Die Gartenlaube (1888)/Heft 43
Eine Hofgeschichte aus dem 17. Jahrhundert von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)
Auf dem weiten Schloßhof zu Weimar rannte die Dienerschaft durch einander wie Ameisen in einem verstörten Bau.
Plötzlich wandten sich die Köpfe der jungen eilfertigen Mägde nach dem Schloßthor. Achatius von Krombsdorff schritt durch dasselbe herein.
Die Amme des kleinen Prinzen, eine Thüringer Bäuerin in hoher Bändermütze, lachte ihn an, als sie das Herrlein auf dem Arm, an ihm vorüber nach dem welschen Garten wandelte.
Er winkte ihr einen Gruß zu, während er seinen Hut vor dem kleinen Prinzen schwenkte. Aber unter den halb gesenkten Wimpern hervor spähten seine Augen scharf an beiden vorüber.
In dem Laubengang, der vor dem Grünen Schloß, der Residenz der jungen Herzöge, sich hinzog, schimmerte etwas Weißes; Achatius lenkte seine Schritte dahin. Es war die hübsche Silberwäscherin mit ihren weißen Messertüchern, die ihm erwartungsvoll entgegenschaute.
„Goldmägdlein!“ flüsterten seine Lippen, während er, ohne eine Miene zu verziehen, an ihr vorübereilte.
Er trat in das Grüne Schloß ein.
Hackenschuhe klapperten über ihm auf der Treppe. Er horchte gespannt. Es war die blonde Benigna, die ihm entgegen kam.
„Ach, Ihr seid es, holde Nymphe?“ sprach Achatius mit süßem Ton und enttäuschtem Gesicht.
„Haltet mich ja nicht auf,“ rief sie, indem sie zugleich stehen blieb. „Die Frau Herzogin hat mich in die Käserei zur Käsemutter entsendet. Ihre fürstliche Gnaden wünschen Schafkäse bei der Tafel morgen zu geben.“
„Für den Schafkäse habt Ihr Zeit, für den Schäfer nicht,“ entgegnete er mit galantem Vorwurf und entschlüpfte auf der Wendelstiege.
Fröhliches Lachen tönte zum Korridorfenster herein. Er machte Halt und schaute hinaus. Drüben im Rothen Schloß, dem ehemaligen Witwensitz der Großmutter der jetzigen Herren, wurde das Losament für die fürstlichen Gäste hergerichtet.
In den Rosenkammern, wo die Dornburger Herrschaft wohnen sollte, waren die Fenster geöffnet, und die Hofwäscherinnen zogen den Pfühlen in den marmornen Bettstellen die Gewände über. Als sie seiner ansichtig wurden, stießen sie sich kichernd an und lugten nach ihm aus.
Plötzlich verschwanden sie vom Fenster und rannten an ihre Arbeit. Da war gewiß die Gertrud Hellingen jetzt drüben eingetreten. Der kleine tugendliche Sauertopf!
Er konnte nicht an sie denken, ohne sich zu ärgern. War es denn etwas so Schlimmes gewesen, daß er ihren Weg nach der Burgmühle ein paarmal gekreuzt hatte? Mußte sie ihn darum
[726] so streng ansehen? Er hatte sie einmal im Vorübergleiten gefragt: „Habt Ihr Eure Augen nur um zu strafen?“ Seitdem sah sie ihn gar nicht mehr an. Verdammt!
Ein paar Minuten später schleuderte er auf dem Verbindungsgang nach dem Rothen Schloß hinüber. Seine Augen spähten in die Tiefe des dämmerigen Korridors, wo etwas Lichtes auftauchte.
Richtig! Da war die große weiße Schürze. Mit ruhigem Schritt in hofmäßiger Haltung kam Gertrud von Hellingen heran. Achatius mußte plötzlich tief aufathmen. War er zu rasch gegangen? Zum Teufel mit dem beklemmenden Gefühl! In seiner halb lässigen, halb herausfordernden Art trat er ihr entgegen. „Ich wünsche Euch einen gesegneten Morgen,“ sprach er und schloß sich dann, als sei das selbstverständlich, ihrem Wandelschritt an.
„Ich danke Euch,“ sagte sie leise, ohne daß ihr zartes Gesichtchen sich nach ihm wendete. Nur eine feine Rosenfarbe stieg in ihre Wangen, und sie ging rascher vorwärts.
„Warum so eilig?“ fuhr er neckend fort, ohne den Blick seiner muthwilligen Augen von ihr zu wenden. „Kommt doch jeglicher Mensch schließlich nur an dem Ziel an, nach welchem sein Magnet ihn zieht.“
Sie wandte sich unwillig ab. Das wirkte gerade wie Spornstich auf ein feuriges Pferd. Keck fuhr er fort: „Ihr habt gewißlich auch die ‚Astrea‘ gelesen, und da steht geschrieben: ‚Als der liebe Gott die Menschen schuf, berührte er die Seelen der Weiblein mit Magnetstücken und ließ unter diesen alsdann die Männer wählen. Jeglicher muß nun die Frau lieben, deren Magneten er erwischt hat, und sie ist verobligiret, ihm wieder hold zu sein. Dagegen hilft kein Widerstand. Die Stunde kommt doch, da sie unabwendbar zu einander streben?‘“
„Ich habe auch gelesen,“ antwortete sie kalt, „daß es Männer giebt, die von jedem Magnetstein einen Splitter sich angeeignet haben und darum Begehren tragen, alle Frauen an ein Schnürchen zu reihen und hinter sich herzuziehen.“
Seine schlanke Gestalt duckte sich ein wenig; aber er ließ sich nicht aus der Fassung bringen, sondern antwortete dreist: „Vielleicht thut Ihr einem Unschuldigen unrecht. Zuweilen irrt ein Schäfer lange unter den schönen Hirtinnen umher, dieweil er die Rechte nicht finden kann.“
„Nein,“ entgegnete sie gelassen und fest, „dieweil er keine Treue hat. Auch ich wünsche Euch einen gesegneten Morgen!“ Sie verschwand in der Apotheke der Herzogin.
Es geschah dem gewandten Hofmann zum ersten Mal, daß er mit offenem Mund vor einer geschlossenen Thür stand.
„So drehe Deine bitteren Pillulen!“ murmelte er grimmig. Aber wie sie ihn angesehen hatte! So vorwurfsvoll! Und wie das Wort „Treue“ aus ihrem Munde klang! So edel und warm, als käme es aus der tiefsten Tiefe des Herzens.
Er hatte keine Zeit, sich den lieblichen Laut nochmals ins Gedächtniß zurück zu rufen.
Helle Stimmchen ertönten.
„Herr Hofmeister! Herr Hofmeister!“ schallte es im Korridor.
Ein Schwarm von Pagen in Galawämsern, mit goldenen Schleifen auf den Schultern und seidenen Röslein an den Kniebändern, umringte ihn.
„Mein Herzog Wilhelm sendet Euch diese Absagen,“ sprach der eine, mehrere Schreiben überreichend. „Fürst Ludwig von Köthen entschuldigt sich mit einem Todesfall, der Herzog von Altenburg mit Unpäßlichkeit. Die Plätze an der großen Tafel, die morgen stattfinden wird, sollen anders geordnet werden. Aber,“ setzte er flüsternd hinzu, „ein Paar muß doch wohl unverrückt neben einander bleiben: Herzog Albrecht und –“
Achatius unterbrach ihn. „Mein, junger Freund, merke Dir: Es giebt Dinge bei Hofe, die nie ausgesprochen, sondern nur errathen werden.“
Er nahm die Schreiben an sich.
„Herr Hofmeister!“ klang es abermals athemlos den Verbindungsgang entlang. Der kleine Conz, Herzog Albrechts Page, jagte erhitzt, mit verwirrten Locken heran. „Wo ist die Sendung aus Erfurt für meinen Herrn?“
„Im kühlen Keller,“ war die Antwort.
„Und das sammetne Hundehalsband mit dem silbernen Namenszug? Kiekebusch soll uns zum Empfang der fürstlichen Damen von der Dornburg begleiten.“
„Der Hundejunge verwahrt es.“
Der schlanke Heinz, Herzog Bernhards Page, hob hochmüthig sein gebräuntes Gesichtchen. „Wegen ein paar Damen rennst Du umher, als stünde eine Battaglia bevor?“
„Monsieur Heinz,“ sprach Achatius mit gezwungenem Lachen, „später wird Dir die Einsicht tagen, daß uns manchmal auch mit einer Dame eine Battaglia bevorsteht. Aber was willst Du?“ wandte er sich an den Pagen der Herzogin Eleonore.
„Könnt Ihr noch dieses Gericht für die Tafel besorgen?“ fragte dieser, auf einen langen Speisezettel deutend, wo ein Wort von der Herzogin Hand frisch geschrieben stand.
„Ein Kavalier vollbringt alles, was seine Herrschaft verlangt,“ sagte Achatius; indem er das Gericht studirte. „An Hänflingen und Butterfaltern ist kein Mangel im Webicht; und ein paar schlanke Libellen sah ich gestern Abend bei der Burgmühle über der Ilm flattern.“
Er hätte die Burgmühle gern wieder verschluckt. Nun war auch ihm geschehen, daß der Mund überging, wovon das Herz voll war – das Herz? nein – morbleu! – die Galle.
Neben ihm schrie es auf: „Die Burgmühle!“ daß er zusammenfuhr. Es war der kleinste Page. „Hilf, Himmel! Mein Herzog Ernst hatte mir befohlen, eine Bibel hinüber zu tragen zu Frau von Heilingen. Die ihrige ist von dem kaiserlichen Volk bei der letzten Einlagerung verbrannt worden. Und ich habe es vergessen.“
„So lauf!“ neckte Eleonorens Edelknabe. „Vielleicht tätschelt Dir die Jungfrau Gertrud wieder die Backen wie neulich, als Du so schön in der Kirche gesungen hattest.“
Eine dunkle Röthe schoß in Krombsdorffs Gesicht.
„Dummer Junge!“ fuhr er den Kleinen giftig an. „Wenn Du Dich tätscheln läßt, wächst Dir kein Schnurrbart.“
Eine Fanfare unterbrach ihn. Die Hoftrompeter, welche von dem hohen Schloßthurm die nahenden fürstlichen Gäste ankündigen sollten, bliesen gen Osten den Gruß. Es war das Zeichen, daß der Reisezug der Dornburger Herrschaft in der Ferne sich zeigte. Die Pagen stoben davon. Achatius flog nach den Gemächern des Herzogs Albrecht.
Die Thür des Vorzimmers wurde aufgethan.
Die befehlende Stimme des Herzogs rief den herbeieilenden Lakaien zu: „Miller! Schaffe sofort das Stammbuch der Fruchtbringenden Gesellschaft in das Archiv zurück! Und Du, Martin, trage den eingesiegelten Brüderthaler zu der Witwe des Sekretarius, die mein Sinnbild als Palmgenoß gestickt hat. Ich lasse ihr meine Zufriedenheit ausdrücken. Der grüne Atlas ist sauber gehalten, der Weinstock ohne Blätter und Trauben so schlicht, wie ich befohlen habe, der Spruch: ,Es soll noch werden’ ohne Schnörkeleien.“
Mit raschem klirrenden Schritt trat der Herzog heraus, die hochgewachsene Gestalt knapp umschlossen vom nägleinfarbigen Sammetwams, das trotz des goldenen Posamentes einen schlichten Eindruck machte.
Achatius verbeugte sich tief.
Der Herzog neigte leicht das Haupt. „Ist alles in Ordnung?“ fragte er, im Weiterschreiten die Handschuhe überstreifend.
„Eine Hofjungfrau hat soeben in den Rosenkammern die letzte Umschau gehalten,“ berichtete Achatius ehrerbietig, indem er dem Herzog die Treppe hinab folgte.
Den braunen Schnauzbart des Herzogs kräuselte ein Lächeln. „Was das Frauenzimmer that, ist Euch allezeit unverborgen,“ erwiderte er mit harmlosem Spott. „Ihr solltet eigentlich im Palmenorden als Sinnbild das Kräutlein Liebstöckel und den Namen: der Allerwärtsgirrende führen.“
Achatius lächelte gehorsamst mit. „Alsdann würde mein alleiniger Trost sein, daß in dieser hochansehnlichen Gesellschaft die Namen oftmals mit den Qualitäten ihrer Träger in Widerspruch stehen. Fürstliche Gnaden heißen der Unansehnliche; die Damen in Frankreich nannten Hochdieselben einen denn beau Alman.“
Herzog Albrecht wehrte mit einer Handbewegung ab. „In Frankreich wedelt die Schmeichelei mit ihrem Fuchsschwanz.“
[727] Er trat aus dem Schloß. Ein huldvoller Gruß dankte seinem vor demselben versammelten Gefolge. Dann schwang er sich auf das apfelgraue neapolitanische Leibpferd, und fort ging es auf den Weg gen Dornburg hinaus.
Von der Anhöhe, welche Weimar nach Osten hin umschließt, nahte der Reisezug der Dornburger Herrschaft.
An seiner Spitze ritt der Schloßhauptmann mit den Pagen, Trabanten schlossen ihn; dazwischen schwankten die langen Wagen. Die erste Kutsche mit den vergoldeten Sparren, unter denen sich blauer Sammet ausspannte, den Engelsköpfchen auf dem Himmel, barg gleich einem Schmuckkästchen den kostbarstem Inhalt, die beiden Herzoginnen.
Der blassen Frau Witwe gegenüber saß Dorothea, halb aus dem Sammetmantel geschlüpft wie ein auskriechender schöner Falter, das steile Filzhütchen mit der dicken Goldschnur tief in die Stirn gerückt. Aber der schirmende Schatten vermochte nicht zu verbergen, wie das feine Korallenroth in ihre Wangen stieg, das der jungen Fürstin eigen war.
Herzog Albrecht sauste im Galopp heran. Auf einen Wink der Frau Witwe hielten die Sattelknechte das perlfarbige Sechsgespann an. Neben dem Wagen zügelte Herzog Albrecht sein Pferd und zog den Hut. Sein edles offenes Antlitz trug, den gesammelten Ausdruck, der ihm allezeit eigen war. Unter den hochgeschwungenen Brauen schauten die Augen so klar wie immer. Nur da sein Blick von der Frau Witwe zu der schönen Dorothea hinüber flog, huschte ein leises gut gelauntes Lächeln über die stolzen Züge, als sei er, in Erinnerung an die Dornburger Erlebnisse, gewärtig, sie mit einer Neckerei aus ihrem Hinterhalt hervorbrechen zu sehen. Aber es war sogleich wieder verschwunden, und mit vollkommener höfischer Gravität redete er die Herzoginnen an:
„Eure Gnaden wollen mir die Huld gewähren, Sie allhier im Namen der Gebrüder von Weimar willkommen zu heißen. Wir sagen Ihnen innig Dank, daß Sie den frohen Tag, den Gott uns in der ernsten Zeit schenkt, durch Ihre hohe Gegenwart verschönen.“
Anna Maria blickte mit mütterlicher Zärtlichkeit auf ihn. „Auch wir sind erfreut, einmal wieder bei unsern liebsten Verwandten weilen zu dürfen,“ antwortete sie. „Mir wurde heimisch zu Sinn, als ich den alten Schloßthurm auftauchen sah. Unter seinem Schutz habe ich das erste glückliche Jahr meiner Ehe verlebt. Aber zu so schmerzlich süßem Gedenken ließ meine liebe Tochter Dorothea mir keine Zeit. Sie rief: ,Herzog Albrecht reitet uns entgegen’, als meine schwachen Augen noch nichts zu erschauen vermochten denn ein paar dunkle Punkte in der Ferne.“
Ein warmer Blick des Herzogs traf Dorothea. „Eure Gnaden wußten, daß ich mir nicht nehmen lassen würde, Sie als Erster in Weimar zu begrüßen,“ sprach er.
