“ sagte die Herzogin, die jetzt wie träumerisch in dem Polster des Wagens lehnte; „möchte sie Glück bereiten und finden! Unter uns, liebste Claudine, ich glaube, Gerolds Neigung wird von ihr erwidert und von Prinzessin Thekla begünstigt.“
„Ich glaube es auch, Hoheit,“ bestätigte Claudine und erschrak fast über ihre harte Stimme. Es war mit einem Male seltsam kalt und still in ihr geworden.
In Neuhaus waren indessen die fürstlichen Gäste heimisch geworden. Prinzeß Helene hatte das Kind ihrer Schwester, das Frau von Berg den Damen im weißen, überreich mit Spitzen garnirten Kleidchen entgegen trug, geküßt und dann sofort das Terrain sondirt. Sie war treppauf und -ab gegangen, hatte Thüren geöffnet, in die Zimmer gesehen und gefragt, wo denn ihr Schwager sein Domicil habe, um stehenden Fußes auch in dessen Räume einzudringen, die mit ihren Jagdtrophäen und Waffen, mit Bilderschmuck, mit antiken Möbeln und persischen Teppichen das Muster einer eleganten Garçonwohnung boten, und hatte dort, neugierig wie ein Kind, mit ihren schwarzen Beerenaugen alles gemustert. Sie war im Garten gewesen und wieder in das Herrenhaus gekommen und hatte da plötzlich vor einer Thür gestanden, die mit großer energischer Schrift die Worte: „Verbotener Eingang!“ zeigte. Sofort hatte Ihre Durchlaucht den Drücker gebogen, und ihr dunkles Köpfchen lugte neugierig in das altväterische Wohnzimmer. Wie das gemüthlich aussah! Wie traulich das Abendroth die altersbraunen Möbel überhauchte! Und wunderbar – dort am offenen Fenster saß ein schlanker Mann und las; sein feines Profil hob sich scharf ab gegen das dunkle Grün der Bäume hinter den Scheiben. Er war so tief in den alten Lederband versunken, daß er garnicht bemerkte, wie er beobachtet wurde.
Leise machte die kleine Prinzeß die Thür wieder zu und flog die breite eichene Treppe hinauf. Oben warf sie sich in einen Lehnstuhl und wollte sich todtlachen über das erschreckte Gesicht der Frau von Berg, die da eifrig schrieb auf ihrem gewöhnlichen Platz.
„Was haben Sie uns denn eigentlich immer berichtet von diesem Neuhaus, liebste Berg?“ fragte sie und setzte ihre kleinen Füße energisch auf ein Kissen. „Da war in Ihren Briefen an Mama von weiter nichts die Rede, als von ‚durchaus nicht comme il faut‘, von ‚spießbürgerlichen Gewohnheiten‘ et cetera. Ich finde es reizend, überaus reizend hier; ich werde nicht einen Augenblick die Langeweile verspüren, die man immer zwischen Ihren Zeilen lesen mußte. Und was wollen Sie denn von der Schwester des Barons? Sie ist eine originelle
[184][185] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [186] Dame und sieht stattlich genug aus in ihrem grauen Seidenkleid; und was das Aeußere des Kindes anbetrifft, so waschen Sie der Kleinen nur die dichte Schicht Reispuder ab, die Sie auf das arme Gesichtchen gelegt haben, wahrscheinlich, um Mama zu rühren. Dann wird’s besser aussehen. Augenblicklich gleicht es Ihnen, liebste Berg, wenn Sie nämlich schmachtend zu erscheinen wünschen.“
„Durchlaucht!“ rief Frau von Berg beleidigt und wurde roth unter eben dieser Schminke.
„Ereifern Sie sich doch nicht,“ fuhr die Prinzessin fort, „geben Sie lieber alle derartigen Attentate auf! Ich finde es nun einmal charmant hier draußen und werde das meinem Schwager sagen.“
„Da werden Durchlaucht völlig seinen Geschmack treffen; auch er findet es in hiesiger Gegend reizend!“
„O, was Sie meinen, Beste, das weiß ich,“ erwiderte die Prinzessin, „aber das ist lächerlich, einfach lächerlich. Heraus mit der Sprache, liebstes Bergchen, wenn Sie etwas Positives wissen,“ sagte sie siegesgewiß. „Sie begreifen doch, es kann mir nicht gleichgültig sein, wer die Mutter des Kindes –“ sie wies nach der Nebenthür – „wird.“
„Durchlaucht glauben mir ja doch nicht,“ schmollte die Dame und sah vorüber an den funkelnden schwarzen Mädchenaugen, die sich fast leidenschaftlich in die ihren senkten.
„Mitunter nicht! Ich weiß indessen ganz genau Wahrheit und Dichtung bei Ihnen zu unterscheiden.“
„Nun, so lasse ich Ihnen die Wahl, Prinzessin,“ begann Frau von Berg eifrig, „ob Sie glauben wollen oder nicht. Er –“
„Es ist nicht wahr!“
„Aber, Durchlaucht, ich sprach noch gar nicht!“
„Alice, sagen Sie nichts, es ist nicht so,“ rief die Prinzessin fast drohend. „Er hat sie niemals angesehen, er ist ihr geflissentlich aus dem Wege gegangen. Sie wollten etwas Anderes erzählen.“
„Gut, wie Durchlaucht befehlen. Sie –“
„Sie ist in andern Ketten und Banden, ich habe es gesehen,“ rief Prinzeß Helene. „Der Herzog –“
„Aber ich habe ja noch garnichts gesagt,“ unterbrach die Berg. „Wenn Durchlaucht so gut unterrichtet sind, was soll ich dann noch sagen?“
„Sprechen Sie, Alice,“ bat die Prinzessin jetzt, „ist es denn möglich? Mama ist außer sich darüber, ich sehe es ihr an; sie redet kein Wort zu mir, seitdem wir den Herzog mit ihr im Wagen gesehen haben, und ihre Nase ist spitz; das bedeutet Sturm. Sie wissen es, Alice.“
„Aber die Herzogin fuhr mit, Prinzessin.“
„Ach Gott,“ rief diese und schlug die kleinen Hände zusammen, „die arme gute Liesel! Sie schwebt, wie gewöhnlich, in höheren Regionen und sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich wette, Hoheit, meine Kousine, schreibt wieder an einem Trauerspiel, das dann im nächsten Winter zu unser aller Erbauung aufgeführt werden wird. Wissen Sie noch, Alice, vorigen Winter? Aber Sie waren ja in Nizza. Schauerlich! Schauerlich! Ein paarmal kamen mir Thränen in die Augen vor Rührung, im Großen, Ganzen aber – behüt uns der Himmel! Drei Todte waren zuletzt auf der Bühne; und ich hörte, wie Graf Windeck zu der Moorsleben sagte: ‚Passen Sie auf, Gnädigste, jetzt sticht gleich noch der Souffleur den Lampenputzer todt.‘“
Sie lachte schier übermüthig, die kleine Prinzessin, wurde aber sofort wieder ernsthaft. „Ich bin ihr bei alledem doch sehr gut, Alice; sie ist liebenswürdig, trotz ihrer Romanideen. Arme, arme Liesel! Hätte sie nicht heute neben ihr gesessen, ich wäre aus dem Wagen gesprungen und ihr um den Hals gefallen. Sagen Sie, Alice, wie kann man einen solchen Eiszapfen, wie diese Claudine, zu näherem Verkehr um sich haben?“
Die Tischglocke erscholl in diesem Moment und Prinzeß Helene ließ sich in ihrem Zimmer noch in aller Eile die Stirnlöckchen von der Kammerjungfer arrangiren. Auf der teppichbelegten Treppe schritt eben Prinzessin Thekla am Arme des Hausherrn hinunter, als sie mit Frau von Berg und der Hofdame nachfolgte.
„Apropos, Alice,“ fragte die junge Prinzeß leise; „was ist das für ein Herr, der in dem Zimmer wohnt, wo angeschrieben steht ‚Verbotener Eingang‘?“
„Ein Herr, Durchlaucht?“
„Nun ja, ja!“
„Durchlaucht müssen einen Geist gesehen haben.“
„Doch nicht. Ich werde mich bei Fräulein von Gerold erkundigen.“ Und sie that es auch sofort, man hatte kaum Platz genommen.
„Das war mein Vetter Joachim, Durchlaucht,“ antwortete Beate, und die Suppenkelle schwankte ein klein wenig in ihrer Hand.
„Der Bruder von Claudine Gerold?“
„Ja, Durchlaucht.“
„Das Eulenhaus ist ja wohl sehr nahe, lieber Gerold,“ erkundigte sich Prinzeß Thekla und nahm etwas mehr Salz in die Suppe.
„In einer halben Stunde zu erreichen,“ erwiderte er; „wenn die gnädigsten Herrschaften befehlen, fahre ich sie vorüber an der Klosterruine. Sie ist sehenswerth.“
„Danke!“ unterbrach ihn kühl die alte Prinzessin.
„Danke!“ betonte ebenso kühl Prinzeß Helene.
Er sah verwundert von seinem Teller auf. „Durchlaucht werden diesen Anblick kaum vermeiden können; unser schönster Waldweg führt an der Ruine vorbei.“
„Ich hoffe, Baron,“ nahm Prinzeß Helene das Wort und lenkte damit Lothar’s Blicke von der wirklich eigenthümlich spitz gewordenen Nase seiner erlauchten Schwiegermutter ab, „ich hoffe, Sie werden mich auf meinen Ritten begleiten; Komtesse Moorsleben ist zuweilen auch von der Partie.“
„Durchlaucht brauchen nur zu befehlen,“ erwiderte er und streifte das hübsche Gesichtchen der Komtesse, die über das „zuweilen“ mühsam ein spöttisches Lächeln unterdrückte. In der Residenz mußte sie alle Tage dabei sein, sonst ritt die kleine Prinzeß nicht.
Prinzessin Thekla sprach jetzt von einer Milchkur, die sie unternehmen wollte. Sie war mit einem Male blendend liebenswürdig, scherzte mit Lothar über seine idyllische Häuslichkeit und nannte Beate einmal über das andere: „Meine Theure“. Niemals hatte sie so deliciöse Forellen gegessen; und als Lothar sich erhob, das gefüllte Glas mit dem perlenden Champagner in der Hand, für die große Ehre dankend, die ihm durch den Besuch der durchlauchtigsten Großmama zu Theil geworden, reichte sie ihm huldvoll die reich beringte schmale Hand zum Kuß und drückte das spitzenbesetzte Tuch einen Moment gerührt an die Augen.
Unter dem Vorwand, sie sei ermüdet, hob sie die Tafel noch vor dem Nachtisch auf und die Damen zogen sich in ihre Gemächer zurück. Frau von Berg durfte noch lange am Bette der Prinzessin Thekla sitzen, und als sie endlich ihr Zimmer aufsuchte, geschah es mit erhobenem Kopfe; sie schrieb noch ein Postscriptum unter den Nachmittags begonnenen Brief:
„Es ist alles in schönster Ordnung; die Kleine brennt lichterloh in Liebe und – Haß. Für wen die erstere Flamme leuchtet, wissen wir, und die letztere flackert für Claudine.
In wenigen Tagen werden die Bäume im Walde sich eine große Neuigkeit erzählen. Im übrigen, anfangs der nächsten Woche findet hier ein Fest statt; es wird hervorragend sein; Prinzeß Helene schwärmt von einem Tanz unter den Linden im Garten. Notabene, sie hat bei aller Bosheit eine gewisse Gutmüthigkeit, so daß man sich bei ihr eines thörichten Streiches wohl versehen kann und vorsichtig sein muß!
Sie siegelte den Brief und trug ihn hinunter; eins der Küchenmädchen empfing ihn im Halbdunkel des Souterrains und steckte schmunzelnd einen Thaler in die Tasche. Frau von Berg mußte hohes Porto zahlen.
In der dämmerigen Wohnstube aber erscholl ein herzliches Frauenlachen. Als Beate hereintrat, saß da noch immer eine Gestalt in ihrem Lehnstuhl auf der Estrade und schrieb an ihrem Nähtischchen im allerletzten Tagesschein.
„Aber, Joachim!“ rief sie mit ihrer klingenden Stimme, „wollen Sie sich durchaus die Augen verderben?“
Er fuhr empor; er hatte ganz vergessen, wo er war. „Mein Gott,“ sagte er erschreckt und faßte nach dem Hut, „ich habe mich [187] über dem alten Buche da verspätet; verzeihen Sie, Kousine, ich räume sofort das Feld.“
„Jetzt nicht!“ erklärte sie, noch immer lachend; „denn Lothar wird Sie auch sehen wollen; ihm gilt ja wohl Ihr Besuch?“ Und sie drückte ihn sanft auf den Sessel zurück und suchte ihren Bruder.
Er stand in seinem Zimmer am Fenster und starrte auf die Landstraße hinaus.
„Lothar,“ bat sie, „komm herüber! Joachim sitzt noch immer dort und hat Zeit und Weile vergessen über dem alten Reisetagebuch aus Spanien – weißt Du, das vom Großvater, in dem weißen Lederband.“
„Wie kam er denn eigentlich hierher, der Joachim nämlich?“ fragte Lothar und nahm eine Cigarrentasche nebst Aschenbecher von dem eleganten Rauchtischchen.
