Die Gartenlaube (1888)/Heft 44
Eine Hofgeschichte aus dem 17. Jahrhundert von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)
Eine Schar junger Fürstinnen umgab scherzend und neckend Dorothea. Sie lachte, erröthete und flüchtete endlich in eine tiefe Fensternische, wo sie den Vorhang gleich einem schützenden Bollwerk hinter sich zuzog. Sie hörte die Damen weiter kichern vor dem züngelnden Thüringer Löwen, der in den schweren Stoff gewebt war. Aber plötzlich wurde ein Gewisper hörbar, und dann huschten die seidenen Röcke davon.
Im nächsten Augenblick schob eine schön geformte kräftige Hand den Vorhang zurück.
Herzog Albrecht trat zu ihr und fragte lächelnd: „Ist es vergönnt, Eurer Gnaden in die Einsamkeit zu folgen?“
Sie neigte anmuthig das Haupt und ließ sich auf dem hohen, mit Goldtuch beschlagenen Stuhl nieder. Und nun verstummten beide.
So selbstgewiß Herzog Albrecht hereingetreten war, so übermüthig Dorothea den fürstlichen Freundinnen gegenüber das Haupt erhoben hatte – als sie jetzt allein, abgeschlossen wie in einem besondern Stüblein bei einander weilten, kam eine Befangenheit über sie, daß keines ein Wort fand.
Die Abendluft wehte durch das geöffnete Fenster, die Schwingen schwer, von dem Duft des frischen Laubes im Garten. Ein bläulicher Mondstrahl stahl sich mit herein. Fernher aus dem Webicht tönte der letzte sehnsüchtige Lockruf der kleinen befiederten Sänger.
Leise zog der Herzog einen Schemel, wie solche zum Gebrauch der Hofleute bereit standen, für sich herzu.
„Mit so niedrigem Platz begnügen sich Eure Liebden?“ scherzte Dorothea ein wenig athemlos. „Selbst am Hofe des Kaisers werden den Herzögen von Sachsen Armstühle gesetzt.“
„Alldort werde ich auch immer einen solchen begehren,“ antwortete Albrecht, und mit gedämpfter Stimme fuhr er fort: „Aber bei der Herzogin Dorothea poche ich nicht auf ein Recht, sondern erwarte alles von Dero Gnade.“
Schalkhaft drohend hob sie den Finger und flüsterte: „Ich, habe nicht gewußt, Vetter, daß Sie der Schmeichelei kundig sind.“
Jetzt lächelte auch er. „Nicht umsonst hat mich unser Tanzmeister Turnon in der Kunst unterwiesen, wie man sich mustern gegen das Frauenzimmer gebärdet.“
Sie hielt sich die Ohren zu. „O, o!“ rief sie, silberhell auflachend. „So hat Monsieur Turnon gewißlich nicht gesprochen. Er wird sich bemüht haben, die Courtoisie zu lehren, welche ein Serviteur den Herrin gegenüber üben muß.“
Er schüttelte den Kopf wie über die Thorheiten eines übermütigen Kindes. „Monsieur Turnon unterrichtete keine Diener, sondern junge Fürsten, welche, bei aller Ehrfurcht vor edlen Frauen, nie vergessen werden, daß sie deutsche Männer sind.“
Sie warf schmollend die Rubinlippen auf. „Was könnte ein deutscher Mann an solcher Belehrung zu mäkeln haben?“
„Daß die Ordnung der Welt verkehrt wird,“ entgegnete er ruhig.
[742] „Und was belieben Sie eine Verkehrung dieser Ordnung zu nennen?“ fragte sie mit leisem Spott.
Er hatte sich unhörbar erhoben und stand nun hoch aufgerichtet vor ihr, auf sein goldenes Rappier gestützt. „Daß die Frau die Herrin, der Mann der Knecht sein soll.“
Seine Haltung und sein Ton waren so entschieden, daß Dorothea unwillkürlich verstummte.
In die eingetretene Stille tönte Eleonorens Stimme von dem Damenkreis herüber:
„Mein Herr hat bestimmt, daß der morgende Tag fröhlicher Festfreude gewidmet sein soll. Erst übermorgen werden die Sitzungen der Palmgenossen und der Tugendlichen stattfinden nach meines Herrn Willen.“
Bei diesen Worten, die wie eine Ergänzung von Albrechts Rede klangen, stieg in Dorotheas Wangen ein heißes Roth.
Der Herzog zwang ein leises Lächeln nieder.
Stühle wurden gerückt. Die Herrschaften brachen auf, um sich in ihre Gemächer zurückzuziehen. Die Verneigung, mit welcher Dorothea Abschied von Albrecht nahm, war von einem drohenden Blick begleitet. Mit vollkommener Ritterlichkeit, aber unerschütterlicher Ruhe beugte er das Haupt vor ihr. Als die letzte im Zuge schlich Käthchen davon. Noch einmal sah sie trübselig zurück nach Achatius, der in der Thür des Vorzimmers stand und die entlassenen Hofjungfrauen seiner Herrschaft an sich vorübergehen ließ.
Er bemerkte auch diesmal Käthchen nicht.
Seine Augen waren wieder in den Winkel, wo Gertrud stand, gerichtet, und er dachte: einmal muß sie doch aus ihrer Ecke herauskommen.
Da schritt sie heran. Unentwegt sah sie an ihrem fein gebogenen Näschen herab.
„Ehrenreiche Jungfrau,“ redete er sie an, „da Ihr meinen Fehler erkannt habt, so erbarmt Euch meiner und helft mir von demselben. Schenket mir eine Perle Eures glückseligen Halsbandes, daß ich sie in mein Zöpflein flechte und allezeit dadurch gemahnt werde, treu zu sein.“
Gertruds Antlitz nahm eitlen Ausdruck von Empörung an. „Das Halsband ist ein Familienschmuck, der immer nur an Ehrentagen getragen wurde. Er ist zu gut für eine Narrethei.“
„Narrethei nennet Ihr die alamode Galanterie eines Kavaliers?“ fragte er, und seine Augen begannen zu funkeln.
Verächtlich erwiderte sie: „Welch andern Namen verdiente diese Unsitte, welche die Menschen dahin führt, daß sie flunkern, Affenwerk treiben, sich mit Firlefanz behängen wie“ – ihr Blick flog den Korridor entlang, wo die Narren des Koburger Herrn sich tummelten – „wie die, welche bestellt sind, die Leute lachen zu machen,“ schloß sie, todtenbleich, aber gerade aufgerichtet gleich einer Wachskerze.
Achatius fuhr empor, als sei er von einer Natter gestochen. Glühend vor Zorn, mit einer stahlharten Stimme entgegnete er: „Ueber den Hofmeister von Krombsdorff lacht niemand. Wenn er auch einen Alamodezotten trägt, so weiß doch jeglicher, daß es ein rechter Mann ist, der sich mit selbigem behangen hat. Selbst Ihr werdet eher eine Thräne um mich vergießen, als es wagen, mich auszulachen. Das schwöre ich Euch!“
Er drehte sich auf dem Absatz herum und stürmte davon.
Mit trutzigen Schritten stapfte er in sein schönes Haus hinüber, das wie ein treuer Vasall am Weg ins Schloß stand. Er schlug die schwere Thür so wüthend hinter sich zu, daß der Rosenstock an der Pforte bis in die tief schlummernden Knöspchen erschauerte und sich kaum mit den feinen Dörnchen an dem steinernen Wappenschild fest zu halten vermochte.
Und als die Bettmeisterin endlich unter einem der Lerchenschöpflein in ihr Bett kroch, da schallte drüben aus den geöffneten Fenstern noch immer bald ein „Donnerwetter!“ bald ein „Morbleu!“ heraus.
„Mein Herr!“ Das Wort der sanften Eleonore hallte in Dorothea nach. Es ließ sie keine Ruhe in den seidenen Kissen finden.
O, der Hof von Weimar lag wahrlich im finsteren Thal. Wie ein Feldhauptmann seine Fähnlein, so kommandirte Wilhelm die Tugendlichen. Der vielgereiste Bernhard, der nach englischer Sitte bei der Begrüßung das Knie vor ihr beugte, hatte durch einen scharfen forschenden Blick die Adoration seines Grußes wieder aufgehoben, und auch der fromme Ernst bereitete ihr eine Enttäuschung, da er verhieß, ein theures Buch in ihr Losament zu senden. Es war nicht, wie sie hoffte, der zweite Band der „Astrea“, sondern das Gebetbuch, das ihre gemeinschaftliche Großmutter herfürgegeben hatte.
Und Albrecht! Flattirte ein Kavalier also seiner Dame?
Nicht flehend hatte er zu ihr emporgeschaut, sondern gleich einem Herrscher auf sie herab.
Ihre Gedanken hielten bei diesem jüngstvergangenen Augenblick an. Sie sah ihn vor sich stehen, hoch, stolz, auf das vergoldete Rappier gestützt, und, ohne daß sie es wußte, lächelten ihre Lippen. Wie war er doch schön! In jeder Miene, jeder Bewegung ein echter Fürst und Herr!
Sie fuhr hoch auf. War ein böser Zauber in dem Wort mächtig, daß sie seiner nicht ledig werden konnte?
Spät erst schloß sie die Augen. Die Morgensonne schien hell in das Gemach und malte wie ein lustiger Schelm lauter goldene Ringe auf den Fußboden, als sie erwachte. Jetzt waren die finsteren Vorstellungen der Nacht entflohen. Sie lächelte fröhlich dem Morgenlicht entgegen.
O, sie wollte dem rauhen Männerregiment schon ein Grüblein graben, darein es fallen sollte. Wozu kannte sie die alamoden Waffen, mit denen die Schäferinnen ihre Adorateurs gefügig machten, wenn sie dieselben nicht gebrauchte?
Und war etwa der Preis des Kampfes nicht Werth?
O, welche Seligkeit mußte es sein, diesen festen Willen zu beugen, diesen strengen Sinn in Weichheit umzuschmelzen, diesen stolzen Mann auf die Kniee zu zwingen! Das wäre ein Sieg, auch einer Astrea würdig.
Heiter wie der junge Maientag, rosig angehaucht, saß sie alsdann auf dem mit Quasten umhangenen Stuhl vor dem Putztisch. Bärbchen, die erste Schmuckjungfrau, bot ihr das Handspieglein.
„Bringe das Pfirsichblüthenwasser zum Kühlen der Wangen,“ gebot sie in dem Flüstertone geschulter Hofdiener dem zweiten Kammermägdlein Aennchen. „Wo ist das Instrumentlein für die Zähne? – Sie glänzen gleich Elfenbein, fürstliche Gnaden. - Lange die Phiole herab mit der Essenz, um die Nägel zu glätten! - Sie sehen aus wie Rosenblätter auf Lilien gestreut. – Rücke das Kohlenbecken herbei! Lege die Brenneisen hinein! Hilf, Himmel! Die Tischplatte ist auch gar zu klein.“
Aennchen schwebte auf den Fußspitzen hin und her.
Bärbchen rollte an den Wangen ihrer Herrin lange Locken herab und brannte über der Stirn ein leichtes Gekräuse.
Leises Klopfen ertönte an der Thür.
„Die Frau Herzogin läßt zur Eile mahnen,“ berichtete Aennchen, „die Tafelstunde nahe.“
Dorothea machte eine Bewegung mit dem schönen Haupt, als schlage sie die Mahnung in den Wind. Sie wußte aus der „Astrea“, daß man die Schäfer harren und schmachten lassen mußte, wenn sie angefeuert werden sollten.
„Du kannst noch ein paar Steinrosen in die Locken stecken,“ befahl sie. „Nein, nicht so regelmäßig zu beiden Seiten! Das ist nicht alamode. Weiter zurück! Höher hinauf!“
Bärbchen mühte sich, die Herrin zufrieden zu stellen. „Aber Aennchen, was fällt Dir ein?“ ließ sie ihre geheime Ungeduld an der untergeordneten Gehilfin aus. „Warum trägst Du den Rock von violenfarbigem Sammet daher? Meinst Du, Ihro Gnaden gedenken, Abbatissa eines Stiftes zu werden?“
Dorothea lachte über die drollige Zumuthung hell auf. „Nein, so weit sind wir noch nicht.“
Bärbchen ging selbst in die Kleiderkammer. Sie kam mit einem Prachtstück von einem Kleid zurück, unter dessen Last sie fast erlag. Ein Rauschen ging ihm voraus wie eine Meeresfluth. Es war von Silberbliant, mit goldenen Blumen durchwebt, mit Goldposament besetzt. Dorothea lächelte wohlgefällig und schlüpfte unter dem Beistand beider Mägdlein in die steife Hülle.
„Auf das Goldposament eine Reihe von Steinrosen! Die Spangen um die Aermelpuffen!“ befahl sie. „Die Perlen um den Hals! Sie sind zu matt; hängt den Demantstern daran.“
„Tummle Dich!“ raunte Bärbchen. „Der Schloßhof wimmelt schon von ankommenden Gästen, und drüben an einem [743] Fenster der Festgemächer steht Herzog Albrecht und steht herüber.“
Dorotheas Augen funkelten triumphirend. „Heftet das golddurchwirkte Band an den Rock. Holt die Tulipanen! Nein, nicht in der Hand will ich sie tragen. Knüpft sie an das Band! Macht keine erstaunten Gesichter! Ihr wißt, wir lieben solche nicht bei unsren Dienerinnen. Wir befehlen es also. Auch die holde Schäferin Astrea trägt einen Blumenstrauß am Schäferbändchen.“
Sie ließ sich die goldgestickten Handschuhe überstreifen und rauschte endlich davon. Ein ungnädiger Blick der Frau Witwe empfing sie bei ihrem Eintritt. Abbittend, schmeichelnd küßte Dorothea ihr die Hand. Mit einem leisen Seufzer gab die fürstliche Mutter das Zeichen zum Aufbruch, und in aller Untertänigkeit schlug der Schloßhauptmann einen raschen Schritt an.
Drüben im Rautenkranzgemach waren schon alle Fürstlichkeiten versammelt. Die Dornburger Herrschaften traten als die letzten ein.
Während Herzog Wilhelm mit etwas bedenklich empor gezogenen Brauen die Frau Witwe begrüßte, glitt Dorotheas Blick scheinbar harmlos über die Anwesenden hin. Da stand Herzog Albrecht, nahe der Thür, ganz so, wie sie ihn seit gestern unaufhörlich vor Augen hatte, auf das vergoldete Rappier gestützt. Es war ersichtlich: er hatte ihrer geharrt, und nun begrüßte er sie mit tiefer Verbeugung.
Holdselig lächelnd versank sie auf einen Augenblick in die goldenen und silbernen Wogen ihres Gewandes. Dann aber rauschte sie mit rascher Wendung vorüber.
„Tirho!“ lachte der alte Herzog von Eisenach. „Geht der schmucke Vogel dem jungen Jäger durch das Garn? So wollen wir alter Waidmann einmal unser Heil versuchen.“ Und er vertrat ihr den Weg.
„Mein gnädiger Vetter ist dafür bekannt, daß er scheues Wild zutraulich zu machen versteht,“ erwiderte sie mit kindlichem Ausblick.
Er schüttelte pfiffig den Kopf. „Mein schönster Edelfalk setzt sich gewaltig in die Fittige, so ihm die Kappe übergezogen werden soll.“
„Sperr ihn ein und laß ihn fasten,“ brummte der Koburger dazwischen.
Dorothea schaute den verdrießlichen Herrn feindselig an „Streicheln Sie ihn lieber und füttern Sie ihn mit Zuckerbrot,“ rieth sie.