Ihre Augen begegneten sich, und ein paar Athemzüge lang stockten die förmlichen Reden. Dann fuhr er fort, und es lag ein herzlicher Klang in seiner Stimme: „Meine Worte sind schlicht, und ich habe mir derohalb Fürsprecher erwählt, die holderen Gruß zu bieten vermögen.“
Er winkte dem Pagen, der ihm einen verhüllten Gegenstand überreichte. Herzog Albrecht löste den Silberflor, und es zeigte sich ein Strauß von prächtigen Tulipanen, die, noch nicht lange aus Holland eingeführt, als eine große Kostbarkeit galten.
Freudig überrascht, nahm Dorothea den Strauß, in Empfang. „O die herrlichen fremdländischen Blumen!“ rief sie entzückt, sich über dieselben beugend. „Welch schönes Präsent! Scheinen nicht Purpurflammen in diese weißen Blätter zu schlagen? Ist der Kelch hier nicht wie mitgoldigem Licht erfüllt?“
„Dafür sind sie dem strahlenden Tagesgestirn zugeeignet,“ erwiderte Albrecht, in das Anschauen ihres froh bewegten Antlitzes versenkt. „Wie die Sonne über den Himmelsbogen wandelt, so drehen sich die Blumenkelche ihr nach, und schließen sich mit ihrem Scheiden.“
In Dorotheas Augen funkelte es hinterhältig. Sie lächelte, seufzte leise und sprach: „Glückliche Sonne! Welch treu ergebener Gefolgschaft darf sie sich rühmen!“
Er horchte auf; aber wie der Eichbaum nicht erschüttert wird, wenn ein muthwilliges Lüftchen in seine Zweige fährt, sondern nur heiter rauscht und flüstert, so erwiderte er frohgemuth, jedoch mit fester Betonung: „Glückliche Blumen! Stät und unbeirrbar geht das Licht, dem sie zugeeignet sind, seine Bahn.“
Die Frau Witwe sah mit Schrecken bereits die Disputationen beginnen und unterbrach dieselben, indem sie Befehl zum Aufbruch gab.
Herzog Albrecht lenkte sein Pferd neben den Wagen.
Aber die fürsorgliche Mutter hatte vergeblich den Faden der Unterhaltung abgeschnitten. Wenn auch die Lippen des jungen Paares schwiegen, die Augen sprachen um so beredter. Sein halb lächelnder, halb spöttischer Blick schien zu fragen: Also haben Eure Gnaden dero Spitzfindigkeiten und Häkeleien nicht auf der Dornburg gelassen?
Und ihre übermüthig strahlenden Augen antworteten: O, Wir führen eine ganze Rüstkammer derselben mit Uns.
Auch das Gefolge begrüßte sich nun. Die Kavaliere erneuten alte Bekanntschaft, und das Hündlein Kiekebusch bezeigte seine Ehrfurcht dem letzten Knecht.
Im zweiten Wagen ging Käthchens Mündchen wie ein Mühlwerk. „Mein Vetter Achatius meinte schon, ich sei schön im karteknen Röcklein. Und nun bringe ich gar ein leberfarbenes Seidenkamelotkleid mit. Mein Vetter Achatius trägt meine weiß und roth gestreifte Schleife allezeit als Favor bei sich. Mein Vetter Achatius weiß gar nicht, daß ich im Gefolge Ihrer Gnade bin. Was wird mein Vetter Achatius sagen?“
Selbstbewußt drehte sie ihr Gesichtchen hin und her; es war kirschbraun gebraten von der Sonne, und auf dem Stumpfnäschen tauchten Sommersprossen auf.
Die beiden Hofjungfrauen, neben denen sie auf dem Rücksitz ein winziges Plätzchen einnahm, wurden grünlich vor Aerger, und ihre Mutter, trug eine Zornesfalte auf der Stirn. Nur die Hofmeisterin achtete nicht darauf. Sie war einzig beschäftigt, ihr weiß und roth angestrichenes Gesicht durch den Schleier gegen die Sonne zu schützen.
„Ja, das ist eine richtige Stadt,“ jubelte Käthchen, als die Kutsche durch das bethürmte Thor einfuhr. „Gott sei Dank, daß wir einmal aus dem kleinen Nestchen heraus gekommen sind.“
Sie hopste vor Freude auf dem Sitzbrett in die Höhe.
Der Schloßhauptmann, welcher den Zug ordnend, an den Wagen herangeritten war, sagte: „Nu, nu! Hüpfe nur nicht aus dem Köberchen, Käthe!“
Diese raunte ihm wichtig zu: „Nun wird endlich allen kund werden, wie ein adliger Junker gegen eine adlige Jungfrau sich zu benehmen hat.“
Ihr Vater blinzelte sie mitleidig an. „Wer weiß, was alles kund wird,“ sprach er und begab sich wieder an die Spitze seiner Leute.
Ein buntes Menschengewimmel erfüllte die Straßen. Auf jedem Eckstein bauten sich die Kinder als lebendige Pyramide auf und brachen in ein lautes Ah! aus, als die Engelskutsche mit der schönen Dorothea einfuhr. Die Mauern des Rothen Schlosses, deren Farbe dasselbe seinen Namen verdankt, leuchteten freundlich in der untergehenden Sonne, die schnurgeraden Fensterreihen strahlten, und die übergüldeten Knöpfe blitzten auf den beiden schöngeschwungenen Giebeln und den einem Lerchenschopf ähnlichen Dachluken.
Die Wachen am Portal pflanzten die Hellebarden. Die Engelskutsche hielt. Die Pagen sprangen von ihren Pferden und lehnten das vergoldete Leiterlein an die Kutsche. Ein Schwarm von Kammerjunkern und Lakaien umgab dieselbe.
Herzog Albrecht hatte sich rasch abgeschwungen, trat an die geöffnete Wagenthür und leitete die Frau Witwe herab.
Dann wandte er sich Dorothea zu. Sie setzte den zierlichen perlengestickten Schuh auf die Sprossen, sah ihn schelmisch an und sprach: „An Ihrer festen Hand, Vetter, werde ich gewißlich stät und unbeirrbar die goldene Bahn hinabgleiten.“
Lächelnd, doch entschiedenen Tones erwiderte er: „Wenn Eure Gnaden der Führung derselben sich überlassen wollten – sonder Zweifel.“
Aber da sie sich nun auf diese feste Hand stützte, fühlte sie ein leises Zittern durch den Stülphandschuh. Es theilte sich ihren Fingern mit, daß der Diamantring, den sie über dem Handschuh am Daumen trug, muthwillige Lichter sprühte. Die Leiter hatte nur wenige Sprossen. Aber das junge Paar sah doch aus, als wäre es ein Stück von Jakobs Himmelsleiter hinabgestiegen.
[728] Auf dem mit Scharlachtuch belegten Weg schritten die Herrschaften, umgeben von Hofleuten und Dienerschaft, in das Rothe Schloß hinein.
Achatius blieb zurück, um das fürstliche Frauenzimmer zu empfangen.
Käthchen lachte ihm mit allen ihren kleinen Mäusezähnchen entgegen, trotz der strengen Blicke ihrer Mutter.
Aber über der Pforte des ehemaligen Witwensitzes war nicht umsonst ein weinender Engel angebracht. Achatius sah sie gar nicht. Sein Blick richtete sich überrascht auf den dritten Wagen, der das Gepäck und die Kammermägdlein enthielt. Welche wunderliche lange verhüllte Stange wurde von ihm abgeladen? Da leuchtete ja Roth Und Grün heraus. Feierlich zogen die Kammermägdlein damit ab wie Landsknechte mit der Fahne, zu der sie geschworen haben.
„Mit welchem sieghaften Panier haltet Ihr holden Dornburgerinnen allhier Euren Einzug?“ fragte Achatius die rundliche Hofmeisterin, während er ihr aus dem Wagen half.
Sie bewegte sich so rasch und bemühte sich, trotz ihres ansehnlichen Umfangs so leicht hernieder zu schweben, daß ihr gelbes Damastkleid krachte. „Ich weiß nicht,“ antwortete sie und ließ die Reisemutze herabfallen, daß die reizenden Grübchen in Wangen und Schultern sich zeigten.
Schäflein! dachte Achatius, hielt sich aber scherzend die Augen zu und flüsterte: „Süße Pomesine! Ach, wer nur einmal an solcher Holdseligkeit sich letzen dürfte!“
Sie sah ihm mit schmelzendem Lächeln nach, während er schon ehrfurchtsvoll vor Frau von Tautenburg sich verbeugte und dem Schloßhauptmann die Hand schüttelte.
Als ihm dieser die andern Hofjungfrauen nennen wollte, sprach er galant: „Eure Namen sind eingegraben in die wachsweiche glatte Tafel meines Herzens.“
Und er sandte ihnen einen so wohlgeschickten Blick zu, daß jede denselben für sich in Anspruch nehmen konnte.
Käthchen stand ganz verdutzt dabei. War es möglich? Vetter Achatius tuschelte mit der Hofmeisterin, der alten dicken, schaute die andern Hofjungfrauen, die dürren Hopfenstangen, zärtlich an? Das kam doch alles ihr zu. Und sie erhielt nur das letzte Zipfelchen eines Grußes. Was sollte das fürstellen?
Vielleicht hatte er sie in der häßlichen Reisemutze nicht erkannt, in welche sie von der Mutter gewickelt worden war. Nun, nur Geduld! Jetzt kam der leberfarbene Rock dran. Durch diesen Gedanken getröstet, trippelte sie hinter ihrer Mutter in das Schloß hinein.
Andere Reisezüge nahten. Wagen auf Wagen rollten durch das Schloßthor, Reiter klirrten herein. Der Hof füllte sich. Leibärzte, die ihr Doktorstüblein hatten verlassen müssen, Kapitäne in Wehr und Waffen, Kammerjunker und Pagen fragten nach ihrem Losament. Die Weimarischen Hofjunker im Galakleid, die Lakaien in Staatslivrei hatten alle Hände voll zu thun. –
Als die Dornburger Herrschaft ein paar Stunden später der fürstlichen Hausfrau einen Besuch abstattete, folgte Käthchen mit aufgehelltem Gesicht dem kleinen Zug. Sie trug das leberfarbene Kleid, den güldenen Brustlatz und duftete nach Spikanardiwasser, das sie selbst hatte brauen helfen, wie ein Wurzgärtlein.
Eine Reihe glänzender Räume that sich vor ihr auf, von dem sanften Licht gelber Wachskerzen erhellt, welche auf hohen Silberleuchtern brannten. Da – im ersten Zimmer – harrte auch schon Achatius. Aber nur, um von dannen zu fliegen und die Herzoginnen in die inneren Gemächer zu führen, während ein Wink seiner Augen die Hofjunker in Bewegung setzte, daß sie dem Frauenzimmer seinen Platz anwiesen; längs der Wand, wie angeputzte Docken wurde dasselbe aufgestellt.
Da glitt Achatius schon wieder an ihr vorüber. Er sah sie abermals nicht. Er geleitete jetzt die Eisenacher Herrschaft.
Aus welch runden klugen Augen die Herzogin Christine schaute! Gerade wie die Eule auf der Dornburg. Käthchen hätte lachen mögen.
„Die Herzogin Christine stellt alles fest,“ flüsterte neben ihr das Strohblümchen, „die Schicksale der Menschen, das Wetter, die Landplagen. Sie liest es mit großen Ferngläsern aus den Sternen und rechnet es dann aus wie andere Frauen einen Handel mit Butter und Eiern. Sie ist so klug wie die heiligen drei Könige zusammen.“
Käthchen verging das Lachen.
Die Hofjungfrauen, welche der übermenschlichen Fürstin folgten, pflanzten sich gleich kernhaften Fichtenzäpfchen vor ihr auf. Sie reckte ihr Köpfchen empor, um über dieselben hinwegschauen zu können.
Jetzt – jetzt sah Achatius nach ihrer Seite.
Ach nein; sein Blick ging an ihr vorüber und er selber abermals zur Thür hinaus, um den Koburger Herzog mit seiner Gemahlin zu empfangen.
„Das ist ein unholder Herr,“ wisperte die blonde Benigna an der andern Seite. „Seine erste Gemahlin, die ihm ein X für ein U gemacht haben soll, hielt er eingesperrt sammt dem hübschen Hofjunker, der ihr dabei geholfen hatte. Er steckt alles ein, sogar die Witze seiner Hofnarren. Horcht! Draußen im Korridor schlagen sie Purzelbäume.“
Die Koburger Hofjungfrauen bildeten eine zweite Mauer zwischen Käthchen und Achatius. Sie war gänzlich zurückgedrängt und mußte sich auf die Fußspitzen heben, wenn sie ihn noch sehen wollte. Ach, welche schönen Kleider trugen die andern – das leberfarbene war gar nichts dagegen. Und wie sie sich hervorzuthun suchten, wenn Achatius vorüber glitt! Wie sie ihn mit den Augen verschlangen!
Dann flüsterten sie mit einander und rühmten, daß das Zöpflein, welches an einer Seite seines Kopfes herabhing, das neueste in der Tracht: ein Alamodezotten sei.
Sie mochten sich nur hüten! Wenn der griesgrämliche Herzog das merkte, sperrte er sie auch ein sammt dem Achatius.
Fast hätte sie es gewünscht. Dann konnte er doch nicht mehr so vor ihnen hin und her gaukeln, als wolle er sagen: hascht mich doch!
Von Zeit zu Zeit sendete er einen Blick nach Käthchens Winkel. Aber ihren Augen begegnete er nicht. Wen suchte er nur da? Neben ihr stand eine Hofjungfrau, mit einem Bernsteinhalsband geschmückt, die ebenfalls zurückgedrängt worden war. Käthe lugte sie eifersüchtig an. Nein, die konnte er nicht meinen. Sie hatte ja nicht einmal rothe Backen und war die einzige im ganzen Gemach, welche ihn nicht ansah. Wie er immer lebendiger wurde, immer zärtlichere Blicke herüber warf, so wurde sie immer unbewegter, immer blasser. Und Käthchen immer röther und heißer. Das Herzklopfen drohte sie zu ersticken.
Wie hatte sie sich über den goldenen Brustlatz gefreut, und welche Pein stand sie nun hinter ihm aus! Aufschreien hätte sie mögen und durfte keine Miene verziehen. Niemand kümmerte sich um ihre Noth. Nur der alte, mit einer kleinen Glatze versehene Papagei, der neben ihr in einem Käfig hockte und ungestört den Gnadenzucker knusperte, welchen er, schon der Günstling der verstorbenen Mutter der Herzöge, nur aus fürstlichen Händen nahm, schaute sie mit seinen großen klugen Augen an. Dann sagte er in dem gütevollen Tone, den er in diesen Räumen gelernt hatte: „Armes Papchen! Ganz allein.“ Sie war ihm ordentlich dankbar für seine theilnehmende Ansprache.
