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Die Gartenlaube (1888)/Heft 35

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[581]
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Alle Rechte vorbehalten.
Die Alpenfee.
Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Der letzte Abglanz der Abendröthe war längst verschwunden und feuchter Abendthau legte sich auf Wälder und Matten, leise stieg die Dämmerung aus den Thälern empor zu den noch lichten Höhen und dort drüben begannen die Schneegipfel im weißen Lichte zu schimmern. Der Mond, der noch nicht sichtbar war, sandte seinen geisterhaften Schein voraus.

Da flammte auch der Holzstoß auf am Wolkenstein, anfangs nur dampfend, knisternd, glühend, bis das Feuer die mächtigen Scheite selbst ergriff, und nun loderte es empor in wilder, gluthrother Pracht, begrüßt von dem Jubel des ganzen Kreises , der es umgab – das alte Sonnwendfeuer der Berge!

Es war ein eigenartig schönes Bild, das mit der zunehmenden Dunkelheit nur noch malerischer wurde: die riesige Flammengarbe, die funkensprühend zum Himmel aufschlug, und ringsum die braunen Gestalten der Aelpler, in dem rothen Feuerschein, in stürmisch jubelnder Bewegung. Das verfolgte und neckte sich, schwang sich um das Feuer, schleuderte glühende Holzscheite empor und jauchzte dabei hell auf in übermüthiger Lust, die das Prasseln und Lodern der Flammen nur noch wilder anzufachen schien, und über dem allen wallte und wogte in dichten Wolken der Rauch, der den ganzen Feuerkreis bald verschleierte, bald wieder enthüllte.

Erna und Waltenberg hatten ihren Platz nicht verlassen, sie mochten bei der gar zu übermüthigen Lust dort drüben wohl eine gewisse Abgeschlossenheit für nöthig halten. Nicht weit von ihnen stand Wolfgang, mit übereinandergeschlagenen Armen, anscheinend ganz versunken in den phantastischen Anblick. Er hatte, viele leicht zufällig, seinen Standpunkt so gewählt, daß er größtentheils im Schatten blieb. Um so heller


Der Korbflechter.
Nach dem Oelgemälde von L. Blume-Siebert.

[582] beleuchtet war die Gruppe auf dem kleinen Hügel, die schlanke, lichte Gestalt des jungen Mädchens, die größere, dunkle des Mannes an ihrer Seite und das zottige Fell des Hundes, der, den mächtigen Kopf zwischen den Pfoten, regungslos ihnen zu Füßen lag.

Benno, der mit Gronau in der Nähe des Feuers stand, blickte bisweilen hinüber, aber noch ein Paar andere Augen ruhten starr und düster auf demselben Punkte, und wenn sie sich auch zuweilen gewaltsam losrissen und zu den anderen Gruppen schweiften, die in dem Feuerschein bald auftauchten, bald verschwanden, sie kehrten, wie von einer geheimnißvollen, unwiderstehlichen Gewalt gelenkt, immer wieder zurück zu den beiden, die da aussahen, als gehörten sie bereits zusammen.

Erna hatte vorhin, erhitzt vom Steigen, den Hut abgenommen; er lag neben ihr auf dem moosigen Steine, der ihr zum Sitz diente, während sich Waltenberg im leisen, angelegentlichen Gespräche zu ihr herabbeugte. Er sprach vielleicht nur gleichgültige Worte, aber sein Blick hing an ihren Zügen mit einem leidenschaftlichen Ausdrucke, den er sich gar nicht mühte, zu verbergen. Seine Augen hatten es gelernt, die Sprache der Leidenschaft zu reden, die sein ganzes Wesen durchglühte. Der Mann, dessen Freiheitsdurst sich so lange gesträubt hatte gegen die Bande der Liebe, er lag jetzt gefesselt und willenlos in ihrem Bann.

Sie sprachen nur halblaut und doch verstand Wolfgang jede Silbe; mitten durch das Lachen, Schreien und Jauchzen, mitten durch das Prasseln und Knattern der Flammen drang Wort für Wort zu seinem Ohre, denn all seine Nerven spannten sich an zu fieberhaftem Lauschen, als hänge für ihn Leben oder Tod ab von dem, was dort oben gesprochen wurde.

„Unersteiglich nennen Sie den Wolkenstein?“ fragte Waltenberg. „Das heißt wohl nur, es hat ihn bisher noch niemand bestiegen. Er wird doch zu bezwingen sein dieser unnahbare Gipfel.“

„Bisher hat ihn aber noch keiner bezwungen,“ entgegnete Erna. „Durch das Felsenmeer wagte sich so mancher hinauf, bis an den Fuß der Hochwand, aber da hat noch ein jeder Halt machen müssen, selbst mein Vater, dem nicht leicht etwas zu hoch oder zu steil war. Er stieg den Gemsen nach bis auf den höchsten Grat, aber er erklärte mehr als einmal: ,Die Hochwand ist nicht zu nehmen!‘“

Ernst blickte zu dem Gipfel des Wolkenstein empor, der hier nur theilweise sichtbar war, und lächelte.

„Wissen Sie, mein gnädiges Fräulein, daß Sie mir gerade durch diese Schilderung Last machen zu dem Wagniß?“

Sie sah betroffen zu ihm auf.

„Herr Waltenberg, Sie werden doch nicht –?“

„Die Hochwand nehmen – gewiß! Wenigstens werde ich es versuchen.“

„Unmöglich! Das ist ein Scherz!“

„Glauben Sie? Ich denke, Ihnen nächstens zu beweisen, daß es mir Ernst damit ist.“

„Aber warum denn? Zu welchem Zwecke?“

„Warum besteht man Abenteuer? Weil die Gefahr reizt, weil es ein Sieg, ein Triumph ist, das scheinbar Unmögliche zu erzwingen.“

„Und wenn dieser Triumph Ihr Leben fordert? Sie würden nicht das erste Opfer der Hochwand sein, fragen Sie Sepp, er kann Ihnen Trauriges erzählen.“

„Pah, mir sind die Gefahren nicht fremd, ich habe schon höhere Gipfel erstiegen als diesen gefürchteten Wolkenstein.“

Sein Ton verrieth den trotzigen Uebermuth eines Mannes, der gewohnt ist, mit der Gefahr zu spielen, der sie um ihrer selbst willen aufsucht. Nordheim hatte Recht, ihn reizte nur das Versagte und das Leben versagte ihm so wenig genug. Einen Alpengipfel bezwingen, den vor ihm noch keines Menschen Fuß betreten hatte, oder ein schönes, stolzes Weib erringen, das ihm kalt und spröde gegenüberstand – gleichviel! Es mußte erreicht und errungen werden, für ihn gab es keine Unmöglichkeit.

Der Wind, der sich setzt stärker erhob, jagte die Flammen seitwärts, sie sprühten und flackerten und ein ganzer Regen von Funken ergoß sich über Wolfgang, der das kaum beachtete. Er starrte unbeweglich in die prasselnde Gluth, deren Schein es nicht erkennen ließ, wie bleich er war. Der ganze Holzstoß war jetzt an einziges Feuermeer, immer wilder züngelte es empor, immer höher schlug die Lohe auf, alles verzehrend und vernichtend, was ihr heißer Athem berührte. Die kühle, thaufeuchte Matte, die dunklen Wälder, die schroffen Abhänge des Wolkenstein, das alles schien unheimlich verwandelt in dem rothen zuckenden Lichte, in den Rauchwolken, die darüber hinjagten.

Und ein Widerschein dieses lodernden Brandes lag auf dem Gesichte des Mannes, der stumm, mit festzusammengebissenen Zähnen die Folterqual erduldete, der er doch nicht entfliehen wollte. Er fühlte ihn ja, den verzehrenden Athem der Flammengluth, und blieb doch wie festgebannt an seinem Platze, er konnte sich nicht losreißen von jenen halblauten, bisweilen nur geflüsterten Worten, die vielleicht schon eine entscheidende Frage und Antwort brachten.

„Hüten Sie sich! Es ist der alte Sagenhort unserer Berge, und der ist gefeit! Seine Herrscherin duldet kein menschliches Wesen auf ihrem Throne.“

„Bis auf den Einen, der sie bezwingt! So enden ja immer die deutschen Sagen. Der Muthige, der doch hinaufdringt, schließt die Zaubergestalt in seine Arme.“

„Und stirbt in dem eisigen Kusse der Alpenfee – ja, so lautet die Sage!“ sagte Erna leise.

Waltenberg lachte spöttisch auf.

„Nun ja, es ist ein Märchen, das Kinder und allenfalls auch Naturmenschen erschrecken kann. Daher stammt also die Unnahbarkeit des Wolkensteins – nicht die Gefahr, der Aberglaube macht ihn unzugänglich! Ich denke, ihn mir trotzdem zu holen, diesen verhängnißvollen Kuß.“

„Das werden Sie nicht thun,“ fiel Erna halb bittend, halb befehlend ein. „Geben Sie den tollkühnen Gedanken auf!“

„Nein, mein Fräulein, selbst auf Ihren Befehl nicht.“

„Nun denn – auf meine Bitte!“

Es trat eine sekundenlange Pause ein, langsam wandte sich Wolfgang um. Er sah in der grellen Beleuchtung jeden Zug in dem Antlitz des Mädchens, das wirklich angstvoll bittend emporgerichtet war, und in dem braunen Gesichte des Mannes, der sich jetzt zu ihr niederbeugte, so tief, daß er fast ihre Locken berührte. Der spöttische, übermüthige Trotz war verschwunden aus seinen Zügen wie aus seiner Stimme, sie klang leise, aber in heißer, leidenschaftlicher Innigkeit, als er erwiderte: „Sie bitten mich?“

„Ja – von ganzem Herzen! Stehen Sie ab von der Thorheit, ich ängstige mich.“

Ernst lächelte, und in einem weichen, verschleierten Tone, wie er vielleicht noch nie von den Lippen des hochmütigen Mannes gekommen war, erwiderte er:

„Sie sollen sehen, daß ich gehorsam sein kann. So süß es auch wäre, zu wissen, daß ein Wesen um mich bangt, wenn ich die Gefahr bestehe – ich gebe es auf!“

Wolfgangs Hand umfaßte krampfhaft die kleine Zwergtanne, die sich neben ihm aus dem Boden erhob; die harten, spitzen Nadeln gruben sich tief in seine Haut, er fühlte es nicht. Drüben lohte es noch einmal auf wie eine Feuersäule, dann sanken einzelne der glühenden Brände, die anderen mit sich reißend. Krachend und prasselnd stürzte der ganze Holzstoß in sich zusammen, aus der zuckenden, sprühenden Gluth leckten tausend Flammenzungen, aber der rothe Schein beleuchtete jetzt nur noch die nächste Umgebung, die Matte und der kleine Hügel verschwanden im dämmernden Schatten. –

„Es war ein prächtiger Anblick, nicht wahr?“ fragte Benno heiter, indem er zu dem so einsam dastehenden Freunde trat und die Hand auf die seinige legte; plötzlich aber hielt er inne und fragte besorgt: „Wolf, was hast Du? Ich glaube, Dich schüttelt ein Fieberschauer, Deine Hand ist todtenkalt.“

„Mir ist nichts,“ sagte Wolfgang dumpf. „Vielleicht habe ich mich erkältet auf der thaufeuchten Matte.“

„Erkältet an diesem warmen Sommerabende, und Du mit Deiner eisernen Gesundheit? Aber Du bist wirklich nicht wohl, ich sehe es, zeig’ einmal Deinen Puls.“

Elmhorst, statt der Aufforderung nachzukommen, zog ungeduldig die Hand zurück.

„Ich bitte Dich, mache doch nicht so viel Aufhebens von einem leichten Unwohlsein. Das vergeht ebenso schnell als es kommt. Ich habe es schon vorhin bei unserem Aufstieg gefühlt.“

Benno schüttelte den Kopf, er hatte nicht das Geringste von einem Unwohlsein bemerkt.

„Dann wäre es wohl das Beste, wir träten den Rückweg an,“ meinte er. „Das Feuer erlischt und wir haben noch eine starke Stunde bergabwärts.“

„Sie haben recht, wir brechen gleichfalls auf,“ sagte Waltenberg, der jetzt auch herantrat. „Sepp schlägt vor, uns über die [583] Geierklippe hinabzuführen, aber dieser nähere Weg scheint nicht ganz gefahrlos zu sein.“

„Bei Mondlicht ist er das allerdings nicht.“

„Dann geben wir es auf. Ich habe mich bei Frau von Lasberg für eine sichere und rechtzeitige Rückkehr verbürgt und muß ihr Wort halten. Gronau mag allein mit dem Führer über die Klippe hinabsteigen, da er große Lust dazu zu haben scheint. Wir treffen ja doch später auf dem Hauptwege zusammen.“

Es ergab sich ganz von selbst, daß die kleine Gesellschaft den Rückweg gemeinsam antrat, nur Gronau und Sepp schlugen eine andere Richtung ein mit der Verabredung, an einem bestimmten Punkte wieder zu den Uebrigen zu stoßen. Die Matte mit dem immer mehr niedersinkenden Feuerschein verschwand, und bald verschlang auch der schweigende Bergwald das Lachen und Jauchzen dort oben. Das Gespräch der Niedersteigenden stockte gleichfalls; sie mußten auf den Weg achten, der zwar weder steil noch gefährlich war, aber die dichten Tannen fingen das Mondlicht auf und ließen nur hier und da einen Strahl hindurch, so daß man immerhin vorsichtig sein mußte. Waltenberg blieb dicht an Ernas Seite, die anderen beiden folgten. So ging es bergabwärts, etwa eine halbe Stunde lang, da war der Saum des Waldes erreicht und sie traten hinaus auf die weite Bergeshalde.