„Oder geben Sie ihm die Freiheit,“ sprach Herzog Ernst herzutretend. „Was der Zucht sich nicht fügt, soll man fliegen lassen.“
Dorothea wurde dunkelroth, und der Eisenacher Herzog brach in ein Gelächter aus zur Verwunderung der andern jagdverständigen Herren.
Dann warf er einen listigen Blick in die Tiefe des Gemaches. „Aber was müssen wir erleben? Herzog Albrecht hat unser Gemahl förmlich gestellt.“
Dorothea blickte sich um.
Bei der Herzogin Christine stand Albrecht halb abgewandt, daß sie nur den stolzen Schnitt seiner Züge zu sehen vermochte.
Und er änderte seine Haltung auch nicht, da sie plaudernd und scherzend sich durch die andren fürstlichen Herren und Damen näher an ihn heranwand.
Aufmerksam hörte er zu, wie die gelahrte Fürstin ihm von den feurigen Schweifen erzählte, welche die Kometen durch die Himmelsräume schleifen, statt auf den goldigen Schlepprock der schönen Dorothea zu achten, der um ihn herumknisterte.
Nunmehr ließ er sie warten – warten, bis das feine Korallenroth in ihre Wangen stieg.
Endlich wandte er sich ihr zu. Und als das junge Paar nun einander gegenüberstand in der Haltung, die dem Fürsten und der Fürstin geziemte, da sah den beiden niemand an, daß sie eben unter dem Schild höfischer Gravität den Spieß gegen einander gefällt hatten.
„Eure Gnaden erweisen den Tulipanen eine hohe Ehre, indem Sie selbige mit sich führen,“ sprach er mit dankender Neigung. „Und wahrlich,“ fuhr er lächelnd fort, „die leuchtenden Kelche sind alle erschlossen, obwohl ihre Sonne heute erst so spät aufgegangen ist.“
„Die schönen Blumen wägen und markten nicht,“ erwiderte sie ebenfalls lächelnd „Treu bleiben sie ihr zugewandt, wann auch sie ihnen erscheinen mag.“
„Hätten sie dafür nicht vielleicht verdient, am Herzen getragen zu werden, wie deutsche Frauen mit Blumen thun?“ warf er hin.
Sie strich liebkosend an dem Band herab zu den Tulpen. „Ist diese Art der alamoden Schäferinnen, das, was sie lieben, mit sich zu führen, nicht voll Gratia?“
Er sah ihr tief in die goldschimmernden Augen, als wollte er auf dem Grund ihrer Seele lesen. „Fremdes Wort und fremder Brauch. Vergessen Eure Gnaden nicht, daß wir hier sind, um die deutsche Sprache und die deutsche Sitte zu pflegen,“ sagte er sanft mahnend.
Sie warf das Köpfchen überhebend auf. „Ich bin nicht Palmgenoß.“
Er drehte voll guter Laune seinen Schnauzbart. „Darüber wollen wir von Herzen froh sein. Wären Eure Gnaden Mitglied des Palmenordens, so müßte ich Sie jetzt zur Hänselung nach dem Drehstuhl geleiten. Statt solcher Verdrießlichkeit bitte ich um die Huld, Sie zur Tafel führen zu dürfen.“
Er bot ihr mit tiefer Verneigung die Hand.
Trompetenfanfaren und Paukenwirhel tönten durch das Schloß. Sie riefen zur Tafel. Eine Bewegung entstand; jeglicher Herr suchte seine Partnerin. Der Zug ordnete sich. Die Pagen öffneten die vergoldeten Flügelthüren.
Unter dem Vortritt des Hofmarschalls und der andern Hofherren schritten die fürstlichen Herrschaften paarweise durch die tief sich neigenden und dann anschließenden Gäste nach dem Bankettsaal.
Es war ein prächtiges Bild, das sich hier entfaltete. Ein Thronhimmel von Purpursammet wölbte sich über der Tafel, um welche die Fürsten in Hermelinmänteln, die Fürstinnen, mit Perlenschnüren, Demantsternen und Smaragdkugeln geschmückt, sich reihten; Herren von Adel in bunten Atlaswämsern, hohe Räthe in schwarzer, silbergestickter Amtstracht, Offiziere mit der gelben Feldbinde traten an ihre Plätze; wie schimmernde Gewinde zogen sich die Frauen in gewässerten Moor- und geblümten Brokatröcken, goldene Röslein an den Hauben, um die besondren Tafeln, an denen sie untergebracht waren, damit sie nicht von angehumpten Herren molestirt werden konnten. Und am Tischlein im Winkel, wo die Stühle verkehrt gestellt waren, hockten die rothgekleideten Narren des Koburger Herzogs.
Die goldenen Pokale und krystallenen Becher blitzten auf dem Schenktisch; auf dem Pfeiferstuhl hielten die Musikanten die silbernen, mit Fähnlein und Quasten verzierten Trompeten, die von goldstoffnen Wappendecken behangenen Heerpauken bereit. Schaulustige Bürger Weimars in ihrem besten Sonntagsstaat füllten die Galerie.
Der Hofprediger im Ornat trat den Herrschaften gegenüber und sprach mit aufgehobenen Händen das Tischgebet. Die Finger mehr zum Staat denn zur Andacht in einander gelegt, stand Achatius neben der Stufe, welche zur Fürstentafel empor führte. Die frommen Worte gingen an seinem Ohr vorüber; in ihm kochte nur Groll und Rachegelüst.
„Kaltes Blut,“ sagte er sich, als das Amen ertönte. Erst kam der Dienst.
Die Pagen netzten den Herrschaften über silbernen Gießbecken die Hände. In anmuthiger Haltung trat Achatius mit der langen Handquehle heran und warf sie so geschickt, daß sie, aus einander flatternd, an den fürstlichen Personen vorüberflog und jegliche ein Stück davon zu fassen vermochte.
Der Hofmarschall lächelte zufrieden. Nicht an jedem Hof verstand man, diese Kunst so vollkommen zu üben.
Achatius war froh, daß seinen zitternden Händen das schwere Stücklein gelungen war.
Unter erneuten Fanfaren nahten in langem Zuge die Lakaien mit dem ersten Gang. Der Schmaus begann. Die fürsichtigen Leute griffen nach den gesottenen Eiern, welche von den Aerzten als Voressen empfohlen wurden; die Leckermäuler hielten sich an die Schnecken. Die Vorschneider, Hof- und Kammerjunker begannen ihr Werk. Achatius that sich abermals herfür. Er zerlegte [744] den welschen Hahn, der in einer Tunke von Citronen und Wein gegeben wurde, an der langen Gabel in der Luft; dann schüttelte er denselben, und die Stücke fielen wohlgeordnet auf die silberne Schüssel nieder.
Nun durfte er auch an sich denken. Er eilte an den Tisch der Hofmeisterinnen und Hofjungfrauen.
Parbleu! Er wollte zeigen, daß er nicht nur mit Handquehle und welschem Hahn, sondern auch mit dem Frauenzimmer umzuspringen wußte. Er warf einen von Bosheit funkelnden Blick nach Gertrud hin. Sie war wie immer angethan mit dem schlichten Kleid aus braunem Borstatt, und um den Hals trug sie, auch wie immer, die langweilige Bernsteinkette, die sie gleich einer Rarität ästimirte. Seine Augen wurden dunkel vor Zorn.
Er machte eine so tiefe Verbeugung vor der blonden Benigna, daß sein Alamodezotten ihm über die Augen fiel, und schleuderte ihn dann mit so großer Heftigkeit zurück, als sollte er ausgerissen werden. „Holde Schäferin,“ redete er sie an, „ein armer Schäfer, den Amor tyrannisirt, sehnt sich danach, sein Herz zu erleichtern. Wißt Ihr keine Occasion dafür?“
Feuerroth stocherte sie unter den Spargeln auf ihrem Teller herum. „Vielleicht,“ antwortete sie leise, „findet sich dieselbe morgen im welschen Garten, wo die Sitzung der Tugendlichen stattfinden soll.“
„Der Schäfer dankt Euch,“ sprach er mit süßem Lächeln und einer Stimme, welche förmlich die nach Bisam, Haarpulver und Balsam duftende Hofluft durchschnitt. Und so nahe an ihrem Ohr, daß sie meinte, er habe einen Kuß darauf gehaucht, flüsterte er weiter: „Mich dünkt, die Buchsbaumstaude, die wie eine Gans formirt ist, sei am angemessensten zu solchem Stelldichein.“
Dabei schob er die Augen nach Gertrud Heilingen. Hatte sie gesehen, wie er mit ihrer Gefährtin schön that? Er konnte es nicht ergründen. Blaß, aber gelassen saß sie unter den andern und kümmerte sich nicht um ihn. Nun, er schor sich auch nicht um sie.
Er glitt zu der rundlichen Hofmeisterin hinüber. „Erlaubt, daß ich Euch vorlege,“ sprach er, sich tief über ihre vollen Schultern neigend, und fischte ein Stück Leber aus der aufgesetzten Schüssel. Leise fuhr er fort:
„,Die Leber ist von einem Pfau,
Erhört mich, allerschönste Frau,
Und laßt mich Euer warten –‘
Doch wo?“ Er stockte einen Augenblick.
„Im welschen Garten,“ ergänzte sie kichernd und schlug ihn mit ihrem Mückenscheucher auf den Arm.
Er lachte kurz auf. Ein zweites Liebesabenteuer am selben Ort! Warum nicht?
„Wohlan, bei der Bildsäule des Hymen,“ flüsterte er der galanten Dame zu, ohne die Augen von der Trude abzuwenden.
Aber das war kein Aerger, was leise um den kleinen baßrothen Mund zuckte. Bei allen Teufeln! das war Verachtung.
Halb toll vor Wuth schlüpfte er, einem gereizten Schlangenkönig gleich, zu den Hofjungfrauen von Eisenach. Ganz gleichgültig war ihm, daß er auch mit jeder von ihnen ein Stelldichein im welschen Garten verabredete, um der älteren eine Zusammenkunft der holden Venus mit dem feurigen Mars zu beweisen und die jüngere um ein Mittel gegen Herzensgebreste zu bitten, das sich von der heiligen Elisabeth her auf der Wartburg verhalten haben sollte. Es kam ja alles auf eins hinaus.
Mit wildem Blick sah er sich nach neuen Opfern um. Da saßen die beiden Koburgerinnen, glühend wie Pfingströslein und lugten ihn an. Er nannte die blonde einen Cherub, die braune eine holde Evastochter so laut, daß Gertrud es hören mußte. Was er mit ihnen weiter sprach, wußte er im nächsten Augenblick nicht mehr. Aber ein anderes Erlebniß war seinem Gedächtniß eingebrannt.
Einen Augenblick hatte er seine Hand auf den Tisch gestützt, und dabei berührten die Spitzen, welche das Handgelenk umkräuselten, die Finger der Trude Heilingen. Da zog sie dieselben zurück, als sei das zarte weiße Gewebe etwas Unreines. An allen Gliedern bebend wich er zurück. Er machte einen Bogen um ihren Stuhl, als säße eine Kröte darauf, und wandte sich an Käthchen, die als jüngste den untersten Platz einnahm.
„Wie habe ich bishero vergeblich danach gestrebt, ein Wörtlein im Vertrauen mit Euch zu sprechen,“ warf er von oben herab hin. „Das stiefmütterliche Glück stand mir allezeit entgegen.“
Da war es vorbei mit Käthchens mühsam bewahrter Fassung. Der aufgespeicherte Jammer brach los, und sie schlug dem falschen Vetter die Fastnachtsmaske von der Nase. „Das stiefmütterliche Glück soll Euch verhindert haben? Das Frauenzimmer ist’s gewesen. Ihr habt mit der Hofmeisterin und allen Hofjungfrauen angebändelt. Ueber mich seid Ihr beinahe hinwegestopert, ohne mich anzuschauen. Und nun zu allerletzt wollt Ihr auch mich noch an der Nase herumführen? Das lasse ich mir nicht gefallen.“ Helle Thränen in den Augen, drehte sie ihm trotzig den Rücken, ohne sich um das Naserümpfen und Achselzucken des übrigen Frauenzimmers zu kümmern.
Plauderei von Oskar Justinus.
Wer nach dieser von mir aufgeworfenen Frage den Schluß ziehen wollte, daß ich viel von diesem schätzbaren Material besitze, thäte mir unrecht. Die wirklich Geldbegnadeten fragen nicht, „wie hebt man sein Geld auf?“ sondern „wie legt man es an?“ Diese Frage, die man oft genug aus dem Munde sorgenvoll dreinblickender Kapitalisten hört, hat eigentlich etwas Tragikomisches. Diese armen Reichen erinnern mich an Midas, vor dessen Berührung alles zu Gold wurde und der dabei fast ins Verhungern gerieth. Ich möchte ihnen in ihrer bedauernswerthen Verlegenheit immer zurufen: seht nur zum Fenster hinaus, dort warten unendlich viele, die euch in eurem embarras de richesse mit ihrem Rathe gern zur Seite stehen wollen. Es schlagen sich Hunderttausende durch die Welt, die mit ein paar hundert Mark aus dem Sumpf herauszukommen und sich eine behagliche Existenz zu gründen vermöchten. Baut Wohnungen, schafft dem kleinen Mann billiges Geld für seinen Betrieb. Sind diese Anlagen auch nicht pupillarisch, auf der Creditseite eures Kontos in der himmlischen Buchführung ist euch das Kapital auf Heller und Pfennig gebucht und wird euch dereinst verrechnet werden mit Zins und Zinseszins.
Doch ich will ja hier nur davon reden, wie man sein Geld aufhebt, und dazu braucht man wirklich nicht viel zu besitzen. Kein Mensch bewahrt seinen Besitz so ängstlich wie der Junge, der sein erstes Taschengeld empfangen. Die Hand thut mir noch heute weh von dem krampfhaften Festhalten des Dreiers, den mir vor 44 Jahren mein Großvater mit einer großen Moralpredigt anläßlich meines fünften Geburtstages feierlich überreichte, und mit dem ich mich reicher dünkte, als Krösus und Rothschild zusammen. Ich will aber auch nicht vom Schatzhause des Rhampsenit anfangen oder vom Schatze des Priamus, der so gut aufgehoben war, daß ihn erst Schliemann auffinden konnte, sondern wir wollen mit einem Sprunge aus dem grauen Alterthume uns hinüber schwingen in das modernste Leben des papiernen Jahrhunderts.
Das papierne Jahrhundert! Ich glaube, daß die Zahl der Bauern, welche die blanken Silberthaler in einem Strumpfe aufbewahren, den sie in der buntbemalten Truhe oder beim Herannahen einer Kriegsgefahr nächtlich unter einem Baum im Obstgarten vergraben, von Jahr zu Jahr kleiner wird. Vielleicht mit Unrecht; denn eh’ wir uns dessen versehen, kann am politischen oder sozialen Horizont ein Gewitter heraufgezogen sein, bei dessen Blitzen die bestfundirten Aktien nur nach ihrem Tapezierwerthe geschätzt und die Hundert-Mark-Banknoten mit den gebrauchten Pferdebahnbillets konkurriren werden. Ich entsinne mich noch
[745][746] der großen ledernen Geldkatze, welche die Fuhrherren und Handelsleute um den Leib geschlungen trugen, wie die Familie Laokoon ihre Schlangen. Das ist alles veraltet. Der eisernen Truhe mit den sechserlei Riegeln und Sperren und Haspen folgte der feuer- und diebessichere Geldschrank mit dem auf den dreibuchstabigen Namen verstellbaren Verschluß. Als ich in der Lage war, einen zu verwalten, vergaß ich von einem Tage auf den andern die wichtige Parole und der Schlosser kam mir nicht aus dem Hause.