„Ich fand ihn hier vor, als ich vom Eulenhause zurückkam, und da ich noch allerlei zu besorgen hatte, wie Du Dir denken kannst, das mich hinderte, ihm Gesellschaft zu leisten, ihn auch nicht unausgeruht heimschicken durfte, so fiel mir das Buch ein. Du siehst, er hat sich trefflich damit unterhalten.“
Er blickte sie lächelnd an, indem er neben ihr durch die erleuchtete Halle schritt und in den Korridor einbog.
„Sage einmal, Beate,“ fragte er, „hast Du die Warnung an die Thür dort geschrieben, als er schon drinnen saß, oder vorher?“
„Natürlich vorher,“ erwiderte sie unbefangen, und dann ward sie roth. „Ich verstehe Dich nicht!“ fügte sie ärgerlich hinzu.
„Nun, weißt Du, Schwester,“ sagte er mit einem Anflug von Schelmerei, der sein vornehmes Gesicht wunderbar gut kleidete, „verbotener Eintritt! schreibt man mitunter an Thüren, die etwas verschließen, das man am liebsten ganz allein für sich behalten will.“
„O Du abscheulicher Mensch,“ schmollte Beate verlegen und wischte eilig mit der Hand über die Kreideschrift. Und dann saßen sie alle drei in der Wohnstube beim Glase Wein und Joachim erzählte, an das Buch anknüpfend, von seinen Reiseerlebnissen. Er sprach wunderbar gut. „Wie Musik“ dachte Beate, die auf der Estrade hockte und alles vergaß; vergaß, daß die Wachskerzen auf dem Kronleuchter im Eßsaal unnütz verbrannten, vergaß, die Reste der Tafel in die Speisekammer zu verschließen und das Dejeuner für morgen anzuordnen. Der Schlüsselbund an ihrem Gürtel verhielt sich ganz still; nicht das leiseste Klirren mahnte sie an ihre Hausfrauenpflichten. Vor den Fenstern flüsterten die Linden im Abendwind und der Duft vom frisch gemähten Gras zog in das Gemach.
Es war spät, als Lothar seinen Vetter durch den Wald fuhr nach dem Eulenhause. Auf dem Rückwege kam ihm das Koupé der Herzogin entgegen. Er wußte, wen es trug; in rasendem Tempo jagte er an dem Gefährt vorüber. Als er vor der Neuhäuser Rampe hielt, klirrte über ihm ein Fenster zu, und in dem stillen Zimmer dort oben barg sich ein leidenschaftliches junges Gesicht wieder in die Kissen.
Prinzessin Helene hatte ihn fortfahren sehen – dort hinaus, wo das Eulenhaus lag. Gottlob, jetzt war er daheim!
Im Eulenhause war eine Veränderung eingetreten: Fräulein Lindenmeyer hatte Besuch.
Es war erst ein mächtiges Hin- und Herschreiben gewesen, und dann war am Morgen nach dem Tage, als Claudine mit der Herzogin spazieren fuhr, Fräulein Lindenmeyer mit rothem verlegenen Gesicht in die Stube Claudinens getreten, einen offenen Brief in der Hand.
„Ach, Fräulein Claudinchen, gnädiges Fräulein, ich hätte so eine rechte Herzensbitte.“
„Nun, meine liebe gute Lindenmeyer, dann ist sie bereits gewährt,“ hatte Claudine erwidert, indem sie Thee aufgoß für Joachims Frühstück.
„Aber Sie müssen es ehrlich sagen, gnädiges Fräulein, wenn’s nicht paßt; ich werde alles thun, damit keinerlei Störung zu bemerken ist, aber –“
„Nur heraus damit, Lindenmeyerchen,“ hatte das schöne Mädchen freundlich ermuthigt; „ich wüßte nicht, was ich Ihnen abschlagen könnte, es sei denn, daß Sie das Eulenhaus verlassen wollten – und das würde ich nicht zugeben.“
„Ich von hier? O gnädiges Fräulein, das würde ich ja nicht überleben! – Ach nein, das ist’s nicht – ich erwarte – ich soll – ich bekomme Besuch, wenn’s die Herrschaft erlauben will.“
„Ei, wen denn, meine liebe Lindenmeyer?“
„Frau Försters Zweite, die Ida; sie soll so ein bischen Schick bekommen und feine Handarbeit lernen. Da hat sich nun die Försterin in den Kopf gesetzt, daß sie das bei mir altem Wurm am schönsten kapiren würde. Ich thue es ja auch sehr gern, wenn Sie es erlauben; sie könnte in dem Kämmerchen wohnen hinter meiner Stube, wenn –“
Die alte gute Seele hatte die Hände über ihren Brief gefaltet und ihre Augen sahen mit gespannter Erwartung zu der jungen Herrin hinüber.
„Na, das wird ja sehr hübsch für Sie,“ lautete die freundliche Antwort, „lassen Sie das junge Mädchen nur bald kommen; sie mag hier bleiben, so lange es ihr gefällt.“
Und so stand anderen Tages, als Claudine in die Küche trat, um ihren Hausfrauenpflichten zu genügen, eine kleine runde Mädchengestalt am prasselnden Herdfeuer und wirthschaftete dort mit Tassen und Theekessel umher, als ob es gar nie anders gewesen wäre. Ein Paar schelmische blaue Augen sahen über das Stumpfnäschen hinweg zu Claudine hinüber, und die Besitzerin dieser Augen machte einen etwas unbeholfenen Knix, als sie die schöne schlanke Gestalt über die Schwelle treten sah.
„Aber, liebes Kind!“ sprach Claudine verwundert.
„Ach, gnädiges Fräulein, lassen Sie mich das thun!“ bat das Mädchen zutraulich. „Den ganzen Tag kann ich nicht bei Tante Doris in der Stube sitzen und sticken; ich käme um dabei, wenn ich nicht ein bischen Wirthschaft hätte. Bitte recht sehr, lassen Sie mich!“
„Aber das darf ich nicht annehmen, liebe Ida – so heißen Sie ja wohl? – gewiß nicht; ich verwöhne mich nur dadurch.“
„Ich möchte so gern etwas lernen,“ sagte das Mädchen und schlug die schelmischen Augen nieder.
Claudine lächelte. „Bei mir? O, da sind Sie schlimm angekommen – ich bin selbst noch Lernende.“
„Gnädiges Fräulein, dann will ich nur die Wahrheit sagen – ich kann schon etwas in der Wirthschaft, aber in so manchen andern Dingen fehlt mir’s; ich möchte gern eine Stelle als Kammerjungfer in S. annehmen, und da dachte ich, ich könnte hier so ein wenig wegbekommen, wie man seine Dame zu behandeln hat beim Ankleiden, und so weiter. Lassen Sie mich das bischen Wirthschaft hier thun und sich dafür meine ungeschickte Hilfe gefallen beim Nähen, Toilettenmachen und Schneidern.“
Die Blicke des Mädchens hingen so freudig erwartungsvoll an Claudinens Augen und sie selbst fühlte sich so müde und traurig; aber sie antwortete nicht und ging zu Fräulein Lindenmeyer.
„Gestehe es nur, Lindenmeyerchen,“ sagte sie, sich zum Scherz zwingend und das alte Fräulein duzend, wie in ihrer Kinderzeit; „Du hast Dir Besuch eingeladen, um die Last der Wirthschaft von meinen Schultern zu nehmen?“ Dabei flimmerten ihre Augen feucht.
„Ach, Herzenskindchen,“ jammerte das gutmüthige Geschöpf; „so hat’s die Ida doch dumm angefangen und wir hatten es uns so fein ausgedacht! Seien Sie nicht böse! Ich kann’s nicht mit ansehen, wie Sie des Morgens mit verwachten Augen herunter kommen und so blaß sind, so blaß! Es ist so ein altes Sprichwort: ‚Rosenbeet und Ackerland, gedeihen nie in einer Hand.‘ Wenn Sie frisch sein wollen bei Hofe, dann müssen Sie auch Ihr Recht haben; sonst ist’s bald vorbei mit Ihrem weißen klaren Teint. Heinemann sagt’s auch; er hat sich mit mir um die Wette geängstigt Ihretwegen. Und, Fräulein Claudine, die Ida hat ihren regelrechten Profit dabei. Sie könnte durch ihre Tante die Stelle bei der Gräfin Keller als Kammerfrau bekommen; aber so weg von der Waldwiese geht’s doch nicht. Wahrhaftig, es ist so!“ betheuerte die alte Seele.
Und so hatte Claudine plötzlich eine Hilfe bekommen, so sehr sie sich auch sträubte und wehrte. Es war eine ordentliche Behaglichkeit in das Haus eingekehrt durch dieses frische unscheinbare [188] Mädchen, und eifriger ist wohl nie eine Herrin bedient, herzlicher nie ein Kind verwöhnt worden wie Claudine und die kleine Elisabeth. Heinemann strahlte ordentlich, wenn er der flinken Dirne auf dem Treppchen begegnete oder sie in der Küche die alten Volkslieder mit halblauter Stimme – um den Herrn Baron nicht zu stören – singen hörte. Jetzt weinte auch die kleine Elisabeth nicht mehr, wenn Tante Claudine fort fuhr in dem schönen Wagen der Frau Herzogin, und Claudine saß nicht mehr so abgespannt bei Tische wie bisher, ohne einen Bissen zu genießen.
„Es ist ganz vornehm bei uns!“ lächelte Joachim, als Heinemann zum ersten Male die einfachen Gerichte auftrug und Claudine ruhig an ihrem Platz verblieb, „ich bin glücklich Deinetwegen, Schwester.“
Frühe Leidensjahre.
„Wer nie sein Brot mit Thränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!“
Die erschütternde Wahrheit dieser Goetheschen Verse, welche die unglückliche Königin Luise nach ihrer Flucht aus der Hauptstadt in den trostlosen Dezembertagen des Jahres 1806 zu Ortelsburg in ihr Tagebuch schrieb, hat auch Kaiser Wilhelm bereits in seiner frühesten Jugend in ihrer ganzen Wucht erfahren. Diese Zeit plötzlicher, tiefster Erniedrigung Preußens und des königlichen Hauses ist von unauslöschlichem Eindruck auf das Gemüth des heranreifenden Knaben gewesen. Die „himmlischen Mächte“ – in jenen Jahren des Leidens und der Entbehrung hat er sie kennen gelernt. Von allen noch so schweren Schicksalsschlägen, welche die Jugend des Prinzen Wilhelm verdüsterten, war aber der schwerste Schlag der Tod der über alles geliebten Mutter, der unvergeßlichen Königin Luise.
Luisens Kraft, sagt Ernst Scherenberg in seinem von uns in voriger Nummer genannten Buche, war unter der furchtbaren Last jahrelangen Kummers, unaufhörlicher Aufregung und der Erniedrigungen, welche die napoleonische Brutalität dem Vaterlande und dem Königshause immer von neuem auferlegte, trotz aller Willensstärke der herrlichen Dulderin langsam zusammengebrochen.
Schon als sie im Februar 1809 von einem sechswöchigen Besuche mit dem Könige in Petersburg nach Königsberg zurückkehrte, trotz aller glänzenden Festlichkeiten, welche Kaiser Alexander ihr zu Ehren veranstaltete, in ihren patriotischen Hoffnungen wiederum tief getäuscht, grammüde und angegriffen vom rauhen nordischen Klima – trug sie den Todespfeil im Herzen. Und daß sie selbst das Bewußtsein hiervon hatte, dafür zeugen die tief traurigen Worte, welche sie an ihre Freundin, Frau von Berg, richtete: „Ich bin gekommen, wie ich gegangen. Nichts blendet mich mehr, und ich sage Ihnen noch einmal: mein Reich ist nicht von dieser Welt!“ Nach dem Falle Wiens im Mai desselben Jahres aber schrieb sie: „Ach Gott, es ist zu viel über mich ergangen. Du hilfst allein – ich glaube an keine Zukunft auf Erden mehr. Gott weiß, wo ich begraben werde, schwerlich auf preußischer Erde!“ In dieser letzteren Befürchtung täuschte sie sich freilich. Sie sollte sogar, woran sie damals offenbar verzweifelte, ihre Hauptstadt und ihre väterliche Heimath noch einmal wiedersehen – wenn auch nur, um sich dort im Schimmer eines versöhnenden Abendroths zur ewigen Ruhe zu betten.
Stürmische Wolken trübten dasselbe allerdings noch an ihrem letzten Geburtstage, dem 10. März 1810. Die beständigen Aufforderungen von Paris wegen rückständiger Zahlungen einer unerschwinglichen Kontribution und Androhungen einer französischen Exekutionsarmee, welche das Land besetzen sollte, ließen sie einen neuen Gewaltstreich Napoleons, eine neue Verbannung fürchten. Und so äußerte sie bei der Feier des Tages: „Ich denke, es wird wohl das letzte Mal sein, daß ich meinen Geburtstag hier feiere.“ Schon war der damalige Minister von Altenstein geneigt, dem Könige zur Befriedigung der französischen Forderungen die Abtretung einer Provinz anzurathen, als durch die unter thätiger Mitwirkung der Königin erfolgte Wiederberufung des seit dem Tilsiter Frieden entlassenen Ministers Hardenberg und Ernennung desselben zum Staatskanzler eine festere und patriotischere Leitung der politischen Angelegenheiten und damit auch im Herzen der Königin eine größere Beruhigung über die Zukunft des preußischen Staates Platz griff. Und so konnte die edle Fürstin doch mit der Hoffnung auf bessere Zeiten für ihr Vaterland aus dem Leben scheiden. Nach einer Aufzeichnung des Bischofs Eylert soll sie ihrer Zuversicht auf den Sturz der napoleonischen Herrschaft in Europa noch am letzten Pfingsttage des Jahres 1810 in folgenden Worten Ausdruck gegeben haben:
„Der gegenwärtige Zustand der Dinge ist ein gewaltsamer, durchaus nicht aus dem Willen und Wünschen der Völker hervorgegangen: denn diese sind besiegt und unterjocht; sie sind damit unzufrieden, und alle Welt ist es. Napoleons Herrschaft ist Zwang, alles ist unnatürlich, zusammengepreßt. Darum kann es nicht von Dauer sein. Man fühlt es heraus, wir sind noch nicht fertig; es kommt noch etwas anderes. Aber ach, darüber können wir sterben!“
Und so geschah es nur zu bald der armen Königin. Wenige Wochen nach diesen Aeußerungen, bei Gelegenheit eines Besuches am väterlichen Hofe zu Neu-Strelitz, erkrankte sie in dem nahen Lustschlosse Hohen-Zieritz gegen Ende Juni an einem heftigen Brustfieber, dem sie am 19. Juli erlag. Der König, welcher selbst in Charlottenburg am kalten Fieber litt, wurde am 18. durch Stafette nach Hohen-Zieritz gerufen. Noch Abends reiste er mit fliegender Hast nebst seinen beiden ältesten Söhnen nach dort ab. Die Schilderung der Augenzeugen über dies Wiedersehen und die letzten Stunden der Königin sind herzbrechend.