„Dort flammt und leuchtet es noch überall,“ sagte Waltenberg, auf die anderen Höhen deutend, wo die Bergfeuer noch größtenteils sichtbar waren. „Die Wolkensteiner haben sehr früh angezündet, Ihre Majestät die Alpenfee hatte den Vortritt und sie scheint sich auch wirklich zu Ehren der Sonnwendnacht entschleiern zu wollen.“

Er hatte recht. Der Wolkenstein, dessen Gipfel sich hier in seiner vollen Mächtigkeit zeigte, war während des ganzen Abends verschleiert gewesen, erst jetzt begann das Gewölk zu weichen, das sein Haupt verhüllte.

„Mich wundert nur, daß Herr Gronau und Sepp noch nicht hier sind,“ bemerkte Erna, die sich etwas befremdet umsah. „Sie müßten eigentlich schon vor uns eingetroffen sein, ihr Weg ist der nähere.“

„Vielleicht hat sie irgend ein Zauberspuk aufgehalten,“ sagte Benno lachend. „Die Johannisnacht ist ja bereits angebrochen und da ist das ganze Geisterweben los in den Bergen. Ich wette darauf, die beiden haben mit irgend einem Gespenst zu thun, oder sie graben noch ist aller Eile einen von den versunkenen Schätzen aus, die ja heute allesammt aus der Tiefe heraufsteigen. Ah, da sind sie!“

Es war allerdings Sepp, der da drüben auf der anderen Seite erschien, aber er war allein und die Hast und Eile, mit der er näher kam, verhieß nichts Gutes.

"Was giebt es?“ fragte Waltestberg ihm entgegentretend. „Es ist doch nichts vorgefallen? Wo ist Herr Gronau?“

Sepp wies nach der Richtung, ist welcher die Geierklippe lag.

„Dort oben! Wir haben einen Unfall gehabt, der Herr ist ausgeglitten auf dem Felsen und der Fuß –“

„Ist doch nicht etwa gebrochen?“

„Nein, so arg wird’s nicht sein, denn wir kamen noch hinunter auf den festen Boden, aber weiter ging es nicht. Der Herr ist droben im Walde und kann den Fuß nicht regen, und da wollte ich den Herrn Doktor doch bitten, einmal nachzuschauen.“

„Natürlich müssen wir nachschauen!“ rief Reinsfeld, der sofort bereit war. „Wo haben Sie ihn denn zurückgelassen? Ist es weit von hier?“

„Nein, nur eine kleine Viertelstund’ aufwärts.“

„Ich gehe gleichfalls mit,“ sagte Waltenberg rasch. „Ich muß doch nach Gronau sehen, bitte bleiben Sie, gnädiges Fräulein, Sie hören ja, es ist nicht weit und wir kommen sofort zurück.“

„Wäre es nicht am besten, wir stiegen allesammt hinauf?“ fragte Elmhorst. „Vielleicht ist auch meine Hilfe notwendig.“

„Nun ein verrenkter oder schlimmstenfalles gebrochener Fuß ist doch keine Lebensgefahr,“ meinte Benno. „Da reichen wir drei aus zur Hilfe, selbst wenn wir Herrn Gronau tragen müßten, und Fräulein von Thurgau kann doch nicht allein hier bleiben.“

„Gewiß nicht, Herr Elmhorst wenigstens muß bei ihr zurückbleiben,“ entschied Ernst. „Wir beeilen uns so viel als möglich, verlassen Sie sich darauf, gnädiges Fräulein!“

Die Anordnung war eigentlich selbstverständlich, man konnte die junge Dame, so furchtlos sie auch sein mochte, unmöglich hier in der Nacht allein zurücklassen und Wolfgang, der ihrer Familie jetzt so nahe stand, war jedenfalls der passendste Schutz für sie. Dennoch schienen die beiden nicht einverstanden damit. Auch Erna erhob jetzt Einwendungen und meinte, es sei besser, mitzugehen. Aber Waltenberg wollte nichts davon hören. Er eilte mit dem Doktor und Sepp über die Grashalde und dann verschwanden sie alle drei im Walde drüben.

Die Zurückgebliebenen mußten sich wohl oder übel zum Warten bequemen. Erwünscht war es ihnen offenbar nicht, sie wechselten einige Worte über den Unfall, über die möglichen Folgen desselben und dann trat ein längeres Schweigen ein.

Ueber dem Gebirge lag die Mittsommernacht, mit ihrem tiefen, geheimnißvollen Schweigen, aber ohne das tiefe Dunkel der Nacht. Der Vollmond, der schon hoch am Himmel stand, tauchte alles in seinen träumerischen Schimmer. Er ließ die Bergfeuer ringsum nur matt erglänzen. Sie flammten nicht wie sonst in glühend rother Pracht, aber es sah aus, als seien große leuchtende Sterne vom Himmel niedergesunken, die nun dort auf den Höhen weiter leuchteten, in ihrer klaren ruhigen Schönheit. Bei Tage blickte man von der Halde weit hinaus in die Ferne, jetzt hüllte ein zarter, schimmernder Nebelduft die ganze Bergwelt ein wie ein Schleier, der die einzelnen Züge noch deutlich erkennen läßt. Die starren Linien der Hochgipfel schienen zu verschwimmen, die dichten Massen der Wälder verdämmerten in bläulichen Schatten; tief unten, wo die Wolkensteiner Schlucht aufgähnte, herrschte noch das Dunkel, aber die Brücke wurde bereits von dem Mondlichte getroffen. Wie ein schmaler blinkender Steg schwang sie sich von Fels zu Fels, selbst in dieser Höhe noch erkennbar für ein scharfes Auge.

Nur der Wolkenstein, mit seiner unmittelbaren Nähe, hob sich scharf und klar ab von dem lichten Nachthimmel. Die Wälder zu seinen Füßen, die Zacken und Klüfte des Felsenmeeres und die riesigen Schroffen der Hochwand, das alles war überfluthet von dem weißen Lichte. Um das Haupt selbst wob sich noch leichtes, schleierartiges Gewölk, das langsam zu zerfließen schien vor den Mondesstrahlen, bisweilen schimmerten die eisumstarrten Zinnen des Gipfels leuchtend hindurch und verschwanden dann wieder in dem duftigen Nebelgewande. Erna hatte sich auf dem Stumpf einer gefällten Tanne am Rande des Waldes niedergelassen. Der Anblick fesselte sie, ebenso wie ihren Gefährten, der jetzt das Schweigen brach, das schon einige Minuten gewährt hatte.

„Da hinauf gelangt Herr Waltenberg schwerlich,“ sagte er. „Ich glaube, es war nicht nötig, ihn so ernstlich abzumahnen, er wäre jedenfalls umgekehrt am Fuße der Hochwand.“

„Sie haben gehört, was wir sprachen?“ fragte die junge Dante, ohne den Blick von dem Gipfel abzuwenden.

„Gewiß, ich stand ja in der Nähe.“ „Nun, dann hörten Sie wohl auch, daß das Wagniß schließlich aufgegeben wurde.“

„Auf Ihre Bitte!“

„Es lag mir allerdings daran, für mich hat jede zwecklose Tollkühnheit etwas Beängstigendes.“

„Jede? Mir scheint, Herr Waltenberg gab Ihren Worten eine andere Deutung und er ist auch wohl berechtigt dazu?“

Erna wandte sich um und streifte ihn mit einem kühl abweisenden Blick.

„Herr Elmhorst, Sie rechnen sich bereits zu unserer Familie, ich sehe es; aber das Recht zu solchen Fragen gestehe ich Ihnen dennoch nicht zu.“

Die Zurechtweisung war deutlich genug. Wolfgang biß sich auf die Lippen.

„Verzeihung, gnädiges Fräulein, wenn ich taktlos erschien, aber nach den Andeutungen meines Schwiegervaters glaubte ich wirklich, die Sache sei kein Geheimniß mehr.“

„Mein Onkel hat mit Ihnen darüber gesprochen? Jetzt, vor seiner Abreise?“

„Allerdings, aber er that das auch bereits vor drei Monaten, als ich in der Stadt war.“

In dem Gesicht des jungen Mädchens stieg eine dunkle Röthe auf. Also schon damals hatte der Präsident seinem Schwiegersohne mitgetheilt, wie er seine Nichte zu „versorgen“ gedenke, wahrscheinlich noch vor der persönlichen Bekanntschaft mit Waltenberg! Ihr ganzer Stolz empörte sich dagegen, und mit unverhehlter Gereiztheit erwiderte sie:

„Ich weiß, daß mein Onkel mit allem zu rechnen pflegt, warum nicht auch mit meiner Hand; aber in diesem Falle habe ich doch wohl das letzte Wort zu sprechen – das scheint er und scheinen Sie vergessen zu haben.“

[584]

Ansichten von Dresden.
Originalzeichnung von Olof Winkler.

[585] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [586] „Ich?“ fuhr Wolfgang auf. „Glauben Sie vielleicht, daß ich Anteil hatte an dem Plane?“

Sie sah ihn an; es war ein seltsamer Blick, den er nicht enträthseln konnte, und in ihrer Stimme klang etwas wie leiser Hohn, als sie antwortetet:

„Nein, an diesem Plane nicht, das weiß ich!“

„Sie würden mir auch entschieden unrecht thun mit einem solchen Verdachte. Ich habe überhaupt keine Sympathie für Herrn Waltenberg und bin überzeugt, daß er trotz all seiner bestechenden Eigenschaften doch nicht im Stande ist, ein anderes Wesen zu beglücken.“

„Das ist Ihre Ansicht,“ sagte Erna kalt. „Eine Frau fragt in solchem Falle nur nach einem – ob sie geliebt wird ohne äußere Rücksichten und Bedenken.“

„Sollte das allein entscheidend sein? Ich meine, sie müßte noch eine zweite Frage stellen – ob sie selbst liebt!“

Die Worte kamen langsam, fast zögernd von seinen Lippen, und doch hafteten seine Augen wie in athemloser Erwartung auf dem Antlitz, das er im hellen Mondschein so deutlich vor sich sah, aber es erfolgte keine Antwort. Ernas Blick vermied den seinigen und schweifte hinaus in die dämmernde Ferne. Die Bergfeuer dort glänzten matter und matter, eins nach dem andern erlosch, nur das größte flammte noch drüben auf der Höhe mit seinem sternartigen Leuchten.

Droben am Wolkenstein wogten und wallten noch immer die weißen Schleier und die Mondesstrahlen schufen seltsame Gebilde daraus, die das Auge täuschten mit allerlei phantastischen Gestalten und zerflossen, sobald es versuchte, sie festzuhalten. Aus diesem Nebelweben aber tauchte jetzt langsam und leuchtend der Gipfel selbst empor, der zackige, unnahbare Thron der Alpenfee, in seinem ewigen Eis- und Schneegewand.

Wolfgang hatte seinen Platz verlassen und trat jetzt an die Seite des jungen Mädchens, während er halblaut fortfuhr:

„Ich habe auch zu dieser Frage kein Recht, ich weiß es; aber Sie selbst werden sie sich doch wohl gestellt haben und die Antwort –“

Ein dumpfes, zorniges Knurren unterbrach ihn. Greif hatte seine einstige Abneigung gegen den Oberingenieur nicht vergessen, er duldete es nicht, daß dieser seiner Herrin nahe kam, und drängte sich, wie zur Abwehr, zwischen beide. Erna legte beschwichtigend ihre Hand auf den Kopf des Hundes, der sofort verstummte; dann fragte sie plötzlich ohne jeden Uebergang:

„Warum hassen Sie Ernst Waltenberg?“

„Ich?“ Elmhorst war augenscheinlich betroffen über diese Gegenfrage, die ihm gänzlich unerwartet kam.

„Ja – oder wollen Sie es ableugnen?“

„Nein,“ sagte Wolfgang mit trotziger Entschiedenheit. „Ich gestehe es zu, ich hasse ihn!“

„Sie müssen aber doch einen Grund dazu haben.“

„Den habe ich! Aber Sie gestatten wohl, daß ich Ihrem Beispiel folge und auf das Warum? die Antwort verweigere.“

„So will ich sie Ihnen geben – weil Sie in Ernst Waltenberg meinen künftigen Gatten sehen!“

Elmhorst zuckte zusammen und blickte sie mit einem Ausdruck der Bestürzung, ja des Schreckens an. „Sie – wissen?“

„Glauben Sie denn, eine Frau fühlt es nicht, wenn sie geliebt wird, und wenn man auch alles dran setzt, es ihr zu verbergen?“ fragte Erna mit tiefer Bitterkeit.

Es folgte eine lange, schwere Pause; Wolfgangs Auge sank zu Boden; endlich sagte er dumpf und leise:

„Ja, Erna, ich habe Sie geliebt – schon seit Jahren!“

„Und Sie wählten – Alice!“

Es lag eine herbe Verurtheilung in den Worten, er schwieg und senkte das stolze Haupt.

„Weil sie reich ist, weil an ihrer Hand das Gold hängt, das ich nicht besitze. Alice wird trotzdem nicht unglücklich werden, sie kennt und fordert ja kein Glück im höheren Sinne, ich aber wäre grenzenlos elend an der Seite eines Mannes, den ich verachten müßte.“

„Erna!“ fuhr er wild und drohend auf.

„Herr Elmhorst?“ fragte sie schneidend.

Die Mahnung fruchtete, er zwang sich gewaltsam zur Selbstbeherrschung.