So still es im Vorzimmer zuging, so lebhaft wurde die Unterhaltung im Wohngemach der Herzogin Eleonore geführt.
Summendes Geplauder tönte aus dem Damenkreis, der sich um die zarte Gestalt der fürstlichen Hausfrau versammelt hatte; mit markiger, wohllautender Baßstimme rühmte der stattliche Herzog Wilhelm die Wichtigkeit des Palmordens in jetziger Zeit, da die Worte fremder Völker die deutsche Heldensprache überschwemmten; gemessene Fragen richtete der schmächtig gewachsene blonde Herzog Ernst an die jüngsten fürstlichen Fräulein, die verlegen unter dem Blick seiner nachdenklichen Augen ihre Facinetlein drehten; dazwischen klang es wie durchdringender Kommandoruf von den feinen Lippen des jungen Herzog Bernhard, dessen schmale mandelförmige Augen über die versammelten Fürsten hinblitzten. Durch die verschiedenen Gruppen glitt der alte Hofmarschall Kaspar von Teutleben, das höchste Zeichen seiner Hofwürde, den Stab, in der Hand, beflügelten Schrittes dahin. Seine scharf geschnittenen Züge erschienen wie veklärt. Es war ja sein Ehrentag, wenn die Fruchtbringende Gesellschaft Sitzung hielt. Denn er hatte sie gegründet.
Alle Rechte vorbehalten.
Der Norden Afrikas ist Wüste, muß Wüste sein und wird ewig Wüste bleiben. Gegenüber den ausgedehnten, von einer sengenden Sonne durchglüheten Ländermassen zwischen dem Rothen und Atlantischen Meere verlieren die erdumgürtenden Gewässer ihre Bedeutung, kommt das Rothe Meer gar nicht in Betracht, erweist sich das Mittelmeer als viel zu klein, ist selbst der Einfluß des Atlantischen Weltmeeres nur auf einen schmalen Rand längs seiner Küste beschränkt; über so weiten und heißen Flächen muß jedes Wolkengebilde zerstäuben, ohne die lechzende Erde zu befeuchten und zu befruchten. Erst viel weiter im Süden, unfern des Gleichers, da, wo auf der einen Seite das Atlantische Weltmeer tief sich einbuchtet, auf der andern das Indische Weltmeer Afrikas Küsten bespült, wo, um mich so auszudrücken, beide Meere über den Erdtheil hinweg sich die Hände reichen, ändern sich die Verhältnisse, indem hier alljährlich zu gewissen Zeiten unter Sturm und Blitz und Donner so ausgiebige Regenmassen herniederstürzen, daß vor ihnen die Wüste weichen und der lebendigeren Steppe Platz machen muß. Daher teilt sich hier das rollende Jahr in zwei von einander wesentlich verschiedene Zeiten: an die belebende und die ertödtende, die der Regen und jene der Dürre nämlich, wogegen in der Wüste einzig und allein die zeitweilig herrschenden Winde von den anderswo wechselnden Jahreszeiten Kunde bringen.
Um die Steppe zu erklären, erscheint mir eine flüchtige Schilderung ihrer Jahreszeiten unerläßlich zu sein. Denn jedes Land spiegelt das Klima wieder, welches in ihm herrscht, und jedes Gebiet ist nichts anderes als ein Ergebniß der streitenden Gewalten seiner Jahreszeiten und kann nur verstanden werden, wenn man diese und ihren Einfluß kennen gelernt hat.
Mit dem Aufhören der Regen beginnt im Innern Afrikas die ertödtende Zeit des Jahres oder der lange und furchtbare Winter, welcher durch seine Gluth genau dasselbe bewirkt, was der nordische Winter durch seine Kälte zu Wege bringt. Noch bevor sich der bis dahin oft bewölkte Himmel völlig geklärt hat, werfen einzelne der im Frühlinge ergrünten Bäume ihren Blätterschmuck ab, und mit den fallenden Blättern verlassen auch die Wandervögel, welche während des Frühlings gebrütet haben, das herbstende Land, um in anderen Gefilden ihres heimatlichen Erdtheils Zuflucht zu suchen. Die Halme der Brotfrüchte gilben noch vor dem Ende der Regen; die niederen Gräser welken und dürren. Zeitweilig fließende Gewässer versiegen, durch die Regen gefüllte Becken trocknen aus und zwingen nicht allein die in ihnen lebenden Kriechthiere und Lurche, sondern selbst die ihnen eigenen Fische, in feuchten Betten sich einzugraben und hier ein Winterlager zu suchen. Kerbthiere und Pflanzen vertrauen ihren Samen der Erde an.
Jemehr die Sonne scheinbar nach Norden sich wendet, um so rascher rückt der Winter heran. Der Herbst beschränkt sich auf einige Tage. Er bewirkt kein Verwelken und Absterben der Blätter, kein Erglühen in Gelb und Roth, wie bei uns zu Lande, sondern übt durch glühende Winde eine so vernichtende Gewalt, daß jene vertrocknen wie gemähetes Gras im Strahle der Sonne und theils noch grün zu Boden fallen, theils am Stiele zerstieben, daß die Bäume, mit sehr wenigen Ausnahmen, binnen kürzester Frist ihr winterliches Aussehen erhalten. Ueber den vor wenigen Tagen noch im Winde wogenden, mit hohem Grase bewachsenen Flächen wirbelt jetzt Staub auf; in den theilweise oder gänzlich trocken gelegten Flußläufen und Wasserbecken klafft der Boden in tiefen Spalten. Alles Angenehme schwindet, alles Unangenehme tritt bedrohlich hervor: Blätter und Blüthen, Vögel und Schmetterlinge welken, wanderten oder starben; aber Dornen, Stacheln und Kletten blieben zurück, Schlangen, Skorpione und Taranteln feiern die Hochzeit ihres Lebens. Unsägliche Gluth bei Tage, unerträgliche Schwüle bei Nacht sind die Leiden dieser Tage, und gegen das eine wie gegen das andere giebt es kein Mittel der Abwehr. Wer jene Tage nicht selbst erlebt hat, an denen der Wärmemesser im Schatten bis auf fünfzig Grad C. steigt, während deren man fortwährend schwitzt, ohne eher als im kühlen Raume zum Bewußtsein davon zu gelangen, weil die Gluth allen Schweiß verdunsten läßt, während deren eine Staubwolke nach der andern zum Himmel aufwirbelt oder trockener Dunst bleischwer auf einem lastet, vermag nicht solche Leiden sich auszumalen; wer jene Nächte, in denen man sich schlaflos auf dem Lager wälzt, weil die Schwüle verwehrt zu ruhen und zu schlafen, nicht durchseufzt hat, ist außer Stande, die Qual der Menschen und Thiere in gleicher Weise bedrückenden Zeit nachzufühlen. Selbst der Himmel ändert sein bisher selten getrübtes Blau in fahlere Farben um; denn der eben erwähnte Dunst verhüllt oft halbe Tage lang die Sonne, ohne ihr jedoch die Gluth zu rauben; im Gegentheile, gerade wenn der Gesichtskreis mit solchen Dünsten umdichtet ist, scheint die Schwüle noch zuzunehmen. Ohne irgend welche Erquickung für Geist und Leib reihen sich die Tage an einander. Kein kühlender Hauch aus Norden fächelt die Stirne, kein Blüthenduft, kein Vogelgesang, keine Zaubergemälde in leuchtenden Farben und tiefdunklen Schatten, wie das überquellende Himmelslicht der Gleicherländer sonst wohl hervorruft, erfrischt die Seele; alles Lebendige, Farbige, Dichterische ist verschwunden, in todähnlichen Schlaf gesunken, und dieser ist viel zu grausenvoll, als daß er dichterische Gefühle wecken könnte. Mensch und Thier welken, wie früher Gras und Blätter welkten, und mancher Mensch, manches Thier sinkt für immer nieder, wie jene. Vergeblich ringt trotziger Mannesmuth, von der Last dieser Tage sich zu befreien, in Seufzen und Klagen geht der festeste Wille unter. Jede Arbeit ermüdet, jede, auch die leichteste Decke wird zu schwer; jede Bewegung ermattet, jede Verletzung verwandelt sich zur bösartigen Wunde.
Doch selbst dieser Winter muß endlich dem Frühlinge weichen. Grausenvoll aber ist auch dessen Wehen. Derselbe Wind, welcher in der Wüste zum Samum wird, regt, als Herold des Lenzes, seine Schwingen, wühlt in den Ritzen des Bodens, um sogar aus ihnen noch Staub zu entnehmen, wirbelt letzteren in dichten Massen empor, baut aus ihm mauerähnliche Wolken auf und führt diese brausend und heulend durch das Land, wirft sie durch die Fenstergitter der besseren Wohnungen in den Städten wie durch die niedere Thür der Hütte des Eingeborenen und fügt neue Unannehmlichkeiten zu den gewohnten Plagen. Er allein hat endlich die volle Herrschaft errungen und übt sie unumschränkt, als wolle er alles vernichten, was bisher noch widerstand; er aber ist es auch, welcher weiter ins Süden regenschwangere Wolken zusammenballt und dem verbrannten Gelände entgegenführt. Bald will es scheinen, als verlöre er mit der sich mehrenden Stärke seine bedrückende Schwüle, als wehe er zuweilen nicht mehr glühend, sondern frisch und erquickend. Es ist keine Täuschung: der Frühling rüstet sich zum Einzuge, und auf des Südsturmes Fittichen rauschen die Wolken einher. Noch kurze Zeit, und sie dunkeln im Süden das Gewölbe des Himmels; noch wenige Tage, und zuckende Blitze erleuchten, allnächtlich fast, die düsteren Schichten; noch einige Wochen, und ferner Donner kündet den belebenden Regen.
Geschäftig regt es sich, wogt und fluthet es in und an allen Strömen, welche vom Süden herkommen. Noch haben sie sich kaum getrübt; aber sie sind lebendiger geworden, denn sie steigen von jetzt an fortwährend und senden in allen tieferen Spalten und Rissen ihrer verschlammten Uferflächen das belebende Naß nach dem Innern des Landes. Und auch die Zugvögel sind bereits wieder eingetroffen und mehren sich von Tag zu Tage. In den oberen Nilländern erschien der Storch, um wiederum Besitz zu nehmen von den alten Nestern auf den kegelförmigen Strohhütten der Eingeborenen, erschien mit ihm der heilige Ibis, um auch heute noch sein vor Jahrtausenden übernommenes Amt zu üben: Bote, Herold und Bürge zu sein, daß der alte Nilgott wiederum seiner Gnade Born und seines Segens Füllhorn über die ihm unterthanen Länder ergießen werde.
Endlich zieht das erste Gewitter heran. Beengendere Schwüle als je liegt über dem todten, verbrannten Gelände. Unheimliche Stille beängstigt Mensch und Thier. Jeder Gesang, fast jeder [731] Stimmlaut der Vögel ist verstummt; sie selbst haben sich am dichtesten Gelaube der immergrünen Bäume geborgen. Aber auch das Leben im Lager des Wanderhirten, im Dorfe, in der Stadt scheint zu ersterben. Besorglich schleichen die sonst so lebhaften Hunde einem stillen, sicheren Ruheorte oder Verstecke zu; alle übrigen Hausthiere gebärden sich ängstlich oder wild; die Rosse müssen gefesselt, die Rinder in ihre Umzäunung getrieben werden. In der Stadt schließt der Kaufmann seine Bude, der Handwerker seine Werkstatt, der Regierungsbeamte seinen Divan; denn jedermann sucht Zuflucht in seiner Behausung. Und dennoch rührt sich noch kein Lufthauch, vernimmt man noch kein Geflüster in den Blättern der wenigen noch Blätter tragenden Bäume. Wohl aber sieht man, wie das Gewitter sich gestaltet und naht.
Im Süden schichtet sich eine dunkle und gleichwohl flammende Wand zusammen, vergleichbar der Feuerwolke über einer brennenden Stadt, einem meilenweit in Flammen stehenden Walde. Brandroth, purpurn, dunkelroth und braun, fahlgelb, grau, tiefblau und schwarz scheinen in ihr einen Farbenreigen zu führen, vermischen und sondern sich, gehen in dem Dunkel auf und treten wiederum grell hervor. Sie liegt auf der Erde und wächst zu dem Himmel empor; sie scheint still zu stehen und rast mit Sturmeseile dahin, verengert von Minute zu Minute den Gesichtskreis mehr und mehr und hüllt alles Vorhandene in undurchdringlichen Schleier. Pfeifendes und sausendes Geräusch geht von ihr aus; auf dem Standpunkte des Beobachters aber ist noch alles ton- und klanglos.
Da braust plötzlich, kurz und heftig, ein Windstoß dahin. Starke Bäume beugen sich vor ihm wie schwache Gerten, die schlanken Palmen neigen ihre Kronen tief herab. Dem einen Stoße folgen in stetig beschleunigter Folge andere; der Wind wächst zum Sturme an, der Sturm steigert sich zum Orkan, und dieser wüthet mit beispielloser Gewalt. Sein Toben ist so gewaltig, daß der Schall des ausgesprochen Wortes das Ohr des Sprechers nicht erreicht, daß jeder Laut übertönt und verschlungen wird. Es rauscht und braust, tost und saust, pfeift und heult, dröhnt und prasselt in den Lüften, am Boden, in den Kronen der Bäume, als ob alle Elemente miteinander im Kampfe lägen, der Himmel einfallen, die Grundfesten der Erde erschüttert würden. Unwiderstehlich trifft der gewaltige Sturm die Kronen der Bäume, reißt die Hälfte der Blätter aller noch belaubten Bäume mit sich fort, bricht mannesstarke Stämme wie sprödes Glas, bemächtigt sich der Krone selbst, rollt, dreht und wirbelt sie wie einen leichten Ball über ebene Flächen hinweg und gräbt sie endlich, mit den Aesten, als der breitesten Grundlage, nach unten, dem kläglich emporstarrenden Bruchstücke des Stammes nach oben, tief ein in lockere Erde oder Sand, um sie so der vernichtenden Termite zu überliefern. Gierig wühlt er in allen Spalten und Ritzen der Erde, entnimmt ihnen Staub, Sand und Kies, erhebt diese Stoffe bis in die Wolken und führt sie mit solcher Gewalt mit sich fort, daß sie von harten Gegenständen mit vernehmlichem Prickeln und Knattern zurückprallen, verhüllt mit ihnen Himmel und Gelände, wandelt durch sie den Tag zur düsteren Nacht, so daß der geängstigte Mensch im Innern der stauberfüllten Wohnung Laternen anzündet, um an der lebendigen Flamme gleichsam sich selbst wiederzufinden oder doch zu beruhigen.