So berichtet die einundachtzigjährige treue Oberhofmeisterin Gräfin Voß in ihrem Tagebuch: „Endlich gegen 5 Uhr (Morgens) kam der König; aber die Königin hatte bereits den Tod auf der Stirn geschrieben! Und doch, wie empfing sie ihn, mit [189] welcher Freude umarmte und küßte sie ihn, und er weinte bitterlich. Der Kronprinz und Prinz Wilhelm waren mit ihm gekommen; so viel die arme Königin es nur vermochte, versuchte sie noch immer zu sprechen; sie wollte so gern immer noch zum König reden, ach, und sie konnte es nicht mehr! – So ging es fort und sie wurde immer schwächer. Der König saß auf dem Rand des Bettes und ich kniete davor; er suchte die erkalteten Hände der Königin zu erwärmen; dann hielt er die eine und legte die andere in meine Hände, um daß ich sie warm reiben sollte. Es war etwa neun Uhr; die Königin hatte ihren Kopf sanft auf die Seite geneigt und die Augen fest gen Himmel gerichtet. Ihre großen Augen weit geöffnet und aufwärts blickend, sagte sie: ‚Ich sterbe, o Jesu, mach’ es leicht!‛ – Ach, das war ein Augenblick, wie niemand ihn je vergißt! Ich bat den König, ihr die Augen zuzudrücken, denn der letzte Athem war entflohen! – Ach, das Schluchzen und Weinen des unglücklichen Königs, der Kinder und aller, die umherknieten, war schrecklich. Die Wege Gottes sind unerforschlich und heilig, aber sie sind furchtbar zu gehen! – Der König, die Kinder, der Staat, der Hof, alle, ja alle haben alles auf der Welt mit ihr verloren!“
Wie hoch Luise auch von ihrem unerbittlichsten Feinde geschätzt wurde, ergiebt sich aus der Aeußerung Napoleons bei der Kunde ihres Hinscheidens: „Der König von Preußen hat seinen besten Minister verloren!“
Dem deutschen Volke aber wurde die vom Schimmer der Poesie Umwobene und Verklärte eine Märtyrerin, eine Heilige, von der Theodor Körner sang:
Kommt dann der Tag der
Freiheit und der Rache,
Dann ruft dein Volk, dann,
deutsche Frau, erwache,
Ein guter Engel für die
gute Sache!
Ein „guter Engel“ blieb sie auch ihrem Sohne Wilhelm Zeit seines Lebens. So war sie es auch, zu deren Grabe es ihn als König an jenem entscheidungsvollen 19. Juli 1870 – dem Tage der französischen Kriegserklärung –, genau sechzig Jahre nach dem schmerzlichen Erlebniß seiner Jugend, ins Mausoleum zu Charlottenburg zog, um sich innerlich zu sammeln und zu stählen zu jenem gewaltigen Rachezuge wider den Neffen des Mannes, der seiner königlichen Mutter das Herz gebrochen.
Und hatte der dreizehnjährige Knabe in seiner sinnig stillen Weise einen Kranz aus Eichenlaub und Rosen gewunden, um unter Thränen das Todtenbett seiner Mutter damit zu schmücken, so legte der vierundsiebzigjährige Greis nach seiner Rückkehr aus dem Vergeltungskriege als deutscher Kaiser wiederum einen selbstgeflochtenen, aber unverwelklichen Kranz aus Siegeslorbeern und Friedenspalmen auf das Grab der Unvergeßlichen.
„Das Land ist aufgestanden –
Ein herrlich Osterfest! –
Ist frei von Sklavenbanden,
Die hielten nicht mehr fest.“
Als der Sänger so das Osterfest der deutschen Erhebung feiern konnte, trat Prinz Wilhelm in Breslau in sein siebzehntes Lebensjahr, und die Befreiungskriege boten ihm die erste Gelegenheit zur Bethätigung persönlichen Muthes und zur Erwerbung der ersten militärischen Ehren. Freilich nicht gleich am Anfang; zunächst mußte er seiner schwächlichen Gesundheit halber eine Geduldsprobe bestehen, und seine brennende Begierde, den Vater in den Kampf begleiten zu dürfen, ging erst in Erfüllung, als die gewaltige Völkerschlacht bei Leipzig bereits geschlagen war. Dann aber bewährte er sich frühzeitig um so glänzender, und namentlich seine Betheiligung an der Schlacht bei Bar sur Aube war eine ruhmvolle, wenn er auch, wie nur natürlich, damals eine leitende Stellung in der Armee noch keineswegs einnahm.
Als der König am 30. Oktober auf wenige Tage nach Breslau kam und einwilligte, daß auch sein zweiter Sohn ihn zur Armee begleite, ernannte er ihn gleichzeitig zum Kapitän. Anfänglich sollte der Prinz, der seinem Vater immer noch als „zu schwächlich“ zum wirklichen Kriegsdienste erschien, nur auf sechs Wochen gleichsam zur Probe mitgenommen werden. Er mußte sich aber wohl in der schlesischen Luft sehr gekräftigt haben; denn als er am 5. November mit dem Könige in Berlin eingetroffen war, schrieb die Gräfin Voß in ihr Tagebuch: „Am meisten freute mich der Prinz Wilhelm, der unglaublich gewachsen ist, sehr gut aussieht und sehr nett ist.“
Am 8. November reiste er mit dem Vater über das noch deutlich die Spuren des großen Völkerringens zeigende Schlachtfeld bei Leipzig ins große Hauptquartier der verbündeten Monarchen noch Frankfurt am Main, wo er bis Ende des Jahres verweilte. Als der König am 1. Dezember mit seinen beiden Söhnen und dem Feldmarschall Blücher südwestlich von Wiesbaden im Angesicht des Rheins über das Yorksche Korps Heerschau abhielt, hörte Prinz Wilhelm von den Vorwerken der nahen Festung Mainz und der Rheininsel Petersau her zum ersten Male den Donner der französischen Geschütze.
Am ersten Tage des Jahres 1814 überschritten die verbündeten Armeen, in drei große Heeressäulen getheilt, an verschiedenen Punkten den Rhein. Das Korps des russischen Generals von Osten-Sacken, bei welchem sich Prinz Wilhelm mit seinem Vater und Bruder befand, bewirkte den Uebergang bei Mannheim. Da die Franzosen, durch eine große Schanze unterstützt, heftigen Widerstand leisteten, sah der Prinz hier zum ersten Male den Ernst blutigen Kampfes.
Im Verlaufe des Krieges war er sodann Augenzeuge des entscheidenden Sieges, den Blücher über Napoleon bei La Rochière am 1. Februar errang. Tags darauf gerieth er bei Rosny im Gefolge seines Vaters und des Kaisers Alexander mehrmals in den Strich der feindlichen Kugeln. Seine eigentliche Feuertaufe aber empfing der Prinz am 27. desselben Monats. Die Hauptarmee unter dem österreichischen Oberfeldherrn Schwarzenberg hatte auf Andrängen Friedrich Wilhelms III. endlich den durch einige glückliche Vorstöße Napoleon’s Mitte Februar veranlaßten und durch diplomatische Rücksichten verlängerten Rückzug eingestellt und wiederum die Offensive ergriffen, welche inzwischen Blücher mit Zustimmung seines Königs unter schweren Opfern allein fortgesetzt. So kam es an dem genannten Tage bei Bar sur Aube zur Schlacht.
[190] Schon am Morgen hatte der König seinen Söhnen angekündigt: „Heute werden wir Bataille haben. Reitet voraus, ich komme nach. Aber exponirt Euch nicht unnütz! Verstanden?“
Bei dem Korps des russischen Generals Wittgenstein trafen sie später mit dem Vater wieder zusammen und befanden sich oft mit ihm im heftigsten Gewehrfeuer. Plötzlich zeigt der König nach einer Stelle hin, wo der Kampf an den zu nehmenden Weinbergen besonders mörderisch entbrannt ist, und befiehlt dem Prinzen Wilhelm:
„Reite einmal dahin und erkundige Dich, welches Regiment dort im Feuer ist. Die Blessirten mehren sich ja in jedem Augenblick.“ Der Prinz salutirt und reitet, als sei er Adjutant des Königs, ohne Verzug geradeaus zu dem schwerbedrängten russischen Regiment Kaluga, unter dessen Soldaten er, zur freudigen Verwunderung und Ermuthigung derselben, auf einmal erscheint. In voller Ruhe erkundigt er sich nach dem Namen des Regiments, überzählt dann noch die bisherigen Opfer desselben, nimmt den Stand des Gefechts in Augenschein und reitet endlich durch den Kugelregen ebenso kaltblütig zurück, wie er gekommen. In kurzer militärischer Art erstattet er dem Könige Meldung. Schweigend, ohne irgend ein äußeres Zeichen seiner Bewegung oder ein anerkennendes Wort, hört der Vater den Rapport an. Ebenso verhält sich auf einen Wink des Königs die Umgebung desselben. Nur Oberst von Luck, des Kronprinzen früherer Gouverneur, welcher den Vorgang mit Spannung verfolgt hat, reitet an den ritterlich bescheidenen Jüngling heran und drückt ihm stumm die Hand. Und an demselben Nachmittage wohnt der Prinz noch dem Sturmangriff eines Bataillons desselben Regiments Kaluga bei, durch welchen der Sieg für die Verbündeten entschieden wird.
Diese rühmlich bestandene Feuerprobe, welche Prinz Wilhelm in seinem soldatischen Pflichtgefühl gar nicht als etwas Besonderes betrachtet hatte , trug ihm seitens des Kaisers Alexander am 5. März die erste Auszeichnung für Tapferkeit auf dem Schlachtfelde, das Kreuz des St. Georgsordens vierter Klasse, ein. Sein Vater aber kannte des Sohnes Herz und wählte den Geburtstag der unvergeßlichen, nunmehr durch die Thaten der Ihrigen und ihres Volkes an ihrem korsischen Peiniger gerächten Mutter, den 10. März, um dem jungen Kapitän das Eiserne Kreuz anzuheften. Nun erst, da ihn der König nebst seinem gleichfalls dekorirten Bruder den glückwünschenden hohen Offizieren des Gefolges als Ritter des Eisernen Kreuzes vorstellte, wurde dem Prinzen die ganze Bedeutung des Vorganges von Bar sur Aube klar.
Am 30. März war Prinz Wilhelm vor Paris nochmals Zeuge der todesverachtenden Tapferkeit, welche die preußischen Garden unter Oberst von Alvensleben bei dem Dorfe Pantin bewiesen. Tags darauf ritt er mit seinem Bruder und Vetter Friedrich, „auf dem Tschako einen Buchsbaumzweig und um den linken Arm eine weiße Binde“ (das Zeichen der verbündeten Truppen), hinter den Monarchen Alexander und Friedrich Wilhelm in die besiegte Hauptstadt ein, von den wetterwendischen Parisern mit Jubel und Tücherwehen als Befreier empfangen. Der besiegte Napoleon wurde nach französischer Art im Jahre 1814 ebenso rasch vom Volke verlassen und verdammt, wie sechsundfünfzig Jahre später sein Neffe. Aber der siebzehnjährige Bewohner des Hôtels der Ehrenlegion (dort war Prinz Wilhelm in Paris abgestiegen) konnte damals nicht ahnen, daß ihm vorbehalten blieb, das Gottesgericht an einem andern Napoleoniden nach länger als einem halben Jahrhundert nochmals zu erleben und dabei selbst die gewaltigste Sendung seines Lebens zu erfüllen!
Der Tag des ersten Pariser Friedens (30. Mai) brachte dem Prinzen Wilhelm seine Ernennung zum Major. In diesem neuen militärischen Range begleitete er seinen Vater im Juni bei dem Besuche in London. So konnte der Prinz unmittelbar hinter einander die großartigen Eindrücke der beiden ersten Weltstädte Europas in sich aufnehmen und an diese reihten sich, als er dann dem Könige auch im Juli auf der Reise nach dem wieder in Besitz genommenen Neuchatel zur Seite bleiben und mit ihm zusammen einen Ausflug in das Berner Oberland machen durfte, sofort die ergreifenden Wunder der Alpenwelt.