„Fräulein von Thurgau, Sie glauben, mich hassen zu müssen seit der Todesstunde Ihres Vaters, und Sie haben überreich Vergeltung geübt für eine nur vermeinte Schuld. Nun denn, Ihren Haß will ich tragen, wenn es sein muß, Ihre Verachtung nicht. Ich dulde ihn nicht länger, diesen kalt verächtlichen Blick, den ich immer und immer in Ihren Augen sehe. Sie verstehen es, damit zu treffen, aber ich bitte Sie jetzt – treiben Sie mich nicht aufs äußerste!“

Er sah wirklich aus, als sei er aufs äußerste gebracht, der kalte, berechnende Mann, der sich so eisern zu beherrschen wußte. Sein ganzes Wesen bebte in fieberhafter Erregung, das verhängnißvolle Wort hatte ihn furchtbar getroffen.

Greif hatte sich kampfbereit aufgerichtet und verfolgte mit glühenden Augen jede Bewegung des vermeintlichen Feindes, von dem er glaubte, er drohe seiner jungen Herrin. Diese ergriff den Hund am Halsbande und hielt ihn fest.

„Wollen Sie mich etwa zu Achtung zwingen?“ fragte sie.

„Ja, beim Himmel, das will ich!“ brach er aus. „Ich habe mir ja vorhin schon die Anerkennung erzwingen müssen bei jenem hochmüthigen Egoisten, der das Geld nur verachtet, weil er es in Fülle besitzt, der sein träumerisches, thatenloses Genießen für Idealismus ausgiebt. Sie hörten es ja, wie er verstummte, als ich mich auf meine Arbeit berief. Er weiß freilich nicht, was es heißt, arm zu sein und der nackten, harten Wirklichkeit ins Auge sehen zu müssen. Ich habe das reichlich durchgekostet in einer entbehrungsreichen Jugend, für mich hat das Leben keine Poesie und keine Ideale gehabt. Ich fühlte die Kraft in mir, das Höchste in meinem Berufe zu leisten, und wurde in niederer unbedeutender Arbeit festgehalten. Ich mußte mich beugen vor Menschen, die geistig tief unter mir standen, mußte bitten, wo ich jetzt befehle. Der Plan zu der Wolkensteiner Brücke, die sie jetzt anstaunen, wie ein halbes Wunderwerk, ist zehnmal hochmüthig verworfen, übersehen, bei Seite gelegt worden, weil ich keine Protektion hatte, weil man den Armen und Unbekannten ja immer am Boden hält. Aber ich wollte empor, trotz alledem, nicht um des Geldes willen, nicht um auszuruhen im trägen Genuß, sondern um frei schaffen zu können, ungehemmt von all den Zurücksetzungen und Erbärmlichkeiten, über die der Reichthum wie mit Flügeln hinwegträgt. Dort steht mein Werk!“ Er wies auf den schmalen Steg über der dunklen Schlucht, der im Mondlichte wie Silber blinkte. „Ob Sie es hassen oder nicht, weil Ihr Vaterhaus ihm weichen mußte, es wird seinem Schöpfer wenigstens Achtung erzwingen, auch bei Ihnen!“

Das war wieder die stolze, kühne Sprache, mit der Wolfgang Elmhorst selbst seine Gegner verstummen machte, mit der er überall siegte, hier aber siegte er nicht. Erna hatte sich erhoben und stand ihm hochaufgerichtet gegenüber, aber der Blick, den er nicht ertragen konnte, war noch immer in ihrem Auge.

„Nein!“ sagte sie fest und kalt. „Grade dies Werk verurtheilt Sie! Wer das schaffen konnte, der mußte auch den Muth haben, der eigenen Kraft zu vertrauen und allein vorwärts zu schreiten, denn er trug seine Zukunft in sich. Mein Onkel hatte Ihr Talent erkannt, lange ehe Sie um seine Tochter warben, er hatte Ihnen den Weg geöffnet und Sie wären zum Ziele gelangt auch ohne ihn. Aber freilich, das hätte Zeit und Mühe gekostet und Sie wollten im Sturm siegen.“

Wolfgang streifte mit einem langen, schweren Blick das erregte Antlitz des Mädchens.

„Ja, ich wollte es!“ sagte er düster. „Aber ich habe auch einen hohen Preis dafür gezahlt, vielleicht – war er zu hoch!“

„Der Preis ist jetzt Ihre Freiheit – einst wird es vielleicht Ihre Ehre sein!“

„Erna!“ Er ballte krampfhaft die Hand. „Hüten Sie sich! Ich ertrage keine Beleidigungen.“

„Ich beleidige nicht, ich spreche nur aus, was Sie sich selbst noch nicht eingestehen. Glauben Sie, daß man sich umsonst einem Manne verbündet, wie mein Onkel es ist? Sie haben noch Ehrgeiz, er hat längst abgeschlossen damit, ihm gilt nur noch der Erwerb. Er hat freilich schon Millionen erworben und das Gold strömt ihm immer noch zu, aber das ist ihm alles nicht genug. All das Große seiner Unternehmungen ist ihm nichts, er zuckt nur die Achseln darüber; Geld sollen sie ihm bringen, und das wird er auch von Ihnen verlangen, wenn er Sie erst ganz in Händen hat. Sie werden nicht mehr schaffen, sondern nur noch erwerben dürfen!“

Wolfgang sah finster zu Boden, er wußte, daß sie die Wahrheit sprach, er kannte den Präsidenten längst von dieser Seite, aber sein Stolz sträubte sich gegen die Rolle, die man ihm dabei zuertheilte.

„Halten Sie mich für so energielos, daß ich meine Selbständigkeit nicht zu wahren weiß?“ fragte er. „Ich habe auch einen Willen und werde ihn nötigenfalls geltend machen, selbst an dieser Stelle.“

[587] „Dann wird man Ihnen ein Entweder – oder stellen und Sie werden sich fügen. Sie haben ihn ja nicht gehen wollen, den einsamen, stolzen Weg, den so viele große Männer gegangen sind, die nichts hatten als ihr Talent und den Glauben an sich selbst. Ich,“ hier brach es wie leidenschaftliche Begeisterung aus den Augen des Mädchens, „ich habe mir immer gedacht, schon das Ringen und Streben müsse ein Glück sein, ein größeres vielleicht als einst das erreichte Ziel. So emporzusteigen aus der Tiefe, mit jedem Schritt, den man vorwärts thut, mit jedem Hinderniß, das man überwindet, die eigene Kraft wachsen zu sehen und endlich droben zu stehen auf der freien Höhe, im Gefühl des selbsterrungenen Sieges. Ich habe das ja so oft gefühlt, wenn ich einen Alpengipfel erstieg, und ich hätte mich nicht emportragen lassen von fremder Hand, um keinen Preis!“

Sie stand vor ihm, fortgerissen von der Erregung des Augenblicks, wieder ganz das freie wilde Kind der Berge, das er einst gefunden hatte an den Abhängen des Wolkenstein, mit den wehenden Locken, stürmisch in der Liebe wie im Haß. Er hatte vereint mit ihr dem Sturme Trotz geboten, er hörte noch ihr übermüthig jubelndes Lachen, mitten in dem Wettergraus, und es war ihm, als sei er damals glücklich gewesen, grenzenlos glücklich, und seitdem niemals wieder!

„Und hätten Sie den Mann lieben können, der so emporsteigt?“ sagte er endlich, aber es lag eine verhaltene Qual in seiner Stimme. „Wären Sie ihm zur Seite geblieben in Mühe und Gefahr, im Sturze vielleicht? Antworten Sie, Erna – ich muß es wissen!“

Erna bebte leise zusammen, aber der Strahl in ihrem Auge erlosch, es ging wie ein Eishauch über ihr Antlitz und eisig klang auch ihre Erwiderung: „Wozu die Frage? Sie kommt zu spät! Ich weiß nur eins: den Mann, der seine Liebe verleugnete und zertrat, um des Geldes willen, das ihm mit der Hand einer Anderen winkte, der es vorzog, sich seine Zukunft zu erkaufen, weil er nicht den Muth hatte, sie zu erkämpfen, den hätte ich nie geliebt – niemals!“

Sie athmete tief auf, als werfe sie mit dem Worte eine Last von sich, und wandte ihm den Rücken. Greif begann plötzlich unruhig zu werden und richtete spürend den Kopf nach dem Walde, er witterte bereits die Zurückkehrenden, deren Tritte den anderen beiden noch unhörbar waren, aber seine Herrin verstand ihn.

„Sie kommen?“ fragte sie halblaut. „Wir wollen Ihnen entgegen gehen, Greif!“

Langsam schritt sie über die Grashalde, auf der schwer und schimmernd der Nachtthau lag. Wolfgang machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten, er verharrte regungslos auf seinem Platze. Das letzte der Bergfeuer sank soeben zusammen, einige Minuten schimmerte es noch auf der Höhe wie ein matter verlöschender Stern, dann verschwand es.

Der Wolkenstein war dagegen völlig klar geworden, das Gewölk, das ihn zuletzt nur noch wie ein schimmernder Nebelduft umgab, schien zu zerfließen und zu zerrinnen in den Mondesstrahlen; klar und leuchtend stand der eisgekrönte Gipfel da. Sie hatte sich entschleiert, die stolze Herrscherin des Gebirges, und thronte nun dort oben in ihrer geisterhaften Schönheit und über ihrem Reiche lag die schweigende geheimnißvolle Mittsommernacht, mit ihrem Geisterweben, wo die versunkenen Schätze heraufsteigen aus der Tiefe und aus Erlösung harren – die uralte, heilige Sonnwendnacht!

(Fortsetzung folgt.)




Deutsche Städtebilder.
Dresden.
Von Dr. Franz Koppel-Ellfeld.       Mit Illustrationen von Olof Winkler.

Umgebung Dresdens den Loschwitzer Bergen zu.

Berühmtheiten müssen sich’s gefallen lassen, immer aufs neue abkonterfeit und besprochen zu werden, heute en face, morgen im Profil; es giebt stets etwas anderes zu loben und zu tadeln. Dresden ist eine Berühmtheit unter den Städten; es ist eine Perle, die im 18. Jahrhundert ihre reiche Rokokofassung erhielt. Noch heute läßt der erste Ueberblick den Fremden erkennen, daß die Natur und August der Starke das Meiste, ja fast alles für Dresden gethan haben; August der Starke und sein Sohn, der in des Vaters Fußstapfen trat. Links der Elbe erhob sich die wunderbare Kuppel der Frauenkirche und der Zwinger wuchs wie ein Märchen aus dem Boden, die Bildwerke Corradinis und Permosers füllten den Großen Garten, dem rechten Ufer gab damals schon das Japanische Palais den eigenartigen Abschluß, die Ritterakademie und das Blockhaus an der alten Brücke schlossen das Uferbild. Die reizvolle katholische Hofkirche und die großartigen Gartenanlagen des Grafen Brühl auf der Festungsterrasse vervollständigten die weltbekannte Vignette, die man das malerische Monogramm von Dresden nennen könnte. Unsere Hauptansicht (S. 584 und S. 585) zeigt diese Vignette von der Albertbrücke aus. Diese Brücke wurde erst vor zehn Jahren dem Verkehr übergeben, aber sie hat rasch zur Entstehung neuer aus Palastreihen sich zusammensetzender Straßen und Aveunen auf beiden Ufern geführt; auch die imposante Terrassenuferstraße mit dem vorliegenden breiten Quai naht ihrer Vollendung; sie wird einen prächtigen Abschluß am Fuß des Belvedere erhalten, wenn erst in einigen Jahren die neue Ringstraße dort, wo jetzt dem alten Elbberg mit seinen Baracken noch eine kurze Galgenfrist gewährt ist, auf die vierte Elbbrücke mündet und zu den projektiven großartigen Staatsgebäuden und Straßenanlagen der Neustadt hinüberführt. Unsere Abbildung zeigt also die altberühmte Vignette Dresdens, wie sie bald nicht mehr sein wird.