In England soll ein höchst anregender Wettbetrieb im Gange sein zwischen den Geldspindfabrikanten und den Dieben des betreffenden Ressorts. Mit einer wahren Genialität gehen die letzteren in Erfindung neuer Zerstörungs- und Anbohrungsmittel vor sich; aber diese wird noch übertroffen durch den Scharfsinn der Fabrikanten, welche die Bohrer durch gezähnte Platten zersplittern und die geräuschlose Hantirung der Einbrecher durch elektrische Vorrichtungen unsanft unterbrechen.
Hinsichtlich der Feuersicherheit ist das Höchste ja doch wohl von jenem Fabrikanten geboten worden, der den Beweis für die Undurchlässigkeit der aschengefüllten Doppelwände damit erbrachte, „daß er seinen Lehrjungen 24 Stunden in einen Geldschrank einsperrte, den er die ganze Zeit inmitten einer wohlgenährten Feuersgluth stehen ließ. Als der Brand gelöscht und der Schrank geöffnet wurde, stellte sich heraus, daß der Lehrling sich beide Füße abgefroren hatte.“ Neben dem Geldschrank blühte als transportable Sparkasse die rothe Brieftasche – ein, wenn gefüllt, ziemlich klobiger Behälter, ähnlich wie ihn die Wachtmeister zwischen dem zweiten und dritten Knopfe auf ihrem treuen Busen zu bergen pflegen. Vor einem Vierteljahrhundert schien es nämlich, als bestände das ganze Vermögen der Menschen in Kassenscheinen und Banknoten, die meistens thalerweise – zu hundert in ein Bündel geschnürt – „ohne Gewähr, daher bei Empfang zu zählen“ – die Erde überschwemmten.
Dann kam die Zeit der „wilden Scheine“ – nicht so geheißen, weil man bei ihrem Anblick wild wurde, sondern weil sie sich nicht unter ein einheitliches Gesetz bändigen ließen – und die Zeit der Coupons, die, auf die unmöglichsten echten und unechten Brüche lautend, mit nie gehörten Zahlstätten, ein unterhaltendes Farbenspektrum und eine sehr gute Uebung in der Geographie Deutschlands bildeten.
Auf diesen bunten morschen, zusammengeflickten Zetteln mit Wappen und Devisen, auf diesen langen umränderten, zerrissenen Streifen mit vollgekritzeltem Rücken und verwischten Ziffern lagerte im friedlichen Verein der Schmutz der Märkte von Reuß-Greiz-Lobenstein und der neugebauten Chausseen der Kreiskasse von Bomst. Mit Lupe und Hilfsbüchern mußte man sich bei der kleinsten Zahlung Sicherheit verschaffen, ob das, was man erhielt, einen Werth hatte, ob es noch nicht fällig oder bereits verfallen oder abgerufen oder herabgesetzt war, in welchem Theil des Reiches seine Zahlstätte lag, und mußte Verzeichnisse, sogenannte Bordereaux anfertigen, um die widerhaarigen Summen zusammenzubringen. Wie gut hat es unsere Generation mit dem blanken Golde, mit den einfachen festen, gleichartigen Reichsbanknoten gegen das schmutzige übelriechende Gezettel jener noch gar nicht fernen Zeit!
Das ist nun alles anders geworden. Der allermodernste Mensch– ob arm oder reich ist in diesem Punkte gleich – hat überhaupt kein Geld mehr im Hause. Das Depositen- und Checkwesen, welches in England schon seit Jahrzehnten den schwerfälligen Geldverkehr völlig abgelöst hat, fängt an, sich auch bei uns einzubürgern. Wie die Fürsten und „Hohen Herren“ kein Geld, sondern ihren Sekretär, Kammerdiener, Kurier um sich haben, der alle Ausgaben für sie leistet und ihre Finanzen verwaltet, so gewöhnt sich auch hier zu Lande nach und nach der Besitzende daran, eine Kassenführerin zu besitzen: seine Bank! Zu Hause hat man nur das Allernöthigste in Baarem – es verlohnt keinen Geldschrank mehr, man hat sein Checkbuch. Die Diebe sind ganz unglücklich über diese Reform. Wie ich höre, sollen sie eine Petition an den Reichstag um Aufhebung des Depositen- und Checkverkehrs vorbereiten und ihr Gesuch damit begründen, daß derselbe sie in ihrem Gewerbebetriebe beeinträchtige.
Die Sorge, wie man sein großes Geld aufhebt, notabene wenn man welches aufzuheben hat, wäre also aus dem Sinn; es erübrigt die Frage nur bezüglich des Kleingeldes. In England bezahlt man schon ganz kleine Rechnungsbeträge durch einen Check, der dann auf die krümmsten Beträge lautend von Hand zu Hand weitergeht, bis er an die Zahlstelle gelangt und verschwindet. Doch man kann selbst dort das Tramwaybillet nicht mit einer Anweisung auf die Bank begleichen, und so ist die kleine Münze für die Ausgaben der Stunde nicht ganz ausgeschlossen. Aber diese gilt als so nebensächlich, daß man sich nicht die Mühe giebt, einen besonderen Behälter für sie herzurichten. Der Engländer und Franzose trägt sein Geld in der Westen- oder Seitentasche. Wie Fürst Bibinnof in der Posse „Die Nachbarinnen“ zieht er die Goldstücke mit einem nachlässigen Griff des zweiten und dritten Fingers heraus. Auf der Reise kann man oft die Herren der Erde von jenseits des Kanals und des Oceans beobachten, wie sie mit der großen Hand in die rechte Tasche des Beinkleids fahren und dem Wirthe oder Kaufmann eine ganze Sammlung von Gold, Kupfer und Silber, eine Auswahl aller Münzsorten, deren Vaterland sie durchflogen, in der muldenförmig gehöhlten Rechten zur Auswahl vorhalten. Dieses dem fremdesten Menschen entgegengebrachte Vertrauen ist so überwältigend für einen Deutschen, daß es sicher niemals mißbraucht wird. In Wirklichkeit ist es nicht so weit her damit, denn der Engländer und Amerikaner, der den Kontinent bereist, ist meistens viel reicher, als es hier zu Lande Sitte ist, und die Preise sind so klein im Verhältniß zu denen, die er von zu Hause gewohnt ist, daß er mit einem gewissen bedauernden Lächeln auf die armen Deutschen sieht, die sich sorgfältig ihr Guthaben aus dem Füllhorn seines Handtellers herausklauben.
Der Deutsche hat viel zu viel Respekt vor dem Gelde, um es so unachtsamer Weise in der Tasche zu tragen. Er hält es für eine Versündigung, mit ihm achtlos umzugehen, und so führt er einen wenn auch nicht feuer-, doch diebessicheren Miniaturgeldschrank bei sich – den Beutel, die Börse, das Portemonnaie.
Der alte mit der Schnur zugebundene Lederbeutel hat sich, wie manche Nationaltracht und Sitte, aus den Städten nach dem flachen konservativen Lande geflüchtet, aber in der Metamorphose zur Ledertasche mit blankem Stahlbügel ist er aufs neue zu Ehren gekommen. Die Marktfrau, der Pferdebahnkontroleur, die Verkäufer am Milchwagen – sie alle haben diese Patronentasche an der Seite, deren Inhalt so viel Heil und Unheil schon über die Welt gebracht hat. Eines aber ist aus der Blüthezeit der Beutel geblieben, das praktische Wort des unpraktischen Jago: „thue Geld in deinen Beutel!“
Dem Beutel folgte die Börse. Sie florirte in der Zeit der perlengestickten Klingelzüge und Serviettenbänder – in der Zeit, in der man noch nicht zu 9/10 angefangene Kunstwerke vom Laden als „eigene“ Handarbeiten verehrte. Sie hat bekanntlich wie ihre Schwester „der Giftbaum“ zwei Seiten. Sie hat eine gefällige behäbige Form und es dauert immer so hübsch lange, bis man sie aus der Tasche herausgezogen, die Ringe zurückgeschoben und das passende Geldstück aus dem schmalen Mundstück herausgesucht hat. Bis ein Bettler seine Gabe erhalten, kann er verhungert sein. Damals überwog auch noch das Kupfer, welches heute eigentlich nur in der Gestalt von Cuivre poli salonfähig ist. Der Dreier, der übergroße dicke Bierpfennig, das goldglänzende Zwei- und Einpfennigstück – „Du alte Kupferherrlichkeit, wohin bist du verschwunden?“
Verschwunden mit der in ihren Formen so festgegründeten, gegen jede Neuerung argwöhnischen Zeit, welche eher das Umwerfen von Thronen ins Auge faßte, als die kleinste Abänderung in der eingewohnten Hausordnung. Die neue Zeit brachte das Portemonnaie, das in seinem geschlossenen schneidigen Wesen in schnellstem Tempo fast zur Alleinherrschaft gelangt ist. Wenn ein neuer Heinrich IV. den Wunsch ausgesprochen hätte, daß jeder seiner Unterthanen ein Portemonnaie in der Tasche haben solle, so wäre dieser kühne Wunsch ihm schon heute erreicht. Die Industrie hat sich des Artikels in einer großartigen Weise bemächtigt und man ist in Stand gesetzt, bereits für wenige Pfennige ein Fabrikat aus Leder und Stahl sich einzuthun, dessen Schloß gewöhnlich viel zu solide ist für den winzigen Inhalt. Eine erstaunliche Mannigfaltigkeit herrscht in Form und Stoff und Größe. Von der großen unbiegsamen Ledertasche mit Abtheilungen für die verschiedenen Münzen bis zum Perlmutterschälchen in Miniaturausgabe mit Crême-Atlasfältchen. Von den unzerreißbaren aus einem Stück bis zu denen, die in Stücke reißen, sobald man nur [747] den ernsten Gedanken hat, sie in Verwendung zu nehmen, ist eine ununterbrochene Kette, und sowohl die Antilope von den Gletschern des Atlas, wie der Alligator vom Saume des Mississippi muß seine Haut zur Herstellung des Portemonnaie zu Markte tragen.
Aber eine neue Frage drängt sich nun heran: wo hebt man sein Portemonnaie auf? Die Sitte unserer knappanliegenden Gewandung läßt nur Taschen zu, welche ein solides Portemonnaie bald durchzureiben das Bestreben hat. Je voller gespickt, desto schneller geht dies vor sich. Das Portemonnaie ist unzerreißbar – die Tasche leider nicht. Ueberall geniert es. Seit vielen Jahren experimentire ich, in welcher Tasche ich es am besten unterbringe, und bin noch zu keinem andern Ergebniß gelangt, als daß ich wegen jedes Nickels alle meine zwölf Seiten-, Innen-und Außentaschen – so viel hat mancher Herr im Ueberzieher zu seiner Verfügung – durchstöbere, ehe ich an die richtige gelange. Noch schlimmer sind aber die Damen dran. Ich habe eine unbegrenzte Verehrung für alles, was das weibliche Geschlecht angeht. Ich finde ihre extremsten Moden entzückend, aber wenn ich die krampfhaften Anstrengungen sehe, welche eine Dame in vollem Staat machen muß, um zu ihrer Tasche zu gelangen, dann kann ich mich des ketzerischen Gedankens nicht entschlagen, daß hier eine Verbesserung nicht undenkbar wäre. Ich wohnte einmal einer meist aus Damen bestehenden Trauerversammlung bei und ich bin wahrhaftig kein frivoler Mensch, aber als die Rede zu ihrer wirksamsten Stelle kam und sämmtliche Damen sich wie gothische Figuren zu krümmen und zu schlängeln begannen, um durch Mantel und Oberkleid nach den Taschentüchern zu greifen, da hätte ich Mühe, den der Situation angemessenen Ernst zu bewahren. In Anbetracht dieser Schwierigkeit stecken die Damen ihr Geldtäschchen gewöhnlich in den Muff oder tragen es in der Hand, was mir gar nicht gefallen will. Das Händchen, in welchem die Geschicke der Männer ruhen, sollte nicht zu solchem Dienste mißbraucht werden. Ich fände statt dessen viel hübscher die Einführung des Grethchentäschchens, das sich so graziös an den Gürtel schmiegt und aus dem sich so mildthätig spenden läßt. Aber die äußeren Taschen sind, bei Männern und Frauen, nach innen getreten, wie in dem neuen Haushalt der große behäbige Eichenschrank sich unsichtbar in die Wand geschoben hat.
Und wir brauchen diese Wandschränke in unseren Kleidern. Es ist beinah tragisch, was ein Herr comme il faut heutzutage alles zu tragen hat. Wir wollen einmal zählen:
1) seine Brieftasche, 2) ein Visitenkartenetui, 3) Bürstchen und Kamm, 4) Haus- und Sekretärschlüssel, 5) sein Taschentuch, 6) eine Zeitung, in der Pferdebahn zu lesen, 7) ein Taschenmesser, 8) ein Handspiegelchen, 9) eine Cigarrentasche, 10) sein Pferdebahnbillet, 11), 12), 13) was er zufällig zu sich gesteckt hat.
Ist er aber auf der Reise, so kommen wir auf das Doppelte. Da treten hinzu: der Bädeker, das Taschenteleskop, ein Trinkbecher, eine Hausapotheke, ein Eßbesteck, ein Pedometer, ein Migränestift, ein Skizzenbuch, ein Gummikragen, ein Schreib-und ein Nähnecessaire – und da hätten wir bald die Hauptsache vergessen – das Portemonnaie.
Wenn ein alter Weiser die Worte sprechen konnte: omnia mea mecum porto, so ist es damals eben noch keine Kunst gewesen, „seine ganze Habe bei sich zu tragen.“ Das Leben stellte noch nicht die Ansprüche an den Bürger wie unsere Zeit, und dabei hatte die Toga Falten so weit, daß sie „Krieg und Frieden“ unter ihnen verbergen konnten.
Bis heute scheint mir das Problem noch nicht völlig gelöst, wie man am sichersten und bequemsten sein Geld bei sich führe. Vielleicht wird das Bedürfniß einmal ein Geschlecht züchten, welches den Beutelthieren ähnlich zum Tragen seines Schatzes besondere Muskelvorrichtungen auf die Welt bringt. Dann will ich mich gern zufrieden geben.
Alle Rechte vorbehalten.
Unfreundlich, eintönig und wechsellos erscheint die Steppe dem, welcher sie zum ersten Male betritt. Eine weite, oft unabsehbare Ebene liegt vor dem Auge; nur ausnahmsweise erheben sich aus ihr hier und da einzelne Bergkegel, noch seltener einigen letztere sich zu Gebirgszügen. Oefter reihen sich wellenförmig niedere Hügel an flach eingesenkte Thäler; zuweilen verschlingen sie sich zu wundersamen, netz- oder maschenartig verlaufenden Höhenzügen, welche zwischen ihnen eingetiefte Kessel einschließen oder umgeben, in denen während der Regenzeit Lachen, Teiche und Seen entstehen, wogegen während des Winters der lettige Boden durch Tausende von Spalten zerklüftet wird. In den tiefsten und längsten Niederungen findet sich an Stelle jener stehenden Gewässer ein „Chôr“ oder Regenfluß, das ist ein Wasserbette, welches ebenfalls nur während des Frühlings theilweise, unter besonders günstigen Umständen auch wohl und dann binnen wenigen Stunden bis zum Rande gefüllt wird und nunmehr nicht allein strömt, sondern wie eine bewegliche Mauer rauschend und donnernd zur Tiefe braust, keineswegs immer aber in einen wirklichen Fluß mündet. Mit alleiniger Ausnahme solcher Wasserbecken deckt überall eine verhältnißmäßig reiche Pflanzenwelt den Boden. Gräser verschiedenster Art, von niederen, auf dem Boden kriechenden Pflänzlein an bis zu übermannshohen getreideartigen Halmengräsern, bilden den Hauptbestandtheil der Pflanzen der Steppe; Bäume und Sträucher, insbesondere verschiedene Mimosen, Adansonien, Dompalmen, Christusdornen und andere verdichten sich hier und da, zumal an den Ufern der erwähnten Gewässer, zu Hainen oder Waldsäumen, sind übrigens aber so spärlich zwischen den weite Flächen gleichmäßig überziehenden Gräsern eingesprengt, daß sie sich nur an wenigen Stellen zu einem dürr bestandenen Walde einen. Nirgends zeigen diese Bäume die Ueppigkeit des Wachsthums wie in den wirklichen Stromthälern, welche den Segen des Frühlings bewahren durften, sind vielmehr oft krüppelhaft, mindestens niedrig und ihre Kronen sperrig, und bloß ausnahmsweise klettert eine Schlingpflanze zu ihren Wipfeln empor. Sie alle leiden unter der Strenge des langen, glühenden Winters, welcher ihnen kaum gestattet, das eigene Dasein zu fristen, und fast alle Schmarotzerpflanzen von ihnen abhält, wogegen die Gräser in dem wenn auch kurzen, so doch wasserreichen Frühlings üppig aufschießen, blühen und Samen reifen lassen, somit alle Bedingungen zu fröhlichem Gedeihen vorfinden. Gerade sie aber tragen wesentlich dazu bei, der Steppe das Gepräge der Eintönigkeit aufzudrücken; denn sie gleichen, so niedrig sie sind, viele Gegensätze aus und wirken insbesondere auch durch die Gleichmäßigkeit ihrer Färbung ermüdend.