Als der Prinz nach zehnmonatiger Abwesenheit von der Heimath am 7. August durch das Brandenburger Thor unter dem von Frankreich wiedereroberten Viergespann dort mit dem königlichen Vater und den siegreichen Feldherren seinen Einzug hielt, konnte er im Rückblick auf diese hinter ihm liegenden bewegten Tage wohl sagen, daß sie die bedeutungsvollsten seines bisherigen Lebens gewesen waren.
Im zweiten Feldzuge gegen den aus seinem Exil entflohenen und in Südfrankreich gelandeten Korsen sollte Prinz Wilhelm nicht vor den Feind kommen. Als er mit seinem Vater am 22. Juni Berlin verließ, hatten zu aller Ueberraschung Blücher und Wellington die Hauptarbeit bei Belle-Alliance oder Waterloo am 18. Juni bereits gethan; und als die Monarchen am 10. Juli, diesmal in aller Stille, in Paris einfuhren, fanden sie die Hauptstadt, zum Aerger des Kaisers Alexander, durch Blücher, der sich bei der Verfolgung der geschlagenen Heere wiederum so recht als „Marschall Vorwärts“ bewährt hatte, bereits seit vier Tagen besetzt. Prinz Wilhelm, der mit den verbündeten Truppen marschirt war, traf erst am 13. Juli in Paris ein, wo er diesmal das Hôtel d’Avray bezog. Hier befiel den Prinzen eine Brustfellentzündung, von welcher er aber zur Freude des Vaters bald wieder genas, um sich nach diesem letzten Tribut an die Körperschwäche seiner frühen Jugendzeit fortan doppelt gefeit gegen alle Krankheitsstürme zu männlicher Kraft und echter Ritterlichkeit zu entwickeln.
Alle Rechte vorbehalten.
Das Abenteuer der Franull war zunächst abgethan. Es hatte jedoch die Eltern und den Grafen einander näher gebracht. Der Graf und der Vater luden sich seitdem häufiger zum Jagen ein; man plauderte beim Fortgehen aus der Kirche länger mit einander, bevor man in die Wagen stieg; und da eben in jenem Herbste meine Mutter sich nicht gut befand, so daß sie längere Zeit das Zimmer hüten mußte, kam der Graf, was sonst nicht geschehen war, mehrmals ungeladen nach Schönfelde, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Alle die Jahre hindurch hatte man als nächste Nachbarn mitten im Lande gelebt, ohne dieses Verhältniß sonderlich auszunutzen; nun fand man sich zusammen und hätte doch kaum sagen können, wie oder wodurch es sich also gemacht, während man es mit Behagen bemerkte. Es war angenehm, ab und zu eine Partie Boston zu haben; der Graf, welcher in meinem Vater den erfahrenen Landwirth anerkannte, zog ihn gelegentlich gern zu Rathe, und Franull und die Alte wurden zwischen dem Grafen und meiner Mutter mehrfach ein Gegenstand theilnehmender Besprechung.
Als Franull im Spätherbst so weit genesen war, daß sie, wenn auch noch unsicher, wieder im Hause umher gehen konnte, hatte der Graf zu meiner Mutter einmal die Aeußerung gethan, wie sonderbar die Verhältnisse sich manchmal gestalteten, wenn man im gegebenen Augenblicke das von ihm unbedingt Geforderte thue und danach zu erkennen habe, daß man damit eine weitgehende Verpflichtung über sich genommen, an die man im entferntesten nicht gedacht.
,Ich hatte gemeint‛ sagte er, ,die Alte werde Gott weiß wie glücklich sein, wenn sie eine Weile unter Dach und Fach ihr Essen und Trinken haben würde; aber sie ist an das Herumziehen gewöhnt; sie will nicht arbeiten, treibt sich im Dorf umher, bestärkt die andern Weiber in ihrem Aberglauben an das Besprechen von Menschen und Vieh, und neulich hat meine Wirthschafterin sie darauf ertappt, daß sie dem Mädchen die Schiene aus dem Verband nehmen und ihre Heilkünste an ihm versuchen wollte, wogegen dieses sich gesträubt. Ich habe also meine Maßregeln getroffen und schicke sie in das Landarmenhaus, um sie nicht dem Arbeitshause verfallen zu lassen.‛
‚Alle beide?‘ hatte meine Mutter verwundert gefragt.
‚O bewahre!‘ hatte der Graf gerufen. ‚Mit dem Mädchen ist es ja etwas ganz Anderes. Das ist ein sehr sonderbares Geschöpf.‘ [191] Meine Mutter hatte sich erkundigt, was er damit sagen wolle.
‚Ja? was will ich damit sagen?‛ hatte der Graf erwidert. ,Bei ihr, bei Franull, ist alles gleichsam instinktiv. Sie handelt ohne Ueberlegung und trifft meistens dabei das Rechte. Sie beobachtet offenbar sehr scharf, erräth, was man von ihr erwartet und will, macht nach, was sie die Andern thun steht, soweit sie in ihrem jetzigen Zustande es eben vermag, und meine Wirtschafterin und die Diener behaupten, wenn man sie gut anleitete, würde sie ein sehr brauchbares Frauenzimmer werden. Natürlich aber müsse die landstreicherische Alte fort. Sie würden sich wundern, wenn Sie unsere Seiltänzerin sähen! Sie ist im Liegen gewachsen, bei der guten Kost voll und frisch geworden, und im Hause hat alles sich an sie gewöhnt, von der Wirtschafterin bis zu den Kindern der Leute, bis zu den Hunden, die sie charmant zu dressiren versteht! Und das ist freilich auch das Einzige, was sie gelernt hat.‛
Die Mutter fragte, ob sie noch so finster aussehe wie an dem Unglückstage.
‚Ihr Ausdruck ist noch immer auffallend scheu und verschlossen, doch scheint sie anhänglich zu sein. Sie hält sich zu der Magd, zu der Wirthschafterin, die sie gepflegt haben, wie ein Kind oder wie ein junger Hund. Es ist das eben, was ich das Instinktive an ihr nenne. Mir kommt sie ja natürlich selten in den Weg; aber dann fährt sie auf und‛ – der Graf lachte – ‚ich glaube, wenn sie es sich traute, sie würde wie mein Hektor an mir in die Höhe springen. Ich brächte sie mit einem Winke wieder auf das Seil, wenn sie sich darauf halten könnte. Sprechen habe ich sie kaum noch hören.‛
‚Und was denken Sie mit ihr zu thun, Herr Graf?‛ erkundigte sich mein Vater.
‚Man jagt ja einen Vogel, einen Hund nicht fort, wenn er uns ins Fenster geflogen oder zugelaufen ist, geschweige denn solch ein armes, verwildertes Geschöpf. Ich behalte sie eben noch im Schlosse; denn sie ist ja auf den Füßen lange noch nicht fest. Inzwischen will ich den Schulmeister kommen lassen und mit ihm Abrede treffen, daß sie lesen lerne. Sie ist nach den eingezogenen Erkundigungen im achtzehnten Jahr, ist, wie die Alte es angegeben, wirklich protestantisch getauft; da muß man zusehen, daß sie doch auch konfirmirt wird, denn das ist noch nicht geschehen.‛
Und wie der Graf es gesagt hatte, so wurde es gehalten. Am Neujahrstage kam Franull zum ersten Male mit der Wirthschafterin des Grafen nach Benwitz in die Kirche, und weil viele Leute aus der Gemeinde dabei gewesen waren, als sie vom Seil gestürzt, richteten sich aller Augen auf sie, und viele nickten ihr gutmütig zu, obgleich in der großen, schönen, wie eine anständige Magd gekleideten und schüchtern den Graß erwidernden Person die blasse, finstere Seiltänzerin kaum noch zu erkennen war.
Beim Fortgehen aus der Kirche sprach meine Mutter sie an und ermahnte sie zum Guten. Später einmal dankte der Graf ihr dafür, mit dem Bemerken, es komme ja für dies Mädchen vor allem darauf an, daß man es in Reih und Glied stelle mit den Andern; denn bis jetzt bleibe es immer noch in Ausnahmezuständen, wie auch in der Kinderlehre, wo es unter Kindern als Erwachsene wieder eine Ausnahme mache.
Franull kam von da ab regelmäßig in die Kirche; die Leute gewöhnten sich an sie, achteten nicht mehr viel auf sie; nur als sie dann im nächsten Herbste mit den Andern eingesegnet wurde, fiel es auf, daß sie nicht wie sonst die Kleidung der Mägde trug, sondern einen mehr städtischen Anzug wie die Wirthschafterin, und man zog daraus den Schluß, daß man sie ganz im Schlosse behalten und sie zur Hilfe im Hauswesen benutzen werde, wie es auch geschah.
Wenn man zum Besuch in das Schloß kam, so traf es sich zuweilen, daß man Franull begegnete. Einmal, als wir uns schon oben im Vorsaal befanden und der Graf uns entgegenkam, trat sie aus einer Seitenthür mit einem Korb voll Erdbeeren herein. Ich rief sie an, trotz des Grafen Gegenwart, und fragte, wie es ihr gehe.
‚Schön Dank, junger Herr; ich bin gesund und hab’s, ach! so gut!‛
‚Du hast ja ordentlich sprechen gelernt!’ bemerkte meine Mutter, und ohne daß man es Franull geheißen, küßte sie meiner Mutter, dann rasch dem Grafen die Hand, der ihr auf die Backe klopfte, und dann machte sie sich davon.
Meine Mutter war ganz verwundert über sie. Das entging dem Grafen nicht.
‚Ja,‛ sagte er, ‚an dem Mädchen kann man sehen, was rechtzeitige Verpflanzung für das Gedeihen thun kann, wo ein guter Keim vorhanden. Ich versichere Sie, ich habe wirklich Freude daran, es zu beobachten, wie sie vorwärts kommt, wie sie ein ganz anderer Mensch geworden ist; und ich frage mich oftmals, wie es möglich gewesen, daß sie bei dem elenden Landstreicherleben, das sie von je geführt, nicht zu Grunde gegangen ist.‛
Auf der Heimfahrt am Abende sprachen die Mutter und Doktor Hartusius über Franull und über den Grafen; und die Mutter sagte, es sei merkwürdig, wie das Leben oft den Menschen durch Ereignisse zu wandeln wisse, von denen man das durchaus nicht hat vorhersahen können. Seit der Graf die Sorge für Franull, für irgend ein Menschenwesen, wirklich über sich selber genommen, sei er wie erlöst von dem Bann der Abgeschlossenheit, in welchen die Treulosigkeit seiner Frau ihn versetzt; und es müsse ja auch wirklich ein Vergnügen sein, das schöne Geschöpf, die Franull, um sich zu sehen.
‚Das ist’s!‛ meinte der Vater, ‚sie ist zu schön! Wir werden ja sehen, wie der Hase läuft!‛ – Ich verstand damals nicht, was er damit meinen konnte; aber eben deshalb fiel mir an dem Abende die Redensart auf, die der Vater auch sonst wohl gebraucht, und sie blieb mir im Gedächtniß.
Seit der Vater die Domäne gepachtet hatte, waren unmerklich allerlei kleine Veränderungen in unserem häuslichen Leben eingeführt, so daß es weniger einförmig, daß es belebter geworden war als vordem. Den Vater führten seine Geschäfte jetzt mehrmals im Jahre nach Bernau und nach Berlin; wir wurden dann bisweilen mitgenommen. Die Beamten, mit welchen er in Bernau zu thun hatte, unsere Berliner Verwandten, welche wir auf die Weise öfter wiedersahen, kamen auch häufiger zu uns heraus, und es wurde, wie es dem Vater bei seinen Verhältnissen wohl anstand und der Mutter gefiel, ein breites Leben und ein gastfreies Haus geführt. Der Graf aber nahm keine Einladung zu den Gastgeboten an, obschon sein Verkehr mit meinen Eltern immer vertrauter geworden war und beide ihn als ihren Freund betrachteten und hielten. Er besprach mit ihnen, das hörte ich, viele seiner Angelegenheiten; allein von Franull war nicht mehr wie vordem die Rede, und das würde mir vielleicht nicht aufgefallen sein, trotz der neugierigen Aufmerksamkeit, die mir so wenig wie andern Kindern fehlte, hätte ich sie nicht auch in der Kirche vermißt. Als ich der Mutter einmal während des Singens sagte: ‚Die Franull ist ja wieder nicht da!‛ sprach sie leise: ‚Ihre Großmutter ist neulich im Armenhause gestorben.‛
‚Aber dann geht man doch erst recht in die Kirche!‛ wendete ich ein.
Die Mutter tadelte mich, daß ich während des Gottesdienstes spräche, und ich schwieg also. Als ich jedoch nach der Kirche im Fortgehen mit der gleichen Bemerkung wiederkam, wies sie mich gegen ihre sonstige Gewohnheit kurz zurück. ‚Was gehen Dich des Herrn Pathen Leute und die Franull an?‛ sagte sie. ‚Vielleicht hat er sie fortgeschickt.‛
Das war im Sommer, und die Manöver waren wieder einmal in unserer Gegend, also Leben und Bewegung überall und Einquartierung in allen Dörfern und Offiziere in allen Gutshäusern und in allen Schlössern. Es gab viel Herüber und Hinüber zwischen Dambow, Schönfelde und der Domäne, in welcher der Stab der Ziethenschen Husaren lag unter Führung von des Grafen früherem Regimentschef, und mein Vater hatte als Rentmeister von der Domäne dem General dort die Honneurs zu machen. Der General war dadurch auch unser Gast geworden, und als er einmal bei uns gespeist hatte und ich im Zimmer sein durfte, während man den Kaffee einnahm, hörte ich, wie er, von dem Grafen redend, mit Lachen hinzufügte, in aller seiner Menschenverachtung und Einsamkeit habe er sich, wie es heiße, doch getröstet.