Schon ist der Doublettensaal und das charakteristische Café Torneamenti von der Terrasse verschwunden; die neue Welt, die dort erstehen soll, ist zwar noch mit Brettern vernagelt, aber schon sieht der fertiggestellte Umbau des Zeughauses der Terrasse von der Stadtseite aus so zu sagen über die Achsel; bald werden die Kunstakademie und das Kunstausstellungsgebäude sich erheben. Das war das rasch sich zu unvergänglicher Schönheit entfaltende Dresden, von welchem Loen im Jahr 1718 geschrieben hat: „Es schien zu meiner Zeit ein recht bezaubertes Land, welches sogar die Träume der alten Poeten übertraf. Hier giebt es immer

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Maskeraden, Helden- und Liebesgeschichten, verirrte Ritter, Abenteuer, Wirthschaften, Jagden, Schützen- und Schäferspiele, Kriegs- und Friedensaufzüge, Ceremonien, Grimassen, schöne Raritäten; kurz alles spielt; man sieht zu, man spielt mit, man wird selbst gespielt, ludendo ludimur.“ Und von demselben Dresden, das sich dem Lebemann so verführerisch darstellte, schrieb etwas später der ernste Winckelmann: „ Die reinsten Quellen der Kunst sind geöffnet; glücklich ist, wer sie findet und schmeckt. Diese Quellen suchen, heißt nach Athen reisen, und Dresden wird nunmehr Athen für Künstler.“ Dem Kavalier und vornehmen Abenteurer erschien dasselbe Dresden als das deutsche Versailles und dem sinnigen Poeten wie Herder, däuchte es ein deutsches Florenz. Schrieb er doch in der „Adrastea“:

„Blühe, deutsches Florenz, mit deinen Schätzen der Kunstwelt!
     Stille gesichert sei, Dresden-Olympia, uns!“

Und heute weiß jeder halbwegs Gebildete in allen fünf Welttheilen, daß Dresden gemeint ist, wenn man von „Elbflorenz“ spricht. Nicht das leibliche, das geistige Auge nur konnte diesen Vergleich schaffen. In Beziehung auf ihre eigenartigen äußern Reize können Florenz und Dresden nur mit sich selbst verglichen werden und haben gar keine Aehnlichkeit miteinander. Es ist ein himmelweit verschiedener Blick, der von San Miniato und der von der Brühlschen Terrasse; aber überraschend ist jeder und wohl geeignet, sich dem Beschauer unvergeßlich einzuprägen. Der reizende Bogen des Elbstroms mit seinen zahlreichen Schiffen, den belebten Brücken, den eigenartigen Bauten, den villengeschmückten Gärten und Höhen elbaufwärts über Loschwitz und den Burgberg bis zum Weißen Hirsch und thalwärts bis zu den violettschimmernden steilen Rebenhügeln der Lößnitz, das ist ein Rundbild, auf welchem Architektur und Landschaft, laute großstädtische Pracht und ruhige landschaftliche Schönheit miteinander wetteifern, wie in gleicher harmonischer Vereinigung nicht leicht an irgend einem anderen Punkt der Welt. So stellt es dem Rundschau haltenden Auge im großen und ganzen sich dar; im einzelnen freilich und als Detail betrachtet erscheint manches kleinlich, störend und geradezu häßlich. So das stellenweise noch sehr vernachlässigte Ufer, der Pontonschuppen, fiskalische und andere unansehnliche Gebäudekomplexe auf der Neustädter Seite, so das sogenannte italienische Dörfchen, das spießbürgerliche Hôtel Bellevue, das Finanzministerium und die baufälligen Baracken des Elbbergs aus dem linken Ufer. Ja, die Brühlsche Terrasse selbst rechtfertigt den Weltruf, den sie hat, höchstens als origineller Aussichtspunkt auf Stadt und Land; Gebäude, ihrer würdig und von monumentaler Schönheit, sind unter Lipsius’ Leitung dermalen erst im Bau begriffen, und das weltbekannte Belvedere, das Rendez-vous für alle Welt aus aller Welt, nimmt sich zwar ganz einzig aus, wenn es bei Nacht im Glanz seiner pompösen Beleuchtung weit in das Elbthal hinausstrahlt und, wie es unsere Abbildung zeigt, überdies noch die vom Vollmond beleuchtete Kuppel der Frauenkirche zum Hintergrund hat; bei Tag aber sieht es dafür wie eine richtige Theaterkoulisse nach gar nichts aus und nur die gediegene Fiebigersche Bewirthschaftung und die guten Konzerte der Hauskapelle entschädigen den Fremden einigermaßen für die mit der Vorstellung des Weltrestaurants vom Belvedere meistentheils verbundene Enttäuschung. Welches bunte Bild mag sich übrigens die Phantasie des Fremden von dem im Mittelpunkt des Dresdener Verkehrs liegenden „italienischen Dörfchen“ entwerfen, und wie nüchtern muß ihm dasselbe in Wirklichkeit daneben erscheinen! Unsere Abbildung bemüht sich, auch dieses über Verdienst bekannte und populäre Restaurant von seiner vortheilhaftesten Seite zu zeigen. Auch hier spielt die Kuppel der Frauenkirche wieder eine Hauptrolle am Nachthimmel. Sie erscheint aber nicht bloß immer interessant, sie hat auch eine sehr merkwürdige Baugeschichte. Georg Bähr, ihr Schöpfer, war ein einfaches sächsisches Dorfkind, welches im Jahr 1666 zu Fürstenwalde im Erzgebirge das Licht der Welt erblickte. Er ist nie außer Lands gekommen und hat als des „Raths Zimmermeister“ zu Dresden den genialen Baugedanken, der ihn neben Michel Angelo und Christopher Wren stellt, ganz aus sich selbst geschöpft. Mit der zähen Energie eines Autodidakten hat er den Kampf eines echten Künstlerwollens gegen die fachgenössische Beschränktheit sein Leben lang führen müssen. Im Jahr 1736 schloß der Greis von 70 Jahren die Kuppel; man zweifelte an der Haltbarkeit derselben; der Rath forderte wiederholt Gutachten und specielle Risse für die Laterne. Als dann der hochbetagte Meister durch einen Sturz vom Baugerüst sein Leben einbüßte (26. März 1738), bildete sich die Sage, er habe das Martyrium seines Lebens enden wollen und freiwillig den Tod gesucht. Sein heftigster Gegner war Chiareri, der Erbauer der katholischen [589] Hofkirche. Unsere Abbildung (auf dem Tableau rechts oben) zeigt die letztere von der Augustusbrücke aus; sie wirkt besonders durch die Schönheit des luftigen und elastischen Aufbaus und die vollendete Harmonie aller Verhältnisse. Achtundsiebzig Figuren von Heiligen, welche die Balustraden schmücken, vollenden die reizende malerische Wirkung des Ganzen; es sind perspektivische Kunstwerke, man kann sagen optische Kunststücke in ihrer Art.

An Thürmen ist bekanntlich Dresden nicht reich; dagegen leidet es keinen Mangel an schönen wasserreichen Brunnen. Der berühmte Marcolinische ist sozusagen die Fontana Trevi der Stadt; der wie eine gelungene Illustration zu Scheffel anmuthende Gänsedieb-Brunnen von Rob. Dietz könnte in Nürnberg stehen. Der sogenannte „Cholerabrunnen“ von Semper strahlt nach soeben vollendeter Reparatur in erneutem Glanz und – anderer nicht zu gedenken – der jüngste von allen, last not least ist der Brunnen mit der Bronzefigur des heiligen Georg von Altmeister Hähnel, seitwärts der Sophienkirche. Aus unserer Abbildung (S. 590) kann der Leser die Stilreinheit und Formenschönheit erkennen, die Hähnel eigen ist, sowie namentlich auch die klassische Ruhe, deren großartiges Gepräge er selbst einem so romantisch bewegten Stoff wie dem des Drachentödters in so gedrängter Darstellung aufzudrücken versteht. Oben links auf unserem großen Bilde sehen wir die Gemäldegalerie oder das Museum, mit welchem Semper in einem genialen Wurf den Renaissancestil der Neuzeit, der für Dresden und anderwärts maßgebend wurde, begründet. Zugleich schuf Sempers Meisterhand damit einen echt künstlerischen Abschluß für das wundersame und sphinxartige Fragment, das phantastischste Bauwerk Augusts des Starken, den Zwinger.

Die Abbildung zeigt dasselbe vom Hofe aus – mit Recht; denn der ganze Zwinger (vom Zwingergarten so genannt) war nur als Vorhof des nie zur Ausführung gekommenen Prachtschlosses gedacht, welches seine kolossale Front mit Terrassen gegen die Elbe kehren sollte. Der Zwinger ist ein Unicum, mit keinem Bauwerk der Welt vergleichbar. Eine berauschende Sinnlichkeit weht uns aus seiner Formenfülle entgegen, die, ein Schrecken aller hochweisen Kunstpedanten, leicht, kühn, frivol, aber immer elegant, den Barockstil in grandioser Ueppigkeit auf die Spitze treibt, im Gegensatz zu aller Steifheit flüssig und wie Champagnerschaum zu moussiren scheint. Der Erbauer, Pöppelmann, hat seinem Fürsten ein prägnant charakteristisches, unsterbliches Denkmal gesetzt, „un monument éternel de sa parfaite connaissance dans les beaux Arts“, wie es in einem hohen Dankschreiben ausgedrückt ist. Aber abgesehen von allem Fremdartigen und unbeschadet der Eigenthümlichkeiten des Barockstils hatte sich am Zwinger eine ganz originale sächsische Kunst auszubilden begonnen – wie schade, daß es dabei sein Bewenden haben sollte! Was hätte aus Dresden nach solchen genialen Anläufen werden können! August der Starke war sicherlich kein konstitutioneller Fürst und Volksbeglücker im modernen Sinne des Wortes, aber heute noch sollte kein Dresdener an seiner Statue vorübergehen, ohne den Hut abzunehmen.

Dieselbe steht (vergl. das große Bild) vor dem Rathhaus in Neustadt am Eingange der Hauptallee. Das etwas plumpe Reiterstandbild, von dem Augsburger Kupferschmied und Hauptmann Ludwig Wiedemann im Auftrag Friedrich Augusts II. gefertigt, ist in Kupfer getrieben, schwer vergoldet und stellt den Herrscher in römischer Tracht dar, mit frappanter Aehnlichkeit der Gesichtszüge, wie man sagt.

Das stimmungsvolle Bild des Zwingerteichs (S. 585 rechts unten) zeigt uns das neue Hoftheater Sempers leider nur von seiner unvortheilhaftesten Seite aus, dem sogenannten „Kasten“ über der Bühne; unsere Leser aber wissen schon aus dem Artikel „Dresdener Oper“ (in Nr. 52 des Jahrganges 1887), daß es eines der schönsten Opernhäuser der Welt und gegenwärtig unter der musikalischen Leitung des genialen Ernst Schuch die hervorragendste Pflanzstätte des neuen deutschen Opernstiles ist. Zu dem konzentrirten inneren Dresden um den Theaterplatz herum gehört auch die ionisch-anmuthige Hauptwache, das Schloß mit seinen romantischen alterthümlichen Thurmhöfen und dem angrenzenden Stallgebäude (die Abbildung links unten im Tableau zeigt den zu Ringelrennen und Palliumstechen dienenden „Stallhof“), dessen Errichtung den Haus- und Landzeugmeister Paul Püchner in ganz Europa berühmt gemacht hat. Der Arkadenhof, theils von Epheu überwuchert, ist von stimmungsvollster Wirkung. Die Freitreppe, welche zur Terrasse führt (in der Abbildung dicht darüber), wird von vier vergoldeten Figurengruppen geschmückt. Es sind die vier Tageszeiten; Johannes Schilling, der sich damals erst durch die Demiani-Statue in Görlitz bekannt gemacht hatte, führte sie auf höheren Befehl aus. Die Gefahr, an Michel Angelo zu erinnern, hat er glücklich umgangen, die Aufgabe mit Geschick gelöst und poetisch liebliche, fein empfundene Figuren geschaffen. Das dem deutschen Klima gegenüber unzulängliche Material des Sandsteines hat zu der geschmacklosen Vergoldung geführt.

Aus Dresdens bester Zeit stammen die großartigen Anlagen des Großen Gartens mit dem Palais im italienischen Villen-Renaissancestil (siehe die Abbildungen S. 584 u. 585). In dem letzteren sind heute, wie im Thorwaldsen-Museum zu Kopenhagen des dänischen, so hier des sächsischen Bildners Rietschel sämmtliche Werke pietätvoll zur Betrachtung aufgestellt. Das Palais ist besser erhalten als irgend ein anderes Bauwerk früherer Zeit;

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Umgebung Dresdens unterhalb der Marienbrücke.

gegen den Ruß, der alle Architektur zu Dresden auffrißt, hat der herrliche Park einen schützenden Wall gebildet. Der „Große Garten“ mit weiten Teichanlagen diente den üppigsten Sommerfesten; auch das, Jagdschloß zu Moritzburg erinnert an die luxuriösen Gelage Augusts des Starken; die Abbildung (S. 589) zeigt seine aparte Lage mitten im See, auf welchem der lebenstrunkene Monarch Seegefechte mit venetianischen Gondelfesten abwechseln ließ. Das Bildchen darunter zeigt den Sommersitz des regierenden Königspaares, Schloß Pillnitz an der Elbe, ein etwas wunderliches Gemisch von chinesischer, japanischer und italienischer Bauart. Die obenstehende Abbildung deutet den idyllischen, stellenweise niederländischen Charakter (unterhalb der Marienbrücke) der nächsten Umgebungen von Dresden an. Dieser Charakter ändert sich jedoch von Tag zu Tag mehr, indem namentlich im Westen, also unterhalb der Elbe, ein Fabrik- und Industrieviertel, eine Arbeiterstadt heranzuwachsen scheint. Dresden hat wohl noch immer seinen vornehmen Charakter; es ist die bevorzugteste Stadt der Fremden im Deutschen Reich; Engländer, Amerikaner und Russen bilden hier starke Kolonien, geben ganzen Stadttheilen den Namen und haben, wie unsere Abbildungen zeigen, ihre eigenen Kirchen; Dresden ist auch noch immer die Stadt der Schulen und Pensionate; es ist mit seinen herrlichen Umgebungen und gartengeschmückten Villenvorstädten das Eldorado der Rentiers und auf Pension gesetzten Familien und hat noch vielfach den Charakter eines großen fashionabeln Weltbadeortes; aber der Ruß, der von den vielen Schloten des Plauenschen Grundes und den Westvorstädten als eine wahre Plage über Dresden sich ergießt, die entwickelte Kettenschleppschifffahrt auf der Elbe, die mit ihren dichten Rauchwolken und dem Getöse der Nebelpfeife die Besucher der Terrasse, des Linkeschen Bades oder des Waldschlößchens mitten in der schönsten Bewunderung stört, geben fühlbar zu erkennen, daß Dresden bereits ein wichtiger Schifffahrtsplatz, eine ansehnliche Industriestadt geworden ist. Die sächsische Residenz befindet sich gegenwärtig gleich andern Städten im Reich im Uebergangsprozeß von der großen Stadt zur Großstadt.