Nicht einmal der Mensch ist im Stande, Abwechslung in dieses ewige Einerlei zu bringen, weil seine Felder, welche er mitten im Graswalde anlegt, von fern gesehen diesem so gleichen, daß man Getreide und Gras nicht von einander unterscheiden kann, und die runden, kegelförmig bedachten Hütten, welche er mit schwachem Pfahlwerke stützt und mit Steppengras überkleidet, mindestens während der Zeit der Dürre, so wenig von der umgebenden Fläche sich abheben, daß man schon sehr nahe gekommen sein muß, wenn man sie wahrnehmen soll. Einzig und allein die Jahreszeiten verändern das sonst so gleichmäßige Bild, ohne ihm jedoch viel von seiner Eintönigkeit zu nehmen.
Unfreundlich ist auch der Empfang, welchen die Steppe dem Wanderer bereitet. Auf hohem Kamele sitzend, reitet man durch das Gefilde. Irgend ein Wild verlockt zur Jagd und verleitet, in den Graswald einzudringen. Da erfährt man, daß zwischen den anscheinend so glatten Gräsern Pflanzen wachsen, welche sich noch weit furchtbarer machen als die Dornen der Mimosen. Auf dem Boden wuchert die „Tarba“, deren Samenkapseln so scharf sind, daß sie die Sohle leichter Reitstiefeln durchschneiden; über ihn erhebt sich, der „Essek“, dessen Kletten sich in alle Kleiderstoffe fast unlösbar einfilzen; noch etwas höher strebt der „Askanit“ empor, unter den drei genannten die furchtbarste Pflanze, weil seine feinen Stacheln bei der geringsten Berührung [748] sich lösen, durch alle Kleiderstoffe dringend in die Haut bohren und hier Eiterbeulen verursachen, welche zwar an und für sich sehr klein sind, ihrer außerordentlichen Menge halber jedoch überaus lästig werden. Alle drei Pflanzen verwehren jeden längeren Aufenthalt, jedes weitere Vordringen im Grase und werden zur Qual für Menschen und Thiere, lassen auch bald begreiflich erscheinen, weshalb jeder Eingeborene eine feine Greifzange als eines seiner allerwichtigsten Werkzeuge fortwährend mit sich führt, weshalb, wie bei den Affen, der größte Liebesdienst, welchen einer dem andern erzeigen kann, darin besteht, ihm die feinen, kaum sichtbaren, aber nadelscharfen Stacheln aus der Haut zu ziehen. Daß auch die meisten übrigen Pflanzen der Steppe, insbesondere fast sämmtliche Bäume und Sträucher, mit mehr oder weniger hinderlichen Dornen und Stacheln bedeckt sind, nimmt denjenigen nicht Wunder, welcher irgendwo in Afrika ein Dickicht zu durchdringen versuchte oder nur einem Baume sich näherte.
Noch unangenehmere Erzeugnisse der Steppe bringt die Nacht zur Geltung. Auch die Nacht muß man oft zum Reisen benutzen, wenn kein Dorf zu erreichen ist, und dann im Freien lagern und nächtigen. Ein hierzu geeigneter sandiger, von jenen quälenden Pflanzen freier Platz am Wege, den man zieht, ist endlich aufgefunden, das Reitthier entbürdet und gefesselt, eine einfache Lagerstatt errichtet, das heißt der Teppich über den Boden gebreitet und ein mächtiges Feuer zum Schutze gegen Raubthiere angezündet worden. Die Sonne geht unter, die Nacht lagert wenige Minuten später über der Ebene; das Feuer beleuchtet das Lager und seine Umgebung. Da wird es hier wie im Lager selbst lebendig und rege. Angezogen durch die Strahlen der Flammen rennt und kriecht es heran, einzeln, selbander, zu zehn, zu hundert. Zunächst erscheinen riesige Spinnen, welche mit ihren acht Beinen fast ebenso viel Raum überdecken wie ein Mann mit seiner gespreizten Hand; unmittelbar darauf, unter Umständen gleichzeitig mit ihnen, finden Skorpione sich ein. Die einen wie die anderen laufen beinahe unheimlich rasch auf das Feuer zu, über Lagerteppiche und Decken hinweg, zwischen den zur einfachen Abendmahlzeit aufgestellten Tellern durch, kehren, sobald die strahlende Wärme des Feuers sie zurücktreibt, wieder um, lassen sich nochmals von der Flamme anlocken und vermehren dadurch das bedrohliche Gewimmel; denn diese Spinnen sind ihres gefährlichen oder doch sehr schmerzhaften Bisses halber kaum weniger gefürchtet als die Skorpione, auch, wie diese zum Stechen, jederzeit zum Beißen bereit.
Unmuthig greift man zu dem zweiten Werkzeuge, welches einem der kundige Geleitsmann vor der Reise als ebenfalls unentbehrlich aufgedrungen, zu einer langschenkeligen Feuerzange nämlich, packt so viele der ungebetenen Gäste, als man erlangen kann, und wirft sie ohne Gnade in das knisternde Feuer. Dank der vereinigten Anstrengungen aller Reisegenossen hat binnen kurzer Fast der größte Theil des höllischen Gezüchtes seinen Tod in der Flamme gefunden; der Zuzug wird schwächer, und so viel als möglich ebenfalls und in gleicher Weise überwältigt; man athmet auf – aber zu früh! Wiederum neue und noch unheimlichere Gäste nahen dem Feuer: Giftschlangen, welche ebenso wie jene Spinnenthiere von dem Scheine der Flammen herbeigezogen werden Der Naturforscher erkennt in ihnen, mindestens in der am zahlreichsten sich einstellende Art, höchst beachtens- und theilnahmswerthe Thiere, denn es ist die sandgelbe Hornviper, die berühmte oder berüchtigte Cerastes der Alten, die auf vielen ägyptischen Denkmälern abgebildete Fi, dieselbe Giftschlange, durch deren Giftzähne Kleopatra sich den Tod gab; der ermüdete Reisende aber verwünscht sie in den Abgrund der Hölle. Das ganze Lager wird lebendig, sobald ihr Name von einem der Reisenden genannt wird; jeder greift, bei weitem rascher und ängstlicher als früher, zur Zange, schreitet, wenn er des Giftwurmes ansichtig wird, vorsichtig an diesen heran, packt ihn hinten im Genicke, kneipt die Zunge fest zusammen, damit er nicht entrinne, wirft ihn mitten in das lodernde Feuer und verfolgt mit boshafter Freude seinen Untergang. An manchen Stellen der Steppe können diese Schlangen einen in gelinde Verzweiflung versetzen. Dank ihres dem Sande bis auf jedes Körnchen gleichenden Schuppenkleides und ihrer Gewohnheit, bei Tage oder während ihrer Ruhestunden bis auf die kurzen, als Fühler dienenden Hörner in den Sand sich einzuwühlen, sucht man in den Tagesstunden meist vergeblich nach ihnen; sobald aber die Nacht hereinbricht und das Lagerfeuer strahlt, sind sie zur Stelle und schlängeln und züngeln um einen herum.
Zuweilen erscheinen sie in erschreckender Anzahl und halten den ermüdeten Reisenden bis gegen Mitternacht wach; denn alle, welche im Bereiche der Strahlen des Feuers geruht haben oder bei ihren nächtlichen Streifzügen in jenen gelangen, scheinen der Flamme zuzukriechen. Und wenn man endlich, ermüdet und schlaftrunken, die Zange aus der Hand und sich selbst zur Ruhe legt, weiß man nie, wie viele von ihnen in später Nacht noch über einen hinwegkriechen, erfährt aber nicht allzuselten des Morgens beim Aufnehmen der Teppiche, daß solches der Fall gewesen, indem man eine oder ihrer mehrere unter den Falten des Teppichs versteckt und beim Abheben desselben in den Sand sich eingraben sieht. Gerade in der Steppe war es, wo sich mir die damals noch von niemand getheilte Ueberzeugung aufdrängte, daß, mit wenigen Ausnahmen, alle Giftschlangen, mindestens alle Vipern und Lochottern, Nachtthiere sind.
Mit den bisher genannten sind noch keineswegs alle belästigenden Thiere der Steppe aufgezählt. Eines von ihnen, zu den kleinsten aller zählend, erregt zwar nicht Besorgniß für das Leben, wohl aber solche für das Eigenthum des in der Steppe lebenden oder sich aufhaltenden Menschen. Dieses Thier ist die Termite, ein unserer Ameise ähnlicher Kerf, welcher trotz seiner geringen Größe mehr Unheil anrichtet als die gefräßige Heuschrecke, deren Auftreten auch heute noch zur Plage werden kann, welche empfindlicheren Schaden verursacht als eine verwüstend in die Felder einfallende Elefantenherde, denn sie gehört zu den allgegenwärtigen und ununterbrochen schadenden Thieren. Was das Pflanzenreich erzeugt, verfällt ihrem scharfen Zahne, was der Kunst- und Gewerbfleiß des Menschen aus ihm zugänglichen Stoffen schafft, nicht minder. Hoch über den Graswald der Steppe erheben sich ihre kegelförmigen Erdbauten, auf dem Boden dahin wie an den Bäumen empor verlaufen ihre Gänge und Verbindungswege. Zur Nachtzeit oder im Dunkel beginnt und vollendet sie ihr vernichtendes Werk. Zunächst überzieht sie den Stoff, welchen sie in Angriff nimmt, mit einer alles Licht abhaltenden Erdkruste, und nunmehr geht sie an ihre Arbeit, deren Zweck und Ende stets Zerstörung ist. Alle am Boden liegenden oder an Erdwänden hängenden Gegenstände sind am meisten gefährdet. Der achtlose Reisende legt, von der herrschenden Schwüle bedrückt, eines seiner Kleidungsstoffe neben sich auf den ihm als Lagerstätte dienenden Boden und findet am anderen Morgen, daß es siebartig durchlöchert, unbrauchbar gemacht, mit einem Worte vernichtet ist; der noch nicht mit dem Lande vertraute Naturforscher birgt seine mühsam gesammelten Schätze in einer Kiste, versäumt aber, diese auf Steine und dergleichen Gegenstände, welche den Boden der Kiste von dem Erdboden entfernt halten, zu stellen, und sieht sich nach wenigen Tagen seiner Sammlungen beraubt; der Jäger hängt sein Gewehr an eine Lehmmauer und bemerkt zu seinem Aerger, daß das zerstörungssüchtige Kerbthier binnen kürzester Frist in den Kolben bereits tiefe Rillen genagt hat. Der Baum, welche die Termite sich ausersieht, ist verloren, das Sparrwerk der Wohnung, in welchem sie sich eingenistet, der Vernichtung geweiht. Vom Boden bis zu den höchsten Zweigen hinauf leitet sie an jenem ihre zum Verderben führenden Wege, durchfrißt Stamm, Aeste und Zweige und giebt ihn dann dem ersten Sturme preis, welcher das ertödtete und haltlos gewordene Wabenwerk in alle Himmelsrichtungen zerstäubt; an den Erdwohnungen oder dem Pfahlwerke der Wohnungen steigt sie empor, durchlöchert alles Holzwerk und bewirkt binnen kurzem den Einsturz der Behausung; unter dem gestampften Fußboden oder Estrich der bessere Häuser gräbt sie sich tausendfach verzweigte Gänge und bricht aus ihnen gelegentlich zu Millionen hervor, um nunmehr oben verderbenbringend zu wirken. So und noch vielfach anders auftretend, wird sie zu einer der ärgsten Plage Innerafrikas, insbesondere der Steppe.
Böte diese nicht auch noch andere, anziehendere und für die Wissenschaft bedeutungsvolle Erscheinungen dar: der Naturforscher würde sie ebenso gern meiden wie der handeltreibende Reisende, welcher nur ihre abstoßenden, nicht aber auch ihre fesselnden Seiten kennen lernt.
[749]Inmitten des sagenumflossenen Domhofes der alten niedersächsischen Kulturstadt Hildesheim erhebt sich auf einem modernen steinernen Unterbau eine vierzehn Fuß hohe hohle Kupfersäule, die durch ihre eigenthümliche Form und die gewindeförmig um die Säule sich herumziehenden Reliefbilder die Aufmerksamkeit des Beschauers fesselt. Wir haben hier die sogenannte Christus- oder Bernwardssäule vor uns, deren Schöpfer der Bischof Bernward von Hildesheim (gest. 1022) ist.
Wo immer die Forschung des Archäologen und Kulturhistorikers in vergangenen Geschichtsepochen unseres Vaterlandes einsetzt, wird sie die künstlerische und allgemein kulturelle Wirksamkeit des Bischofs Bernward, des „Künstlers unter dem Bischofshut“, als einen maßgebenden Entwicklungsfaktor seiner Zeit in Berechnung ziehen müssen. Das 10. und 11. Jahrhundert kann man wohl mit Recht den Ausgangspunkt unserer historischen Entwickelung in künstlerischer Beziehung nennen, und sie wurde bedingt in der Hauptsache durch die bahnbrechende Thätigkeit des Bischofs und Fürsten von Hildesheim. Der Boden für eine solche Thätigkeit war in dieser niedersächsischen Kulturstätte allerdings schon recht wirksam vorbereitet, denn unter den Karolingern und sachsischen Kaisern galt Hildesheim, wie Otte[WS 1] in seiner „Geschichte der deutschen Baukunst“ hervorhebt, „als der Hauptsitz der mannigfaltigsten Kulturthätigkeit“. Durch eine Anzahl kunstliebender Fürsten und Bischöfe waren in Hildesheim die Vorbedingungen für eine schöpferische künstlerische Thätigkeit geschaffen worden; aber erst dem Bischof Bernward sollte es vorbehalten bleiben, jene Epoche des künstlerischen und gewerbthätigen Aufschwungs zu schaffen, als deren charakteristisches Merkmal neben den wunderbaren gußeisernen Flügelthüren im Dom zu Hildesheim eben die Christus- oder Bernwardssäule angesehen werden kann. Bernwardus hielt sich lange am kaiserlichen Hofe als Erzieher des Prinzen (Otto III.) auf, er hatte Rom und die Kunstschätze Italiens kennen und bewundern gelernt. Voll von diesen mannigfachen Eindrücken, kehrte er in sein Vaterland zurück und begann mit der Energie des schöpferischen Geistes den Samen auszusäen, der so herrliche Früchte tragen sollte. Ein damaliger Geschichtschreiber sagt von ihm:
„Im Schreiben glänzte er besonders hervor, die Malerei übte er mit Feinheit, er war ausgezeichnet in der Kunst, Metalle zu bearbeiten und edle Steine zu fassen.“ Und weiter: „Die Kunst, in Metallen zu arbeiten, ließ er nie vernachlässigen … Er wußte auch an überseeischen und schottischen Gefäßen, die der königlichen Majestät als besondere Gaben dargebracht wurden, das, was er selten und ausgezeichnet fand, zu benutzen. Er führte talentvolle, vorzüglich begabte Jünglinge mit sich an den Hof oder auf längere Reisen und trieb sie an, sich in allem dem zu üben, was in irgend einer Kunst sich als das Würdigste darbot.“
Wenden wir uns nun zu der Säule selbst. Sie hat, wie Eingangs bemerkt, jetzt einen steinernen Unterbau von 8 Fuß Höhe. Eiserne Inschrifttafeln besagen, daß sie im Jahre 1810 durch die Fürsorge des Fürstbischofs Franz Egon aus der Vergessenheit hervorgezogen sei.