Die Eltern sprachen nach wie vor mit großer Freundschaft von dem Grafen; aber es ging etwas vor, das hatte ich gemerkt. Es war etwas anders geworden; und so viel hatte ich heraus, daß ich nicht darnach fragen sollte.
Da, als die Manöver längst vorüber waren, im Herbste, wenige Tage nach meinem elften Geburtstage, zu Ende Oktober – es war ein rauher, grauer und so stürmischer Tag, daß die Aeste an den großen Ulmen vor unserem Hause knarrten und knackten und die letzten Blätter in wildem Wirbel durch die Luft gejagt [192] wurden, da trug der Wind das Glockengeläut von der Kirche in Benwitz zu uns herüber, und wie ich an das Fenster trete, sehe ich von Dambow her ein Begräbniß daherkommen. – Ich schnell hinunter! Sie sind mit dem Sarge grade vor unserem Gartenthor. Ich mache es auf und frage: ‚Wer ist denn gestorben?‘ denn ein Begräbniß kommt auf dem Lande nicht so alltäglich wie in den großen Städten vor, daß man es gleichgültig wie anderes Transportfuhrwerk an sich vorüberziehen sieht.
‚Wer gestorben ist?‘ wiederholt der eine der Träger; ‚das Frauenzimmer vom Schloß, die Franull!‘ und damit gehen sie ihres traurigen Weges weiter.
Ich fuhr erschreckend zusammen und hatte nichts Eiligeres zu thun, als mit dieser Nachricht zu Doktor Hartusius zu laufen, der sie mit einer mir auffallenden Gleichgültigkeit hinnahm.
‚Wissen Sie noch, Herr Doktor, wie wir sie damals auf dem Seile gesehen haben,‘ fragte ich, ‚und wie schön sie aussah?‘
‚Freilich!‘ gab er mir zurück. ‚Es sind nun vier Jahre her und etwas darüber!‘ Und als ob ihn die Erinnerung milder stimmte, setzte er hinzu: ‚Schade um sie!‘
Auch beim Mittagessen wurde über den Tod Franulls, als ich ihn aufs Tapet gebracht, rasch hinweggegangen, und die Eltern hatten doch sonst immer ein Herz für die Leute von den Dörfern, und die Mutter hatte sich doch für Franull interessirt und sich über sie gefreut. Was konnte geschehen sein, was konnte sie verbrochen haben, daß man es mit solcher Geflissentlichkeit vermied, von ihr zu reden? Es ging mir im Kopfe herum. Ich wendete mich, da ich von den Andern keine Antwort erhielt, fragend an Jeannette. Mamsell Jeannette war meine Bonne gewesen, ein braves, nicht mehr junges Mädchen von der Kolonie, das man im Hause behalten und das zu einer Vertrauensperson geworden war. Sie behauptete, nichts zu wissen; es stürben ja in diesem Herbste viele Menschen; und da der Vater uns bald darauf wieder nach Berlin mitnahm, wo wir diesmal länger als gewöhnlich verweilten, kam mir die Sache aus dem Sinn. Als wir dann nach Hause zurückgekehrt waren, packte meine Mutter mit Mamsell Jeannette die Koffer aus, und sie hatte mich herbeigerufen, damit ich die Bücher in Empfang nehmen sollte, welche man in Berlin für mich gekauft.
‚Was hat es hier Neues gegeben in unserer Abwesenheit?‘ fragte die Mutter, während Jeannette ihr half, ihre Sachen zu ordnen.
‚Das Neueste,‘ berichtete Jeannette, ‚das Neueste ist, daß der Herr Graf von Dambow das Kind von der Franull in Benwitz auf den Namen seiner Mutter Franziska Wizkowich hat taufen lassen, und daß er es bei sich im Schloß behält. Da gerade keine nährende Frau unter den Leuten zu finden war, so hat er die Frau von dem Grenwitzer Hirten als Amme in das Schloß genommen.‘
Die Mutter machte mit einem Blicke auf mich eine tadelnde und abwehrende Bewegung; es war aber zu spät. Ich hatte alles gehört und fuhr mit der Frage dazwischen: ‚Das Kind von der Franull? Die hat ja keins gehabt!‘
‚Sie hat eines bekommen in der Nacht, in welcher sie gestorben ist!‘ sagte die Mutter, ging hinaus, hieß Mamsell Jeannette ihr zu folgen und –“
„Josias! Das war Deine Franull?“ fiel ich ihm, ich möchte sagen, jubelnd in die Rede.
„Ja! Das war sie! Das ist sie!“ sprach er mit erhobener Stimme, und seine treuen Augen leuchteten auf. „Das war meine Franull! Und ich wollte, Du hättest sie gesehen in der Schönheit, in der Pracht ihrer frühen Jugend; Du hättest sie gekannt in dem unwandelbaren Adel ihres Sinnes! Sie hätte einen Thron geziert.“
Ich nutzte die kleine Pause, die er machte, ihn an den Aufbruch aus dem Freien zu mahnen. Es war kühl geworden, er hatte sich warm gesprochen. Von der Spree und von den Wiesen her machte die Feuchtigkeit sich fühlbar. Ich hatte ja einzustehen für den meiner Pflege anvertrauten Freund, und meiner Erinnerung nachgebend, zog er sich mit mir in das Haus zurück, als grade der Wagen meiner Eltern vorfuhr. Da konnte denn von der Fortsetzung seiner Erzählung an dem Abende nicht mehr die Rede sein.
Gen Berlin! Schon am Morgen des elften März war es in allen Kreisen Leipzigs bekannt: der Kaiser kommt durch unsere Stadt und das preußische Staatsministerium wird ihn am Bahnhof begrüßen. Die erste Begegnung zwischen Kaiser Friedrich und seinem Ministerium, in Leipzig, unweit der preußischen Landesgrenze – es mußte ein feierlicher, hochbedeutungsvoller Akt werden, dem als Augenzeugen beizuwohnen Tausende den Wunsch hegten. Tausende – und für wenige hundert bot der Bahnhof Platz! So war es erklärlich, daß eine starke Schutzmannschaft aufgeboten werden mußte, den ungeheuren Andrang des Publikums abzuhalten. Von jeder besonderen Vorbereitung für einen feierlichen Empfang war abgesehen worden, da es frühzeitig schon bekannt wurde, daß der Kaiser den Wagen aller Voraussicht nach nicht verlassen würde, wie es sich später auch bestätigte. Nur der Wartesaal erster Klasse war für den Empfang der Minister hergerichtet und für den übrigen Verkehr abgesperrt.
Kurz vor sechs Uhr Nachmittags trafen die hohen Gäste aus Berlin ein, an ihrer Spitze Fürst Bismarck. Sie begaben sich in den reservirten Wartesaal und mußten dort etwa eine Stunde auf die Ankunft des kaiserlichen Hofzuges warten. Eine lebhaftere Bewegung unter den auf dem Perron Harrenden verrieth dann das Nahen des Zuges, und bald fuhr er langsam in den Bahnhof ein. Wie gebannt hingen aller Blicke an den leicht kenntlichen Salonwagen, alle hofften, noch ehe der Zug halten würde, die Gestalt des kaiserlichen Herrn für einen Moment zu erblicken, und in aller Augen war die bange Frage zu lesen: wie sieht er aus? welche Veränderung hat die schwere, unheilvolle Krankheit in dem Aeußern des geliebten Monarchen bewirkt? Jetzt ward die Gestalt Seiner Majestät deutlich sichtbar. Der Kaiser saß unweit eines der Fenster an einem kleinen Tische, ein wenig vornüber geneigt, wie in die Lektüre eines Buches vertieft. Und eine freudige Bewegung flog durch die lautlos harrende Menge; denn was das Auge da sah, das war keineswegs so trostlos, wie es die trüben Berichte der Zeitungen hatten befürchten lassen. Der Kaiser hatte sich, während der Zug langsam vorüberfuhr, um auf das erste Geleise übergeführt zu werden, erhoben und ging im Wagen auf und ab. Der rothe Kragen des Interimsrockes leuchtete durch
[193][194] das Fenster; man erkannte das Eiserne Kreuz auf seiner Brust, man sah den vollen Bart, das ungelichtete Haupthaar und bemerkte – welche freudige Ueberraschung! – die straffe aufrechte Haltung des Monarchen.
Wenige Minuten vergingen. Dann kam der Zug im ersten Geleise, unmittelbar am Perron, zurück, und was das Auge vorhin flüchtig erschaut, das erkannte es jetzt in aller Deutlichkeit: das Aussehen des Kaisers war ein über Erwarten gutes, kaum merklich verändert die allen Deutschen so wohlbekannten und vertrauten Züge seines Gesichtes. Die ungebrochene straffe Haltung erinnerte noch immer an die frühere Heldengestalt, und äußere Spuren des tückischen Leidens ließen sich kaum wahrnehmen; höchstens vermochte das schärfere Auge zu erkennen, daß der rothe Uniformkragen etwas lockerer saß.
Als der Zug hielt, schritt alsbald Fürst Bismarck über den Perron, um sich zur Begrüßung in den Wagen zu begeben. Das umstehende Publikum verharrte lautlos; als aber der Fürst in den Wagen trat und Kaiser Friedrich ihm raschen und elastischen Schrittes mit offenen Armen entgegeneilte und den greisen Kanzler wiederholt umarmte und küßte, da brach ein lauter stürmischer Jubel der Menge sich Bahn.
Es war ein Bild, so eigenartig und packend, daß wohl keiner der Augenzeugen es je vergessen wird. Auf dem Perron standen die Zuschauer dichtgedrängt, die Hüte schwenkend und mit Tüchern wehend. Das Innere des kaiserlichen Salonwagens war hell erleuchtet, so daß die Außenwände desselben für die lichtglänzenden Fenster einen scharf kontrastirenden dunkeln Rahmen gaben. Jede Bewegung der im Wagen Befindlichen konnte auf das Genaueste beobachtet werden, und das Publikum folgte denselben mit der gespanntesten Aufmerksamkeit.
Die Kaiserin stand unweit ihres hohen Gemahls und auch sie begrüßte den Reichskanzler, der ihr ehrerbietig die Hand küßte, auf das herzlichste. Und dann sah man die Beiden im Wagen stehen und mit einander verkehren, den Kaiser, der die Unterhaltung mit lebhaften Bewegungen begleitete, und seinen großen Reichskanzler, und wohl kein Auge blieb trocken, das ihn, den eisernen Kanzler, von der Schwere des Augenblicks auf das tiefste erschüttert, mit schmerzdurchbebtem Gesichte und thränendem Auge vor seinem kaiserlichen Herrn stehen sah, der auch seinerseits tief bewegt war.
Als der Kaiser auch die übrigen Herren des Staatsministeriums begrüßt, trat er an das Fenster und grüßte das Publikum, durch wiederholte Verneigung für die ihm dargebrachten Ovationen dankend. Die Hochrufe wiederholten sich laut und freudig und gaben Zeugniß davon, daß die Liebe des Volkes, welche sich der einstige Kronprinz Fritz in so hohem Maße erworben, voll auch auf den nunmehrigen Kaiser Friedrich übergegangen sei.
Deutlich konnte man noch sehen, wie Fürst Bismarck, ein großes Kouvert in der Hand, dem Kaiser verschiedene Papiere überreichte, wie dieser sie in Empfang nahm und prüfend hineinsah – dann wurden die bis dahin unverhüllten Fenster bis kurz vor Abfahrt des Zuges durch Vorhänge geschlossen. Gegen hundert Unterschriften soll der Monarch auf dem Wege von Leipzig bis Berlin vollzogen haben; gesprochen hat er dagegen weder in Leipzig noch auf dem späteren Wege. Der ganze Verkehr wird von Seiten des Monarchen schriftlich geführt, und zwar bedient er sich kleiner weißer Zettel, welche nach ihrer Benutzung regelmäßig vernichtet werden.
Ueber eine halbe Stunde dauerte der Aufenthalt des Kaisers in Leipzig, der, ehe der Zug nach Berlin weiter fuhr, noch einmal grüßend an das Fenster trat, dessen Vorhang er selbst zurückgezogen; und noch einmal wurde er jubelnd und mit neu erwachter Hoffnung auf seine vielleicht doch noch mögliche und vom ganzen deutschen Volke so sehr gewünschte Gesundung willkommen geheißen in der geliebten Heimath, die er und die ihn so lange schmerzlich vermißt hat. Dann ertönte das Signal zur Abfahrt; Kaiser Friedrich fuhr der Reichshauptstadt zu und mit ihm in demselben Wagen der Reichskanzler, des Reiches und des Kaisers erster und treuester Diener. Dietrich Theden.
Mörikes „Feuerreiter“.