Von innen heraus offenbart sich dieser Fortschritt in den grandiosen Durchbrüchen vom Altmarkt zur Ringstraße, von der Moritzstraße über den Johannisplatz zum Großen Garten, sowie in der Umbildung von unansehnlichen Häusern der Altstadt zu großstädtischen Palästen, Magazinen und Kaufhallen. Großartige öffentliche Bauunternehmungen sind bereits im Werke, wie auf der Terrasse, die Erschließung der Ringstraße, oder stehen nächstens bevor, wie die vierte Brücke, die Bebauung des weitschichtigen fiskalischen Areals der Neustadt mit öffentlichen Prachtbauten und imposanten Quai- und Straßenanlagen. Möge die Aera der Durchbrüche der freien Entwickelung auf allen Lebensgebieten eine Gasse bahnen!

Der Georgsbrunnen an der Sophienkirche in Dresden.

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Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
In der Schutzhütte.
Novellenkranz von Johannes Proelß.
(Fortsetzung.)
5. Der Bötzler.

Die Geschichte der fröhlichen Malersleute hatte in der Gesellschaft die heiterste Stimmung geweckt. Professor Schröder brachte ein Hoch auf Erzähler und Erzählerin aus, die sich beide so treulich beigestanden, und herzhaft stimmten die anderen ein; auch Herr und Frau Breitinger selber, welche sich gegenseitig hochleben ließen. Man schien das Unwetter draußen ganz vergessen zu haben; sogar Mr. Whitfield hatte zur Zeit kein Ohr für die heroischen Fanfaren des Sturmwinds; und der Vorschlag des redegewandten Astronomen, nun auf das Wohl des verehrten Vorsitzenden zu trinken, dem man die Anregung zu diesem improvisirten Dekamerone der Reiseabenteuer verdanke, fand ebenfalls freudigen Widerhall. Doch mit verbindlichem Lächeln lehnte der also Geehrte die ihm nachgerühmten Verdienste ab: der Dank gebühre dem braven Bärbeli, das durch die Erwähnung ihrer alten Heimathssagen den Anstoß zu dem Versuche gegeben und nun schon die dritte Geschichte wohlaufmerkend mit angehört habe, ohne sich in ihrer Stickereiarbeit stören zu lassen, aber auch ohne das ihrerseits im Anfang gegebene Versprechen einzulösen. Das Bärbeli schaute von ihrer Arbeit auf und schickte sich eben – nicht ohne zögernde Verlegenheit – an, auf die freundliche Neckerei zu antworten, als plötzlich von unten her die Stille unterbrochen wurde.

Die Führer in der großen Küche des Alpwirths, dieser selbst mit den Seinen, schienen von dem frohen Lärm in der Gaststube angesteckt worden zu sein. Sie hatten sich zu einem gemeinsamen Cantus vereinigt; laut und vielstimmig klang es herauf in einer seltsamen Melodei – langgezogene, tiefe Gurgeltöne in melancholischem Rhythmus und wieder hellaufjuchzende Laute aus höchster Tonlage. Der Appenzeller Kuhreigen, jenes urwüchsig naive Loblied des Sennen auf seine „Küh – i – a“ scholl durch den Raum. Der Wortlaut des Textes ließ sich nicht verstehen, nur die langgezogenen Jodler – „Wendria – wendria“ und „durididi duida – duida du“ – waren deutlich vernehmbar. Der Professor lachte vor sich hin, als wieder Stille eintrat. „Wissen auch die Herrschaften,“ frug er, „was diesem Schlußjodler für ein Text voranging? Man sollte es nicht meinen, wie viel Pessimismus in dieser Volkspoesie der Berge enthalten ist. Nachdem in dem Liede der Senn all seine Kühe mit Namen aufgezählt – die geschecket, die geflecket, die listig, die schlau – die langbäuri, die langlänri, ’s halböhrli und ’s möhrli – ist das Fazit seiner Betrachtung, daß es keine Menschen gäbe, die besser wären als seine Kühe, und weiter singt er:

‚Guot wenn ma ledig ist,
Ma hed kä Kommer,
Sobald ma g’wibet het,
So chommt der Jommer …‘

Gelt, Bärbeli – so heißt es doch? … Schämt Ihr Euch nicht, Ihr Leute, hier in Euren schönen Bergen – so schlimm vom Heirathen zu denken? Nach diesen Versen muß man ja meinen, Ihr Appenzeller bliebet am liebsten alle ledig und das sei die wahre Seligkeit. Es wäre Euer Ländli dann freilich der einzige Fleck Erde, wo die Mädel so dächten. Sag mal, Bärbeli, wollt Ihr wirklich nichts vom Heirathen wissen, weil der ‚Jommer chommt‘, ‚sobald ma g’wibet hat‘?“

„O, das ist nur so eine Ruhmredigkeit von den Bub’n, um uns Mädli zu reizen,“ sagte, mit Ernst auf die Frage eingehend, das ehrliche Sennenkind.

„Ja, ja, die bösen Bub’n. In ihren Liedern prahlen sie, die Mädchen wären ihnen völlig gleichgültig, und im Grunde sind sie bis über die Ohren verliebt, entweder in alle Schönen oder, wenn’s gut geht, in eine.“

„Wohl, wohl,“ seufzte die Stickerin treuherzig.

„Sag mal, Bärbeli, Du hast wohl auch schon einen Schatz?“ fragte aufmunternd der Maler.

Das Mädchen schlug ihre Augen nieder und strich sich verlegen über die Schürze.

Der lustige Astronom ersparte ihr die Antwort. „Natürlich hat sie einen,“ rief er zuversichtlich. „Dafür gehört sie zur Meglisalp und die steht unter einem der Liebe günstigen Sterne! Ist ihr Name, der soviel wie Mägdelisalp bedeutet, doch innig verknüpft mit einer Sage, welche von einem gar treuen Liebespaar handelt, dem selbst der Teufel nichts anhaben konnte. Das habe ich vorhin hier in meinem Buche gelesen, das von dem Appenzeller Ländli ausführlich handelt, und ich schlage vor, daß das Bärbeli uns jetzt – wenn sie uns nicht auch ihr schönstes Reiseabenteuer erzählen will – die Geschichte vom Bötzler erzählt; dies ist der Titel der Sage der Meglisalpe.“

„Eigentlich steht freilich das Reiseerlebniß auf der Tagesordnung,“ wandte Professor Schröder ein.

Das natürliche Kind, welches von ihrer Strickereischule in Appenzell und der vielfachen Berührung mit dem Touristenstrom her eine dialektfreiere Sprache führte, als sonst die Sennentöchter dieser Gegend, welche ihr Leben ausschließlich dem Hirtenberuf der Väter widmen, rückte sich zurecht und sagte. „Ich hab’ wohl zum Theil ganz gut verstanden, was die Herren und die Frau Malerin Schönes erzählt haben – alles freilich nicht –; aber davon, was Sie die Schönheit der Natur und den ,Wanderzauber‘ nennen, davon kann unsereins schon gar nicht mitreden. Wer hier zwischen den Bergen immer wohnt, Sommers und Winters, der kann nur schwer begreifen, was die Herren und gar die Damen aus den schönen Städten hier heraus treibt und daß sie ein Pläsir darin finden, die schlechten Wege herauf und hinunter zu kraxeln. Ja, wenn’s immer schön Wetter wär! Ich für mein Theil blieb’ lieber immer in der Stadt mit den schönen Häusern. War auch schon drin. Unten in St. Gallen und als im Sommer vor zwei Jahren die Winkelriedfeier war, zu der das ganze Schweizervolk nach Sempach gewallfahrtet ist, gar in Luzern und in Zürich. Da ist’s schön. Aber lieb – das ist wahr – hab auch ich unsre Berge und so schlimm ist’s mit uns auch nicht bestellt, als Sie gemeint haben von wegen der Worte im Kuhreigen. So wüst und bös sind auch unsre Bub’n nicht, wie man danach denken könnt’, und dafür zum Beweis ist’s mir schon recht, wenn ich die Geschichte vom Bötzler erzähle. Müßt’s mich aber nicht auslachen, darf ich bitten.“

„Bravo, Bärbeli! – ’s Bärbeli hat das Wort.“

„Hier oben in der Meglisalp, lange vor der Zeit, daß für die durchziehenden Fremden hier Wirthschaft geführt wird, als noch Geister in den Bergen sichtbar hausten und die armen Sennen neckten und schreckten, hat das Sennthum ein Mädli geführt, das weitum für die Schönste galt. Der Hirt einer Nachbaralpe, ein gar frischer und fester Bub, war ihr Schatz. Wenn es Abend war, kamen die beiden vor der Hütte zusammen und unterhielten sich wie zwei Liebesleute, doch in allen Ehren. Als der Senn einst von anderen Hirten, die von Treue und Tugend sehr gering dachten, aufgezogen wurde, weil er an die Treue seiner Liebsten glaubte, ward er sehr angebracht und verschwor sich, sie auf immer demjenigen abtreten zu wollen, der auch nur den Schein einer Untreue ihr nachweisen könne. An einem der nächsten Abende geschah es, daß der junge Senn sich ganz unvermuthet abgehalten fand, zum Stelldichein zu erscheinen. Die schöne Sennin harrte seiner mit Sehnsucht, aber vergebens. Sie zog sich in ihre Hütte zurück voll Mißmuth über das Ausbleiben des Geliebten. Da knarrte auf einmal die Thür – es trat ein Mann herein und setzte sich neben sie nieder. Obgleich sie die Gestalt infolge der herrschenden Dämmerung nicht recht erkennen konnte, hielt sie den Ankömmling dem Klang der Stimme nach für den Ersehnten und die gewohnte Unterhaltung begann. Da sie anfangs wegen seines Zuspätkommens schmollte und das Gesicht ihm nicht zuwandte, wurde sie ihres Irrthums nicht gewahr. Als aber die Liebkosungen des Mannes bald weit zudringlicher wurden, als es dem bisherigen Verkehr der beiden Liebenden entsprach, und sie sich unter Sträuben seiner Umarmung entzog, merkte sie im Umwenden, daß es ein Fremder war, und zugleich entdeckte sie, daß derselbe einen Geißfuß hatte. Es ward ihr heiß und kalt bei diesem Anblick, doch fand sie bald ihre Fassung wieder und sagte beherzt. ‚Satan, Du bist ein Betrüger, über mich hast Du keine Gewalt.‘ Der Teufel aber erwiderte: ‚Dein Liebhaber hat unlängst sich verschworen, seine Braut Dem abzutreten, der sie dahin zu bringen

[592] vermöchte, auch nur einen Schein von Untreue zu zeigen, und das hast Du gethan, indem Du mich bei Dir angenommen hast. Nun bleibst Du unabänderlich solange in meiner Macht, bis Du mir meinen wahren Namen sagen kannst.‘ Als aber am nächsten Abend der wahre Liebhaber zu ihr kam, fand er sie in großen Aengsten und sie erzählte ihm alles, was sich zugetragen. Betrübt und verzweifelt sich der Uebermacht des Bösen, der ihn um sein Glück bringen wollte, nicht gewachsen fühlend, strich der Senn, nachdem er die Sennin verlassen, im Lichte des Mondscheins in den Bergen umher. So kam er auch auf die höchste Alpe des nächsten Berges, der jetzt der ‚Bötzler‘ heißt. Da sah er ein offenes Feuer und einen Sennen mit einem Geißfuß, der um dasselbe mit übermütigen Gebärden tanzte. Als er näher trat und hinter einer Legföhre knieend hinlauschte, hörte er, wie der Böse, den er gar wohl erkannt hatte, die Worte sang:

‚Wenn mi Schätzle thät wössa,
Daß i Bötzler heiß,
Wär’s vorbei mit dem chössa –
Guot, daß sie’s nöt weiß.‘

Flugs eilte er am andern Morgen noch vor Beginn der Arbeit zu seinem Schatz, erzählte ihm sein Abenteuer und nannte den Namen, den er gehört. Als dann am Abend der Satan erst vorsichtig die Hütte umschlich und, da er die Sennin allein in dieser hantieren sah, keck zu ihr eintrat, da scholl ihm aus ihrem Munde der Gruß entgegen: ‚Geh nur, Bötzler, ich kenne Dich!‘ Kaum war das Wort ihren Lippen entflohen, so machte der unheimliche Gast einen Luftsprung zur Thür hinaus, wobei er dem Meidli mit seinem Geißfuß einen derben Schlag ins Gesicht versetzte, so daß sie ohnmächtig niedersank; als sie aber erwachte, lag sie in den Armen ihres treuen Sennen. Von dieser Zeit an heißt der Berg, auf welchem der Böse jenen Vers sang, der ‚Bötzler‘. Die Sennin von der Meglisalp und ihr Schatz aber wurden bald danach ein glückliches Paar.“

Das Bärbeli schloß ihre mit großer Schlichtheit vorgetragene Erzählung, indem sie ohne weitere Umstände ihre Stickarbeit wieder aufnahm.

„Eine wurzelechte Sage, völlig der Gegend entwachsen, für deren einfache Verhältnisse und einsame Menschen sie sehr bezeichnend ist,“ sagte mehr zu sich selbst als zu den anderen der gelehrte Litteraturkenner, welcher dem Mädchen am nächsten saß. „Um so auffallender ist die Verwandtschaft des einen Motivs, daß die Sennin den Namen des geheimnißvollen Gastes errathen muß, mit demjenigen, auf das sich unser deutsches Märchen vom Rumpelstilzchen gründet… Auf jeden Fall verdient unser braves Bärbeli unser aller Dank für die Mittheilung; möge ihre Treue von solchen Anfechtungen verschont bleiben, dafür aber einen gleichen Lohn finden wie die Sennin der Sage vom Bötzler!“

„Und möge sich ihr Schatz auch jederzeit so frei von Eifersucht erweisen wie der Senn der Geschichte,‘ fügte neckend der Astronom dem Glückwunsche bei.