Doch das Toben der Windsbraut wird noch übertönt. Prasselnde Donnerschläge dröhnen mächtiger als sie und übertäuben ihr Heulen und Brausen. Noch immer sind die Staubwolken so dicht, daß man die Blitze nicht wahrzunehmen vermag; bald aber macht sich ein bisher noch nicht vernommenes Rasseln unter das Wirrsal der Laute und Geräusche, und damit beginnt die unnatürliche Nacht dämmernder Helligkeit zu weichen. Es ist, als ob schwerer Hagel herniederschlage, und gleichwohl sind es nur Regentropfen, welche jetzt zu Boden fallen und den aufgewirbelten Staub und Sand mit sich nehmen. Nunmehr wird man der Blitze gewahr. Einer folgt so unmittelbar auf den andern, daß man unwillkürlich die geblendeten Augen schließt und nur noch an dem ohne Unterbrechung rollenden Donner das Wetter verfolgt. Der Regen wandelt sich zum Wolkenbruche; von den Bergen rauscht das Wasser in Bächen hernieder, in den Niederungen sammelt es sich zu Seen, in den Thälern fluthet es in Strömen dahin. Stundenlang währt der Niederschlag, aber schon mit Beginn des Regens ermattet der Sturm und frischer kühlender Wind erquickt Menschen, Thiere und Pflanzen. Allmählich verringern sich die Blitze, schwächt sich der Donner, wandelt sich der Wolkenbruch wieder in Regen, dieser endlich in sanftes Rieseln; der Himmel klärt sich, die Wolken zerreißen und strahlend bricht die Sonne zwischen ihnen hervor. Frohlockend verläßt die braune Jugend, nackt, wie sie erschaffen, Häuser und Hütten, um sich in den Gewässern des Frühlings zu baden; nicht minder beglückt entsteigen deren schlammigem Grunde Kriechthiere, Lurche und Fische, und schon in der ersten Nacht nach dem Regen ertönt tausendfach die helle und laute Stimme eines kleinen Frosches, von dem man vorher nichts wahrnehmen konnte, weil er, wie einzelne Krokodile, viele Schildkröten und alle Fische der zeitweilig trocken liegenden See, in der Tiefe der Erde ein Winterlager gesucht hatte und durch den ersten Frühlingsregen ins Leben zurückgerufen wurde.
Allüberall regt sich das erwachende Leben gewaltig. Gierig saugt die lechzende Erde die ihr gespendete Feuchtigkeit ein; aber der Himmel öffnet nach Verlauf weniger Tage wiederum seine Schleusen und erweckt durch das belebende Naß alle noch schlummernden Keime. Ein zweites Gewitter sprengt die Blattknospen aller einem Wechsel unterworfenen Bäume und entlockt dem Boden sprossende Gräser; ein dritter Regenguß ruft Blüthen und Blumen hervor und kleidet das ganze Gelände in saftiges Grün. Zauberhaft, wie er gekommen, wirkt und waltet der Frühling. Was bei uns der Frist eines Monats bedarf, vollendet hier im Verlaufe einer Woche den Kreislauf seines Lebens; was in gemäßigten Gürteln nur langsam sich entwickelt hat, entfaltet sich hier in Tagen und Stunden.
Binnen wenigen Wochen aber ist der Frühling auch wieder vergangen und der kaum von ihm unterschiedene Sommer eingetreten in den Reigen des Jahres, ebenso rasch diesem der kurze Herbst gefolgt, so daß man, streng genommen, nur von einer einzigen, Frühling, Sommer und Herbst in sich begreifenden Jahreszeit sprechen darf. Und wieder steht der ertödtende Winter vor der Thür und verwehrt ununterbrochenes Entkeimen, Wachsen und Gedeihen, wie andere Gleicherländer, dank ihres größeren Wasserreichthums, es ermöglichen. Genügend aber ist dennoch die Menge der hier fallenden Regen, um die starre Wüste zu verbannen und überall da, wo sie sonst herrschen würde, einen mehr oder minder üppigen Pflanzenteppich über den Boden zu breiten oder, mit anderen Worten, anstatt der Wüste Steppe hervorzurufen.
Ich gebrauche das Wort Steppe zur Bezeichnung von jenen dem Inneren Afrikas eigenen Gefilden, welche der Araber „Chala“ oder zu deutsch „frische, grüne Pflanzen erzeugende Gelände“ nennt. Die Chala ist freilich ebenso wenig der Steppe Südrußlands und Mittelasiens, wie der Prairie Nordamerikas, der Pampa oder dem Llano Südamerikas gleich, aber doch der erstgenannten in vieler Beziehung so ähnlich, daß ich kaum der Entschuldigung bedarf, wenn ich ein uns bekannteres Wort dem unbekannten vorziehe. Die Steppe erstreckt sich über das ganze innere Afrika von der Wüste an bis zur Karu, von der Ostküste an bis zu der des Westens, umgiebt alle dort liegenden Hochgebirge und schließt alle auf ihnen wie in den tiefer eingesenkten und wasserreicheren Niederungen sich ausdehnenden Urwaldungen in sich ein, umfaßt alle Länder im Herzen Afrikas, beginnt wenige hundert Schritte jenseit des letzten Hauses der Städte, unmittelbar hinter den letzten Häusern der Dörfer, nimmt die Felder der Ansässigen in sich auf und ernährt und erhält die Herden des Wanderhirten. Wo nach Süden hin die Wüste endet, wo der Wald aufhört, wo ein Gebirge sich verflacht, macht sie sich geltend; wo der Wald durch Feuer zerstört wurde, bemächtigt zuerst sie sich der Brandstelle; wo der Mensch ein Dorf verließ, dringt sie in dessen Weichbild ein, um es binnen wenig Jahren bis auf die letzten Spuren zu vernichten; wo der Ackerbauer seine Felder aufgab, drückt sie diesen in Jahresfrist wiederum ihr Gepräge auf.
Es war ein kalter Oktoberabend und die bleichen Herbstnebel hielten ihren ernsten Einzug auf der trostlosen weiten Ebene Kurlands. Der Zug leerte sich in Moscheiki, einer kleinen Eisenbahnstation, deren Restauration aber durch die schweren silbernen Tafelaufsätze mit dem dampfenden silbernen Samowar (Theemaschine), die Schar befrackter Kellner mit weißen Handschuhen und Kravatten einen vortheilhaften Eindruck machte. Mich fror und so nahm ich an der langen Tafel zwischen den russischen Offizieren Platz, um mich mit einem Glase heißen Thee, der sehr dunkel getrunken wird, aber vortrefflich mundet, zu erwärmen.
Ich hatte, wie man mir mehrfach sagte, bis zum Abgange des Zuges nach Libau noch eine volle Stunde Zeit. Da der Reisende aber auf den Seitenbahnen Rußlands noch vorsichtiger als im Süden der Vereinigten Staaten Amerikas sein muß, nahm ich im Zuge Platz und fuhr, trotzdem der Zug erst in einer Stunde gehen sollte, gleich darauf zu meinem nicht geringen Erstaunen in die dunkle Nacht hinaus. Ich mußte unwillkürlich an den geistvollen Turgenjeff denken, der seine Landsleute unbarmherzig, aber sehr wahr schildert und ihnen die Eigenschaft des fortwährenden Lügens beilegt. Dagegen habe ich unter den Adligen der Deutsch-Russen in Kurland, Livland und Esthland, deren Söhne meistens auf den deutschen Universitäten studiren, die prächtigsten Menschen gefunden, voll Ehrlichkeit und Wahrheit und von der liebenswürdigsten Gastfreundschaft.
In Libau zeichnete ich Ansichten der Stadt und skizzirte oben auf der luftigen engen Plattform des Leuchtthurms das Bild Libaus[1], wofür mich der russische Wächter einstecken wollte und erst auf Vorzeigen meiner Empfehlung an einen der höchsten Beamten mich freiließ.
Am zweiten Morgen miethete ich einen Wagen, der mich nach Polangen, dem russisch-preußischen Grenzorte, zurückbringen sollte. Der Kutscher, ein Lette mit verschmitztem Gesichte, küßte mir beim Miethen des Fuhrwerks nach dortiger Sitte die Hand und nannte mich Baron. Die Kalesche war ein altersschwaches mit Fenstern versehenes Vehikel. Vor diesem wurde das Viergespann befestigt, alle vier Pferde quergespannt in einer Reihe, zwei hohe Kosakenpferde in der Mitte, zwei kleine Steppenthiere zur Seite. Mein Koffer erhielt hinten auf zwei langen Stangen Platz und im Galopp ging's zur Stadt hinaus.
Plötzlich klirrte das eine der Fenster, die Scheiben zersprangen, ich hörte einen Schrei. Am Boden lag ein altes Botenweib, in den Lumpen des Elends und im Schmutze der Armuth, das mein Kutscher überfahren hatte. Zuckerhüte und Cigarren, welche die Frau zu tragen hatte, lagen im Dünensande.
Wie ein Tiger auf die Beute, stürzte sich mein Kutscher auf die Waaren. Er nahm dem armen Weibe „zur Entschädigung“, wie er sagte, die ganze Habe für die alten blinden Glasscheiben. Die Frau lag vor mir in Thränen auf den Knieen und rang die Hände um Erbarmen.
„Du giebst sofort die Sachen zurück,“ befehle ich dem Kutscher, "ich bezahle das Fenster!“
Der Halunke murmelt einen lettischen Fluch zwischen den Zähnen, sieht mich boshaft an, aber gehorcht.
Die Ostsee lag dicht vor mir. Im zauberhaften Morgenlichte glänzte der Kamm der Wellen und die Möven tummelten sich mit langsamem Flügelschlag über der weiten Wasserwüste.
Der Kutscher trieb mein Viergespann den Strand entlang ins Seewasser, so daß die Pferde bis über dem Kniegelenk im flachen Wasser gingen und die alte Kutsche bedenklich wackelte. Links zwischen Dünenhügeln blickten einsame strohgedeckte Fischerhütten den polnischen Dorfhäusern ähnlich, hervor, von dunkeln Föhren überragt. Vortreffliche Motive zu Stimmungsbildern!
Der Weg windet sich im Dünensande aufwärts. Aesende Rehe schauen uns mit den großen dunkeln Augen an und eilen dem Walde zu. Die Einsamkeit umgiebt uns.
Der ernste Föhrenwald, welcher sich auf dem hellen Dünenboden erhebt, nimmt uns auf. Unter den Stämmen wuchern üppiges Farrnkraut und die wilde Waldhimbeere, auf den Blättern und Spinnweben funkelt der Morgenthau wie zahllose Brillanten. Mir wird das einsame Fahren in geschlossener Kalesche langweilig, ich lasse halten und setze mich zum Kutscher auf den Bock. Er singt ein lettisches Volkslied.
"Bräutlich Mädchen, goldgelocktes,
was hast du für schöne Haare!
Alle meine Klugheit hast du
In dein schönes Haar verstricket!“
Von Zeit zu Zeit hielten wir im Walde vor einem Kruge, theils um die Pferde zu füttern, theils weil der Kutscher Schnaps trinken wollte. Es sei so schrecklich kalt, meinte er.
Die Sonne ging unter, als wir vor dem einsamen Waldkruge Meirischken anlangten. Während wir weiterfuhren, wechselte ein Hase quer über den Weg. Künstler, Jäger und Seeleute sind besonders abergläubisch, aber auch Feldherren, wie Napoleon und Wallenstein, waren es, welche an die Dies fasti und nefasti – Tage, die Glück und solche, die Unglück bringen – glaubten, und Tycho de Brahe kehrte wieder um, wenn ihm eine alte Frau oder ein Hase über den Weg lief.
Ich mußte fortwährend an meinen Koffer denken. Für die Besuche bei hohen russischen Beamten, von denen ich die Erlaubnis zu Zeichnungen für die "Gartenlaube“ einholen mußte – sowie zu den durch warme Empfehlungen von hoher Stelle in München vielfach an mich ergangenen Einladungen hatte ich viel Garderobe mitgenommen, die ich nicht gestohlen sehen wollte. Bei jedesmaligem Hallen versicherte ich mich vor dem Weiterfahren, ob man Koffer noch fest genug aufgeschnürt sei; die sechs fingerdicken Stricke hielten ihn aber so eng umschlossen, daß er auch beim kräftigen Ansetzen der Schulter sich nicht rührte.
"Der Koffer ist wohl sehr werthvoll?“ fragte der mich beobachtende Kutscher.
[733] „Ja, fünfhundert Rubel, und Du stehst mir dafür!“
Wir fuhren weiter in der Waldeinsamkeit und deren tiefem Schweigen. Ich sah nach der Uhr.
„Ah Gold! sehr schön,“ meinte der Kutscher. „Hatte mein Herr auch, aber längst todt.“
Nach einer Weile des Schweigens fragte er mich, ob ich mich nachts in einem so weiten Walde nicht fürchte, es gebe schlechte Leute in der Gegend, er sei aber ganz ehrlich. Ich antwortete ihm, daß ich mich weder vor Hölle noch Teufel fürchte, ich hätte den Krieg im Jahre 1870 gegen die Franzosen mitgemacht. Das sei etwas ganz anderes, als durch einen Wald zu fahren.
So, dann müßte ich ja schon viel Schreckliches gesehen haben, gab er zur Antwort.
„Ja, ja, Väterchen, ich bin ganz ehrlich,“ fuhr er fort, „nur im Winter schmuggle ich gern.“
„Das nennst Du ehrlich?“
Nun, man verdient wenigstens etwas dabei. O, da geht es manchmal ganz lustig zu. Wir alle haben Flinten. Meistens werden Zucker, Schnaps, Rum und Cigarren aber auch Handschuhe geschmuggelt. Im Winter bekommt jeder von uns für den Tag fünf Rubel, im Sommer drei. Es ist zwar wenig, aber doch etwas. Ach, ich bin so arm und mehr als das bißchen Leben kann man ja nicht verlieren.“
Er schwieg. Ich sagte ihm, daß ich kein Russe sei, er möge nur weiter erzählen. Und er fuhr fort:
„Haben wir viele Waaren, so gehen Späher voraus, während der eigentliche Transport theils auf Wagen gefahren, theils auf unsern Schultern getragen wird. Am liebsten sind uns recht dunkle Nächte, in denen man keinen Hund hinaus jagt. Müssen aber die Waaren schnell befördert werden, so schmuggeln wir auch am Tage oder in mondhellen Nächten. Da kommt es freilich vor, daß der eine oder andere im Kampfe gegen die russischen Zollwächter fällt. Dann ist es Gottes Willen. Wir halten alle zusammen. Sämmtliche Schmuggler verstehen einander durch besondere Worte und Zeichen, alle sind Freunde und einer deckt den anderen. Das ist aber auch nöthig, denn die Zollwächter haben gute Nasen und schlaue Kundschafter. Sehen Sie, Herr, ich war, während ich im vorigen Winter mitten im tief verschneiten Walde spähte, ob nicht ein russischer Kragen sichtbar sei, selbst einmal nahe dran, von der blauen Bohne getroffen werden, die mir dicht am Ohre vorbeipfiff und in eine Tanne schlug. Wir waren jedoch in der Mehrzahl und so nahmen die Russen, nachdem wir einige Flintenschüsse gewechselt, Reißaus. Bevor wir in die Nacht hinauswandern, wird fleißig Wodka (Schnaps) getrunken. Der Wirth läßt es an nichts fehlen, wir rauchen seine Cigarren und warten ab, bis die vorausgeschickten Kundschafter uns Nachricht bringen, ob die Luft rein ist. Zuweilen schicken wir wohl auch einen Scheintransport nach derjenigen Gegend, in welcher wir die Zollwächter auskundschafteten, oder wir leiten sie durch Wacht- und Signalfeuer irre, während wir auf einer entgegengesetzten Seite die Grenze passiren und die pfiffigen Russen auslachen.