Auf dem steinernen Postament erhebt sich die eherne Säule bis zu einer Höhe von 14 Fuß. Auf der viereckigen Grundplatte (Plinthe) ruht die sogenannte attische Basis, gebildet aus zwei starken Rundstäben, die durch eine Hohlkehle verbunden sind. Ueber ihr steigt der runde, 6 Fuß im Umfang haltende Schaft empor. Um ihn winden sich, von unten nach oben, in achtmaliger linksgewandter Drehung die Darstellungen von 28 Scenen aus dem Leben Christi. „Die achtmalige Windung,“ sagt Wiecker[WS 2] in seiner Beschreibung der Säule, „scheint nicht zufällig zu sein. Dem jüdischen, heidnischen und christlichen Alterthume war die Acht eine heilige Zahl. Auf die Vorliebe der byzantinischen, romanischen und gothischen Kunst scheint die öftere Anwendung des Achtecks bei Taufsteinen, Säulen Pfeilern, ja ganzen Kirchen hinzuweisen.“ Auch die schon genannten Bernwardinischen Bronzethüren im Hildesheimer Dome haben auf jedem Flügel acht Scenen. Die Achtzahl wurde gewissermaßen als das Symbol der Vollendung und Vollkommenheit angesehen.
Ueber die Reihenfolge und Bedeutung der Bilder sagt die erwähnte Beschreibung: ‚Das Leben der Erlösten beginnt mit der Taufe, schließt mit dem Einzug ins himmlische Jerusalem. Die zwischen den Taufwassern und den Zinnen der heiligen Stadt liegenden Scenen dienen aber dem Christen als Vorbild, Ermuthigung, Warnung und Tröstung bei seinem Emporsteigen zum Himmel … die Oktav von des Christen Taufe ist sein Eingang ins himmlische Jerusalem.‘ Derartige Gedanken mochte Bernward in der That bei dem Beschauer der Säule haben wachrufen wollen. Gleichzeitig wollte er aber auch Christus eine Siegessäule setzen, ähnlich wie den Imperatoren des Alterthums Siegessäulen gesetzt wurden. Denn es darf als gewiß angesehen werden, daß Bernward die Vorbilder seiner Säule in der mit Reliefs geschmückten Trajanssäule fand, die er in Rom kennen und bewundern gelernt hatte.
Sämmtliche Scenen sind stark vom Grunde emporragende Reliefs und beweisen sowohl in der Wahl des Stoffes, wie in der Anwendung und der Ausführung Geist und Hand des bewußt schaffenden Künstlers. Die Scenen stehen ideell zweifellos in Verbindung mit den Scenen der beiden Flügelthüren des Doms, sie können gewissermaßen als Ergänzung gelten. Die Relieffiguren sind – nach modernen Begriffen – roh und plump, die Augen starr und glotzend, die Bewegung ungelenk; aber trotzdem ist schon in denselben eine Befreiung von den starren Formen des Byzantismus bemerkbar.
Wir haben es in der Bernwardssäule mit dem Ausgangspunkt einer Kunstepoche zu thun, die für die deutsche Kultur eine so fruchtbringende und großartige war, daß wir heute noch mit Bewunderung auf sie zurückblicken. – Uns Modernen ziemt es, den Pulsschlag des Schaffens an solchen Werken einer verflossenen Kultur zu studiren, nicht nur aus Gründen der Pietät und Hochachtung, vielmehr noch, um zu erkennen, daß ein wahrer Fortschritt in der Kunst ist der zielbewußten Ausgestaltung jener Ideen liegt, die, anknüpfend an das Alte, für die hochentwickelte Form einen entsprechenden geistigen Inhalt fuchen. Denn das müssen wir uns bei aller technischen Unvollkommenheit der Kunstwerke des Mittelalters eingestehen, daß es Ideen waren, künstlerische Ideen, die in künstlerischer Form Verkörperung suchten.
Im Jahrgang 1885 (Nr. 25) brachte die „Gartenlaube“ den Artikel „Die edle Kegelei im Malkasten zu Düsseldorf“, in welchem der Wissenschaft der Vorwurf gemacht wurde, sie habe sich mit der Kegelei noch viel zu wenig beschäftigt. Dem gegenüber wird es wohl von allgemeinem Interesse sein, nicht nur den Ursprung des Spieles, soviel es möglich ist, aufzuklären, sondern auch auf die hohe Bedeutung des Kegels für das deutsche Volksbewußtsein überhaupt hinzuweisen.
Der Ursprung des Spieles ist mit Sicherheit in den Waffenspielen unsrer Vorfahren zu suchen. Die ursprüngliche Waffe derselben war der Keil, ein Wort, das etymologisch dasselbe ist wie Kegel, sowie die davon gebildeten Ableitungen Keule und Kugel. Diese Waffe, ursprünglich aus gehärtetem Holz verfertigt, zur besseren Handhabe auch wohl eingekerbt, war in ihrer Gestalt ganz unserem Kegel ähnlich. Sie war zugleich eine Hieb- und Wurfwaffe und behielt diese Funktionen auch in ihrer späteren Ausbildung als Streitkeil, Streitaxt, Streitmeißel, Ango und Framea bei. Alle diese waren aus Stein, zumeist Feuerstein, Granit und Hornblende, später aus Bronze, zuletzt und zwar vorzugsweise bei den nordischen Stämmen aus Eisen verfertigt. Die fränkische Framea war mit einem Riemen zum Zurückziehen versehen, der Wurf des Geschosses reichte bei seiner Schwere ungefähr dreißig Schritte, nach andrer Ueberlieferung „zwei Meereswellen weit“. Wie sehr diese Waffe den Deutschen eigenthümlich gewesen ist, geht aus einer Aeußerung des Isidor hervor, nach welcher sie bei den Galliern Teutone genannt wurde.
Die Trefflichkeit dieser Waffe und die Sicherheit ihrer Handhabung war an stete Uebung gebunden, auch in Friedensläuften. Seneca sagt in einem seiner Briefe: wenn er in Germanien geboren wäre, würde er sofort als Knabe die Framea schwingen, und an andrer Stelle: „Wer ist muthiger als die Germanen? wer stürmt gewaltiger? wer liebt leidenschaftlicher die Waffen, in denen sie geboren und erzogen sind, auf welche sich ihre einzige Sorge erstreckt, während alles andere sie nicht kümmert?“ Es ist nun sehr wahrscheinlich, daß aus solchen Treffübungen unser Spiel hervorgegangen ist, indem der beste Wurf mit einem Gewinne verbunden war; haben wir doch in den späteren Schützenspielen etwas dem ganz Aehnliches.
Scharfsinnig hat nun Jakob Grimm, welcher zuerst den Ursprung des Spieles aufdeckte und wissenschaftlich begründete, auf eine Anwendung des Spieles bei den Opferungen hingewiesen, bei welchen die Gebeine der geopferten Menschen oder Thiere das Material desselben bildeten. Er geht davon aus, daß der Oberarm des Menschen sowohl wie der Knochen des Vorderschenkels des Thieres, insbesondere des dem Deutschen heiligen Pferdes, der Keil, die Erweiterung desselben Knochens, der Schulter zu, Kugel genannt wurde. Diese Bezeichnung hat sich, was den thierischen Körper anbetrifft, noch vielfach erhalten, und auch auf den Menschen angewandt findet sich noch in Sachsen und Bayern die Wendung: den Arm oder Fuß auskegeln d. i. ausrenken. Es ist bemerkenswerth, daß auch die Bezeichnung „Bolzen“ einem Knochen und einer Waffe in gleicher Weise beigelegt wird. Grimm behauptet, jenes Festspiel habe darin bestanden, die Kegel der getödteten Opfer aufzustellen und mit der abgeschlagenen Kugel danach zu werfen. Eine Erinnerung daran hätte sich, wenn Grimms Gewährsmann recht berichtet, in der Gegend von Leipzig bis in die neueste Zeit erhalten. Denn bei Wurzen und Eythra soll man sich die Kegel und die Kugel selbst dadurch verfertigt haben, daß man die herausgeschälten Knochen der Vorderfüße eines getödteten Pferdes als Kegel benutzte und sich die über dem Hufe befindliche Kugel von einem Drechsler abrunden ließ.
Es hat jene Sitte ihren Ursprung vielleicht in den der siegreichen Schlacht sich anschließenden Opferungen, bei denen Haß und Siegesfreude in dem Werfen nach den Gebeinen der getödteten Kriegsgefangenen zu feierlichem Ausdruck kamen. In Berücksichtigung dieser Sitte ist wohl die mittelalterliche Wendung zu verstehen: „Dein bein (d. h. wäre gut) dasz man mit schlüg der Keulen.“ Die gefallenen Feinde werden im Mittelalter des öfteren mit Kegel bezeichnet, und noch Schärtlin sagt in einem seiner Briefe: „Wan der Luft, als wir das dorf anzündeten, nit so gar wider uns gewest wer, sollt es auch noch mehr Kegel geben haben.“ Sollte nicht auch die moderne Bezeichnung der Kegelwürfe wie Carré, Bataillon, Grenadier eine dunkle Ahnung von dem kriegerischen Ursprung des Spieles sein?
Jedenfalls scheint sich dann später die Ausübung des Spieles an besondere Orte und Feierlichkeiten gebunden zu haben. Eine Erinnerung daran hat sich in Hildesheim ziemlich lange bewahrt. Denn Letzner berichtet in seiner historia Caroli magni, 1603, es wäre jeden Sonnabend nach Lätare auf dem kleinen Domhof zu Hildesheim ein Bauer erschienen, welcher auf zwei je einen Klafter lange Klötze zwei andere kegelförmig zugespitzte Hölzer gesetzt habe, nach denen dann die Buben und das Gesinde warfen. Er fügt sehr bezeichnend hinzu: Unter diesen Kegeln sind die heidnischen, teuflischen Götzen zu verstehen, welche die christlich gewordenen Sachsen niedergeworfen haben. In Halberstadt bestand noch ziemlich lange die Sitte, nach Götzenbildern zu werfen, und in Großkeula, dessen Name vielleicht mit dem Kegel in Beziehung steht, schnitt man bei Hochzeiten im Gemeindebackhause Kegelkuchen zu. Möglich ist es, daß Orte wie Kellheim, Kellberg und Keula dem Spiele den Namen verdanken.
Während sich nun die Praxis des Kegelspielens bis auf den heutigen Tag allgemein erhalten hat, lebte die mündliche Tradition vornehmlich in Form der Sagenbildung weiter. Dem kriegerischen Geist der Deutschen entsprechend wurden ihre Götter zum Krieg und zu den Waffen in enge Verbindung gebracht. Dem Wodan war der Speer, daher die Esche und im weiteren Sinn der Wald, dem Zin das Schwert, dem Thor der Keil und daher der Fels überhaupt heilig. Der letztere, der Gott des Gewitters, in dessen langem rothen Barte, Keil und rollenden, von Ziegen gezogenen Wagen sich auch äußerlich die drei Momente der Naturerscheinung darstellen, war der Patron des Kegels. Noch heute zeigt man oft auf dem Lande den Teufelskegel oder Donnerkeil, und noch vielfach hat sich im Volksbewußtsein die Beziehung zwischen Gewitter und Kegel erhalten. So sagt man beim Gewitter im Elsaß: sie kegeln droben, oder: die Engel kegeln, oder: Petrus kegelt. In Leipzig sagt man: der liebe Gott kegelt. In diesem Sinne ist wohl auch die Darstellung über der alten Sakristei zu Annaberg in Sachsen zu verstehen, wo die Engel nach aufgestellten Kegeln schieben. Das Licht des Christenthums verdrängte dann allerdings die nationalen Götter, vermochte jedoch nicht zu verhindern, daß das anhängliche Volk fortfuhr, an ihre Macht als die in Berge entrückter Wesen zu glauben. In alten, an vielen Orten Deutschlands wiederkehrenden, vornehmlich an den Kult des Thor sich anschließenden Sagen hat sich nun eine fortlaufende Tradition des Kegelspieles angeschlossen, gleichsam als hätte der naive Volksglaube keine bessere Verkörperung für die elementare Gewalt und kriegerischen Thaten ihrer alten Götter und Vorfahren finden können. Besonders reich in dieser Beziehung ist die thüringische Sagenbildung; vielfach sind hier die Stätten solcher unterirdischen und nächtlichen, von Riesen geübten Kegelspiele. Auch in dem Kyffhäuserberg, wo die Sage den rothbärtigen Thor zum Kaiser Barbarossa verklärt hat, muß der Ziegenhirt, dem es vergönnt war, in den Berg einzudringen, den Rittern des Kaisers die Kegel aufsetzen. Nebst Thüringen ist dann besonders der Odenwald und das Riesengebirge reich an solchen Sagen.
Als uralt und den arischen Völkern eigenthümlich erscheint die Schlachtaufstellung in der Kegelform. Die Inder besaßen sie und meinten, sie sei ihnen nach göttlichem Willen durch die Gesetze Menus anbefohlen worden; auf ihr, der Phalanx, beruhten die Erfolge der Macedonier und ihres großen Königs Alexander. Am treusten aber bewahrten die Germanen jene Schlachtform, in welcher sich das kraftvolle Vordringen so bedeutend ausprägt. Sie hatten selbst das Bewußtsein von dem hohen Alter dieser Formation; Saxo Grammaticus erzählt, Odin habe sie den norwegischen König Hadding gelehrt. In dieser Schlachtform, dem sogenannten Eberkopf, von welchem General von Peucker in seinem vortrefflichen Werke über das deutsche Kriegswesen in den Urzeiten urtheilt, daß sich in ihm die ganze moralische Stärke des deutschen Nationalcharakters vereinigte mit der bedeutenden mechanischen Kraft einer großen Masse, haben die Deutschen das römische Reich Jahrhunderte lang angegriffen, dasselbe wieder und wieder erschütternd, bis es unterlag; in dieser Form sind die Angelsachsen im neunten Jahrhundert den Dänen und noch im [751] elften den Normannen entgegengetreten. Innerhalb dieser Formation standen die Kämpfenden nach Geschlechtern und Familien geordnet; die vorderste Stelle aber, die Spitze, die Firste, war dem Tapfersten und Stärksten vorbehalten. Wahrscheinlich ist aus dieser Thatsache der Name „Fürst“ hervorgegangen.
In der Natur stellte sich unseren Vorfahren die Kegelgestalt unmittelbar in den emporragenden Bergen dar, wie sie ja auch noch gegenwärtig als Kegel bezeichnet werden. Hier war daher eine vornehmliche Stätte ihrer Götterverehrung, und zwar besonders der des Thor. Auch hier war der Ehrenplatz die Firste, hier war die Stelle, wo die Opfer gebracht wurden.