Diese Perle deutscher Balladendichtung hat, wie wir aus zahlreichen Zuschriften ersehen, unsere Leser vielfach beschäftigt. Es würde uns zu großer Freude gereichen, wenn wir durch den Abdruck der Ballade mit der Illustration des talentvollen jungen Malers G. A. Cloß in München (in Nr. 6 d. Jahrg. der „Gartenlaube“) zum weiteren Bekanntwerden der Gedichte Eduard Mörikes beigetragen hätten, welche, obgleich sie zum Allerbesten gehören, was unsere Lyrik hervorgebracht hat, doch leider noch immer nicht genugsam bekannt und gewürdigt sind. Was den Inhalt der Ballade und die ihr zu Grunde liegende Sage betrifft, über welche viele unserer Leser Näheres zu erfahren wünschen, so haben wir uns um Auskunft an den trefflichen Sagenforscher Professor Dr. Wilhelm Hertz gewendet, der uns folgende Erläuterungen zukommen ließ:
Die phantastische Dichtung hat noch jedem Leser ihre Räthsel aufgegeben. Wer ist dieser Feuerreiter? Warum reitet er zu jedem Brand? In welchem Verhältniß steht er zum Teufel? Wie kommt das Gerippe in den Keller, und was ist das Ende von alledem? Der Dichter hat mit künstlerischer Absicht über diese Dinge ein ungewisses Halbdunkel gebreitet, das nur wie durch das Geflacker einer fernen Feuersbrunst ahnungsvoll beleuchtet wird. Daß unsere Phantasie durch die unheimliche Erzählung mehr gereizt als befriedigt wird: das eben verleiht dem Gedicht seinen eigenthümlichen schauerlichen Zauber.
Am räthselhaftesten ist die Ballade in ihrer ursprünglichen Gestalt, wie sie Mörike als Student im Tübinger „Stift“ im Jahre 1824 niedergeschrieben und später seinem im Jahre 1832 erschienenen Romane „Maler Nolten“ einverleibt hat. Da fehlt noch die dritte Strophe unseres Abdrucks, und wir erfahren also nur, daß ein Mensch mit rother Mütze, der jede Feuersbrunst von ferne wittert und zu jeder auf dürrem Gaule hinjagt, seit dem Brande einer Mühle verschwunden ist, daß später sein Gerippe im Keller gefunden wird und beim Ansprechen zerfällt, worauf ihm Ruhe gewünscht wird.
[195] Bei einer späteren Umarbeitung der Ballade im Jahre 1847 fügte der Dichter zur Verdeutlichung die dritte Strophe hinzu, in der gesagt wird, daß der Feuerreiter den Brand mit einem Spahn des heiligen Kreuzes zu besprechen pflegt und daß dafür nun der Feind, der Teufel, in den Flammen auf ihn lauert.
Es handelt sich also für den Feuerreiter darum, das Feuer zu besprechen, durch Zauber aufzuhalten und auszulöschen. Ist das etwas so Schlimmes? Thut er es doch nicht einmal für sich, sondern für bedrängte Mitmenschen. War es nicht ein altes Herkommen, daß, wo immer eine große Feuersbrunst ausbrach, der Landesfürst herbeieilte und um die Brandstätte ritt, wodurch nach dem Glauben des Volkes dem Feuer Einhalt gethan wurde? Besonders eifrig war hierin der aus Schillers Jugendgeschichte wohlbekannte Herzog Karl von Württemberg. Auch beim Brande von Gera im Jahre 1780 umritt der Graf von Gera die flammende Stadt und suchte so, freilich vergebens, das Feuer zu bannen. Dieses Eingreifen hatte aber eine ganz andere Bedeutung, eine ganz andere Berechtigung als das des Feuerreiters; denn den Fürsten war ihre Macht über das Feuer, so glaubten die Leute, als ein besonderes Gnadengeschenk Gottes zum Frommen ihrer Unterthanen verliehen, wie man ihnen auch heilkräftige Hände zuschrieb. Schon der römische Kaiser Vespasian heilte, wie Tacitus erzählt, Blinde und Lahme, und auf den Königen von Frankreich und England ruhte durch Vererbung die Kraft des Königs Edward des Bekenners, Kröpfe durch Berührung zu vertreiben, daher die Drüsengeschwulst in England noch heute King’s evil, Königsübel, genannt wird. Auch die Grafen von Habsburg heilten Kropfige durch einen Trunk und Stammelnde durch einen Kuß.
Wenn die Fürsten diese ihre Wunderkräfte ausübten, so überschritten sie damit ihre Befugniß so wenig, wie in katholischen Gegenden der Priester, wenn er, wie z. B. im vorigen Jahrhundert in Rastatt, einer Feuersbrunst in Prozession mit der Monstranz entgegenzog. Etwas ganz Anderes war es, wenn Leute, die keinen göttlichen Beruf dazu hatten, das Feuer durch Wundermittel zu löschen suchten.
Solcher Mittel gab es viele. Man schrieb auf einen Teller mit dreimal geweihter Kreide den Namen Jesu oder bestimmte magische Formeln und Figuren und warf ihn in die Gluth; man schleuderte rückwärts ein geweihtes Osterei in die Flammen oder einen warmen Laib Brot oder Salz, am Agathatag geweiht, oder eine lebende, schwarz, roth und weiß gestreifte Katze, eine Feuerkatze. Auch Judenmatzen stillten den Brand, u. a. m. Für ganz besonders geschickt im Feuerbannen galten die Zigeuner; diese konnten, so sagte man, in einer vollen Scheune ein Feuer entzünden, das sich nicht weiter ausbreitete, als ihm durch einen vorher gezogenen Kreis bestimmt war. Am wirksamsten aber war das Umreiten des Feuers nach dem Volksglauben in Ostpreußen, Niedersachsen, Thüringen, Bayern und Schwaben. Dreimal mußte der Reiter die Flammen umkreisen und dabei langsam den Feuersegen sprechen, den er in einer Vollmondnacht am Freitag zwischen elf und zwölf Uhr bei drei auf dem Tisch brennenden Lichtern auswendig gelernt haben mußte.
„Feuer, steh still,
Um Gottes will,
Um des Herrn Jesu Christi willen!
Feuer, steh’ still in Deiner Gluth,
Wie Christus der Herr ist gestanden in seinem rosinfarbnen Blut.
Feuer und Gluth, ich gebeut dir bei Gottes Namen,
Daß du nicht weiter kommst von dannen,
Sondern behältst alle deine Funken und Flammen.
Amen! Amen! Amen!“
Wenn aber der dreimalige Umritt vollbracht und der Segen dreimal gesprochen war, dann mußte der Reiter so schnell als möglich von dannen jagen, am besten in einen Teich oder Fluß hinein; denn das von ihm an seiner Ausbreitung gehinderte Feuer stürzte sich auf ihn, um ihn zu verzehren. An Sagen von solchen Feuerreitern fehlt es nicht. Als einst Sangerhausen in Thüringen in Flammen stand, kam ein Reiter auf weißem Roß und umritt ein kleines Häuschen, das allein vom Feuer verschont wurde.
Nach schwäbischer Sage wohnte einst im Remsthal ein Baron, der „für das Feuer konnte“. Er hielt jederzeit ein gesatteltes Pferd bereit und war im Nu an der Brandstätte. Im fliegenden Mantel ritt er dreimal um das brennende Haus und besprach das Feuer. Der Brand hörte auf; er selbst aber mußte sich eiligst aus dem Staube machen.
Es ist, als ob dem jungen schwäbischen Dichter diese heimathliche Sage die Anregung zu seiner Ballade gegeben hätte. Nur hat er den etwas nüchternen Stoff mit Poesie gesättigt und aus dem Feuerreiter einen jener dämonischen Sonderlinge gemacht, wie sie der Romantiker des Gruselns, der geniale E. A. Th. Hoffmann, eben in Mörikes Jugendzeit ins Dasein gerufen hatte. Nach den Erklärungen in der ersten Ausgabe des „Maler Nolten“ ist es ein junger Mann, der im obersten Theil eines uralten spitzgiebeligen Häuschens einsam wohnt und von dessen Lebensweise niemand Näheres weiß, der sich auch niemals blicken läßt außer vor dem Ausbruche einer Feuersbrunst. Da sieht man ihn in einer scharlachrothen netzartigen Mütze, welche ihm gar wundersam zu seinem todbleichen Gesichte steht, unruhig am kleinen Fenster auf und ab schreiten, und noch ehe der Feuerlärm sich erhebt, kommt er auf seinem mageren Klepper unten aus dem Stalle hervorgesprengt unfehlbar nach dem Orte des Brandes hin.
In der von Mörike unvollendet hinterlassenen Umarbeitung des Romans ist aus der etwas verschwommenen Gestalt des seltsamen jungen Mannes ein alter Soldat, ein Hauptmann des dreißigjährigen Krieges, geworden. Wir sehen, wie der Dichter selbst von der geheimnißvollen Macht seines Gebildes immer aufs neue angezogen wurde.
„Es ist eine hübsche Sage aus der hiesigen Altstadt,“ heißt es dort, „da ist ein altes weitläufiges Wirthshaus am Kornmarkt, wo gewöhnlich die Frachtfuhrleute herbergen. Es lehnt sich an einen alten runden Thurm, der zu dem Haus gehört und wohnbar ist. Darin saß zu den Zeiten des dreißigjährigen Krieges ein sonderbarer Kauz zur Miethe; man nannte ihn den tollen Kapitän. Er soll in einem kaiserlichen Regimente Hauptmann gewesen sein und sein Heimathrecht durch irgend ein Verbrechen verwirkt haben. Sein Schicksal machte ihn menschenscheu; mit niemand trat er in näheren Verkehr, ließ sich auch das ganze Jahr niemals auf der Straße blicken, außer wenn in der Stadt und Umgegend Feuer ausbrach; er witterte das jedesmal. Man sah ihn dann an seinem kleinen Fenster in einer rothen Mütze todtenblaß unruhig hin und wider gehen. Gleich mit dem ersten Feuerlärm, nicht selten auch wohl schon zuvor, und ehe man nur recht wußte, wo es brenne, kam er auf einem mageren Klepper unten aus dem Stall hervorgesprengt und jagte spornstreichs unfehlbar der Unglücksstätte zu.“
Der meisterhafte Zug, daß der Feuerreiter den Brand von fern empfindet und auf unerklärliche Weise von ihm angezogen wird, ist Mörikes Zuthat. Im übrigen gleicht sein Held ganz dem schwäbischen Baron. Als Helfer sprengt er herzu; aber nicht mit natürlichen Mitteln sucht er zu helfen: mit einem Spahn des Kreuzes Christi und mit Zaubersprüchen bekämpft er das Feuer. Das ist – wie aller Zauber, wie alles Besprechen – nach christlicher Lehre eine schwere Sünde; denn wenn sich der Beschwörer auch äußerlich von allem Heidenthum freihält, sein Unterfangen ist ein freventlicher Mißbrauch des göttlichen Namens und heiliger Symbole und Reliquien. Daher stürzt sich die Flamme auf den Besprecher und verzehrt ihn; daher fällt der Feuerreiter schließlich in des Teufels Gewalt und findet in den Gluthen seinen Tod.
Aber der Dichter will uns nicht unter dem Eindruck entlassen, als ob der seltsame Sünder damit auf ewig verdammt sei. Das tumultuarisch aufgeregte Gedicht klingt sanft und friedlich aus. In unzähligen Sagen sehen wir die Erlösung einer armen Seele an das Eintreten bestimmter Ereignisse geknüpft. So auch hier. Eines Tages findet der Müller in dem – offenbar vom Brand her verschütteten – Keller das Gerippe des Reiters auf dem Gerippe seines Rosses; wie es dahin kommt, bleibt das Geheimniß des göttlichen Gerichts. Er spricht es an, und es zerfällt in Asche. Das ist das Zeichen, daß die Seele erlöst ist. Am deutlichsten sagt es der Dichter in den Schlußworten der umgearbeiteten Ballade.
„Seele, du
Bist zur Ruh!
Droben rauscht die Mühle.“
[196]
Im Dom zu Berlin.
Winterliche Nacht senkte sich um Sonntag den 11. März über die trauernde Kaiserstadt. Aber der Schneesturm löste heute nicht die stummen Volksmassen auf, die dichtgedrängt das Trauerhaus Unter den Linden umgaben; denn in dieser Nacht sollte beim düstern Fackelschein der Kaiser für immer sein irdisches Heim verlassen und hinausgetragen werden zu seinen Vätern. Vom Dome her riefen ihn mit ehernen Stimmen die Glocken, damit er komme, um noch zu weilen an der Stätte, welche die Särge seiner Ahnen, des Großen Kurfürsten und des ersten Friedrich, birgt, bevor ihn die dunkle Grabespforte zur ewigen Ruhe aufnehmen würde.
Und er kam.
„Achtung! Präsentirt das Gewehr!“ erscholl Nachts um 12¾ Uhr das Kommando. Es öffneten sich die weiten Portale des Palastes und die Leibdiener des Todten trugen den Sarg hinaus und übergaben die sterbliche Hülle des obersten Kriegsherrn den harrenden Soldaten, die ihn zum Dome geleiten sollten.
„Gewehr auf!“ Der Trauerzug setzt sich in Bewegung. Voran reitet die erste Abtheilung der Gardes du Korps-Schwadron; schwarzer Flor dämpft den Glanz der Helme; schwarzer Flor deckt die Brustpanzer, und wie Schatten gleiten langsam die Reiter auf ihren Rappen dahin.
Der dumpfe Hufschlag verhallt in der winterlichen Nacht. Jetzt rückt die Leibkompagnie des ersten Garderegimentes zu Fuß heran; nicht mit flatternden Fahnen, nicht mit klingendem Spiel, wie sonst so oft vor ihrem Kaiser und König. Der Schellbaum der Regimentskapelle ist mit Flor verhüllt und über den historischen Blechmützen der Riesengrenadiere ragt düster die umflorte Fahne. Und hinter den Kriegern schreiten in langer Reihe mit langwallendem Flor um den Hut die altersgrauen Diener des Kaisers.