Auch auf der Ostsee wird viel ‚gepascht’, besonders gern bei stürmischem Wetter, wo uns die Wellen decken und die Russen sich nicht leicht hinauswagen. Setzt uns der Zollkutter nach, so werfen wir die Waaren oder Fässer ins Meer. Man kann uns nichts beweisen. Einzelne füllen wohl auch den Schnaps in Schweinsblasen; steht die Gefahr, erwischt zu werden, nahe bevor, so schneidet man die Blasen auf, der Spiritus fließt hinaus und – wir sind ganz unschuldig!“
Ich wußte jetzt, mit wem ich es zu thun hatte. Aus dem Walde schimmerte ein einsames Licht.
„Ein Krug, wir müssen dort wieder füttern!“ sagte mein Kutscher.
Es war gegen Mitternacht, als wir das völlig einsam gelegene Haus, das links am Wege, dicht am Walde, sich erhob, betraten. Ein schmutziges, sehr großes, von Rauch geschwärztes Zimmer, das an Stelle des Lichts mit Kienspänen spärlich beleuchtet wurde, nahm uns auf. Eine abscheuliche Fuselatmosphäre herrschte in demselben. Es ging dort hoch her! Etwa fünfzehn wie Insurgenten kostümirte Männer mit spitzen Hüten, wie sie in Kujawien und Galizien getragen werden, Gürtel um die Röcke, die Beinkleider in den Stiefeln, zechten dort zwischen aufgestapelten Cigarrenkisten, Zuckerhüten und Schnapsfässern. Gewehre standen an die Wände gelehnt. Es waren kräftige Gestalten, einige unter ihnen mit geschwärzten Gesichtern. – Ich sah sogleich, daß ich es hier mit richtigen Schmugglern zu thun hatte. Das laute Gespräch verstummte, als ich eintrat und mir beim Wirth, einem Juden, eine Tasse Kaffee bestellte. Dieser hatte aber nur Schnaps, der abscheulich schmeckte.
[734] Mein Kutscher trat ein. Sämmtliche Schmuggler küßten ihn auf russische Art rechts und links. Ich bemerkte, wie er einem von ihnen etwas ins Ohr flüsterte, indem er gleichzeitig nach mir herüberschaute.
Ein baumlanger Kerl, das Gewehr in der Hand, trat auf mich zu und fragte mich, ob ich Russisch könne, während er mir gleichzeitig einen Zettel mit russischer Schrift vorhielt. Ich erwiderte ihm in entschiedenem Tone, daß ich ein Deutscher sei und kein Russisch verstände.
Jeder der Schmuggler ließ aus seinem Glase meinen Kutscher trinken, er mußte allen Bescheid thun, offenbar wollten sie ihn betrunken machen.
Ich befahl anzuspannen und eilte hinaus, um dem Rauch der Kienfackeln, dem Tabaksqualm und der Fuselluft zu entgehen. Mein Wagen stand vor der Thür und ich sah trotz der herrschenden Dunkelheit, wie eine Gestalt von meinem Koffer weg über die Straße in den Wald sprang. Sogleich faßte ich nach dem Koffer, aber noch saß er, von den starken Stricken gehalten, fest
„Kerl! Du stehst mir für den Koffer, und wehe Dir, wenn er gestohlen wird!“ schrie ich den Kutscher an.
„O Herr, hier alles ehrlich!“ betheuerte er.
Wir fuhren weiter. Die Nacht war kalt, ich blieb im Wagen sitzen. Die Käuzchen schrieen im Walde.
Sehr oft ließ ich halten, den Kutscher absteigen damit er nachsehe, ob der Koffer sich noch hinten auf dem Wagen befände. Nachdem dies eben wieder geschehen, stellte sich mein Kutscher erschrocken vor mich hin und stotterte ängstlich, daß der Koffer noch da sei, aber alle Stricke durchschnitten wären.
Mit einem Satze war ich aus dem Wagen heraus, machte Feuer mit einem Zündhölzchen und sah, daß sämmtliche starke Stricke während der Fahrt glatt wie mit einem Rasirmesser durchschnitten waren. Der Koffer selbst war bereits so weit auf den Stangen heraus-gerückt, daß er jeden Augenblick herabfallen mußte.
Ich höre im Walde pfeifen und sehe in der Ferne Laternen. Schnell den Koffer zu Dir hinauf auf den Bock!“ und ich helfe dem Kutscher, jenen bei sich unterzubringen.
„So, nun schnell vorwärts, pojeschai!“
Die Laternen nähern sich.
„Ja, Pferde müde!“ brummt der Kutscher unwirsch.
„Vorwärts, Du Schuft, oder ich erschieße Dich wie einen Hund!“ Gleichzeitig stieß ich mit meinem Ellbogen das rechte Wagenfenster auf, zog schnell meinen mit spitzer eiserner Zwinge beschlagenen Alpenstock, der mir zur Befestigung des Malschirmes dient und meine einzige Waffe war, aus den Reiseeffekten hervor und hielt die Spitze zum Fenster hinaus, um frei zustoßen zu können.
Wieder höre ich pfeifen, die Laternen kommen rechts im Walde näher und näher, nochmals rufe ich dem Kutscher zu, schnell zu fahren, mit der Drohung, ihn zu erschießen, wenn er dies nicht sofort thäte. Derselbe hatte meinen langen schweren Stock wohl für eine Büchse gehalten, denn endlich knallte die Peitsche, die Pferde zogen fest an und im scharfen Trabe ging's vorwärts. Aber es war auch die höchste Zeit! Hinter mir hörte ich laut fluchen und die Laternen blieben in der Ferne zurück.
Der Krug, in welchem sich die Schmugglerherberge befindet, ist unschwer zu finden. Von Polangen aus liegt er etwa zwei Stunden einsam rechts am Wege und Walde, das schmutzige Gastzimmer links von der Hausthür.
Um zwei Uhr nachts langten wir endlich in Polangen an, das sich stolz zu den Ostseebädern zählt. Das unsaubere Bauernnest schlief. Nach mehrmaligem vergeblichen Anklopfen an verschiedenen Hausthüren öffnete uns endlich ein Judenmädchen. Meine Frage, ob ich in dem Hause übernachten könne, bejahte sie. Den glücklich gewonnenen schweren Koffer steckte mein Kutscher in den Hausflur. Das Mädchen bestand jedoch darauf, daß ich ihn mit in mein Zimmer nehme, da alles, was nicht in verschlossenem Raume sich befände, gestohlen würde.
Als ich ihr kurz mein Abenteuer erzählte, sagte sie mir, daß dies schon der sechste ähnliche Fall in dem Monat sei, der aus jener Straße und zwar immer genau an derselben Stecke im Götschenkrugwalde passirt, nur mit dem Unterschiede, daß den andern ihre Koffer gestohlen, der meinige mir durch meine Vorsicht erhalten geblieben. Sie erklärte mir, daß die Diebe im Walde lagerten, die Stricke würden mit einem scharfen Messer während der Fahrt durchschnitten und das Herabfallen des Koffers überließe man diesem selbst, um ihn dann, nachdem der Wagen längst außer Sicht sich befindet, aufzubrechen und zu berauben.
Ich wollte die Sache anzeigen. Sie rieth mir aber entschieden ab mit dem Bemerken, daß ich dadurch nur Kosten und Termine haben würde.
„Der Schulze giebt den Bauern recht und spricht sie frei,“ sagte sie lachend.
Wie froh war ich, als sich der preußische schwarz-weiße Schlagbaum vor mir hob und ich in einem Einspänner wieder auf ehrlichem deutschen Boden mich befand.
Die Abbildungen aber sind nicht immer so schnell und spielend erworben, als vielleicht viele Leser glauben.
Betrachten wir die aus der Schule kommenden Kinder, so erregen in den Städten die Mädchen der weniger bemittelten Stände unsere Aufmerksamkeit. Ihre Haltung ist meistens schlaff, nach vorn gebeugt, die Gesichtsfarbe blaß, während die Knaben stramm und lustig herumspringen. Die Ursache beruht in der größeren Betheiligung der Mädchen schon in den jüngeren Jahren an der Hausarbeit und dem Warten und Tragen der kleineren Geschwister, also der Unmöglichkeit, der frischen Luft in dem Grade theilhaftig zu werden, als es nothwendig und bei den Knaben der Fall ist. Hierzu kommt noch die im Durchschnitt gänzlich ungeeignete und schädliche Weise, mit welcher die Kinder ihre Schularbeiten im Hause zu erledigen pflegen.
Während die Schule der Neuzeit bestrebt ist, die Mängel der alten Schulbänke zu beseitigen, geschieht im Hause fast nichts, um den Kindern einen der Gesundheit zuträglichen Sitz herzustellen. Stehend, oder mit abgerücktem Stuhle sitzend, legt das Kind den Brustkasten, wie bei den älteren Schulbänken, fest an den nicht zu hohen Tisch an. Der linke Arm befindet sich unter dem Tische, der ganze rechte auf der Tafelfläche. Der Kopf fällt nach vorn und die Nasenspitze berührt fast das Papier. Der rechte Arm [735] steht hierdurch höher und die Wirbelsäule muß, um diese Haltung herbeizuführen, eine Ausbiegung nach rechts annehmen. Diese Biegung wird noch durch das einseitige Sitzen des Kindes auf nur einem Oberschenkel begünstigt.
Die Wirbelsäule ist ein gegliederter Stab, an dessen oberem Theile die Rippen ringförmig befestigt sind. An der hinteren Fläche der Rippen und besonders an der Stelle, wo sie einen kleinen Winkel bilden, liegt das Schulterblatt, an welches sich vorn das Schlüsselbein anfügt; an dem Schulterblatt hängt der Oberarm. Dieser ganze schwere Schultergürtel ist nur locker, besonders durch Muskeln an dem Körper befestigt. Für das gleichmäßige Körperwachsthum ist die gleichmäßige Belastung der Wirbelsäule eine Grundbedingung. Ein andauernder ungleichmäßiger Druck wird an der gedrückten Stelle das Wachsthum hemmen, auf der freien Seite dagegen die Entwickelung begünstigen. Schon bei einer kleinen Verbiegung der Wirbelsäule müssen die Rippen in Mitleidenschaft gezogen werden.
Beim Stehen pflegen besonders die Mädchen mit dem einen Beine einzuknicken, so daß der Körper nur auf einem Beine ruht und die Wirbelsäule, um das Gleichgewicht zu erhalten, unten sich ausbiegen muß. Anfänglich gleichen sich beim Nachlassen der ungünstigen Haltung diese Biegungen wieder aus; das Kind ist aber im Wachsen, wiederholt sich die Schädlichkeit öfter, so muß bei schwachem Knochenbau und blutarmen Kindern eine Rückwirkung auf die Rippen eintreten. Wenn die Wirbelsäule sich in ihrer Mitte, wie gewöhnlich, nach rechts ausbiegt, werden die Rippen an dieser Seite hinten zusammengedrückt, links dagegen etwas abgeflacht. Schon bei niederen Graden macht sich dieses bemerkbar. Der auch normal vorhandene Rippenwinkel prägt sich stärker aus, das darauf liegende Schulterblatt wird empor- und rückwärts gehoben, es entsteht die bei den Mädchen von der Schneiderin gewöhnlich zuerst bemerkte „hohe Schulter“. Hieran schließen sich später stärkere Formveränderungen der Wirbel und Rippen an.
Die gleiche Benachtheiligung wie die Wirbelsäule erleidet das Auge bei einer unzweckmäßigen Haltung. Die Neigung des Kopfes überfüllt dasselbe mit Blut, das zu nahe angestrengte Sehen bedingt krampfhafte Zusammenziehung der Muskulatur des Augeninnern. Das Auge gewöhnt sich daran, nur Strahlen zu zerlegen, welche aus der unmittelbaren Nähe einfallen; hierdurch gewinnt auch das Wachsthum des Auges eine andere Richtung, der Augapfel verlängert sich mehr, es entsteht das kurzsichtige Auge. Parallele Strahlen, welche von ferneren Gegenständen auf die Linse fallen, vereinigen sich bei diesem Auge schon vor der Netzhaut, das Bild wird trübe und verwaschen, nur aus einander gehende Strahlen aus der Nähe bricht die Linse zu einem reinen Bilde. In den Städten tritt als erschwerende Ursache hinzu, daß das kindliche Auge selten Gelegenheit besitzt, in die Ferne zu sehen. Auch hier bedingen ungünstige Schulverhältnisse allgemeine Verschlimmerungen. Der um die Gesundheitspflege des Auges hochverdiente Professor Cohn fand in Breslau in Schulen, welche in engen Straßen gelegen waren, ziemlich dreimal so viel kurzsichtige Kinder als in freistehenden Schulgebäuden.
In ähnlicher Weise wirkt das schlechte Sitzen auf den Gesammtorganismns ungünstig ein. Die Athmung wird behindert, der Verdauungsapparat gedrückt, Blutarmuth und Nervenschwäche entstehen als Folge. Selbst im Hause ist ein richtiger Sitz beim Schreiben mit Leichtigkeit zu erzielen. Der Stuhl muß etwas unter den Tisch geschoben sein. Der Tisch soll eine solche Höhe besitzen, daß die Schultern nicht gehoben werden, der Oberkörper befindet sich bis an die Magengrube oberhalb der Tischplatte, beide Unterarme bis zu 2/3 auf dem Tische, den unteren Theil des Rückens stützt ein Rollkissen.
Diese Verhältnisse sind bei unseren neuen Schulbänken berücksichtigt. Die gewöhnlich zweisitzige Bank nähert sich soweit der Tafel, daß die Distanz gleich Null ist, die Höhenentfernung zwischen Tafel und Bank (Differenz) ist der Schülergröße angemessen, sie beträgt nach der Größe der Kinder 20 bis 25 cm. Leider findet man aber häufig noch in derselben Klasse meistens nur die eine Art von Bankhöhe, während gerade beim weiblichen Geschlecht vom 10. Jahre an ganz verschiedene Körpergrößen in der gleichen Klasse vorhanden sind. Die bestgebaute Bank muß dann schädlich einwirken; der Lehrer kann aber durch die oben angegebene Bestimmungsart leicht Abhilfe schaffen, da jede gut eingerichtete Schule 4 bis 6 verschiedene Bankgrößen enthält.