Aber auch in ihren Bauten zeigt sich das Bestreben der Deutschen, die Kegelform äußerlich darzustellen. Es tritt das nicht nur in ihren Grabdenkmälern hervor, von denen die sogenannten Kegelgräber, in Form von Kugelausschnitten oder ovalen Kegeln aufgeschüttet, unbestritten germanischen Ursprungs sind, sondern auch vor allem in ihrem Hausbau. Es ist das mächtige, schroff ansteigende Dach, was von den ältesten Zeiten her das deutsche Haus charakterisiert hat. Die Firste, das Ende der beiden vorderen gewaltigen Balken, krönte das Haus, hier wurden die Kopfskelette geopferter Pferde aufgehängt, eine Sitte, welche sich in manchen Gegenden noch insofern erhalten hat, als hier die Giebelbalken vielfach in geschnitzte Pferdeköpfe auslaufen.
Die hier dargebotene Arbeit kann nur den Anspruch einer lückenhaften Skizze machen, aber ihr Zweck würde erreicht sein, wenn es ihr gelänge, die Anregung dazu zu geben, das Material zur Geschichte der deutschen Kegelei, des nationalsten unserer Spiele, wie es in der Ueberlieferung, Sitte und Litteratur erhalten ist, zu sammeln, damit auf diese Weise einmal eine erschöpfende Darstellung des Themas ermöglicht werde.
Alle Rechte vorbehalten.
Das war für Deine Ohren nun allerdings nicht bestimmt,“ sagte Nordheim mit voller Schärfe zu seiner Tochter. „Ich begreife nicht, wie Du Dich so lange verborgen halten konntest, da Du doch hörtest, daß von Geschäftsangelegenheiten die Rede war. Jetzt bist Du Zeugin eines Erpressungsversuches geworden, der an Deinem Vater gemacht wurde, und den ich vielleicht nachdrücklicher hätte zurückweisen sollen. Aber solche kühne Betrüger können auch dem besten Manne gefährlich werden. Die Welt ist nur zu sehr geneigt, an Lügen zu glauben, und wer wie ich fortwährend in großen Unternehmungen steckt, bei denen das Vertrauen des Publikums die Hauptsache ist, darf sich selbst einer bloßen Verdächtigung nicht aussetzen. Eher kauft man sich mit irgend einer Summe los von diesen Menschen, die von solchen Erpressungen leben – doch davon verstehst Du nichts! Geh auf Dein Zimmer und ich bitte mir aus, daß Du das meinige nicht wieder heimlich betrittst.“
Die Worte hatten nicht die gewünschte Wirkung; Alice stand noch immer unbeweglich, sie antwortete nicht, regte sich nicht, und dies starre Schweigen schien den Präsidenten noch mehr zu reizen.
„Hast Du nicht gehört?“ wiederholte er. „Ich wünsche allein zu sein und im übrigen erwarte ich, daß von dem, was Du hier erlauscht hast, kein Wort über Deine Lippen kommt – jetzt geh!“
Anstatt zu gehorchen, trat Alice langsam näher und sagte leise, aber in einem seltsamen nervendurchzitternden Tone:
„Papa – ich habe mit Dir zu sprechen.“
„Worüber? Doch nicht etwa über jenen Erpressungsversuch?“ fragte Nordheim schroff „Ich habe Dir ja erklärt, wie die Sache zusammenhängt, und Du wirst doch hoffentlich nicht einem Betrüger Glauben schenken.“
„Der Mann war kein Betrüger!“ entgegnete das junge Mädchen, in demselben bebenden, gepreßten Tone wie vorhin.
„Nicht?“ fuhr der Präsident auf. „Und was bin ich denn in Deinen Augen?“
Keine Antwort, nur jener starre, angstvolle Blick, der unverwandt auf dem Gesichte des Vaters haftete. Es lag keine Frage mehr darin, sondern eine Verurtheilung und Nordheim vermochte ihn nicht zu ertragen. Er war seinem Ankläger mit eiserner Stirn entgegengetreten, vor den Augen seines Kindes schlug er die seinigen nieder.
Alice schien nach Athem zu ringen; anfangs versagte ihr die Stimme, aber sie gewann mehr und mehr an Festigkeit, während sie weiter sprach.
„Ich kam hierher, um Dir ein Geständniß zu machen, Papa, Dir etwas zu sagen, was Dich vielleicht erzürnt hätte – davon ist jetzt keine Rede mehr! Ich habe nur noch eine Frage an Dich. Wirst Du dem – dem Doktor Reinsfeld die Genugthuung geben, die von Dir verlangt wurde?“
„Ich werde mich hüten! Es bleibt bei meinem letzten Worte.“
„Nun, dann gebe ich sie ihm – an Deiner Stelle!“
„Alice, bist Du von Sinnen?“ fuhr der Präsident tödlich erschrocken auf, aber sie fuhr unbeirrt fort.
„Er braucht das Eingeständniß freilich nicht mehr, denn er kennt die Wahrheit, muß sie längst gekannt haben. Jetzt weiß ich, warum er auf einmal so verändert war, warum er mich immer so traurig mitleidig ansah und nie verrathen wollte, was ihn drückte. Er weiß alles! Und doch hat er mir nur Güte und Mitleid gezeigt, hat alles aufgeboten, mir die Gesundheit zurückzugeben, mir, der Tochter des Mannes , der –“ sie brach ab, sie konnte den Satz nicht vollenden.
Nordheim machte keinen Versuch mehr, den Empörten zu spielen, denn er sah, daß Alice sich nicht täuschen ließ, und er sah auch ein, daß er es aufgeben müsse, sie mit Härte einzuschüchtern. Sie hatte einen geradezu unsinnigen Entschluß gefaßt, der ihm verderblich werden konnte; er mußte sich ihr Schweigen sichern, um jeden Preis.
„Ich bin auch überzeugt, daß Doktor Reinsfeld der Sache fern steht,“ sagte er ruhiger; „daß er vernünftig genug ist, das Lächerliche solcher Drohungen einzusehen. Was aber Deinen tollen Einfall betrifft, mit ihm darüber zu sprechen, so will ich annehmen, daß es Dir damit nicht Ernst war. Was geht diese Angelegenheit denn Dich an?“
Das junge Mädchen richtete sich empor, mit einem unendlich herben Ausdruck, den die kindlichen Züge bis dahin nie gekannt hatten.
„Dich sollte es freilich mehr angehen, Papa! Du wußtest ja, daß der Doktor in unserer Nähe wohnte, daß er sich Tag für Tag abmühte in armseligen undankbaren Verhältnissen, und hast es nicht einmal versucht, gut zu machen, was seinem Vater geschehen ist! Das Leben und die Menschen sind so hart mit ihm umgegangen, als verwaistes Kind ist er in die Welt hinausgestoßen worden, in seiner Studienzeit hat er gedarbt, gehungert vielleicht – und Du hast Millionen verdient mit jenem Gelde, hast Dir Paläste gebaut und in der Fülle des Reichthums gelebt. Thue wenigstens, was Gronau von Dir verlangt, Papa, Du mußt es thun – oder ich versuche es selbst!“
„Alice!“ rief Nordheim, schwankend zwischen Zorn und grenzenlosem Erstaunen darüber, daß seine Tochter, dies weiche, willenlose Geschöpf, das nie auch nur einen Widerspruch gewagt hatte, ihn jetzt förmlich zur Rede stellte. „Hast Du denn keine Ahnung von der Tragweite der Sache? Willst Du Deinen Vater in die Hand seines ärgsten Feindes geben, der –“
„Benno Reinsfeld ist Dein Feind nicht!“ unterbrach ihn Alice. „Wenn er es wäre, dann würde er das Geheimniß längst benutzt haben, um etwas ganz anderes von Dir zu erzwingen, als was Gronau verlangte – denn er liebt mich!“
„Reinsfeld – Dich?“
„Ja – ich weiß es, wenn er es mir auch nie gestanden hat. Ich bin ja die Braut eines anderen, und er, der alles von Dir erreichen konnte, wenn er forderte und drohte, er geht von hier, ohne ein Wort der Drohung, ohne auch nur Rechenschaft von Dir zu fordern, weil er mir das Furchtbare ersparen wollte, [752] das ich nun doch erfahren habe. Du ahnst nicht, wie weit der Edelmuth dieses Mannes geht – ich kenne ihn jetzt ganz!“
Der Präsident stand wortlos da; auf diese Lösung war er nicht gefaßt gewesen, denn es bedurfte ja keines besonderen Scharfblickes, um zu erkennen, daß Bennos Liebe erwidert wurde. Das leidenschaftliche Aufflammen des jungen Mädchens sprach deutlich genug und wenn Reinsfeld wußte, was geschehen war, und das ließ sich nicht mehr bezweifeln, so gab es in der That nur eine Erklärung für seine Zurückhaltung und sein Schweigen in einer Sache, die ihn doch zuerst anging. Es war ihm schon zuzutrauen, daß er den Vortheil, den jene Kenntniß ihm gab, unbenutzt ließ, nur um die Geliebte vor einer tödlichen Kränkung zu bewahren. Dann war aber überhaupt nichts von ihm zu fürchten, dann war der Vater des Mädchens, das er liebte, sicher vor seiner Rache und vielleicht ließ sich durch ihn auch Gronau zurückhalten.
"Das sind ja überraschende Neuigkeiten!“ sagte Nordheim, nach einer kurzen Pause, langsam und das Auge unverwandt auf seine Tochter gerichtet. „Und das erfahre ich jetzt erst? Du sprachest vorhin von einem Geständniß – was hattest Du mir zu sagen?“
Alice senkte den Blick und in ihr eben noch so bleiches Antlitz trat eine glühende Röthe.
„Daß ich Wolfgang nicht liebe, so wenig wie er mich,“ antwortete sie leise. „Ich habe das selbst nicht gewußt, erst vor wenig Tagen ist es mir klar geworden.“
Sie erwartete mit voller Bestimmtheit einen Zornausbruch ihres Vaters, aber nichts dergleichen erfolgte, im Gegentheil, seine Stimme klang in einem ganz veränderten, ungewöhnlich milden Tone:
„Warum hast Du kein Vertrauen zu mir, Alice? Ich werde meine einzige Tochter ja doch nicht zu einer Verbindung zwingen, von der ihr Herz sich abwendet; aber das will überlegt und erwogen sein. Für jetzt fordere ich nur, daß Du keine übereilten Entschlüsse fassest und es mir überläßt, irgend einen Ausweg zu finden. Vertraue Deinem Vater, mein Kind, Du sollst mit ihm zufrieden sein!“
Er beugte sich nieder, um väterlich ihre Stirn zu küssen, aber sie zuckte zusammen und wich mit dem unzweideutigsten Ausdrucke des Entsetzens zurück vor der Liebkosung.
„Was soll das?“ fragte Nordheim, mit gerunzelter Stirn. „Du fürchtest Dich vor mir? Glaubst Du mir etwa nicht?“
Sie hob das Auge zu ihm empor, es war wieder derselbe schwere, anklagende Blick wie vorhin und die sonst so weiche Stimme klang in herber, unerbittlicher Entschiedenheit, als sie antwortete:
„Nein, Papa, ich glaube nicht an Deine Liebe und Deine Güte. Ich glaube Dir überhaupt nicht – nie mehr!“
Nordheim preßte die Lippen zusammen und wandte sich ab, stumm winkte er ihr, sich zu entfernen, und stumm und scheu gehorchte Alice, sie verließ ohne ein Wort weiter das Zimmer.
Sie hatte vollkommen recht gesehen, der Präsident dachte auch nicht entfernt an die Möglichkeit einer Verbindung seiner Tochter mit dem jungen Arzte, aber er machte sich kein Gewissen daraus, eine solche Möglichkeit anzudeuten, um für den Augenblick die Gefahr zu beschwören, die ihm drohte. Hier aber hatte er sich doch verrechnet; das junge, unerfahrene Mädchen durchschaute ihn, und seltsam, er, der Mann mit der eisernen Stirn, ertrug das nicht. Er hatte der stolzen Empörung Wolfgangs, dem drohenden Auftreten Gronaus gegenüber seine Fassung bewahrt und neben dem Zorne höchstens noch Furcht empfunden. Jetzt zum ersten Male nahte ihm etwas, das er während seines ganzen Lebens nicht gekannt hatte – die Scham! Wenn die Gefahr auch wirklich abgewandt wurde, er fühlte es doch im tiefsten Innersten, daß er verurtheilt, gerichtet war von seinem einzigen Kinde.
Die Arbeiten an der Bahn wurden mit einer beinahe fieberhaften Thätigkeit gefördert. Es war in der That nicht leicht, Wort zu halten und die Bauten in der gegebenen kurzen Frist zu vollenden, aber Nordheim hatte recht, wenn er erklärte, daß der Chefingenieur weder sich noch seine Untergebenen schone. Elmhorst spornte die Arbeitskraft seiner Leute bis aufs äußerste an, griff überall selbst mit Befehlen und Anordnungen ein und gab seinen Ingenieuren das Beispiel einer Unermüdlichkeit, das sie gleichfalls anfeuerte. Unter seiner Leitung schien sich die Leistungsfähigkeit der sämmtlichen Arbeitskräfte zu verdoppeln, und er erreichte damit wirklich seinen Zweck. Die zahlreichen Bauten auf der ganzen Gebirgsstrecke waren größtentheils schon fertig und an die Wolkensteiner Brücke legte man soeben die letzte Hand.
Wolfgang war von der Fahrt zurückgekehrt, die er heute morgen unternommen hatte. In Oberstein hatte er den Wagen verlassen und fortgesandt, um die letzte Strecke zu Fuße zu besichtigen, und jetzt stand er auf einem Abhange, oberhalb der Wolkensteiner Schlucht, und sah den Arbeitern zu, die wie Ameisen geschäftig auf dem Schienengeleise und an dem Gitterwerk der Brücke wimmelten. Noch wenige Tage, dann war das Werk vollendet, das jetzt schon die allgemeine Bewunderung auf sich zog und im Laufe der nächsten Jahre von Tausenden angestaunt werden sollte; aber der, welcher es geschaffen, blickte so düster darauf hin, als sei ihm jede Freude an seiner Schöpfung genommen.
Er war für heute noch einer Unterredung mit dem Präsidenten ausgewichen und hatte nur durch sein Nichterscheinen bei dessen Ankunft gezeigt, daß er bei seinem Nein blieb; aber es mußte doch noch zu einer letzten Auseinandersetzung zwischen ihnen kommen. Daß der Bruch ein endgültiger war, wußten sie beide; auch Nordheim war schwerlich mehr geneigt, einen Mann, der ihm so offen und verächtlich Trotz geboten hatte, von dem er auch in Zukunft keine Unterstützung seiner Pläne mehr erwarten durfte, zum Schwiegersohn anzunehmen. Es kam nur darauf an, auf welche Art man sich trennte, und das beiderseitige Interesse erforderte, daß es in möglichst schonender Form geschah. Darüber allein hatten sie sich noch zu verständigen, und das sollte morgen geschehen.
Ein Hufschlag, der dicht hinter ihm ertönte, weckte Elmhorst aus seinen Gedanken, und sich umwendend, gewahrte er Erna von Thurgau auf einem der Bergpferde, welche man für den Gebirgsaufenthalt angeschafft hatte. Sie hielt sichtlich überrascht an, als sie den Chefingenieur erblickte.