Endlich naht er, der dunkle Schrein, der den Kaiser birgt, nachdem er aus seinem glorreichen Leben geschieden. Unteroffiziere tragen den besten Freund der Armee. Entblößten Hauptes grüßt ihn die vieltausendköpfige Volksmenge. Stumm, todtenstill! Nur der Sturmwind rauscht in der Ferne wie in Klagetönen.
Hinter dem Sarge schreitet des Kaisers Enkel, Kronprinz Wilhelm; ihm folgen Prinzen und Herzöge und Fürsten und Generale, Moltke und andere Paladine des Kaisers.
Gedämpftes Waffengeklirr klingt wiederum heran; eine Abtheilung berittener Gardes du Korps beschließt den Trauerzug.
So wird der Kaiser nach dem Dom getragen durch die dunkle Nacht; mitten durch das Spalier der Garden, die mit feurigrothem Fackelschein gespensterhaft den Weg beleuchten. So zieht er vorüber an dem Denkmal des Großen Friedrich, an den Standbildern der Helden Blücher, Scharnhorst, Bülow, York und Gneisenau; so erscheint er zum letzten Mal in der Riesenhalle des Domes – der Heldenkaiser und Friedensfürst, der mit dem Ruhm seiner Siege und den Werken des Friedens viele Jahrzehnte füllte.
Es schließen sich die Pforten des Domes; stille Todtenwacht herrscht am Sarge. Nach dem Glauben des Volkes halten in solchen Nächten Geister Zwiesprach. Und in der That, die großen Todten sprechen auch zu uns vernehmlich. Ein Schauer weltgeschichtlicher Größe erfaßt uns, wenn wir uns die irdischen Hüllen drei solcher Fürsten in einer Halle vereint denken; denn in dem Dome zu Berlin ruhten ja: der Große Kurfürst, Friedrich, der erste König von Preußen, und Wilhelm, der erste Kaiser des neu geeinten Deutschlands.
Der Tag brach an; wiederum wirbelte der Schnee in dichten Flocken hernieder. Vor dem Dome aber standen Tausende, der Stunde harrend, in welcher sich die Pforten des Gotteshauses öffnen und jedermann den Eintritt gestatten würden, um Kaiser Wilhelm auf dem Paradebette zu schauen.
In der mit schwarzem Tuch ausgeschlagenen, mit mattem Licht düster erleuchteten Kirche lag Kaiser Wilhelm in dem offenen Paradesarg, der mit rothem Sammet bekleidet und mit goldenen Griffen verziert war. Die Gestalt war in die Uniform des 1. Garderegiments zu Fuß gekleidet, um die Schultern der graue Soldatenmantel geschlagen; Orden zierten die Brust; die Hände ruhten im Schoß gefaltet.
Am Fußende des Sarges ein Riesenteppich von Blumen, Kränzen, Lorbeern und Palmen – letzte Liebesgaben, welche aus allen Theilen der Welt und aus allen Gauen Deutschlands dem großen Todten gespendet wurden. – Auf Tabourets zu beiden Seiten des Sarges lagen die äußeren Zeichen der Herrschergewalt, die Insignien des Kaiser- und Königreichs sowie das Reichssiegel, in einer goldenen Kapsel verwahrt. – Silberne Kandelaber, mit schwarzem Flor verhängt und mit Palmen geschmückt, warfen ihr Licht auf den düstern Katafalk und auf die Ehrenwache.
Tausende und Abertausende schritten in stummer Ehrfurcht an diesem ergreifenden Bilde vorüber, um mit thränendem Auge und trauerndem Herzen Abschied zu nehmen von ihrem Kaiser und König. *
[197]
Nach San Remo. Unter diesem Titel hat die Verlagshandlung von Oesterwitz in Spandau „Grüße deutscher Dichter an unsern Kronprinzen“, den jetzigen Kaiser Friedrich, gesammelt: es sind die namhaftesten deutschen Lyriker, welche dem schwergeprüften Fürsten diese Grüße in die Riviera sandten. Und welche verschiedenartigen Klänge schlägt hier die Begeisterung für ihn an: es finden sich schwerwiegende Bilder aus deutscher und griechischer Mythologie: hier wird er mit dem verwundeten Philoktet verglichen, dem am lemnischen Gestade die Wunde heilt; dort will ihn der tückische Loki verderben. Gerhard von Amyntor beginnt seinen altnordischen Gesang mit den Versen:
„Einst herrschte im nordischen Riesenland
Ein greiser Recke mit mächtiger Hand.
Prinz Edel stand, sein einziger Sohn,
Ein zweiter Baldur, zunächst dem Thron;
Und Vater und Sohn, sie wurden gleich
Geliebt und bewundert im ganzen Reich.
Wo der Greis sich zeigte, da jauchzten im Chor
Die Riesen, man hielt die Kindlein empor;
Der Gruß des Sohnes war Sonnenschein
und schmeichelte sich in die Herzen hinein.“
Darüber ergrimmt Loki im bitteren Neid und sinnt das Verderben des Prinzen Edel. Nachdem er von den Nornen nichts erfahren, was seinen Wünschen entspricht, wendet er sich an ein altes Weib, das ihm Giftkörner giebt, die er dem Prinzen in den Born wirft. Da gesellt sich diesem das Leid, aber in Liebe erglühen alle Herzen für ihn, von Freias Hand gerührt, und Loki erkennt, daß er solcher Liebe nicht zu trotzen vermag, und daß er dem Königssohn nur Heil brachte.
Die meisten dieser Gedichte haben nicht solche epische Breite: sie sind zum großen Theil kurzathmig, leichtgeflügelt. Georg Ebers widmet dem Kronprinzen seine Dichtung „Elifen“:
„Was unter Schmerz beschlossen,
Gesungen und gedacht:
Dem hohen Leidgenossen,
Ihm sei es dargebracht.
Und lässest du, mein Singen,
Am Pfade, den er zieht,
Ein Röslein nur entspringen,
Dann sei gesegnet, Lied!“
In Carmen Sylva’s Gedicht finden sich die folgenden Strophen:
„Dem Güte strahlt aus Augenblau,
Dem jedes Wort wie frischer Thau
Vom Herzen quillt!
Der soll vergehn?
Gott, laß es nicht geschehn!
Die Stirne hoch in Völkerschlacht,
Klaglos der Mund in Schmerzensnacht,
Im Lebenskampf
Soll er voran,
Gott, auf dem heißen Plan.“
Viktor Blüthgen sendet eine Botschaft nach San Remo mit den Schlußversen:
„Blüht, o Veilchen, von San Remo,
Tulpen, Krokus, Hyazinthen –
Frühlingsdüfte, Frühlingskräfte,
Schmeichelt seine Leiden fort!
Nimm den Fluch von dir, ein Giftkelch
Deutschem Kaiserblut zu heißen!
Sühne dich, mach’ ihn genesen,
Sonnenland Italia!“
Felix Dahn richtet an den Prinzen die folgenden Verse:
„Wie schwer Du littest auch in langen Tagen –
Der Schmerz hat eine Goldfrucht Dir getragen:
Auf Deines Glückes sonnenhellen Bahnen,
Die ganze Fülle konntest Du nicht ahnen
Der heißen Liebe, welche, tief bewegt
Von Dank und Hoffnung, treu Dein Volk Dir trägt.
Ja Dank für alles, was Du uns geschaffen,
Im Frieden wie im eh’rnen Werk der Waffen –
Und Hoffnung: denn es ruft Dein Volk Dir Zu,
Rings dunkle Sturmnacht – unser Stern bist Du!
Es muß Dir wohltun, Herr, in aller Pein,
So überwältigend geliebt zu sein.“
Rudolf Baumbach schlägt wie immer mit Glück volkstümliche Klänge an in seinen kurzgeschürzten Strophen. Er läßt dem Kaiser die Kunde bringen, daß der Kronprinz für immer der Stimme hellen Klang verloren habe.
„Der Kaiser spricht ergeben:
Du, Herr, bist über mir.
Laß mir den Sohn am Leben,
Des Thrones künft’ge Zier!
Und bleibt der Fritz auch heiser,
Drum wankt das Reich noch nicht.
Man hört den deutschen Kaiser,
Auch wenn er leise spricht.“
Und so nach ihrer Eigenart feiern unsere Lyriker in mannigfachen Weisen den Kaisersohn. Jetzt aber gehören diese Elegien, die nach San Remo wanderten, bereits der Vergangenheit an, und mit vollerem Klang muß die deutsche Dichtung jetzt in die Saiten greifen, um den in das Vaterland zurückgekehrten Kaiser zu feiern. †
Ernst Scherenberg’s „Kaiser Wilhelm I.“ Ueber eine weltgeschichtliche Persönlichkeit wie Kaiser Wilhelm steht gewiß eine Reihe von Biographien in Aussicht und der hochgefeierte Kaiser wird auch seinen Ranke finden, der sein Kabinetsbild hineinzeichnet in die geheimsten politischen Bewegungen und Beziehungen des Jahrhunderts und sein Leben darstellt im engsten Zusammenhang mit der ganzen Geschichte der Zeit, deren glanzvollen Mittelpunkt er bildet.
Was aber der Augenblick verlangt, das ist ein mit warmer Begeisterung geschriebenes Lebensbild des gefeierten Monarchen, nach dessen Tod in allen Zonen der Erde die Trauerfahnen wehten, und mit einem solchen erscheint als einer der ersten auf dem Plan Ernst Scherenberg mit seinem Gedenkbuche für das deutsche Volk. „Kaiser Wilhelm I.“ (Leipzig, Ernst Keil’s Nachfolger). Dies eben erschienene Werk, aus dem wir unsern Lesern bereits einige Proben mitgetheilt haben, begleitet den Kaiser von seiner glücklichen Jugendzeit durch seine frühen Leidensjahre, durch die Zeit der Befreiungskriege bis in seine Mannesjahre, bis zur Zeit, wo er Prinz von Preußen, dann Prinzregent geworden, während die vier letzten Abschnitte ihn als König von Preußen, als Oberhaupt des norddeutschen Bundes, als deutschen Bundesfeldherrn und deutschen Kaiser schildern.
Der beliebte Dichter hat es nicht verschmäht, auch mit schwunghaften lyrischen Arabesken die einzelnen Kapitel seiner Lebensbeschreibung auszustatten. Und dieser Schmuck paßt zu dem ganzen Ton des Werkes, das sich an das Volk wendet, aber bei aller Herzenswärme von schwülstigen Auswüchsen durchaus freihält. Schlichte Wahrheitsliebe und verständnißvolle Darstellungsweise machen das Buch zu einem wahren Volksbuche. †
Eine bevorstehende Wohnungsnoth. In dem Spielzimmer meiner Kinder hängt eine farbige Wandtafel; in bunter Gruppirung ist auf derselben ein halbes Hundert unserer heimischen Vögel naturgetreu abgebildet, und darunter steht die Unterschrift: „Der Schule und dem Hause gewidmet vom Deutschen Vereine zum Schutze der Vogelwelt.“ Ich möchte jener Tafel, welche Prof. A. Döring im Auftrage des genannten Vereins gemalt hat, die weiteste Verbreitung wünschen; denn durch die ständige Betrachtung derselben wird unwillkürlich bei Jung und Alt das Interesse für die Vogelwelt erregt, welche so viele nicht beachten, weil sie dieselbe nicht kennen. Und unsere heimischen Vögel bedürfen in der That einer warmen Theilnahme, einer Förderung ihrer Interessen, die sich in den Rahmen des gesetzlichen Schutzes nicht einfügen und nur durch freiwillige Mitwirkung möglichst vieler Vogelfreunde erreichen läßt. Ich möchte heute nur ein Beispiel anfähren. Die leichtbeschwingten Wesen sind manchen Fährnissen ausgesetzt, die der oberflächliche Beobachter des Thierlebens kaum vermuthet; und wie sonderbar es klingen mag, ein Theil von ihnen leidet sogar empfindlich – an Wohnungsnoth. Dies scheint nicht im Einklang mit der landläufigen Ansicht von der Leichtigkeit, mit der ein Vogel sein Nest baut, zu stehen; es wird uns aber leicht verständlich, wenn wir eine große Abteilung von Vögeln, die Höhlenbrüter, einer besonderen Betrachtung unterwerfen. Zu ihnen zählen sehr nützliche und liebe Geschöpfe, wie die Staare, die Meisen, die Kleiber, die Segler, die grauen Fliegenschnäpper, die Hausrothschwänzchen etc., für die wir bei dem weiten Leserkreise der „Gartenlaube“ ein fürbittendes Wort einlegen möchten.
Früher, wo wir unser Land noch nicht zu so hoher Kultur gebracht hatten, war bei den Höhlenbrütern von Wohnungsnot keine Rede. Die Wälder bargen noch eine Menge alter morscher Baumriesen mit vielen Höhlen und Löchern, alte Weiden spiegelten sich in den Gewässern, alte Birnbäume standen auf den Aeckern und hier und dort wucherten wilde altersgraue Feldhecken. In diesen Trümmern der Pflanzenwelt nistete und siedelte die Vogelbrut mit lautem und frohem Gezwitscher.