Es ergiebt sich hieraus, wie auch schon früher hervorgehoben wurde, daß die hergebrachte Sitzweise vom Standpunkte der Gesundheitspflege Aenderungen bedarf: blutarme, kurzsichtige, schwerhörige und verschieden große Kinder müssen Plätze nach ihrem körperlichen Zustande erhalten. Falls ungeachtet geeigneter Schulbänke die Kinder eine schlechte Haltung behalten, so ist im Hause die Schuld zu suchen und die Eltern sind dann von dem Lehrer zu benachrichtigen. Dieses sollte auch geschehen, wenn Zeichen von Kurzsichtigkeit auftreten, wenn das Kind die Buchstaben und Zahlen an der Tafel nicht erkennen kann und die Augen zusammenkneift, um sich das Bild deutlicher zu machen. Das Licht soll von der linken Seite auf die Kinder fallen, direktes Sonnenlicht ist zu verhüten, ebenso bei künstlicher Beleuchtung grelle und flackernde Flammen; man erachtet für sechs Kinder eine Gasflamme zum Schreiben und Lesen für ausreichend. Bei Hausarbeiten sind helle Hängelampen, durch welche das Kind nicht gezwungen wird, in das Licht selbst zu sehen, dem Auge am zuträglichsten. Eine jede Beengung des Halses durch engansitzende Kragen ist durch die infolge dessen eintretende Blutüberfüllung des Auges schädlich. Jeder starke gleichmäßige Druck des Brustkorbs treibt gleichfalls das Blut nach Kopf und Augen. In den oberen Gymnasial- und Realschulklassen tritt oft die „Klemmerkrankheit“ ein. Der Lehrer thut gut, sich die Notwendigkeit des Tragens eines Klemmers durch einen Arzt bescheinigen zu lassen, und dieser wird, falls das Auge eines Glases bedarf, sicher mehr mit einer Brille einverstanden sein, weil das Klemmerglas sich nicht so zweckmäßig an das Auge anfügt und die Brille zur Schonung der Augen ebenso rasch entfernt werden kann.
Die Schule muß bestrebt sein, zur Erfüllung ihrer Leistungen sich die Gesundheit ihrer Schüler zu erhalten, sie ist daher auch berechtigt, gegen die Kleidung Einspruch zu erheben, falls dieselbe nach allgemeinen Grundsätzen gesundheitsschädlich ist. Dieses ist z. B. bei einem enganschließenden Korsett der Fall. In jeder Schule findet sich eine Nählehrerin, welche in den obern Klassen der höheren Töchter- und weiblichen Fortbildungsschulen eine zu enge Taille kontrolliren kann, und es muß durch die Schule energisch gefordert werden, daß die Mutter wenigstens noch nicht in dieser Zeit der Entwickelung ihres Kindes die moderne Zwangsjacke in Anwendung bringt. Nach körperlichen Uebungen, bei denen das Auge gleichfalls mehr Blut enthält, sollte nicht unmittelbar Schreiben und Lesen folgen. Bei dem Turnen besonders ist hierauf Rücksicht zu nehmen, weil manches Kind hierdurch hochgradig erregt wird. Die nicht seltene Klage der Eltern, daß ihr Kind nach dem Turnen sich äußerst angegriffen fühle, wird von dem Turulehrer oft für Heuchelei der Kinder gehalten, beruht aber auf Wahrheit. Ein blutarmes, schwächliches Kind, welches zu Hause zu körperlichen Bewegungen keine Gelegenheit besitzt, kann nicht durch zwei wöchentliche Turnstunden zum Herkules herangebildet werden; es wird im Gegentheil oft, wie es auch bei Erwachsenen nach außerordentlichen Uebungen geschieht, durch die ungewohnte Erregung eine Art Turnfieber eintreten, aus welches später Erschlaffung und Muskelschmerz folgt. Dieser Uebelstand kann nur durch Vermehrung der Turnstunden oder, wie ich es öfter bei solchen Kindern mit gutem Erfolge angeordnet habe, durch Freiübungen im Hause gehoben werden. Der Turnlehrer muß vor allem die Eigenart des Kindes berücksichtigen; findet er große Muskelschwäche vor, so ist ein Zettel mit einigen Freiübungen, welche er den Kindern einlernt, schnell zum Ueben im Hause aufgeschrieben. Verständige Eltern werden dafür sicher dankbar sein und für die ein viertelstündige tägliche Ausführung sorgen – wohl sicher eine der nützlichsten Schularbeiten, deren Befolgung der Lehrer leicht durch die Zunahme von Geschicklichkeit und Muskelkraft kontrolliren kann. Die dünnen Kletterstangen sollten aus den Turnhallen wegen eines bekannten Nachtheils für die Gesundheit der Knaben beim Erklimmen verschwinden, und der Turnlehrer muß streng darauf sehen, daß der Knotenstrick nur zwischen die Füße oder Kniee genommen wird.
Die Reinlichkeit und Hautpflege der Kinder fordert eine große Berücksichtigung. Namentlich soll die Kleidung der Kinder möglichst staubfrei in die Schule gelangen, denn Nase und Luftröhren behalten den mit der Luft eingeathmeten Staub zurück, [736] die gleiche Reinlichkeit ist bezüglich der gesammten Körperoberfläche zu fordern.
Göttingen hat zuerst hier fördernd durch Errichtung von Schulbädern eingegriffen und schon mehrere Städte, besonders Frankfurt, sind nachgefolgt. Eine Klasse badet innerhalb einer Stunde. Eine gewisse Schüleranzahl wird aus der Klasse entlassen, von diesen entkleiden sich mehrere und gehen unter die Brause, während sie sich abtrocknen, kommen die nächsten an die Reihe; die zurückgebliebenen werden fort unterrichtet. Das Baden geschieht alle vierzehn Tage einmal, auch im Winter. Während im Beginne sich viele Kinder ausschlossen, meldeten sich später immer mehr, so daß zuletzt fast sämmtliche Kinder badeten. Die Lehrer heben die geistige Frische nach dem Bade hervor; Erkältungen sind leicht zu verhüten, Zugluft und zu rasches Verlassen des Klassenzimmers im Winter ist zu vermeiden und das sorgsame Abtrocknen der Haare bei kalter Jahreszeit zu fordern. Die Kosten sind so gering (in Göttingen betrugen sie 780 Mark), daß eine derartige Einrichtung bei jedem neuen Schulbau dringend wünschenswert ist, denn nicht nur der einzelne wird hierdurch gekräftigt und zu größerer Reinlichkeit angehalten, sondern auch die Gesammtheit der Schüler erhält durch die Verbesserung der Klassenluft den größten Nutzen.
Alle Rechte vorbehalten.
Alice Nordheim befand sich in dem Arbeitszimmer ihres Vaters,
das sie sonst nie zu betreten pflegte, und es mußte etwas Ungewöhnliches sein, was sie dorthin führte, denn sie sah bleich und erregt aus und schien, wie sie da am Fenster lehnte, mit einer geheimen Angst zu kämpfen, und doch handelte es sich nur um eine Unterredung zwischen Vater und Kind. Freilich, die Vertraulichkeit und Innigkeit dieses Verhältnisses fehlten hier vollständig. Nordheim, der seine Tochter mit allem Glanze seines Reichthums umgab, hatte doch im Grunde nur sehr wenig Interesse für sie, und Alice hatte das von jeher empfunden, aber bei ihrer gehorsamen geduldigen Fügsamkeit in alles, was der Vater zu beschließen für gut fand, war es nie zu irgend einem Gegensatze zwischen ihnen gekommen.
Jetzt zum ersten Male sollte das anders werden, sie wollte dem Vater mit einem Geständnisse nahen, das, wie sie wußte, seinen vollsten Zorn herausfordern würde. Aber das junge Mädchen war doch nicht so schwach und willenlos, wie es den Anschein hatte; sie fürchtete diesen Zorn, sie zitterte davor und schwankte doch nicht in ihrem Entschlusse.
Da ließ sich im Nebenzimmer der Schritt des Präsidenten hören und gleich darauf seine Stimme:
„Der Sekretär des Herrn Waltenberg? Gewiß, lassen Sie ihn eintreten!“
Alice stand einen Moment lang unentschlossen; der Vater, der von ihrem Hiersein keine Ahnung hatte, kam nicht allein, und sie konnte jetzt, in ihrer angstvollen Erregung, keinem Fremden gegenübertreten. Es handelte sich jedenfalls nur um eine Nachricht oder Bestellung von seiten Waltenbergs, die in wenigen Minuten abgemacht war. Das junge Mädchen schlüpfte also rasch in das anstoßende Schlafzimmer, dessen Thür angelehnt blieb; gleich darauf trat Nordheim ein und hatte sich kaum niedergelassen, als der Gemeldete erschien.
Der Präsident empfing ihn mit vornehmer Gleichgültigkeit. Er wußte, daß Ernst auf seinen Reisen eine Persönlichkeit aufgegriffen hatte, die unter dem Titel eines Sekretärs alle möglichen Vertrauensposten bei ihm bekleidete, interessirte sich aber nicht weiter dafür. Den Namen hatte er entweder nicht gehört oder nicht beachtet, jedenfalls erkannte er den einstigen Jugendfreund nicht wieder. Fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit, und ein Leben, wie Gronau es geführt hatte, pflegt den Menschen noch mehr als sonst zu verändern. Der Mann mit dem braunen, tiefdurchfurchten Gesicht und den grauen Haaren hatte keinen Zug mehr von dem frischen, übermüthigen Burschen, der damals in die weite Welt gegangen war, um sein Glück zu versuche.
„Sie sind der Sekretär des Herrn Waltenberg?“ eröffnete Nordheim das Gespräch.
„Ja, Herr Präsident.“
Nordheim stutzte beim Klange der Stimme, die eine unbestimmte Erinnerung in ihm erweckte. Er richtete einen scharfen Blick auf den Fremden, und während er ihm flüchtig winkte, Platz zu nehmen, fuhr er fort:
„Er kommt also heute vermuthlich nicht? Was bringen Sie mir, Herr – wie ist Ihr Name?“
„Veit Gronau!“ versetzte dieser, indem er ruhig den angebotenen Platz einnahm.
Der Präsident sah sehr überrascht aus; er schien in dem wettergebräunten Gesichte die Züge des einstigen Jugendfreundes zu suchen, aber die Erinnerung, die ihm hier so unvermuthet entgegentrat, schien keine angenehme zu sein, und er war offenbar nicht geneigt, jene Freundschaft jetzt noch gelten zu lassen. Die Haltung, welche er annahm, wies dem Sekretär seines künftigen Verwandten entschieden eine untergeordnete Stellung an.
„Dann sind wir uns wohl nicht ganz fremd,“ warf er hin. „Ich habe in meiner Jugendzeit öfter mit einem Veit Gronau verkehrt –“
„Der die Ehre hat, vor Ihnen zu sitzen,“ ergänzte Veit.
„Das freut mich in der That!“ Die Freude wurde in sehr gemessener Weise ausgedrückt. „Und wie ist es Ihnen in der Zwischenzeit ergangen? Hoffentlich gut, Ihre Stellung bei Herrn Waltenberg ist voraussichtlich eine sehr angenehme.“
„Ich habe allen Grund, zufrieden damit zu sein. So weit wie Sie, Herr Präsident, habe ich es freilich nicht gebracht, aber man muß sich zu bescheiden wissen.“
„Ganz recht! Das Schicksal lenkt die Bahnen der Menschen in sehr verschiedene Richtungen.“
„Und bisweilen übernehmen das die Menschen auch selbst; da kommt es denn freilich darauf an, wer sein Lebensschiff am geschicktesten zu steuern versteht.“
Die Bemerkung mißfiel dem Präsidenten, sie klang ihm zu vertraulich, und er wünschte keine Vertraulichkeit mit dem ehemaligen Jugendgenossen, deshalb sagte er abbrechend:
„Doch wir kommen von dem eigentlichen Grund Ihres Besuches ab. Herr Waltenberg schickt Sie also –?“
„Nein!“ versetzte Gronau trocken.
Nordheim sah ihn verwundert an.
„Sie kommen doch von ihm, in seinem Auftrage?“
„Nein, Herr Präsident. Ich kehre soeben erst von einer Reise zurück. Ich habe Herrn Waltenberg noch nicht wiedergesehen und mich nur in meiner Eigenschaft als sein Sekretär melden lassen, um sofort von Ihnen empfangen zu werden. Ich komme in eigener Sache.“
Der Präsident wurde bei dieser Eröffnung noch um einige Grade kühler und vornehmer, denn er erwartete irgend ein Bittgesuch; aber der Mann, der da so ruhig vor ihm saß und ihn mit den hellen, scharfen Augen so forschend anblickte, sah nicht aus wie ein Bittender, es lag eher etwas Herausforderndes in seinem Wesen, das Nordheim sehr unangenehm berührte.
„Nun, so sprechen Sie!“ sagte er mit merklicher Herablassung. „Unsere Beziehungen liegen zwar sehr weit zurück, indessen –“
„Ja, sie liegen um fünfundzwanzig Jahre zurück,“ schnitt ihm Gronau ohne weiteres das Wort ab. „Und doch möchte ich mir gerade aus jener Zeit eine Auskunft erbitten und Sie um Nachricht ersuchen, was aus unserem gemeinschaftlichen – ich bitte um Entschuldigung – aus meinem einstigen Freunde Benno Reinsfeld geworden ist.“
Die Frage kam so plötzlich und unerwartet, daß Nordheim einen Moment lang verstummte; er war aber hinreichend an Selbstbeherrschung gewöhnt, um auch solchen Ueberraschungen Stand zu halten. Allerdings flog ein argwöhnischer Blick zu dem Fragenden hinüber, dann aber zuckte er die Achseln und erwiderte mit kalter Abweisung:
[737]
[738] „Sie muthen meinem Gedächtniß wirklich sehr viel zu, Herr Gronau. Ich kann unmöglich noch jede einzelne Jugendbekanntschaft im Kopfe haben, und in diesem Falle erinnere ich mich nicht einmal mehr des Namens.“
„Nicht? Nun, dann muß ich Ihrem Gedächtnisse zu Hilfe kommen, Herr Präsident. Ich spreche von dem Ingenieur Benno Reinsfeld. dem Erfinder der ersten Berglokomotive.“
Die Augen der beiden Männer begegneten sich, und in dem Augenblick wußte der Präsident, daß es sich hier um keinen Zufall handelte, sondern daß ein Feind vor ihm stand, und daß in jenen anscheinend so harmlosen Worten eine Drohung lag. Es kam nur darauf an, zu erfahren, ob dieser Mensch, der so urplötzlich aus jahrelanger Verschollenheit wieder auftauchte, in der That gefährlich war, oder ob das Ganze nur auf einen gewöhnlichen Erpressungsversuch hinauslief, der sich auf irgend eine Erinnerung aus alter Zeit stützte. Nordheim schien das letztere anzunehmen, denn er sagte eisig:
„Da sind Sie falsch berichtet, die erste Berglokomotive habe ich erfunden, wie mein Patent es ausweist.“
Gronau erhob sich plötzlich, sein dunkles Antlitz färbte sich noch tiefer, man sah es, wie ihm das Blut in die braunen Wangen stieg. Er hatte sich einen ausführlichen Feldzugsplan entworfen und genau überlegt, wie er den Gegner angreifen und in die Enge treiben wolle, bis diesem kein Ausweg mehr übrig blieb; dieser eisernen Stirn gegenüber fielen aber all die klugen Vorsätze zusammen und die Empörung des ehrlichen Mannes gewann die Oberhand.
„Und das wagen Sie mir ins Gesicht zu sagen!“ rief er heftig. „Mir, der dabei gewesen ist, als Benno uns seinen Plan vorlegte und erklärte, als Sie ihn lobten und bewunderten! Läßt Ihr Gedächtniß Sie auch da im Stich?“
Der Präsident legte ruhig die Hand an die Klingel.