„Sie sind schon zurück, Herr Elmhorst? Wir glaubten, Ihre Fahrt würde Sie den ganzen Tag in Anspruch nehmen.“
„Ich bin früher mit der Besichtigung fertig geworden, als ich glaubte,“ versetzte Wolfgang. „Aber Sie werden für den Augenblick Ihren Weg nicht fortsetzen können, gnädiges Fräulein, dort unten wird gesprengt, doch es kann nicht lange dauern, die Leute müssen in zehn Minuten fertig sein.“
Die junge Dame hatte das Hinderniß bereits bemerkt; der Weg, der den Abhang hinunter und in einiger Entfernung an der Brücke vorüberführte, war durch Wachen abgesperrt und eine Anzahl von Arbeitern war um einen riesigen Felsblock beschäftigt, der augenscheinlich gesprengt werden sollte.
„Ich habe keine Eile,“ erwiderte sie gleichgültig. „Ich wollte ohnehin auf meinen Verlobten warten, der mich bat, vorauszureiten, da er ganz unerwartet mit Herrn Gronau zusammentraf. Ich möchte aber doch keinen zu großen Vorsprung haben.“
Sie lockerte die Zügel und schien ihre Aufmerksamkeit gleichfalls den Arbeitern zuzuwenden. Die letzte Nacht hatte einen völligen Umschlag der Witterung gebracht; ein kalter Regensturm hatte all die sonnige, duftige Schönheit ausgelöscht. Jetzt lag der Himmel grau und schwer über der Erde, die Berge standen wolkenumhüllt und in den Wäldern brauste der Wind – es war über Nacht Herbst geworden.
„Wir werden Sie doch heute abend sehen, Herr Elmhorst?“ brach Erna endlich das Schweigen, das schon mehrere Minuten gedauert hatte.
„Ich bedaure sehr, daß es mir nicht möglich ist, zu kommen. Ich habe gerade heute abend noch Dringendes zu erledigen.“
Es war der alte Vorwand, der ihm schon so oft hatte dienen müssen, und er fand auch keinen Glauben mehr, denn Erna sagte mit merklicher Betonung:
„Sie wissen vermutlich nicht, daß mein Onkel heute vormittag angekommen ist?“
„Doch, ich weiß es und habe mich bereits bei ihm entschuldigen lassen; ich werde ihn morgen sprechen.“
„Aber Alice scheint nicht wohl zu sein. Sie leugnet das zwar und will durchaus nicht zugeben, daß nach dem Doktor
[753][754] Reinsfeld gesandt wird, aber sie sah vorhin, als sie aus dem Zimmer ihres Vaters kam, so bleich und angegriffen aus, daß ich erschrak.“
Sie schien eine Antwort zu erwarten, aber Elmhorst schwieg und blickte angelegentlich nach der Brücke hinüber.
„Sie sollten sich doch heute frei machen und nach Ihrer Braut sehen,“ mahnte Erna in vorwurfsvollem Tone.
„Ich habe nicht mehr das Recht, Alice meine Braut zu nennen!“ sagte Wolfgang kalt.
„Herr Elmhorst!“ Es lag eine schreckensvolle Ueberraschung in dem Ausrufe.
„Ja, mein Fräulein! Es haben sich zwischen dem Präsidenten und mir Meinungsverschiedenheiten ergeben, die so schroff und tiefgehend waren, daß ein Ausgleich unmöglich wurde. Wir sind darauf beiderseitig von der geplanten Verbindung zurückgetreten.“
„Und Alice?“
„Sie weiß noch nichts davon, wenigstens nicht durch mich. Es ist möglich, daß der Vater ihr die Sache mitgetheilt hat, und jedenfalls wird sie sich seiner Entscheidung fügen.“
Die Worte kennzeichneten mehr als alles andere diese seltsame Verbindung, die eigentlich nur zwischen Nordheim und seinem Schwiegersohne bestanden hatte. Alice war verlobt worden, als das Interesse der beiden es erforderte, und jetzt, wo dieses Interesse aufhörte, wurde die Verlobung aufgehoben, ohne die Braut auch nur zu fragen; man erachtete es als selbstverständlich, daß sie sich fügte. Auch Erna schien keinen Zweifel daran zu hegen; aber sie war bleich geworden bei der unerwarteten Nachricht.
„Also ist es doch dahin gekommen!“ sagte sie leise.
„Ja, es kam dahin! Ich sollte einen Preis zahlen, der mir zu hoch war, bei dem ich die Augen nicht mehr frei hätte aufschlagen können Es galt ein Entweder – oder – und ich habe meine Wahl getroffen.“
„Das wußte ich!“ rief das junge Mädchen aufflammend. „Daran habe ich nie gezweifelt!“
„Also das wenigstens haben Sie mir zugetraut!“ sagte Wolfgang mit unverhehlter Bitterkeit. „Ich glaubte es kaum.“
Sie antwortete nicht, aber ihr Blick begegnete dem seinigen wie mit einem Vorwurfe; endlich fragte sie zögernd:
„Und – was nun?“
„Nun stehe ich wieder da, wo ich vor einem Jahre stand. Der Weg, den Sie mir einst so begeistert priesen, liegt offen vor mir, und ich werde ihn so auch gehen, aber allein – ganz allein!“
Erna bebte leise zusammen bei den letzten Worten; aber sie wollte sie augenscheinlich nicht verstehen und fiel rasch ein:
„Ein Mann wie Sie ist nicht allein. Er hat sein Talent, seine Zukunft, und diese Zukunft liegt so weit und groß vor Ihnen –“
„Und so öde und sonnenlos wie die Bergwelt dort!“ ergänzte er, indem er aus die herbstliche, wolkenumschleierte Landschaft deutete. „Doch ich habe kein Recht, mich zu beklagen. Es trat mir so auch einst entgegen, das sonnige, leuchtende Glück, und ich wandte ihm den Rücken, um einem anderen Ziele nachzujagen. Da breitete es seine Flügel aus und zog fort, weit fort in unerreichbare Ferne, und wenn ich auch jetzt mein Leben hingeben wollte, es kommt doch nicht zu mir zurück. Wer es einmal verscherzt hat, dem entflieht es auf immer!“
Es sprach ein dumpfer, qualvoller Schmerz aus diesem Schuldbekenntnis; aber Erna hatte kein Wort der Erwiderung darauf und auch keinen Blick für die Augen, welche die ihrigen suchten. Bleich und starr schaute sie in die nebelumhüllte Ferne hinaus. Ja freilich, jetzt wußte er, wo sein Glück und sein Heil lag – jetzt, wo es zu spät war!
Wolfgang trat an die Seite des Pferdes und legte die Hand auf den Hals desselben.
„Erna, noch eine Frage, ehe wir für immer scheiden! Ich werde nach der letzten Unterredung, die ich morgen noch mit Ihrem Onkel haben muß, selbstverständlich sein Haus nicht mehr betreten und Sie ziehen weit fort, mit Ihrem Gatten – hoffen Sie glücklich zu werden an seiner Seite?“
„Wenigstens hoffe ich, ihn glücklich zu machen.“
„Ihn! Und Sie selber?“
„Herr Elmhorst –“
„O, Sie brauchen die Frage nicht so streng abzuwehren“ unterbrach er sie. „Es birgt sich kein eigensüchtiger Wunsch mehr dahinter. Ich habe mein Urtheil so schon aus Ihrem Munde empfangen, in jener Mondnacht am Wolkenstein. Sie wären mir doch verloren, auch wenn Sie noch frei wären, denn Sie vergeben es mir nie, daß ich um eine andere warb.“
„Nein – niemals!“ Das Wort klang in herbster Entschiedenheit.
„Ich weiß es, und eben deshalb möchte ich Ihnen noch eine letzte Warnung zurufen. Ernst Waltenberg ist kein Mann, der eine Frau, der Sie beglücken kann; seine Liebe wurzelt nur in dem Egoismus, der der Grundzug seiner ganzen Natur ist. Er wird nie danach fragen, ob er ein geliebtes Wesen quält und martert mit seiner Leidenschaft, und wie werden Sie es ertragen, an der Seite eines Mannes zu leben, dem all das Streben und Ringen, all die Ideen, für welche Sie sich begeistern, nur todte Begriffe sind? Ich habe endlich gelernt einzusehen, daß es noch etwas anderes, besseres giebt als dies ‚Ich‘, das auch mir einst das Höchste war, wenn ich die Lehre auch theuer bezahlen mußte – er wird es nie lernen!“
Ernas Lippen zuckten, das alles wußte sie ja längst und wußte es besser als jeder andere; aber was half das, es war auch für sie zu spät.
„Sie sprechen von meinem Verlobten, Herr Elmhorst,“ sagte sie mit ernster Zurechtweisung, „und Sie sprechen zu seiner Braut – ich bitte, kein solches Wort mehr!“
Wolfgang verneigte sich und trat zurück.
„Sie haben recht, gnädiges Fräulein, aber es war ein Abschiedswort, und das dürfen Sie immerhin verzeihen.“
Sie neigte stumm das Haupt und machte Anstalt, umzukehren, als Waltenberg am Rande des Waldes erschien, gleichfalls zu Pferde, und in raschem Trabe näher kam. Er und der Chefingenieur begrüßten sich mit jener kalten Höflichkeit, die zwischen ihnen zur Gewohnheit geworden war, seit sie beinahe täglich miteinander verkehren mußten. Sie wechselten einige Worte über das Wetter, über die Ankunft des Präsidenten, und jetzt bemerkte auch Ernst, daß der Weg gesperrt war.
„Die Leute lassen sich unverantwortlich lange Zeit,“ sagte Wolfgang, der froh war, daß er eine Gelegenheit fand, das Gespräch abzubrechen. „Ich werde dafür sorgen, daß sie sich beeilen, in wenigen Minuten können Sie passiren.“
Er eilte den Abhang hinunter und nach der betreffenden Stelle, aber bei den Sprengversuchen schien irgend etwas nicht in Ordnung zu sein, und der Ingenieur, der die Sache leitete, trat heran, um dem Chef Bericht zu erstatten. Dieser zuckte ungeduldig die Achseln, gab einige Befehle und trat dann mitten unter die Arbeiter, wahrscheinlich, um die Vorbereitungen zu besichtigen.
Inzwischen hielt Waltenberg auf dem Abhange neben seiner Braut, die jetzt fragte:
„Du hast also mit Gronau gesprochen?“
„Ja, und ich habe ihm mein Befremden nicht verhehlt, ihn hier zu finden, ohne daß er mich in Heilborn aufgesucht hat, ohne daß ich überhaupt von seiner Rückkehr weiß. Statt aller Antwort erbat er sich eine Unterredung für heute abend, er habe mir Wichtiges mitzutheilen, das in gewisser Hinsicht auch mich angehe. Ich bin doch neugierig, was er mir zu sagen hat, denn bloße Geheimnißkrämerei ist seine Sache nicht. – Sieh nur, Erna, wie dunkel und drohend es sich über dem Wolkenstein zusammenzieht! Wir werden doch nicht ein Wetter bekommen auf unserem Spazierritt?“
„Für heute wohl kaum,“ meinte Erna mit einem flüchtigen Blick nach dem dichtumschleierten Berge. „Vielleicht morgen oder übermorgen. Die Sturmperiode, die unsere armen Aelpler so fürchten, scheint diesmal früher im Anzuge zu sein als sonst, wir hatten heute nacht bereits eine Probe davon.“
„Es muß doch etwas sein an der Zaubermacht Eurer Alpenfee,“ sagte Ernst halb scherzend. „Dieser Wolkengipfel, der seinen Namen mit Recht führt, denn er entschleiert sich ja fast niemals, hat es mir förmlich angethan. Es winkt und lockt mich immer wieder von neuem mit geheimnißvollem, unwiderstehlichem Reiz, den Schleier dieser stolzen Eiseskönigin zu heben und den Kuß zu erzwingen, den sie bisher noch jedem versagt hat. Wenn man versuchte, die Hochwand von dieser Seite –“
[755] „Ernst, Du hast es mir versprochen, den tollkühnen Gedanken ein- für allemal aufzugeben!“ fiel Erna ein.
„Sei ruhig, ich halte Wort. Ich versprach es Dir ja damals beim Sonnwendfeuer.“
„Beim Sonnwendfeuer!“ wiederholte das junge Mädchen leise, wie traumverloren.
„Erinnerst Du Dich noch jenes Abends, wo ich Deinem Verbote, Deiner Bitte wich? Der Aufstieg zum Wolkenstein war beschlossene Sache bei mir und ich hätte ihn um jeden Preis erzwungen, aber vor Deinen bittenden Augen, vor Deinem: ‚Ich ängstige mich!‘ sank all mein Trotz zusammen. Hättest Du wirklich um mich gezittert, wenn ich damals ungehorsam gewesen wäre?“
„Aber Ernst, welche Frage!“
„Nun, verpflichtet warst Du nicht dazu, ich war ja damals noch nicht Dein erklärter Bräutigam.“ In Waltenbergs Stimme klang wieder der alte, quälende Argwohn. „Du hättest Dich wahrscheinlich auch um Sepp oder um Gronau geängstigt, wenn einer von ihnen das Wagniß unternommen hätte. Ich meine jene bebende Angst, mit der man nur um das Geliebte zittert, vor der alles andere versinkt und verschwindet, die mich blind und besinnungslos in die Gefahr treiben würde, wenn ich Dich darin wüßte – Du freilich hast diese Empfindung wohl nie gekannt.“
„Wozu denn solche Schreckbilder heraufbeschwören!“ sagte Erna halb unwillig. „Ich habe Dein Wort, also keinen Grund, mich zu ängstigen, und das bloße ‚Wenn‘ zu erörtern –“
Ein lautes, donnerähnliches Krachen unterbrach sie. Dort unten flogen Erde und Steine empor und der mächtige Felsblock sank, in drei Theile gespalten, mit dumpfem Falle zu Boden, aber zugleich gab sich eine schreckensvolle Bewegung kund. Die sämmtlichen Arbeiter stürzten von der Brücke fort und nach jener Stelle, wo eben noch der Chefingenieur mit seinen Untergebenen gestanden hatte. Man konnte nicht unterscheiden, was eigentlich geschehen war, man sah nur einen dichten Menschenknäuel, aus dem wirres, angstvolles Rufen ertönte.
Aber mitten durch das alles drang ein Schrei, wie ihn nur die Verzweiflung, die Todesangst auspressen kann; und als Ernst sich umwandte, sah er seine Braut hoch aufgerichtet im Sattel, aber bleich wie eine Todte, die starren Augen nach der Unglücksstätte gerichtet.
„Erna!“ rief er, aber sie hörte nicht, sondern gab dem Pferde die Zügel. Das Thier, erschreckt von dem Lärm, scheute und wollte nicht vorwärts, aber ein rücksichtsloser Hieb mit der Gerte zwang es zum Gehorsam, und in der nächsten Minute jagten Roß und Reiterin wie auf Tod und Leben den steilen Abhang hinunter, gerade auf den Menschenknäuel zu.
Anna Sachse-Hofmeister. (Mit Porträt S. 741.) Eine Sängerin in des Wortes echter Bedeutung ist es, deren Bild diese Zeilen begleiten, eine Sängerin von seltener künstlerischer Universalität, gleich geeignet für klassische und moderne Musik.
Anna Sachse-Hofmeister wurde am 26. Juli 1852 in dem weinberühmten Gumpoldskirchen, einem beliebten Ausflugsorte der Wiener zur Zeit des „Heurigen“, als die Tochter des dortigen Schullehrers geboren, der zugleich das Amt des Regens chori in der Kirche innehatte und mit Vorliebe der Pflege klassischer Musik oblag. Beim Gottesdienste, oft schon zur Frühmette, erklang das silberhelle Stimmchen des Kindes mit seinem reinen Wohllaut vom Orgelchor herab. Nachdem das Mädchen der musikalischen Lehre des Vaters entwachsen, sorgte derselbe für fernere Ausbildung, und so trat Anna Hofmeister in die – Violinklasse des Wiener Konservatoriums ein. Gesangliche Studien wurden nur nebenher bei der Lehrerin Passy-Cornet betrieben, bis die sich immer mehr entwickelnde stimmliche Begabung den Sieg über die Kunstfertigkeit im Geigenspiel davontrug und Hofkapellmeister Proch mit der Ausbildung der vielversprechenden Novize für die Bühne betraut wurde. Dieser Studiengang erklärt viele gerühmte Vorzüge der Künstlerin, insbesondere eine glockenreine Intonation und den wohlgebildeten und durchaus schlackenfreien Ton des Organes.