„Aber, Herr Doktor,“ unterbrach ihn da mitleidigen Tones die bisher so schweigsame Frau Kurz, „bringen Sie doch das liebe Kind nicht in Verlegenheit; sehen Sie nur, wie sie roth wird.“

„Das ist nur ein Beweis, wie sehr meine Vermuthung berechtigt ist, daß heutzutage auch in diesen entlegenen Revieren der Glaube an den Teufel verschwunden ist und daß so ein warmblütiger Bursche von heute, wenn er hörte, ein Mann sei bei seiner Liebsten gewesen, es habe sich aber herausgestellt, daß es der Satan selbst in höchsteigener Person war, diesem Berichte mit eifersüchtigem Mißtrauen begegnen würde.“

Die Stickerin legte erregt die Arbeit nieder, indem sie sinnend vor sich hinblickte.

„Es ist aber doch der Teufel, der auch noch heute sich neidisch zwischen liebende Herzen drängt, wenn er auch nimmer sichtbar mehr kommt,“ sagte sie dann.

„Wie meinst Du das, Bärbeli?“ fragte wiederum mit einem Lächeln warmen Wohlwollens die Frau des Fabrikanten, welcher, über diese Initiative seiner Gattin sichtlich erfreut, näher rückte, während er mit Behagen den blauen Rauch seiner Havanna kunstgerecht in Ringen vor sich hinblies.

„Ei, ich und mein Schatz wären beinah aus einander gekommen, ganz unnöthig, nur weil er eifersüchtig war. Die Eifersucht, das ist eben der Böse …, der Bötzler. Und die er heimsucht, wissen auch jetzt nicht um den Betrug, bis ihnen die Augen aufgehen.“

„Das mußt Du uns erzählen“ mahnte nun der Professor. „Wenn auch das Reisen keine Rolle dabei spielen sollte, so ist’s doch sicher ein Erlebniß, das hier in den Bergen spielt, die wir Städter nur vom Reisen her kennen.“

„Wohl ist auch das Reisen daran betheiligt,“ erwiderte eifrig das Mädchen. „Wenn die fremden Gäste, die auf ihrer Reise den Säntis besteigen, hier nicht vorüberkämen und in der Meglisalp einkehrten, wären wir beide nie uneins geworden.“

„O weh,“ scherzte der Maler, „so sind wir eigentlich sämmtlich Mitschuldige!“

„So ist es nicht gemeint,“ fuhr das Mädchen fort, ohne sich in ihrem Ernst stören zu lassen. „Und dann, was ich gleich jetzt sagen will, dem Reisen verdanken wir auch unser Glück, unsere schönsten Stunden.“

„Aha, das ist Wasser auf unsere Mühle! Aber nun wollen wir alle fein zuhören.“

Der Professor hätte diese Mahnung kaum nöthig gehabt, so andächtig lauschten bereits alle.

„Mein Schatz ist auf der anderen Seite des Säntis daheim, im Toggenburgischen. Sein Vater war ein Arbeiter in der großen Rothfärberei zu Ebnat-Kappel; auch er war als Knabe mit in der Fabrik beschäftigt, dann aber wurde er Schmied, und damals, als ich ihn kennen lernte. war er Gesell in der Schmiede von Neu St. Johann, das nur eine Stunde vom südlichen Fuße des Säntis gelegen ist. Es war am Sonntag nach Jakobi vor zwei Jahren. Ich war mit meinen Leuten zum großen Schwingfest aus die Bottersalp gezogen, welche in der Nähe des Krätzernwaldpasses grade in der Mitte zwischen unserem Weißbad und dem Rietbad der Toggenburger liegt. Dieses Schwingfest wird alle Jahre abgehalten; die kräftigsten und schönsten Sennen des Gebirgs strömen dann zusammen, um im Schwingkampf ihre Kräfte zu messen. Ich war damals noch ein halbes Kind und bewunderte gar sehr die Sieger; am allerbesten von ihnen gefiel mir aber der St. Johanner Schmied-Jakob. Der stolze Bub mochte dies wohl bemerkt haben, denn als es nachher aus Tanzen ging, kam er gar bald zu mir, als ob sich das von selbst verstünde, und holte mich zum Tanze, und als er dann mich im Kreise drehte, während ich, wie es sich gehört, meine Hände auf seine Schultern gelegt hielt und ihm grad ins Gesicht sehen mußte, da war mir’s, als versicherten mir seine Augen, daß er nur um mir zu gefallen seinen Gegner vorhin so mächtig geworfen habe. Später hat er mir’s auch mündlich gesagt, und als es ans Scheiden ging, da waren wir einig, daß von nun an eins dem andern sein Schatz sei.

Leider hatten wir wenig Aussichten, bald zu heirathen. Sein Vater war arm und er hatte auch noch weit hin, um sein Schmiedhandwerk selbständig zu betreiben. Auch sieht man’s bei uns nicht gern, wenn eine Innerrhoderin über die Grenze heirathet. So mußten wir unseren Verspruch geheim halten. Aber ein paar Zusammenkünfte mittenwegs auf den Pfaden zum Säntishaus machten wir doch möglich und bei unserer Alpstubeten im Herbst war auch er da und tanzte von allen am schönsten. Was mir aber noch ganz besonders gefiel, das war seine Stärke, mit der er es vor den andern zu verbergen vermochte, wie sehr er mich lieb hatte. Und doch stand uns der Abschied für die lange Winterszeit bevor. Als wir uns dann heimlich noch einmal trafen, da spürte ich’s wohl, welche Anstrengung ihm diese Selbstbeherrschung gekostet haben müsse. Ich wußte auch aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, seinem Schatz ein fremdthuendes Gesicht zu machen. Und nun einen ganzen Winter lang sich nicht sehen sollen – es kam uns hart an.

Statt daß aber dann das Wiedersehen im Frühjahr nach so langer Trennung um so fröhlicher gewesen wäre, brachte er aus seiner schwarzen Schmiede in die hellen Berge ein mißmuthig Herz mit. An den langen Winterabenden, wo die Burschen, die im Sommer den Fremden als Führer auf den Säntis und zum hohen Kamorn dienen, müßig im Wirthshaus sitzen, hatte er allerhand dummes Gerede gehört, wie die Fremden in den Gasthäusern und Schutzhütten den Mädlen schön thäten und diese nicht spröde wären, sondern sich noch etwas drauf einbildeten, wenn so ein Städtischer ihnen den Kopf verdrehe. Ich suchte ihn zu beruhigen. Es sei nur in Ordnung, daß wir den Gästen,

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Neckereien.
Nach dem Oelgemälde von Hugo Kaufmann.

[594] die wir zu bedienen haben, auch ein freundlich Gesicht machten, er solle sich keine so törichten Sachen einbilden: wegen meiner – so könnten mir hundert Herren an einem Tage schön thun und ich würde noch keine Minute in meiner Treue wankend werden. Da sei Gott vor! … Er sprach zwar bei jenem ersten Wiedersehen nicht mehr davon und unterdrückte sein Mißtrauen, aber der einmal rege Argwohn in seiner Seele war nur dem Scheine nach beseitigt.

Nun traf es sich vorm Jahre, daß schon zeitlich im Sommer ein Herr drunten im Weißbad Wohnung nahm, der von der dort gebotenen Molkenkur sehr wenig wissen wollte, desto mehr aber von den alten Ueberlieferungen in Haus und Gerät, Sprache und Brauch, wie sie in unseren Appenzeller Gebirgsthälern sich erhalten haben. Es war einer, die so Bücher schreiben, wie dort eins auf dem Tisch liegt. Er sprach immer von der ‚Kultur’– das wär’ sein Fach, sagte er. Er hatte eine Brille auf der Nase, wie all die gelehrten Herren, und dann frug er zu viel – wie ein kleines Kind, das bei allem ‚warum denn’ und ,woher denn’ fragt, sonst aber war’s ein netter und honetter Mann, auch noch nicht alt und zu einem guten Scherz aufgelegt. Nun war meine Großmutter unten in Schwendi besonders angesehen, weil sie so viel wußte, was früher in unserem Ländli sich zugetragen, auch die Sagen und Lieder und die Bedeutung von so manchem Brauch und Geräth, an die heutzutag eben nur noch die ganz alten Leute denken.

Von dieser Frau hatte der Herr von einem seiner Lehrer in Zürich, einem Professor an der Universität, der sich auch mit solchen Dingen abgab, gehört, und so war er denn sehr betrübt, daß sie schon todt war. Mich hatte die Ahn immer besonders lieb gehabt, weil ich ihren Geschichten gern zugehört hatte, auch mir manches vermacht von alten Sachen, namentlich ihren vollständigen Sonntagsstaat, um den mich seitdem viele beneiden, denn jetzt werden all die Kettchen und Spangen, die Haarnadeln und die Ohrgehänge, die Plättlikette und das Halsnuster, die Schürzrose und die Schluttenketteli lange nicht mehr so schön und gediegen gemacht.

Von alledem hörte der studirte Herr und kam nun eigens zu uns herauf, um mich recht nach Herzenslust auszufragen. Es gefiel ihm hier oben, und so ließ er sich’s bei uns gefallen, als ob er’s nicht anders gewohnt sei. Wir alle hatten ihn gern, denn es freut unsereinen doch auch, wenn ein Fremder gar so viel Theilnahme für alles Heimliche hat, und so lästig mir’s mitunter wegen der darüber versäumten Arbeit war, gab ich ihm redlich Bescheid über alles, wonach er mich fragte, soweit ich dies eben konnte. Ein ganz besonderes Interesse hatte er auch für alles, was ihm an unserer Art zu sprechen als sonderbar auffiel: er nannte das Dialektforschung. Und daran lag’s.

Weiß noch heute nicht, wer’s dem Jakob gesteckt hatte – es verkehren ja so viele Führer hier, auch die von der Toggenburger Seite kommen gern einmal vor dem Rückweg zu uns herunter – genug, ihm war gesagt worden, daß ein Fremder, der noch jung und nicht uneben sei, sich dauernd hier bei uns aufhalte und zwar nur wegen meiner. Den ganzen Tag habe er sein Wesen um mich. Das wär ja nicht gegen die Wahrheit. Aber der arme Joggeli wußte nicht, wie’s gemeint war. Heiß stieg ihm die Eifersucht in den Kopf und brachte ihn um alle Ueberlegung. Ich hatte davon keine Ahnung. Wie immer, schloß ich jeden Tag mein Denken damit ab, daß ich dem fernen Schatz eine gute Nacht zurief, ohne einen Schimmer, daß er sich um dieselbe Zeit unruhig auf seinem Lager wälze, von den furchtbarsten Vorstellungen gepeinigt.

Der Gast hatte mich nun schon öfter gebeten gehabt, ihm einmal den vollen Sonntagsstaat meiner Ahneli vorzuführen, indem ich mich selber damit herausputze. An einem Sonntag hatte ich mich denn früh am Morgen mit allem ausstaffirt und behangen, daß es eine wahre Pracht war. Die Haube mit den großen schwarzen, aus Roßhaar und Seide gewobenen Schlappen, der weiße Stoßer vor der Brust, das sammtne Mieder, das bunte, goldgestickte Brusttuch, die schneeweißen Hemdärmel, die braune, feingefältelte Joppe, der rosenrothe Schoß aus schimmernder Seide – all das stand mir gar gut, das fühlte ich selbst. So erschien ich dem gelehrten Kulturdoktor, der hier in der Gaststube allein über seiner Arbeit saß, und hatte meinen hellen Spaß an seiner Freude.

Da auf einmal wird die Thür aufgerissen. Als wolle er seinen Augen nicht trauen, starrt mit dem Ausdruck sprachlosen Zorns der Jakob ins Zimmer – auf mich, auf ihn. So hatte er mich noch nie gesehen, so hatte ich mich ihm noch nie gezeigt – ‚nur dem Fremden zulieb wird solcher Staat gemacht!‘ las ich in seinem Auge.

‚Jakob!‘ schrie ich erschreckt und stürzte mich ihm entgegen, um alles aufzuklären.

Mit einem Ruck stieß mich der Starke bei Seite: ‚Wir zwei sind fertig, geh’ aufi‘ – knirschte er, einen wilden Blick auf mich schleudernd, mit heiserer Stimme – ‚aber mit dem da will ich noch ein Wörtli reden. ’s ist Zeit, scheint’s.‘ Damit schritt er auf den im Vergleich mit ihm nur schwächlichen Stadtherrn zu mit einer ausholenden Armbewegung, als gölte es, beim Schwingfest den stärksten Gegner beim Gürtel zu fassen und in die Luft zu schmettern.