„Werden Sie sich freiwillig entfernen, Herr Gronau, oder soll ich die Diener rufen? Ich bin nicht gesonnen, in meinem eigenen Hause Beschimpfungen zu dulden.“
„Ich rathe Ihnen, die Klingel in Ruhe zu lassen!“ brach Veit grimmig aus. „Sie haben die Wahl, ob das, was ich Ihnen zu sagen habe, unter vier Augen oder vor aller Welt verhandelt werden soll. Wenn Sie sich weigern – ich finde überall Gehör.“
Die Drohung blieb nicht wirkungslos, Nordheim zog langsam die Hand zurück. Er sah, daß er kein leichtes Spiel haben werde mit diesem energischen entschlossenen Manne, und zog es vor, ihn nicht weiter zu reizen, aber seine Stimme klang noch immer unbewegt:
„Nun wohl, was haben Sie mir zu sagen?“
Veit Gronau trat dicht vor den ehemaligen Jugendgenossen hin und seine Augen sprühten.
„Daß Du ein Schurke bist, Nordheim – weiter nichts.“
Der Präsident zuckte zusammen, aber schon im nächsten Augenblick fuhr er auf:
„Ah, Sie wagen es –!“
„O ja, und ich werde noch mehr wagen, denn mit dem einen Worte ist die Sache leider nicht abgethan. Der arme Benno hat sie freilich nicht durchführen können oder wollen, der beugte sein Haupt unter dem Schlage und litt vielleicht mehr durch das Bewußtsein, daß sein liebster Freund ihn verrathen hatte, als durch den Verrath selbst. Wäre ich damals hier gewesen, Du wärst nicht so leichten Kaufes fortgekommen. Gieb Dir keine Mühe mit dieser empörten Miene! Bei mir verfängt das nicht, ich weiß Bescheid und wir sind ja auch allein, Du brauchst Dich nicht zu geniren. Es kommt nur darauf an, was Du antworten wirst, wenn ich Dir die Anklage öffentlich ins Gesicht schleudere.“
Er hatte in seiner Erregung den fremden Ton fallen lassen und gebrauchte das alte Du. Nordheim machte keinen Versuch mehr, ihn zur Mäßiguttg zu zwingen, aber er mußte sich trotz alledem sicher fühlen, denn er verlor seine überlegene Haltung nicht einen Augenblick.
„Was ich antworten werde?“ sagte er achselzuckead. „Wo sind die Beweise?“
Gronau lachte bitter auf.
„Ja, das dachte ich mir, daß es so lauten würde! Darum kam ich auch nicht sofort zu Dir, als ich in Oberstein bei dem Sohne Reinsfelds die saubere Geschichte erfuhr, sondern ging der Spur nach. Ich bin in den drei Wochen überall gewesen, in der Residenz, in Bennos letztem Wohnorte, in unserer Vaterstadt sogar.“
„Und sind sie gefunden, diese Beweise?“ Die Frage klang in vernichtendem Hohne.
„Nein, wenigstens nichts, was Dich direkt überführt; Du hast Dich hinreichend gesichert und Reinsfeld hatte es ja versäumt, seine Erfindung unter gesetzlichen Schutz zu stellen, weil er noch nicht fertig damit zu sein glaubte. Das war damals, als ich in die weite Welt ging und Du die Stellung in der Residenz annahmst. Der gute arglose Benno änderte und besserte inzwischen an seinem Entwurfe und baute glänzende Luftschlösser darauf, bis er eines Tages erfuhr, daß der Plan längst angenommen und mit Geld aufgewogen war; aber das Patent und das Geld hatte ein anderer in der Tasche, sein bester Freund, der sich damit zum Millionär aufschwang.“
„Und dies Märchen willst Du der Welt erzählen?“ fragte der Präsident verächtlich, indem er, fast unwillkürlich, dem Beispiele Gronaus folgte und zu dem einstigen Du zurückkehrte.
„Glaubst Du denn wirklich, daß die Behauptung eines Abenteurers, wie Du es bist, einen Mann in meiner Stellung stürzen kann? Du gestehst es ja selbst ein, daß die Beweise fehlen.“
„Die direkten, ja, aber was ich erfahren habe, ist immerhin genug, Dir den Boden heiß zu machen, auf dem Du stehst. Reinsfeld hat es ja auch versucht, zu seinem Rechte zu kommen, natürlich wurde er abgewiesen, wenn man auch hier und da seinen Angaben Glauben schenkte; da verlor er den Muth und gab die Sache auf. Aber sie ist damals wenigstens zur Sprache gekommen, Du hast Dich schon einmal gegen die Anklage vertheidigen müssen, und jetzt hast Du nicht den weichen, unerfahrenen Benno, sondern mich zum Gegner; sieh zu, wie Du mit mir fertig wirst! Ich habe es mir zugeschworen, daß ich dem Sohne meines Freundes die einzige Genugthuung schaffen werde, die hier überhaupt noch zu schaffen ist, und ich pflege Wort zu halten, im Guten wie im Schlimmen. Ich habe als ‚Abenteurer‘ ja nichts zu verlieren, und ich werde rücksichtslos und erbarmungslos gegen Dich vorgehen, werde aus allem und jedem, was ich in den letzten Wochen erfahren habe, eine Waffe gegen Dich schmieden und den Verdacht, von dem damals nur die engsten Berufskreise wußten, vor aller Welt zur Sprache bringen. Wir wollen doch sehen, ob die Wahrheit so ganz ungehört verhallt, wenn ein ehrlicher Mann bereit ist, Gut und Blut dran zu setzen!“
Es lag eine eiserne Entschlossenheit in den Worten, und Nordheim mochte wohl wissen, wessen er sich von diesem Gegner zu versehen hatte. Er schien einige Minuten lang mit sich zu kämpfen, dann fragte er kurz und leise:
„Wie viel verlangst Du?“
Um Gronaus Lippen zuckte ein spöttisches Lächeln:
„Ah, Du läßt Dich also auf Unterhandlungen ein?“
„Es kommt darauf an! Ich leugne nicht, daß ein Lärm, wie Du ihn zu erheben drohst, mir unangenehm sein würde, wenn ich auch weit entfernt bin, eine Gefahr darin zu erblicken. Wenn Du vernünftige Bedingungen stellst, wäre ich vielleicht bereit, ein Opfer zu bringen. Also – was forderst Du?“
„Sehr wenig für einen Mann Deines Schlages! Du zahlst dem Sohne Bennos, dem jungen Doktor Reinsfeld, die volle Summe, die Du damals für das Patent erhalten hast. Es ist sein rechtmäßiges Erbtheil und ein Vermögen für seine jetzigen Verhältnisse. Ueberdies gestehst Du ihm die Wahrheit ein, meinetwegen unter vier Augen, und giebst dem Todten die Ehre, die ihm gebührt, wenigstens vor seinem Sohne; dann wird dieser von jeder weiteren Verfolgung der Sache abstehen, dafür verbürge ich mich, und ich werde sie gleichfalls ruhen lassen.“
„Die erste Bedingung nehme ich an,“ sagte Nordheim in einem so kühlen Tone, als verhandle er über irgend eine geschäftliche Angelegenheit. „Die zweite nicht! Ihr werdet Euch mit dem Kapital begnügen, das wahrhaftig nicht unbedeutend ist; Ihr theilt es ja doch mit einander.“
„Meinst Du?“ fragte Gronau mit bitterer Verachtung. „Freilich, wie solltest Du auch an eine ehrliche, uneigennützige Freundschaft glauben! Benno Reinsfeld weiß nicht einmal, daß ich die Sache hier zur Sprache bringe, daß ich überhaupt Bedingungen stelle, und ich werde Mühe und Noth genug haben, [739] ihn zur Annahme dessen zu zwingen, was ihm von Gott und rechtswegen gehört, ihm allein – ich würde es als eine Schande betrachten, auch nur einen Pfennig davon zu nehmen. Doch nun genug der Erörterungen! Willst Du beide Bedingungen eingehen?“
„Nein, nur die erste!“
„Ich lasse nicht mit mir handeln – das Kapital und das Eingeständniß!“
„Damit ich mich ganz in Eure Hände gebe? Niemals!“
„Gut, dann sind wir fertig! Wenn Du den Krieg willst, so sollst Du ihn haben!“
Damit wandte sich Gronau um und ging nach der Thür; der Präsident machte eine Bewegung, als wolle er ihn zurückhalten, aber es kam nicht dazu, und in der nächsten Minute war es auch zu spät, die Thür hatte sich hinter Veit geschlossen.
Als Nordheim allein war, sprang er auf und begann mit heftigen Schritten im Zimmer auf und nieder zu gehen. Jetzt, wo er sich ohne Zeugen wußte, sah man es, daß ihn die Unterredung keineswegs so gleichgültig gelassen hatte, als er sich den Anschein gab. Seine Stirn war tiefgefurcht und in seinen Zügen stritten Zorn und Besorgniß mit einander; erst allmählich fing er an, ruhiger zu werden, und endlich blieb er stehen und sagte halblaut: „Thor der ich bin, mich so aus der Fassung bringen zu lassen! Er hat keinen Beweis, nicht einen einzigen – ich leugne alles!“
Er wandte sich nach seinem Schreibtische, aber plötzlich schien sein Fuß am Boden zu wurzeln und ein halb unterdrückter Ausruf entfuhr seinen Lippen. Die Thür des Schlafzimmers hatte sich geräuschlos geöffnet und dort auf der Schwelle stand Alice, todtenbleich, beide Hände gegen die Brust gepreßt und die großen Augen auf den Vater gerichtet, der vor ihrem Anblick erschrak wie vor einem Gespenste.
„Du hier?“ herrschte er sie an. „Wie kommst Du hierher? Hast Du etwa gehört, was gesprochen wurde?“
„Ja – ich hörte alles!“ sagte das junge Mädchen, kaum vernehmbar.
Jetzt erblaßte Nordheim zum ersten Male – seine Tochter Zeugin dieser Unterredung! Aber schon im nächsten Augenblick hatte er sich wieder gefaßt, es konnte ja nicht schwer sein, diesem unerfahrenen, urtheilslosen Mädchen, das sich stets seiner Autorität gebeugt hatte, jeden Argwohn zu benehmen.
Familienchronik. Die Plauderei in Nr. 37 der „Gartenlaube“ über eine gründliche Reform des Photographiealbums war außerordentlich zeitgemäß und man kann wohl nur wünschen, daß die in derselben enthaltenen Vorschläge nicht bloß gelesen, sondern auch wirklich praktisch verwerthet werden mögen. Ich möchte aber einen zweiten „Hausschatz“ in Vorschlag bringen, der von einem Photographiealbum unabhängig ist und doch nicht minder werthvoll sein dürste. Enthält ein Photographiealbum die Bilder der Mitglieder, Freunde etc. der Familie, so möchte ich in dem zweiten Hausschatz eine Chronik aller irgendwie bedeutungsvollen Ereignisse und Begebenheiten im Leben der einzelnen Glieder der Familie, eine Familienchronik mit kurzen Biographien, schaffen.
Gewiß wird niemand der Behauptung widersprechen, daß in vielen Kreisen Nichtadeliger eine große Unkenntniß über das Leben der Vorfahren der Väter und Mütter, Großväter und Großmütter etc. herrscht. Nur einer geringen Zahl sind vielleicht Episoden aus der Lebensgeschichte der ihnen am nächsten stehenden Anverwandten bekannt, und es ist wohl häufig genug, daß den Kindern selbst das Leben ihrer Eltern ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch ist. Wenn etwa eingewendet wird, daß so in den Schichten der bürgerlichen Welt der Einzelne zumeist ein ereignißloses bescheidenes Leben führt, welches dem oberflächlichen Anschein nach gar keine Veranlassung gäbe, die bedeutungslosen Vorgänge desselben für die Nachkommen aufzuschreiben, so steht hingegen doch auch wieder fest, daß kein Menschenleben, wie still es auch dahinfließen mag oder mochte, so wenig Lehrreiches bietet, daß ein heranreifender Sohn oder Enkel auch nicht ein Nützliches darin fände, was ihm auf seinem Lebenswege in irgend einer Weise – sei es als aneiferndes Beispiel oder vielleicht als warnendes Exempel – förderlich sein könnte. Und selbst wenn man ganz und gar absehen würde von dem gewissermaßen erziehlichen Charakter derartiger Aufzeichnungen der Väter und Großväter, die nach ihrem Ableben diese ihre Gedenkblätter dem ältesten Sohn oder in Ermanglung männlichen Nachwuchses auf die erstgeborene Tochter vererben könnten, wird unbedingt zugegeben werden müssen, daß diese in Notizenform niedergelegten Aufschreibungen gewiß vom Standpunkte der Familientradition aus Werth haben werden.
Wie oft würde z. B. ein zum Manne herangereifter Sohn oder Enkel, oder selbst der Jüngling gerne in diesen Blättern seines längst verblichenen, ihm vielleicht unbekannten Großvaters oder Vaters lesen, wie oft würde ihn nicht diese oder jene Einzelheit aus dem Leben des ihm so Nahestehenden erfreuen, erwärmen, erheben, vielleicht trösten in einer Stunde der Zweifel, der Trübsal, des Kummers; wie oft würde ihm nicht etwa ein wenn auch noch so einfach und ungekünstelt niedergeschriebener Satz seines Vaters oder Großvaters den Pfad angeben können, den er zu seinem Glücke einschlagen könnte! Wie oft aber auch würde das geistige Bild der geliebten Eltern und Großeltern durch die Lektüre solcher schlicht und einfach niedergeschriebenen aphoristischen Lebenserinnerungen dem Sohne und Enkel wieder in voller Lebenswahrheit und lebendiger Plastik die Züge des Entschlafenen, sein Wesen und Gehaben, all seine guten Eigenschaften oder auch seine kleinen Schwächen, seine Erlebnisse und Erfahrungen vors Auge führen und der Leser würde mit den geschiedenen Lieben ein Stündchen in weihevoller inniger Berührung verbringen! Vielleicht werden sich aber Stimmen erheben, welche sagen, daß unsere Zeit für solche „Sentimentalität“ ungeeignet, daß eine also verlebte Stunde einen Zeitverlust bedeute und besser für praktische Zwecke zu verwenden sei. Aber dessen ungeachtet möchte ich behaupten, daß eine solche Stunde, welche uns das Lebensbild eines Vorfahren vor die Seele führt, durch ihre belehrende Wirkung auch praktisch nutzbar werden kann. Ein weiterer Werth derartiger Aufschreibungen mag es sein, daß dieselben in späteren Tagen dem Kulturhistoriker, dem Lokalhistoriker, so vielleicht mitunter sogar dem Geschichtschreiber selbst nützlich werden können. Können nicht in manchen zweifelhaften Angelegenheiten, in manchen dämmerigen Fällen der Stadt- oder Landesgeschichte vielleicht sonst gänzlich bedeutungslose Familiennotizen Klarheit und Aufschluß bringen, wo sonst von keiner Seite her Licht zu erhalten ist? … Wie oft würden unsere heutigen Geschichtsforscher in solchen zweifelhaften Fällen rascher zu voller Aufklärung gelangen, hätten sie derartige Familienchroniken zur Hand, könnten sie aus solchem Borne schöpfen! … Und zur Ausführung dieser Idee ist kein schriftstellerisches Talent nothwendig, keine stilistische Gabe erforderlich; nein, selbst der einfachste Handwerksmeister vermag mit wenigen schlichten Sätzen bemerkenswerte Daten über sein eigenes Leben, über das Leben seines Kindes niederzuschreiben und so den Grund zu legen zu einer „Familienchronik“, welche, von den nachfolgenden Geschlechtern weitergeführt, für diese ein „Hausschatz“ im edelsten Sinne des Wortes sein würde.Der kranke Künstler. (Mit Illustration S. 729.) „Wer malt dies Bild da fertig, wenn ich sterbe? Es ist unmöglich, daß ich vor seiner Vollendung dahingehe!“ – Man glaubt dem kranken Künstler, dessen Auge besorgt auf seiner unvollendeten Schöpfung ruht, diesen Gedanken von dem Gesichte zu lesen. Lange hat er an dem Gemälde gearbeitet, seine beste Kraft hat er eingesetzt, um Vollendetes zu schaffen – da ist die Hand erlahmt! Und im Anschauen des Bildes, im Krankenstuhle, erkennt er, daß niemand im Stande sein wird, seine Schöpfung zu Ende zu führen. Andere können Anderes, vielleicht Besseres geben, aber nicht das! – – – Doch die Hoffnung ist nicht ausgeschlossen, die Hoffnung auf Genesung! Im Gegentheil: Die sorgende Gattin wird noch nicht Witwe, das spielende Kind nicht Waise werden, wenn es wahr ist, was man glauben möchte: der Schöpfer dieses prächtigen Bildes hat da ein Stück eigener Erfahrung gemalt.