Im Jahre 1871 finden wir die blutjunge Sängerin, nachdem sie als Leonore im „Troubadour“ in Olmütz eine Probe ihres Talentes abgelegt, als engagirtes Mitglied am Stadttheater zu Würzburg. Die Begabung unserer Künstlerin wie ihre stattliche Bühnenerscheinung wiesen sie so gebieterisch auf die Rollen des hochdramatischen Faches hin, daß sie als Anfängerin schon dieselben Rollen wie heute als Primadonna der Berliner Oper sang.
Ihre Laufbahn war rasch und glänzend; nachdem sie schon 1871 in den Verband des Stadttheaters zu Frankfurt am Main getreten, hatte sie am Schlusse des bis 1876 verlängerten Kontraktes bereits die Wahl zwischen Dresden und Berlin.
Sie zog die Berliner Hofbühne vor, um dann nach zweijähriger Thätigkeit am Opernhause nach Dresden überzusiedeln, wo ihr die Generaldirektion nach ihrer Verheirathung abermals einen glänzenden Kontrakt bot. Hier bezeichnete das Engagement der Frau Sachse-Hofmeister im Verein mit den Künstlern Marcella Sembrich und Emil Götze, welche damals in Dresden ihre ersten theatralischen Versuche machten, einen Glanzpunkt der Oper. Dasselbe war in Leipzig der Fall, wohin die Sängerin nach Lösung ihres Dresdener Kontraktes übersiedelte, wo sie 1880 bis 1882 im Verein mit der unvergeßlichen Frau Reicher-Kindermann das Publikum zur Begeisterung hinriß. Die in diese Zeit fallende Vorführung des Nibelungenringes von Richard Wagner im Berliner Viktoriatheater brachte der Künstlerin, welche bei diesen Aufführungen mitwirkte, neben ihrem äußeren Erfolge als Sieglinde einen doppelten Triumph ein: einmal das Wiederengagement an der Berliner Hofoper, anstelle der scheidenden Frau Mallinger, andererseits aber die persönliche Bekanntschaft mit Richard Wagner, der sie als die „Sieglinde seiner Träume“ bezeichnete und es lebhaft bedauerte, daß sie das Anerbieten, die Sieglinde 1876 in Bayreuth zu singen, krankheitshalber hatte ablehnen müssen.
Anna Sachse-Hofmeister umfaßt in ihrem Repertoire alle Rollen des hochdramatischen Faches, von besonderer Bedeutung aber ist es, daß neben vollendeter Wiedergabe Wagnerscher Gestalten wie Elsa, Elisabeth und Sieglinde etc. ihr insbesondere auch die Rollen des klassischen Repertoires und großen Stiles in vollendeter Weise gelingen, ohne daß sie sich schauspielerischer oder stimmlicher Uebertreibungen schuldig macht; ihre Hauptrollen neben den oben erwähnten: Fidelio, Eyryanthe, Rezia, Donna Anna, Aïda etc. werden von dauerndem Eindruck bei jedem bleiben, der für das künstlerisch schöne Maßhalten Sinn hat.
Was sollen wir lesen? Eine wohl aufzuwerfende Frage bei der Ueberfülle der alljährlich veröffentlichten Erscheinungen des Buchhandels, bei der großen Menge der Zeitungen, Tages- und Wochenblätter, der Monatszeitschriften. Diese Frage zu beantworten, wenigstens im Hinblick auf die im Buchhandel erschienenen Werke, ist schon oft versucht worden, indem man kleine Kataloge der Weltliteratur oder der neuesten vaterländischen Litteratur zusammengestellt hat, um alles Lesenswerthe dem Publikum, das in Bezug auf Lektüre einen Rathgeber vermißt, zu empfehlen.
Dies hat auch neuerdings Anton E. Schönbach in seiner kleinen Schrift „Ueber Lesen und Bildung“ gethan. Natürlich sind alle derartige Verzeichnisse lückenhaft und auch in denjenigen Schönbachs fehlen namhafte Schriftsteller und Dichter, die in allen Litteraturgeschichten der Gegenwart eine eingehende Würdigung gefunden. Auch wird mit einer solchen trocknen Aufzählung, welche trotzdem die Geschmacksrichtung des Autors schwerlich verleugnen kann, dem Bedürfniß des Lesepublikums weit weniger gedient, als grade durch jene Litteraturgeschichten, aus denen ja die Leser zugleich das Charakterbild der Autoren und den Inhalt ihrer Werke kennen lernen. Ein Spaziergang auf blumenreicher Wiese ist jedenfalls dem Durchblättern eines trockenen Herbariums vorzuziehen. Was ein solches Verzeichniß wie auch dasjenige von Schönbach empfiehlt, mag großentheils empfehlenswerth sein, aber in den Auslassungen liegt eine stillschweigende Kritik, die man oft verwerfen muß, oder eine Unkenntniß, die bei dem zu tadeln ist, welcher sich zum Führer der andern aufwirft.
Im übrigen enthält das Schriftchen über den Bücherkauf in Deutschland und über das Bibliothekwesen viele treffende Bemerkungen. An sich kaufen die Deutschen nicht gern Bücher, und Leute, welche ohne Bedenken ein gutes Stück Geld ihres Jahresetats dem Amüsement einräumen, feilschen mit sich selbst um einige Pfennige, wenn sie dieselben auf ein Buch wenden wollen, und entschließen sich im letzten Augenblicke am liebsten dazu, es jemand abzuborgen. Bei der Lektüre selbst überwiegt der stoffartige Reiz.
Wir zweifeln nicht, daß es damit von Tag zu Tag besser werden wird, und namentlich was den Ankauf von Büchern, was den Werth betrifft, den man auf eine kleinere oder größere Privatbibliothek zu legen hat, wird sich gewiß auch bei uns in Deutschland allmählich eine Wendung zum Besseren zeigen, so daß wir jener Schwarzseherei nicht länger Recht zu geben brauchen.[756] Frühstücksaustheilung an arme Kinder in den Schulen während der Wintermonate. Auf das in unserer Nr. 40 veröffentlichte Gedicht von Emil Rittershaus sind uns zahlreiche Zuschriften aus unserem Leserkreis (zum Theil mit Beifügung von Geldbeträgen) zugekommen. Wir haben aus denselben zu unserer Freude ersehen, daß das schöne Gedicht, wie es aus dem Herzen kam, auch vielen zu Herzen gegangen ist. Die meisten dieser Zuschriften enthalten nun aber eine und dieselbe Aeußerung: „Wir fühlen, daß da geholfen werden muß, wir wollen von Herzen gern helfen, aber wie greifen wir die Sache am besten an? Der einzelne kann ja wohl in seiner allernächsten Umgebung sich nach darbenden Kindern umsehen und dieselben mit Frühstück versorgen; aber wäre es nicht besser, wenn sich überdies noch Gleichgesinnte zusammenthäten und gemeinschaftlich in weitem Umfange zu helfen suchten?" Auf diese Fragen ertheilt der Verfasser des Gedichtes, Herr Emil Rittershaus in Barmen, die nachfolgende Antwort:
Der Bitte für arme Kinder in Nr. 40 der „Gartenlaube“ lasse ich noch die nachstehenden praktischen Winke folgen: Um jenes Unternehmen ins Leben zu rufen, ist es natürlich zuerst nothwendig, ein Komitee zu bilden, welches mit den Schulinspektoren, Lehrern und Armenpflegern in Verbindung tritt, um sich zu vergewissern, daß die Gaben auch stets an die richtige Stelle kommen. Würdigkeit oder Unwürdigkeit der Eltern oder Kinder können nicht in Betracht gezogen werden, einzig und allein die Bedürfnißfrage! Nur dort soll man helfend eingreifen, wo wirkliche Armuth vorhanden ist, wo die Eltern nicht in der Lage sind, den Kindern ein solches Frühstück verabreichen zu können, wie die heranwachsende Jugend es braucht. Hat man die Zahl der unterstützungsbedürftigen Kinder ermittelt, so ist es nicht schwer, festzustellen, welche Kosten aufzubringen sind, um die Sache ins Leben zu führen; dann ist es an der Zeit, durch Rundgänge bei den Mitbürgern sich Jahresbeiträge zu sichern, damit die Einrichtung sich dauernd als lebensfähig erweist.
Die Frühstücksaustheilung muß in der Schule selbst (oder in einem derselben nicht zu ferne liegenden geeigneten Lokal) geschehen, und zwar eine Viertelstunde vor Beginn des Unterrichts, damit die Schulordnung nicht gestört werde. Unsere Lehrer und ihre Angehörigen werden in menschenfreundlichem Sinne gerne dazu die Hand bieten, und hier ist auch ein Feld, wo unsere Gattinnen und Töchter sich hilfreich zu erweisen vermögen. Wie das schon längst in den Volksküchen Brauch ist, können sie sich hierbei betheiligen, die sorgfältige Reinigung der Blechbecher besorgen lassen und durch freundliche Worte an der rechten Stelle segensreich wirken. Ich weiß sehr wohl, daß es viele Mühe kostet, ein solches Amt zu übernehmen, aber werkthätige Menschenliebe erfordert nun einmal wirkliche Opferwilligkeit! – Daß Milch und Brot von durchaus guter Beschaffenheit sein müssen, ist selbstverständlich.
Das Opfer einer Epidemie. Wer von uns hat nicht im Herbst todte Fliegen an den Fensterscheiben beobachtet? Rings um das an der Glasscheibe festklebende Insekt sehen wir einen nebelartigen Hof, und über dieses Gebilde habe ich von verschiedenen Leuten gar wundersame Erklärungen gehört. Nach dem einen war die Fliege an Brechdurchfall zu Grunde gegangen, nach dem andern war jener Hof weiter nichts als der „festgewordene Fliegenathem“. Ja, es waren einmal keine Gelehrten, die nur jene Erklärungen gaben. Die todte Fliege an der Fensterscheibe ist ein kleines, aber interessantes Studienobjekt, und die neuere Forschung hat sich auch mit ihr befaßt. Hier in aller Kürze ihr Gutachten über diesen Fliegentod.
Nicht nur die Menschen müssen das unsichtbare Geschlecht der mikroskopischen Spaltpilze, die man gewöhnlich Bacillen nennt, fürchten, auch die Insekten werden von diesen winzigen Feinden verfolgt. Die Seidenraupen werden von zwei Spaltpilzen befallen, und die Seidenzüchter kennen wohl diese Krankheiten des Seidenwurms. Auch unsere Stubenfliege, die ja mitunter ansteckende Krankheiten verbreiten soll, hat unter den Mikroorganismen ihren besonderen Feind. Ein Schimmelpilz ist es, der in der Wissenschaft den Namen Empusa Muscae führt, ein Verwandter des Pilzes, der das Brot in unseren Speisekammern schimmlig macht. Die Sporen der Empusa Muscae fallen namentlich im Herbst auf die Fliegen; sie treiben hier sozusagen Wurzel, jenes vielverzweigte, fadenförmige Pilzgebilde, das man Mycel nennt. Dieses Mycel wächst in den Fliegenkörper hinein und schwächt die Fliege, daß sie sich irgendwo setzt und zu Grunde geht. In der todten Fliege reift der Schimmelpilz und sendet nach außen Sporen, welche auf der Fensterscheibe jenen „festgewordenen Fliegenathem“ bilden.
Die Fensterscheibe wird von anderen Fliegen besucht; diese laufen über die Todten hinweg und die Sporen dringen in die Höhlungen des Körpers, zwischen die Bauchringe etc. hinein; die Fliege ist angesteckt und muß zu Grunde gehen. So entstehen auch unter den Stubenfliegen wahrhaftige Epidemien!
Von J. Berger in Graz.
Auflösung der Schach-Aufgabe Nr. 11 auf S. 648: | ||||
1. T g 4 – g 2 2. e 5 – e 4 |
2. f 3 X e 4 † K – |
3. T g 2 – e 2 resp. g 5 | ||
1. . . . . . . . . L f 1 X g 2 (e 2) |
2. D h 1 – a 1 | 3. D resp. S | ||
1. . . . . . . . . d 3 – d 2 |
2. T g 2 X d 2 † L f 1 – d 3 |
3. T d 2 X d 3 | ||
1. . . . . . . . . | 2. D h 1 – h 3 | D h 3 – e 6 |
E. S. in B. In unseren Artikel über das Eichendorff-Denkmal in Neisse (in Nr. 38 des lauf. Jahrg.) haben sich einige Irrthümer eingeschlichen: Meister Seger ist kein geborener Neisser, sondern aus Neurode in der Grafschaft Glatz, und hat die Büste nicht nach „einem jüngeren Vorbilde“, sondern nach den ihm von der Tochter des Dichters zur Verfügung gestellten Photographien, Bleistiftzeichnungen und Lithographien modellirt. Eine Büste hat bisher nicht existirt. Der Zweig, welcher sich um den Namen des Dichters schlingt, besteht aus einem Gefüge von Eichen- und Lorbeerblättern.
A. R. in Bingen. Der Torgauer Zweigverein des allgemeinen deutschen Sprachvereins hat ein einfach ausgestattetes Druckblatt herausgegeben, welches etwa 1500 der am häufigsten gebrauchten Fremdwörter nebst Verdeutschungen enthält und für den geringen Preis von 10 Pfennigen (in Briefmarken) auch an Nichtmitglieder des Vereins abgegeben wird. Das kurze Verzeichniß wird Ihnen und allen willkommen sein, welche den Grundsatz: „Kein Fremdwort für das, was deutsch gut ausgedrückt werden kann“ an ihrem Theile durchführen helfen wollen. Die Versendung des Druckblattes besorgt Herr Amtsrichter Bruns zu Torgau.
D. K. in Elberfeld. Das letzte Werk von Dr. Friedrich Hofmann ist seine Gedichtsammlung: „Nach fünfundfünfzig Jahren“, welche Sie zum Preise von 5 Mark 25 Pf. gebunden mit Goldschnitt durch jede Buchhandlung beziehen können.
R. B. in Nordhausen. Infolge des Artikels „Der Kuckuck brütet“ in Nr. 25 des laufenden Jahrgangs der „Gartenlaube“ ist uns von Naturfreunden eine große Zahl interessanter Zuschriften zugegangen, in welchen die Darlegungen unseres Artikels durch Mittheilung ähnlicher Beobachtungen vielfach ihr Bestätigung finden. Auch von Ihren Mittheilungen haben wir mit Interesse Kenntniß genommen und sagen Ihnen unseren besten Dank.
In dem unterzeichneten Verlage ist erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
Der Gartenlaube-Kalender 1889 enthält neben zahlreichen statistischen, volkswirtschaftlichen, historischen und genealogischen, haus-, garten- und landwirtschaftlichen Notizen und Tabellen eine stattliche Reihe belehrender und unterhaltender Artikel, sowie Erzählungen und Humoresken von W. Heimburg, M. Lilie, Oskar Justinus, E. Peschkau, B. Renz, R. v. Gottschall u. a., und eine Menge vorzüglicher Illustrationen von F. Defregger, G. Hahn, R, Püttner u. a.
Der Gartenlaube-Kalender ist zum Preise von 1 Mark in den meisten Buchhandlungen zu haben. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an die Verlagshandlung