Sicher wäre es sehr schlimm abgelaufen, wenn der Doktor nur die geringste Miene zu seiner Vertheidigung gemacht hätte. Aber daran dachte der gar nicht. Er war gerade damit beschäftigt gewesen, sich die Namen aller Ketteli und Spangen genau aufzuschreiben, als die heftige Unterbrechung erfolgte. Da er mich ‚Jakob‘ rufen gehört, wußte er, daß der Eingetretene mein Schatz war; denn ich hatte ihm auch öfter von meinem Schatz erzählt, und wenn er sein Verlangen geäußert hatte, eine genaue Beschreibung der bei unseren Schwingfesten eingehaltenen Gebräuche zu erhalten, so hatte ich ihn vertröstet auf den Tag, wenn mein Joggeli aus St. Johann zu Besuch kommen würde, der sei einer, der’s vom Grund aus verstünde. Diese Hoffnung hatte sich in seinem Geiste mit der Erwartung seines Eintreffens derart verschwistert, daß er das drohende Auftreten Jakobs für ein G’spaß nahm, dem nun eine Erklärung der Schwingfestgebräuche auf dem Fuß folgen müßte. Jetzt muß ich lachen, wenn ich dran denk’. Damals aber war’s ein furchtbarer Augenblick. Ich denk’ grad’, Jesus, Maria und Joseph, der zerschmeißt uns unsern zarten Kulturdoktor in lauter kleine Stückeli, da höre ich diesen auf einmal ganz vergnügt ‚Bravo, bravo!‘ schreien und, als handle es sich um ein Schauspiel, vergnügt in die Hände klatschen. Darausf war der wilde Jakob nicht vorbereitet. Wenn der Fremde sich in einen Riesen verwandelt hätte, wäre er nur erst recht auf ihn eingedrungen; diese Verwandlung des vermeintlichen Feindes in ein harmloses Kind entwaffnete ihn.

‚Noch einmal diese Stellung – das war echt, das war urecht,‘ rief der Doktor. – Mit dem ,echt‘ machte er sich immer zu thun.

Nun hatte der Jakob seine Sprache wieder gefunden. ‚Nichts da,‘ donnerte er, ‚hier ist der Spaß aus; das Bärbeli da war mein Schatz und die laß ich mir von keinem hergelaufenen Stadtherrn verschimpfiren! Wenn Ihr ein Mann seid und Ehr im Leib habt, laßt’s uns ausfechten.‘

Nun endlich konnte ich zu Wort kommen. Ich suchte ihn aufzuklären. Er aber glaubte mir nicht.

‚Ist’s etwa nicht wahr, daß ihr vom ,chössa‘ und ‚lieba‘ Euch unterhalten habt?‘ warf er mir entgegen.

‚Kann wohl sein,‘ sagte ich, ‚der Herr ist an Sprachengelehrter und studirt unsere Mundart.‘

Das verstand nun mein guter Schatz zwar nicht, aber er merkte doch, daß es noch Menschen gäbe, die mit mir vom Küssen sprechen könnten, ohne mir Küsse abzuverlangen. Ich benutzte seine Verwirrung und zog ihn mit mir hinaus. Und nun denkt’s Euch, als ich ihn, nachdem er etwas ruhiger geworden war, frug, wie er so unerwartet habe eintreffen können:

‚Weißt, Bärbeli,‘ sagte er, ‚Führer bin ich geworden. Hab’ den Schmiedhammer an den Nagel gehängt. Die Berg’ kenn’ ich auch, wie die andern und Geld bringt’s ein. Die Hauptsach’ aber ist, nun kann ich selbst sehen, was Du treibst und wie Du lebst, und brauch’s nicht zu hören von giftigen Ohrenbläsern, die eine Freud’ dran haben mich aufzuhetzen, wie die schlimmen Kameraden in der Geschichte vom Bötzler.‘

Und seitdem,“ schloß das Bärbeli vergnügt, „sehen wir uns oft und sind glücklich mit einand’. Der Böse ist ausgetrieben.“

„Und,“ fuhr der Professor, indem er sein Glas erhob, fort, „die Wandlung Deines Schmied-Jakob in einen Reiseführer war auch – Dein schönstes Reiseabenteuer!“

„Und daß wir zu Euch ins Gebirg reisen, hat auch sein Gutes. Gelt, Bärbeli?“ sagte vergnügt der Maler.

(Fortsetzung folgt.)

[595]

Die deutschen Vermißten und die „Gartenlaube“.

Wiederholt, zuletzt im Jahrgang 1886 (Nr. 13), hat die „Gartenlaube“ die Mahnung ausgesprochen, Briefe an Angehörige im Auslande mit ganz genauer Adresse zu versehen, da dieselben sonst nicht bestellbar sind und nur allzu oft verloren gehen. Erfolgt dann auf einen so verlorenen Brief keine Antwort, so tritt oft eine lange unangenehme Unterbrechung des schriftlichen Verkehrs ein, bis endlich durch mühselige Nachforschungen die Adresse aufs neue festgestellt, der Gesuchte wiedergefunden ist. Die Vermißtenlisten der „Gartenlaube“ geben hiervon ein beredtes Zeugniß.

Die meisten unbestellbaren Briefe gehen nach den Vereinigten Staaten, trotzdem amerikanische Zeitungen von Zeit zu Zeit die Aufforderung erlassen, die Adressen der nach den Vereinigten Staaten bestimmten Briefe ja recht deutlich zu schreiben, da große Mengen auch aus Deutschland kommender Briefe ungenügender Adressen halber zerstört werden müßten: zumal auch, weil die Unterschriften der Absender in den später amtlich als „unbestellbar“ geöffneten Briefen oftmals nur aus bloßen Vor- oder Verwandtschaftsnamen beständen. Immer wieder wird auch darauf aufmerksam gemacht, daß der Aufbau oder die Anordnung der Adressen selbst besser nach amerikanischem System als nach deutscher Weise geschehe, welche erstere Art von allen außereuropäischen Staaten angenommen worden ist. zum Vergleiche diene diese Anordnung:

deutsch:   amerikanisch:
 Mr. N. N.      Mr. N. N.
 Cincinnati  349, Vine Street,
 Nord-Amerika  Cincinnati (O.)
Vine Street Nr. 349.  U. St. of. N. A.

Es ist hierbei das von unten nach oben zu wandernde Auge des Briefträgers und besonders der Briefsortirer in Obacht genommen: Land – Stadt (mit Staat) – Straße mit Nummer – Name. In den Adressen amerikanischer Briefe nun, die hier so hauptsächlich in Betracht kommen, spielen auch die verschiedenen Abkürzungen eine große Rolle, in erster Reihe die Buchstaben- und Silbenabkürzungen für die verschiedenen einzelnen Staaten der Union, die unmittelbar hinter den Städtenamen, meistens in Klammern, stehen, z. B. Boston (Mass.) oder Boston, Mass. Die folgenden Abkürzungen der Staaten und Territorien habe ich sämmtlich amerikanischen Briefstempeln, öffentlichen Anzeigen und sonstigem authentischen gedruckten Material für den Zweck entnommen, um amerikanische Adressen bester verstehen und schreiben lernen zu können. Für viele Empfänger, für die meisten vielleicht, sind ja diese Buchstaben- und Silbenabkürzungen hinter den Städtenamen, wie O., Pa., Cal., Or., Va., N. Y. etc. etwas durchaus Räthselhaftes. Die gebräuchlichen Abkürzungen sind die folgenden: Neu-England Staaten: Me. (Maine), N. H. (New oder Neu Hampshire), Vt. (Vermont), Mass. (Massachusetts), R. I. (Rhode Island), Conn. (Connecticut); die Mittel-Staaten: N. Y. (New-York), N. J. (New Jersey), Pa. (Pennsylvanien), Del. (Delaware), Md. (Maryland), D. C. (Bundesdistrict von Columbia). Die südlichen Staaten: Va. (Virginia), N. C. (Nord-Carolina), S. C. (Süd-Carolina), Ga. (Georgia), Fla. (Florida), W. Va. (West-Virginia); die nordwestlichen Staaten: O. (Ohio), Mich. (Michigan), Ind. (Indiana), Ill. (Illinois), Wis. (Wisconsin), Io. (Iowa), Minn. (Minnesota), Kans. (Kansas) und Col. (Colorado); die südwestlichen Staaten: Ky. (Kentucky), Tenn. (Tennessee), Ala. (Alabama), Miss. (Mississippi), Mo. (Missouri), Ark. (Arkansas), La. (Louisiana), Tex. (Texas), Nev. (Nevada), N. M. (New Mexiko), und die pacifischen Staaten: Cal. (California) und Or. (Oregon). Die Territorien, das heißt nicht in den Unionsstaaten-Verband eingetretene Staaten, die sich ihre eigene Verfassung geben, welche jedoch vom Kongreß anerkannt werden muß, wie auch der jedesmalige Präsident die „Governors“ der Territorien ernennt, diese Halb-Staaten sind: U. (Utah), Wash. (Washington), Nebr. (Nebraska), Ariz. (Arizona), Dak. (Dakotah), id. (Idaho), Mont. (Montana), Wyo. (Wyoming) und Alas. (Alaska). Ich glaube wohl annehmen zu können, daß deutsche Verwandte in allen diesen Staaten vertreten sind und Briefe absenden und „erwarten“.

Die sonst auf amerikanischen Briefen üblichen Abkürzungen sind und bedeuten: Mr. (= Mister, so ausgesprochen, allein nie so geschrieben, unser „Herr“), Mrs. (gesprochen Missis, doch nicht so geschrieben, eine Abkürzung von Mistreß), für verheirathete, wie Miß für unverheiratete Frauen aller Gesellschaftsklassen. Die Abkürzung Esq., auch Esqre. geschrieben (= Esquire), ist, im Vergleich mit dem einfachen Mr. (Herr), ein den feineren Gesellschaftsklassen angehörenden Herren, Großkaufleuten, Grundbesitzern, Gelehrten und Beamten beigelegter „Titel“, der etwa unserem „Hochwohlgeboren“ entspricht. Das Mr. fällt dann vor dem Namen fort, z. B. also James Field Esq. – Unser „per Adresse“ ist auf den Briefen durch das vielangewandte c./o. (= care of, wörtlich zur Besorgung von) wiedergegeben, z. B.

Mr. M. Mumm
c./o. James Field Esq.

Ave. (= Avenue), eigentlich Allée, jetzt allgemein für größere Straßen, wie Fifth Ave.. (auch nur 5th Ave., in New York als Millionär-Straße bekannt: cor. (= corner, Ecke einer Straße); st. (hinter 1, 21, 121, etc.) nd. (hinter 2, 22, 42, 122 etc.), d (hinter 3, 33, 133 etc.), th. (hinter 4, 5, 6, 7, 8, 18, 128 etc.) bedeuten 1., 2., 3., 4., 42., etc. und stehen zur Bezeichnung der nach und mit Zahlen vielfach benannten Straßen (Streets,, oder abgekürzt Str.), also z. B.

cor. of 3d Ave., & 24th Str.,

das heißt Ecke der 3. Avenue und 24. Straße. U. St. of N. A. steht für United States of North America, Vereinigte Staaten von Nord-Amerika. Die Adressen müssen, wie ja auch bekannt, nur mit lateinischen Buchstaben und recht deutlich geschrieben werden. Auf der Rückseite des Briefumschlags oder Kouverts bemerke man auch den vollen Namen des Absenders, seinen Wohnort und die etwaige nähere Bezeichnung desselben (z. B. A. Hahn, Priepert bei Fürstenberg, Mecklenburg). Eine vollständige Adresse baut sich etwa so auf:

Mr. A. Brenner
c./o. B. D. Petersen Esq.
 cor. 2nd Ave. & 33d Str.
 Fontana (Kans.)
 U. St. N. A.

 oder: North America.

Oder auch:

Mr. H. Gern
 23, Whitney Street
 Congress
 Wayne Co. (O.)
     North America.

Die Abkürzung Co.. in der letzteren Adresse bedeutet nicht etwa Kompagniegeschäft, sondern steht für County, Grafschaftseintheilung eines Staates, wie hier eine der Einteilungen von Ohio (O.).

Dieses sind die großen Einzelheiten einer solchen Adresse, die auch in dem Briefe selbst wiederholt werden muß, wie dies in jedem von Deutschland abgesandten Briefe mit der deutschen Adresse, oben zu Anfang des Schreibens, der Fall sein sollte, damit beim etwaigen Oeffnen des Briefes von amtlicher Seite nicht nur die volle Unterschrift, sondern auch die volle Adresse des Briefschreibers festzustellen ist. Die Mehrzahl der Auswanderer gehört dem Bauern- oder Handwerkerstande an, die zum großen Theil ihre Schulbildung zu einer Zeit erhalten haben, wo noch der Unterricht in der Volksschule arg daniederlag. Man muß Briefe von solcher Hand gesehen haben, um zu erschrecken über den Mangel an praktischen Kenntnissen und Fertigkeiten in diesen Volkskreisen. Nach „drüben“ hin geht dazu der Wunsch, recht deutlich und klar die Adressen in jedem Brief zu schreiben; an unsere Briefschreiber „daheim“, die gesandten Adressen recht deutlich nachzuschreiben, oder „nachzumalen“, wo es nicht anders geht, und sich dabei die obenerklärten Abkürzungen recht klar zu machen. Richtige, genaue Adressen und stets ganze Namensunterschriften – und viel Jammer und Klage über Verschollene wird es weniger geben!
Hermann Kindt.     




Blätter und Blüthen.


Friedrich Hofmann †. Wiederum dringt zu uns aus dem Thüringerlande eine schmerzliche Trauerbotschaft: der älteste Veteran der „Gartenlaube“ Friedrich Hofmann ist am 14. August in dem Badeorte Ilmenau im Kreise seiner Lieben sanft entschlafen.