Wir haben diese alte Romantik von unsern Wäldern und Feldern entfernt und damit die Höhlenbrüter aus der Nähe menschlicher Wohnungen in entlegene Winkel vertrieben. Um sie wieder heranzulocken, können wir natürlich unsere Wald- und Gartenwirthschaft nicht abändern, aber wir sind wohl im Stande, die Geschädigten durch Anlage neuer billiger Wohnungen zu entschädigen. Dieser Zweck wird durch Aufhängen von Nistkästen erreicht. Die Vogelschutzvereine haben das Interesse für diese Thätigkeit wachgerufen, und instinktiv folgt eine große Zahl der Landsleute dem Vorgang ihrer Nachbarn. Es wäre zu wünschen, daß der Sport des Aufhängens der Nistkästen eine noch größere Ausdehnung annehme, aber dabei muß auch dafür Sorge getragen werden, daß die geringfügige Arbeit zweckmäßig verrichtet wird. Man muß den Gewohnheiten und Bedürfnissen des Vogels gerecht werden, wenn er an unsere Nähe gefesselt werden soll. Hängen wir z. B. Nistkästen auf und verwahren sie nicht genügend mit Dornen, so fallen die Vogel sehr leicht den Katzen und anderen Raubtieren zum Opfer und wir dürfen uns nicht wundern, daß diese schlechten Wohnungen leer stehen bleiben. Bauen wir für die Meisen ein Häuschen und machen darin das Flugloch zu klein, so können wir erleben, daß die Meisen fortbleiben, aber Bienen und Hummeln sich in ihm ansiedeln. Freilich hat nicht jeder, der gern den Vögeln dienen möchte, Zeit und Muße, die Lebensgewohnheiten einzelner Thierarten zu studiren. Aber das braucht er auch nicht. Auch auf diesem Gebiete menschlicher Thätigkeit giebt es eine Arbeitstheilung, und er kann sich bei Naturforschern Rath holen. Theuer ist der Rath keineswegs. Die Gesellschaft von Freunden der Naturwissenschaften in Gera hat z. B. unter dem Titel „Winke betreffend das Aufhängen der Nistkästen für Vögel“ ein Büchlein von Professor Dr. K. Th. Liebe herausgegeben, das für den winzigen Preis von 20 Pfennig von der Verlagsbuchhandlung Theodor Hofmann in Gera zu beziehen ist und in dem die nöthigen Mitteilungen in einer sehr klaren und anziehenden Weise gegeben sind. Wer keine Zeit hat, selbst die Nistkästen, wie sie sein sollen, zu bauen, für den hat [199] wiederum der Thierschutzverein in Darmstadt gesorgt; er liefert gut eingerichtete Nistkästen, die wahrlich recht billig sind; denn so ein „Wohnhaus“ für Staare kostet 85 Pfennig, eine „Villa“ für Meisen 80 Pfennig, für Rothschwänzchen und Fliegenschnäpper nur 45 Pfennig.
Bald werden die Osterglocken läuten; der junge Lenz wird seinen Einzug halten und aus der Fremde werden die gefiederten Sänger heimkehren. Viele von ihnen, viele Tausende der schönsten werden aber in der alten Heimath vergeblich nach einer passenden Wohnung suchen und sich gezwungen sehen, weiter zu wandern. Versuchen wir sie festzuhalten; hängen wir passende Nistkästen auf! Die fortgeschrittene Kultur hat die Wälder gelichtet und die Vögel vertrieben; die noch mehr fortgeschrittene Wissenschaft vermag den Schaden wieder gut zu machen und die nützlichen Vögel wieder an unsere Scholle zu fesseln. An diesem Sieg des menschlichen Geistes mitzuwirken, ist gewiß schön und der Mühe werth. *
Vereidigung der Artilleristen in Berlin. Der größte mit Glas bedeckte Hof des Zeughauses, auf dem bei schlechtem Wetter auch die tägliche Paroleausgabe stattfindet, war in den letzten Tagen mehrfach der Schauplatz der Truppenvereidigung, indem einzelne Artillerie- und Infanterieabtheilungen aus den umliegenden Kasernen, statt auf deren Höfen, des heftigen Regens wegen, hier die feierliche Handlung vornahmen und inmitten der stolzen Trophäen dem Kaiser Friedrich den Eid der Treue leisteten. Unser Bildchen giebt einen dieser weihevollen Augenblicke wieder.
Versuchspflanzungen. Die Erfahrungen und Beobachtungen, welche Hermann Soyaux auf seinen Reisen gemacht, hat er unter dem Titel „Deutsche Arbeit in Afrika“ (Leipzig, F. A. Brockhaus) zusammengestellt. Die Schrift enthält viele wichtige praktische Vorschläge und Ratschläge und besonders einen interessanten Abschnitt „Die Erziehung afrikanischer Eingeborener“, in welchem der Verfasser sich gegen die herrschende Ansicht von der Faulheit der Neger erklärt. Die Aufgabe, den freien Neger zur Plantagenarbeit zu erziehen, decke sich mit derjenigen, ihm überhaupt Kultur fruchtbringend zuzuführen. Bei dem Plantagenbau erklärt sich Soyaux entschieden für staatliche Versuchspflanzungen, um die Frage zu entscheiden, welches die Gewächse sind, die den werthvollsten Ertrag geben und welches die Methoden sind, diese Gewächse am billigsten zu kultiviren. Kleine Versuchspflanzungen, auf Gartenbeeten vorzüglich gepflegt, genügen dazu nicht, sondern nur Kulturen, die in großem Maßstabe betrieben werden; der Staat aber solle die Leitung und Kontrolle der Vorarbeiten übernehmen, um dadurch abschreckendem und lähmendem Schaden des Einzelnen vorzubeugen und zuverlässige Erfahrungen zu gewinnen; auch der Zusammenhang mit den Forschungsreisen, die der Staat so in die Hand genommen, werde von Wichtigkeit seine; eine solche Plantage werde das beste Hauptquartier für die wissenschaftlichen Forscher abgeben. Doch auch wenn der Staat sich nicht daran betheilige, müsse die Anlage von Versuchsplantagen als nothwendig angesehen werden. Untersuchungen über die physikalische und chemische Beschaffenheit des Bodens, den Charakter der ursprünglichen Vegetation, die klimatischen Verhältnisse würden ihm Fingerzeige genug geben.
„In einem Gebiet, dessen Wälder wildwachsenden Kaffee, Vanillearten, kakaoähnliche Gewächse, überhaupt nahe Verwandte anderer tropischen Nutzpflanzen aufweisen, auch mit Berücksichtigung der für Befruchtung oft unumgänglich nöthigen Insektenwelt, wird er sofort greifbare Anhaltspunkte haben; ebenso wird er da seine Schlüsse ziehen, wo schon etwa originale Nutzgewächse ihre Produkte dem Handel zuführen, nützliche Palmen einheimisch sind, Ernten guten Kautschuks gewonnen werden, wo die Qualität einheimischen Tabaks Vortheile bei rationellem Anbau verspricht oder etwa vorhandene Baumwolle oder Zuckerrohr in guter Qualität rentable Ernten in Aussicht stellen. Ueberhaupt wird es ihm das Nächstliegende sein, die einheimische Flora auf ihren kulturellen Werth zu prüfen, Versuche mit der Kultur schon bekannter Handelsgewächse aufzustellen und mit Hilfe der Wissenschaft in der bisher unbeachteten Vegetation Pflanzen zu finden, deren Fasern, Harze, Milchsäfte, Farbstoffe, Fruchtsäfte, ätherische Bestandteile etc. so werthvoll sind, daß sie ihn zu versuchsweisem Anbau veranlassen.“
Natürlich dürfen solche Probepflanzungen nicht unter außergewöhnlichen Verhältnissen angestellt werden, sondern man muß auf die Durchschnittserscheinungen achten; alle Beobachtungen müssen aufgezeichnet und in Beobachtungstabellen zusammengestellt werden, wie das in Britisch-Indien geschieht, wo man, durch Schaden klug geworden, noch jetzt Versuchsplantagen anlegt. Auch die Winke betreffs der Behandlung der Rohprodukte und der in solchen Pflanzungen einzufahrenden Viehzucht sind beherzigenswerth.
Wer interessirte sich nicht heute für unsere zukunftsreichen Kolonien, für die Ausbreitung deutscher Reichsmacht in fernen Zonen? Das Zusammenwirken aller erleuchteten deutschen Geister in Wort, Schrift und That ist unerläßlich, wenn unser Kolonialbesitz bald zur Blüthe gelangen soll, und einige Bausteine dazu hat auch Soyaux in seinem Werke beigetragen. †
Der englische Thronfolger führt bekanntlich den Titel „Prinz von Wales“, und hierzu gab folgender Vorfall die Veranlassung: Als König Eduard I. Wales erobert hatte, residirte er eine Zeit lang in dem Lande, aber die Bewohner und namentlich der Adel verhielten sich noch lange Zeit feindselig gegen den neuen Herrscher. Der König glaubte den Grund darin zu finden, daß die alten Barden, die Sänger und Dichter des Volkes, die Erinnerung an den Ruhm und die Tapferkeit der Vorfahren der Unterjochten in der großen Menge wach erhielten, und befahl, diese Träger der nationalen Dichtung zu tödten. Doch die Bedrohten entflohen oder wurden von den Bewohnern verborgen gehalten; das Volk aber kam zu der Einsicht, daß es sich dem Sieger werde unterwerfen müssen, und suchte im Vereine mit den Edelleuten möglichst günstige Bedingungen zu erzielen. Der König war zu Zugeständnissen bereit und versprach sogar, ihnen als Statthalter einen Waleser von Geburt, der kein Wort Englisch verstehe, zu geben. Das war mehr, als die Besiegten erwartet hatten; aber die Enttäuschung blieb nicht aus, als Eduard I. ihnen erklärte, er habe zu diesem Posten seinen eigenen Sohn ernannt, der eben erst im Schlosse Carnarvon geboren worden war und natürlich kein Wort Englisch verstand. Der Titel: „Prinz von Wales“ aber ist seit dieser Zeit ausschließliches Privileg des ältesten Sohnes der englischen Herrscher geworden.
Abschied. (Vergl. die Kunstbeilage.) Das Originalgemälde von Mathias Schmid, von dem wir unseren Lesern zum Ostergruß eine Nachbildung bringen, stellt alle Vorzüge des bedeutenden Künstlers zur Schau, der in die großartige Scenerie seines tiroler Heimathlandes oft so ernst wehmütige Bilder aus dem Volksleben von wunderbarer Naturtreue hineinschafft. Auf unserem Bilde, wo der Bursche bereits das geschnürte Bündel neben sich liegen hat, um fortzuwandern, ist besonders der Gesichtsausdruck des Mädchens von zartester Innigkeit. Die Stimmung des Landschaftsbildes ergänzt diejenige des scheidenden Paares; über dem Ganzen liegt der Hauch stiller Wehmut ausgebreitet. †
Inhalt:
[ Das Inhaltsverzeichnis wird derzeit nicht transkribiert. ]
Mit nächster Nummer schließt das erste Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen Reichspostamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche Nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 PFennig erhäht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 69 PFennig).
Einzeln gewünschte Nummern liefern wir pro Nummer incl. Porto für 35 Pfennig (2 Nummern 60 Pf., 3 Nummern 85 Pf.). Den Betrag bitten wir bei der Bestellung in Briefmarken einzusenden.[200]
Schon im Sommer vorigen Jahres, nach dem Ableben der in den weitesten Kreisen bekannten und beliebten Gartenlaube-Erzählerin, wurden wir von zahlreichen Verehrern und Verehrerinnen derselben aufgefordert, eine Gesamt-Ausgabe der Marlittschen Romane zu billigem Preise herauszugeben und so die Anschaffung derselben Allen, auch den weniger Bemittelten, möglich zu machen.
Wir kommen diesen vielfach an uns gelangten Wünschen nach, indem wir von
im durchschnittlichen Umfang von 3 Druckbogen erscheinen wird.
Die Illustration der neuen Ausgabe haben wir einer Anzahl der tüchtigsten Künstler übertragen und ebenso für musterhafte Ausführung der Bilder in Holzschnitt und Zinkographie, für guten Druck und eleganteste Ausstattung gesorgt.
Es ist somit allen alten Freunden E. Marlitts, wie auch der jüngeren Generation, welcher zum Teil noch viele ihrer Werke fremd sind, die günstige Gelegenheit geboten, mit dem geringen Aufwand von 80 Pfennig im Monat sich in den Besitz einer schönen, illustrierten Ausgabe der sämtlichen Romane und Novellen der unvergeßlichen Erzählerin zu setzen und so auf billige und bequeme Weise eine in hohem Grade anregende und fesselnde Lektüre für viele Mußestunden zu erwerben.
Die neue Ausgabe beginnt mit dem beliebten Roman: „Das Geheimnis der alten Mamsell“; demselben folgen: „Die zweite Frau“. – „Goldelse“. – „Das Haideprinzeßchen“. – „Im Hause des Kommerzienrates“. – „Reichsgräfin Gisela“. – „Im Schillingshof“. – „Die Frau mit den Karfunkelsteinen“. – „Thüringer Erzählungen“ (enthaltend „Amtmanns Magd“, „Die zwölf Apostel“, „Der Blaubart“, sowie ihr bis jetzt ungedrucktes Erstlingswerk: „Schulmeisters Marie“). – Den Schluß bildet der hinterlassene Roman der Marlitt: „Das Eulenhaus“.
Beinahe alle Buchhandlungen sind in den Stand gesetzt, auf die neue Illustrierte Gesamt-Ausgabe von E. Marlitts Romanen Bestellungen entgegenzunehmen und die erste Lieferung zur Ansicht vorzulegen.
Leipzig, im März 1888.
Verlagshandlung.