Frühlingsblumen im Herbst.
„Der Mai ist wieder gekommen,
Nur daß er September sich nennt –“
sagt ein altes Lied von der lauen Luft und dem milden Sonnenschein des schönsten Herbstmonats. Aber es schweigt von den duftlosen starren Blumen, den Astern und Georginen, deren größere Farbenpracht nimmermehr die holde Anmuth der wirklichen Maikinder zu ersetzen vermag. Was indessen die Natur zu verweigern scheint, das hat ihr auf mehr als einem Gebiet der menschliche Geist schon abzulocken gewußt, und so ist auch heute das scheinbar Unmögliche zur Thatsache geworden: im botanischen Garten zu München blühten dieses Jahr Ende September im freien Land dichte Büschel von duftenden Maiblumen, Gruppen von Deutzien und pontischen Azaleen, die letzteren in all den zarten Farben von weiß, gelblich und roth, wie wir gewohnt sind, sie im Frühjahr als ersten Schmuck der Gärten und Anlagen zu sehen. Herr M. Kolb, Oberinspektor des botanischen Gartens, ist es, der nach mannigfachen Versuchen über die Verlängerung des Winterschlafes der Pflanzen (um dadurch deren Blüthezeit entsprechend hinauszuschieben) endlich, und zwar als erster in Europa, das Verfahren gefunden hat, ihre Blüthe in einem bestimmten Zeitpunkt hervorzurufen Es läßt sich leicht denken, welche Tragweite der an den Frühlingsblumen so gelungene Versuch haben wird, wenn es möglich ist, ihn auch auf Hyazinthe, Iris, Nelke und Rose auszudehnen und dadurch dem großen Blumenverbrauch des Winters theilweise das Material aus einheimischen Quellen zuzuführen Es ist schon vielfach gegen den einreißenden Blumenluxus geeifert worden, und sicher ist er tadelnswerth, wenn er nur prunkhafter Großthuerei den Vorwand liefert. Aber alles, was dazu dient, den bescheidenen Fenstergarten, die kleine Blumenspende an liebe Menschen, den Gratulationsstrauß zum Familienfest zu ermöglichen, ist als idealer Gewinn zu achten und aus diesem Gesichtspunkte besonders begrüßen wir die schöne Erfindung des Herrn Kolb als eine für ganz Deutschland bedeutungsreiche und erfreuliche. [740] Der Steuertag. (Mit Illustration S. 737.) Steuertage sind auf dem Lande nicht gut angeschrieben und kaum eine Amtsperson ist dort so wenig beliebt wie der Steuereinnehmer, Rentmeister oder wie er sonst heißen mag. Und selbst, daß er sich in entfernteren Bezirken persönlich einfindet, um den Steuerpflichtigen den Weg zum Amte zu ersparen, stimmt ihm die Bevölkerung nicht günstiger, denn an der Hauptsache wird dadurch nichts geändert. Unser Künstler zeigt uns die Herren vom Steueramt in voller Thätigkeit. Was die hübsche junge Witwe mit ihren beiden Kindern, vielleicht das Einzige, was ihr seliger Mann hinterließ, zur Wirthschaft des Staates beisteuerte, ist freilich nicht der Rede werth, dagegen zählt der ihr unmittelbar Folgende eine ansehnliche Anzahl blanker Thaler auf den Tisch, die sein schnurrbärtiges Gegenüber alsbald sauber gerollt in die provisorische Kasse legen wird. Die behäbige Bäuerin erinnert an eines der sieben fetten Jahre Aegyptens, während die Unterthänigkeit des mit dem Amtsdiener Sprechenden eben nicht auf einen hohen Steuersatz desselben schließen läßt.
Die Eisenbahn im Dienste der Wohlfahrt. Die Staatseisenbahnen werden nicht lediglich von dem Gesichtspunkte des Gelderwerbes geleitet und vermögen daher in erhöhtem Maße allen öffentlichen Interessen gerecht zu werden. Vornehmlich liegen diese Ausgaben auf dem allgemeinen wirthschaftlichen Gebiete, daneben haben sich aber die deutschen Bahnen auch in den Dienst der Wohlfahrt gestellt und mannigfaltige Erleichterungen gewährt, welche sich als Unterstützungen kranker und hilfsbedürftiger Personen kennzeichnen.
In welchem Sinne diese Einrichtungen getroffen wurden, möge aus den nachfolgenden, auch von anderen deutschen Staats- und Privatbahnen angenommenen hauptsächlichsten Bestimmungen der preußischen Staatsbahnen erhellen.
Mittellosen Personen, welchen nachgewiesenermaßen seitens der Vorstände von Kuranstalten der Gebrauch der Bäder oder anderer Kureinrichtungen unentgeltlich oder zu ermäßigten Preisen zugestanden ist, wird für die Reise nach dem Kurort und für die Rückreise in die Heimath die Benutzung der dritten Wagenklasse aller Züge zum Militärfahrpreis (das ist 1,5 Pfennig für den Kilometer) gestattet, wenn sie eine Bescheinigung der Ortsbehörde darüber beibringen, daß ihre Vermögensverhältnisse die Aufwendung der für den Besuch und Gebrauch des Bades erforderlichen Mittel ohne eine Ermäßigung der Eisenbahnfahrpreise nicht erlauben.
Skrophulöse Kinder der ärmeren Volksklassen und deren Begleiter sind bei der Reise nach den für solche Kinder eingerichteten besonderen Heilstätten auf der Hin- und Rückfahrt derselben Ermäßigung auf Grund einer von der Heilanstalt ausgestellten Aufnahmebescheinigung und einer Bescheinigung der Ortsbehörde theilhaftig.
Unbemittelten Zöglingen der unter Aussicht des Staates stehenden Waisenanstalten, der Provinzial- und anderen Blindenanstalten, der öffentlichen Taubstummenanstalten und den etwa erforderlichen Begleitern der blinden und taubstummen Zöglinge wird für Ferienreisen zum Besuch ihrer Angehörigen auf Empfehlung der betreffenden Anstaltsvorstände ebenfalls der Militärfahrpreis zugestanden. Für jedes Kind, beziehungsweise Zögling, wird nur ein Begleiter zum ermäßigten Fahrpreise befördert und zwar auch bei der Rückfahrt nach dem Orte der Abreise, sowie für die Wiederabholung ihrer Schützlinge.
Die gleiche Vergünstigung genießen, auf Grund der von den Vorständen der Taubstummenanstalten zu ertheilenden Erlaubnißscheine, unbemittelte Taubstumme für den Besuch kleinerer Zusammenkünfte an den Taubstummenanstalten, sowie Taubstumme, welche behufs ihrer kirchlichen Versorgung einzeln die betreffenden Anstalten zu besuchen wünschen; ferner auch die von Vereinen und Behörden in sogenannte Ferienkolonien entsendeten Kinder und die zur Aufsicht beigegebenen Lehrer.
Im Interesse der öffentlichen Krankenpflege werden denjenigen Vereinen und Genossenschaften, sowohl weltlichen als geistlichen, welche sich statutenmäßig in Ausübung freier Liebesthätigkeit der öffentlichen Krankenpflege widmen, Fahrpreisermäßigungen in der Weise gewährt, daß bei Reisen der Vorstandsmitglieder zum Zwecke von Revisionen oder Konferenzen, sowie der Krankenpfleger und Pflegerinnen zur Ausübung der öffentlichen Krankenpflege, zum Wechsel des Wohnorts (Versetzung), zum Gebrauch von Badekuren oder zum Besuch von Bade- und Erholungsorten der Militärfahrpreis, beziehungsweise bei Benutzung der zweiten Wagenklasse der einfache Fahrpreis dritter Klasse erhoben wird.
Endlich sind zu diesen Wohlfahrtseinrichtungen auch die jeweilig bei Unglücksfällen wie Ueberschwemmungen, Feuersbrünsten, Mißernten und dergleichen zugestandenen Frachtnachlässe, beziehungsweise Ermäßigungen, für die an Hilfsausschüsse zu sendenden Liebesgaben zu zählen.
Melanie W. in L. Das Wort „Ballade“ hat allerdings mit der Bezeichnung „Ball“ für eine festliche Tanzgesellschaft das gemein, daß beide von dem mittellateinischen ballare (tanzen) hergeleitet sind. Ballade nannte man ursprünglich ein lyrisches Gedicht, welches zur Begleitung des Tanzes gesungen wurde.
N. W. in Köln. Sie wünschen Auskunft über die größten und kleinsten Völker der Erde. Die durchschnittliche Körperlänge verschiedener Völkerschaften bot von jeher ein besonderes Interesse und dieses führte zu genaueren Messungen, deren Ergebnisse Bollinger in einer Tabelle zusammengestellt hat. Die größten Volkerstämme bilden nach derselben die Patagonier, die durchschnittlich 180,3 Centimeter lang sind, und an diese schließen sich die Nordamerikaner des Westens mit einer Durchschnittslänge von 177 Centimetern. Die kleinsten Völker der Erde, die sogenannten Zwergstämme, beherbergt Afrika. Die Abongo in Westafrika messen 137,0 Centimeter, die Buschmänner 137,2 Centimeter und die Akka an den Nilquellen 140,0 Centimeter. Mit anderen Worten hat der kleinste Menschenschlag drei Viertel der Leibeshöhe des größten und ein Abongo reicht einem Patagonier nur bis an die Brust. Die Völker des civilisirten Europa wahren, was ihren Wuchs anbelangt, die goldene Mitte zwischen diesen Extremen der Menschheit.
H. B. in K. Angeregt durch unsere früheren Artikel über verschiedene Obst- und Beerenweine, möchten Sie versuchen, Wein aus Brombeeren, die in Ihrer Gegend stark verbreitet sind, zu bereiten, und bitten uns um Angabe einer Quelle, aus der Sie Belehrung über derartige Weinbereitung schöpfen könnten. In erster Linie machen wir Sie auf das treffliche Werk „Die Hebung der Obstverwerthung“ von Heinrich Semler (Wismar, Hinstorffsche Hofbuchhandlung) aufmerksam. Außerdem ist vor kurzem eine „Anleitung zur Weinbereitung, aus Obst, Beeren und Birkensaft“ von C. G. L. Quensell (Verlag von Friese und von Puttkamer in Dresden) erschienen, in der Sie das Wissenswertheste auf diesem Gebiete in aller Kürze mitgetheilt finden.
N. in Hirschberg. Kreidezeichnungen werden am besten und leichtesten wie folgt fixirt: Man bedient sich eines schwarzen Papieres, dem man einen Ueberzug von Harz giebt. Zu diesem Behufe löst man eine Mischung von Harz (Kolophonium, Geigenharz) und Schellack in starkem Weingeist auf und bestreicht schwarzes Glanzpapier mit Hilfe eines breiten weichen Pinsels mehrmals damit. Unter allen Umständen ist darauf zu sehen, daß zwischen den einzelnen Auftragungen die vorige immer trocken geworden ist, bevor man eine neue Auftragung vornimmt. Das schwarze Glanzpapier erhält auf diese Weise eine anfänglich matte, trübe Oberfläche, welche man durch Erwärmen glänzend machen kann. Kreidezeichnungen, welche auf der geharzten Seite eines derartigen Papiers vorgenommen worden sind, können nun dadurch für immer leicht und dauerhaft fixirt werden, daß man das Papier mit einem anderen gut geleimten Papier bedeckt, so daß sich die Kreidezeichnungen nach oben und unter dem letzteren befinden; mit einem genügend heißen Platt- oder Bügeleisen fährt man nun mehrmals darüber hin. Hierdurch werden die Kreidezeichnungen, welche bloß locker anhaften, zunächst fester und dichter an die Harzoberfläche des Papiers angedrückt, durch die Wärme wird das Harz selbst geschmolzen und auf diese Weise werden die Kreidezeichnungen haftend gemacht und fixirt. Man entfernt dann nach dem Erkalten vorsichtig das übergelegte Papier und findet die Kreidezeichnung, oder überhaupt jedes mit Kreide hergestellte Bild oder jede Kreideschrift fest haftend, so daß sie, ohne Schaden zu nehmen, aufgerollt, abgewischt und unter Umständen sogar abgewaschen werden können.
F. T. in Wien. Die Erzählung „Der lange Holländer" von Rudolf Lindau erschien im Jahrgang 1887 unseres Blattes.
G. P. in Warschau. Die erste von Ihnen gewünschte Adresse lautet unseres Wissens: Prag-Smichow, Wassergasse; die zweite ist uns unbekannt.
C. J. in Dresden. Sie wenden sich am besten an einen tüchtigen Zahnarzt. Viele praktische Winke finden Sie aber auch in dem sehr instruktiven Buche von Hofrath Dr. Süersen: „Anleitung zur Pflege der Zähne und des Mundes“. Preis geheftet 2 Mark, gebunden 2 M. 50 Pf.
In dem unterzeichneten Verlage ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
Die Band-Ausgabe von Marlitt’s illustrierten Romanen erscheint vollständig in 10 Bänden zum Preise
Inhalt Bd. 1. „Das Geheimniß der alten Mamsell“. – Bd. 2. '„Das Haideprinzeßchen“. – Bd. 3. „Reichsgräfin Gisela“. – Bd. 4. „Im Schillingshof“. – Bd. 5. „Im Hause des Kommerzienrathes“. – Bd. 6. „Die Frau mit den Karfunkelsteinen“. – Bd. 7. „Die zweite Frau“. – Bd. 8. „Goldelse“. – Bd. 9. „Das Eulenhaus“. – Bd. 10. „Thüringer Erzählungen“ (Inhalt: „Amtmanns Magd“, „Die zwölf Apostel“, „Der Blaubart“, „Schulmeisters Marie“).
Bestellungen werden jederzeit in beinahe allen Buchhandlungen angenommen. Wo der Bezug auf Schwierigkeiten stößt, wende man sich direkt an die