Siebenunbzwanzig Jahre hat er rastlos für unser Blatt gewirkt, und wie verdienstvoll seine Thätigkeit gewesen, das ist unserem weiten Leserkreise wohlbekannt. Vor zwei Jahren, als der nun Heimgegangene, damals schon in dem hohen Alter von 73 Jahren stehend, sich von der regelmäßigen Thätigkeit in unserer Redaktion zurückzog, um die wohlverdiente Ruhe zu genießen, haben wir unseren Lesern eine ausführliche Biographie Friedrich Hofmanns mitgeteilt und ihm öffentlich gedankt für die aufopferungsvolle Treue, mit der er unserem Blatte gedient. An dem erhebenden Lebensbilde, welches wir damals entrollen konnten, vermochten die zwei letzten Jahre nichts zu ändern: Friedrich Hofmann ist bis zum letzten Atemzuge der „Alte“ geblieben, der stets nach seinem Grundsatze handelte: „Nur das Schaffen macht Freude und aller Freuden freudigste ist das Bauen am Glück anderer.“

Stets folgte er dem Zuge des Herzens und konnte nicht leben ohne wohlzuthun. Er selbst konnte nicht mit offenen Händen geben, aber er fand stets das richtige Wort, um die Hände der mit Lebensgütern reicher Gesegneten zu öffnen. Dabei war er ein eigenartiger Wohltäter. Nicht allein materielle Hilfe wollte er denjenigen bringen, welche hart ringen mit der Lebensnoth, sondern er war auch unermüdlich darauf bedacht, dort, wo es nöthig war, „den Herzensfrieden zu stiften“. Er hatte seine Unglücklichen, die sonst in der Welt vergessen waren, und für die zu sorgen er sich verpflichtet fühlte. So war er jahrelang bestrebt, Verschollene aufzufinden und die verlorenen Söhne in den Schoß der Familie zurückzubringen. Wie viele er dadurch beglückt hat, davon zeugen seine oft rührenden Berichte über die „Gefundenen“ in der „Gartenlaube“.

„Das ist der höchste Lohn für unser Wirken, wenn wir erfahren, daß es uns gelungen ist, in ein düsteres Heim einen Sonnenstrahl bringen zu lassen,“ so sagte er, wenn Dankbriefe für irgend ein von ihm unternommenes Liebeswerk ankamen und er hatte diesen Lohn in hohem Maße geerntet, denn die von ihm gesammelten Liebesgaben wanderten in alle Gaue Deutschlands.

Was Friedrich Hofmann als Schriftsteller und Dichter geschaffen, das wird nicht verloren gehen und nicht vergessen werden; daß er aber monatelang im Jahre in aller Stille an den Werken reiner Nächstenliebe arbeitete, das ist nicht einmal allen denjenigen bekannt, die durch ihn beglückt wurden – und in dem Lorbeerkranz, der auf das Grab des

[596] Heimgegangenen niedergelegt wurde, ist gerade dieses edle selbstlose Wirken doch das ruhmreichste Blatt. Friedrich Hofmann war nicht, wie man zu sagen pflegt, ein guter Mensch, wie es deren viele im Leben giebt und die sich an wohlthätigen Werken betheiligen; ihm war die Wohlthätigkeit Lebenszweck und darum gebührt ihm ein ehrender Platz unter den Philanthropen der Neuzeit.

Friedrich Hofmann zählt zu den populärsten Dichtern und Schriftstellern Deutschlands und seinen Ruf verdankt er seiner patriotischen Gesinnung. „Die Feder taugt nichts, wenn sie nicht im Dienste einer höheren Idee steht“, so dachte er als Schriftsteller und die Einheit Deutschlands war auch für ihn das Ideal, für welches er litt und stritt. Sollen wir an seine Verdienste nach dieser Richtung hin erst erinnern? Fragt nur in Schleswig-Holstein, fragt in Siebenbürgen, fragt die Deutschen unter dem Sternenbanner jenseit des Oceans – dort überall kennt man ihn; denn in Zeiten schwerer Kämpfe trat er muthig ein für die „verlassenen Bruderstämme“ und suchte stets auch in weitester Ferne das Band nationaler Zusammengehörigkeit fester zu knüpfen.

Noch vor wenigen Wochen dachten wir, daß unser Veteran sich in den Thüringer Bergen unter der sorgsamen und liebevollen Pflege seiner Gattin und Kinder erholen werde. „Auf Wiedersehen! “ wie frisch und zuversichtlich klang noch der letzte Abschiedsgruß! Es ist anders gekommen.

Nun ruht er im Thüringerlande, das er so oft besungen, in so vielen Artikeln wahr und warm geschildert.

„Man lebt herrlich auf dem Thüringer Wald und ruhet wohl in der Thüringer Erde!“ Das war vom Herzen gesprochen, theurer Freund, und das Schicksal hat dir deinen Wunsch erfüllt. Dein „Thüringer Frühling“ wird jedes Jahr kommen und mit frischen Blumen deinen Grabhügel schmücken. Es wird aber noch Jahre lang auch eine andere Saat sprießen, blühen und goldene Früchte tragen, die herrliche Saat der guten Thaten, die du ausgestreut hast. Und dein Andeuten wird fortleben in den Herzen aller, die du beglückt hast, und in den Herzen der Freunde und Kameraden, die um dich trauern.
*     


Fremdwörter des deutschen Bühnenwesens. Abgesehen von den Speisekarten und den militärischen Reglements findet sich der größte Schatz von Fremdwörtern bei der deutschen Bühne. In einem kurzen Mahnruf: „Deutsche Worte für deutsche Kunst“, will Fritz Ehrenberg die deutsche Bühne von diesem Fremdwörterwust befreien. Unter seinen Vorschlägen findet sich weniger Gezwungenes als unter vielen Verdeutschungen fremdsprachiger Kunstausdrücke. Wir wollen aus der großen Liste einige mehr oder weniger annehmbare neudeutsche Wortbildungen hervorheben: für Regie Spielordnung, für Regisseur Spielordner, für Bonvivant Lebemann, für Corps de Ballet Tanzchor, für Koulisse Seitenwand, für Ensemble Gesammtspiel, für Repertoire Spielplan, für Requisiten Geräthe, für Souffleur Vorsprecher, für Solisten Einzelsänger, für Soubrette muntere Sängerin, für Personal Künstlerschaft, für Novität Neuheit. Doch fehlt es auch nicht an einzelnen Uebertragungen, denen man die Gewaltsamkeit anmerkt, während bei andern das neue Wort einen Doppelsinn hat. Im ganzen ist es nur zu billigen, daß man auf allen Gebieten wenigstens die überflüssigen Fremdwörter auszumerzen sucht.
†     

Kochunterricht für arme Mädchen. Vor einiger Zeit haben wir unsern Lesern mitgetheilt, daß in Darmstadt der Versuch gemacht worden ist, Schulmädchen im Alter von 13 bis 14 Jahren Kochunterricht zu ertheilen. Der Unterricht erstreckte sich lediglich auf Töchter ärmerer Familien, auf jene Kinder, deren Eltern tagsüber in Fabriken arbeiten und der häuslichen Erziehung sich nicht widmen können. Nunmehr ist beinahe ein Jahr seit der Einführung des Unterrichts verflossen und die Möglichkeit gegeben, über die Zweckmäßigkeit der Neuerung ein Urtheil abzugeben. Es freut uns, daß wir unsern Lesern sagen können: der Versuch ist gelungen. In einem Bericht, der darüber soeben erschienen ist, heißt es:

„Der Eifer der jungen Köchinnen war stets groß, ihre Anstelligkeit natürlich sehr verschieden; die Mehrzahl begriff aber sehr leicht und arbeitete sorgfältig und mit gutem Erfolg. Bei der Entlassung aus der Anstalt erhalten die Kinder ein entsprechendes Kochbüchlein (,Zur Volksküche in der Familie‘, bei L. C. Wittich in Darmstadt) als Geschenk. Bereits werden die Mädchen zu Hause an den Herd gestellt, so oft die Mutter ihrem Verdienst nachgeht. Der Zweck des Unternehmens ergiebt sich also als vollständig erreichbar, es ist aber auch durch dieses gelungene Beispiel dargethan, daß die Gemeinden ohne große Kosten ihren Volksmädchenschulen einen solchen Kochunterricht beigeben können, und dieser Beweis hat im Interesse der ärmeren Familien und ihres häuslichen Glückes für uns den höchsten Werth.“

In der That betrugen die Kosten des Unternehmens nur einige hundert Mark. Man kann darum die Nachahmung dieses gemeinnützigen Kochunterrichts nicht warm genug empfehlen. Wie viele Tausende von „Hausfrauen“ des Arbeiterstandes giebt es heutzutage, die nicht kochen können; wie viele Tausende von Männern werden dadurch ins Wirthshaus geführt, und wie viel Vermögen der kleinen Leute wird durch die Unkenntniß der Frauen in Küchenangelegenheiten nutzlos verschwendet! Das ist auch ein sociales Uebel, und doch ist es so leicht, ihm abzuhelfen. Also geht und thut desgleichen!
*     
Neckereien.
(Schnaderhüpfeln.)
(Mit Illustration S. 593.)

Und verliebt bist halt do’,
Da derfst sagen, was d’ magst,
Und dös wiss’ma voneh[1]
Wennst aa gar nix mehr sagst!

Mir san alte Jager,
Die g’spüren’s im Wind;
Und die birschen all’s auf[2]
Und drum b’stehs uns nur g’schwind!

War’n aar’ amal[3] jung,
Und drum kenn’ ma den Handel;
Schaug’ nur nit so wega[4]
Und mach’ koa so Pfandel[5]

Schaug lieber aufs Pfandel[6]
Am Feuer da drent[7];
Wenn der Schmarrn für Dein Schatz woar,
Woar’ er nit so verbrennt!

Ja mei’, dös Verbrenna,
Dos geht halt a so!
Mir san alte Jäger –
Und verliebt bist halt do’!

 Karl Stieler.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

F. G. in L. Auch von anderer Seite gingen uns Nachrichten zu, welche bezüglich unseres Artikels „Unfall-Meldestellen“ („Gartenlaube“ 1888, S. 66) ebenfalls in die Worte:

„Er stimmte den Gemeinderath
Zu einer rasch vollführten That“

zusammengefaßt werden könnten. Die Einrichtung einer Unfall-Meldestelle ist für die kleinste wie für die größte Gemeinde eine nicht genug zu empfehlende Vorsichtsmaßregel. Bleibt die Einrichtung unbenutzt, um so besser! Aber man sollte es nicht darauf ankommen lassen, durch Schaden klug zu werden. Es freut uns, daß unser Artikel in Ihrem Wohnorte die beabsichtigte Wirkung ausgeübt hat zum Nutzen und Frommen Ihrer Mitbürger.

K. in B. Das Wort „Nickel“ bedeutete früher wohl etwas Geringwerthiges, es wohnte ihm eine wegwerfende Bezeichnung bei. Aber die Geringschätzung galt keineswegs dem Metall, welches jetzt in hohen Ehren steht, sondern einem nickelhaltigen Erz. Dieses schien den äußeren Anzeichen nach viel Kupfer zu enthalten, und da es mit wirklichen Kupfererzen vermengt war, versuchte man öfters, aus ihm Kupfer zu gewinnen. Das gelang natürlich nicht. Das Nickelerz erschwerte vielmehr die Bearbeitung des wirklichen Kupfererzes. Als in neuester Zeit aus dem Nickelmetall Scheidemünze geprägt wurde, erinnerte man sich wohl der alten wegwerfenden Bezeichnung, die bald populär wurde.

A. M. in Indianapolis. Wir danken Ihnen für die Mittheilung, daß nicht bloß in New York, sondern in allen nordamerikanischen Städten, in denen das sogenannte Metropolitan Polizeisystem besteht, die Polizisten vor ihrer Aufnahme in die Polizeimannschaft gemessen werden. Jenes System besteht darin, daß in den Städten, in denen es eingeführt ist, die Stadt die Polizeimannschaft zu unterhalten hat, die Mitglieder derselben aber von einem aus Staatsbeamten, nicht Stadtbeamten, gebildeten Verwaltungs- oder Polizeirath angestellt werden.

Else auf dem Schwarzwald. Es freut uns, daß die Praktische Hausfrau auf dem Schwarzwald unseren Artikel so aufmerksam gelesen hat und nun dem „halbvergessenen Metall“ wieder zu Ehren verhelfen will. Natürlich wollen wir Ihnen gern verrathen, woher Sie die zinnernen Teller beziehen können: jede Handlung von Haushaltungsgegenständen oder jeder Zinngießer in irgend einem größeren Orte wird Ihnen dieselben vorlegen oder sie Ihnen doch in kürzester Zeit besorgen können. Kennen Sie aber in Ihrer Nähe keine solche Handlung, welche Ihnen zusagt, so geben Sie uns wohl gefälligst Ihre genaue Adresse an und wir wollen Ihnen gern eine Leipziger Firma brieflich namhaft machen.


In dem unterzeichneten Verlage ist erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

Bei Friedrich Karl.
Bilder und Skizzen aus dem Feldzuge der zweiten Armee.
Von Georg Horn,
Berichterstatter im Hauptquartier Seiner königlichen Hoheit des General Feldmarschalls Prinzen Friedrich Karl von Preußen.
2 Bände.       gr. 8.       1872.       Preis 6 Mark.

Bei dem durch die kürzlich stattgefundene Enthüllung des Prinz Friedrich Karl-Denkmals neuerdings geweckten Interesse für das Leben und die Thaten des heldenmüthigen Heerführers dürfte ein Hinweis auf obiges, in unserem Verlage erschienenes Buch, welches Georg Horn, den Berichterstatter der „Gartenlaube“ bei der zweiten Armee im Deutsch-Französischen Kriege, zum Verfasser hat, unseren Lesern angenehm sein.

Dasselbe entrollt ein lebensvolles, unter dem unmittelbaren Eindrucke der gewaltigen Ereignisse hervorgerufenes Bild der großen Zeit und ihrer Heldenthaten. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an die

Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.


  1. Das wissen wir zuvor.
  2. entdecken.
  3. auch einmal.
  4. weg.
  5. mach’ kein so böses Gesicht.
  6. Pfanne.
  7. da drüben.