Die Gartenlaube (1891)/Heft 24

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[389]

Nr. 24.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Lea und Rahel.

Roman von Ida Boy-Ed.

(7. Fortsetzung.)


8.

Wortlos saßen Raimar und Lüdinghausen nebeneinander. Es wurde Raimar zwar etwas schwer, seine Lebhaftigkeit zu unterdrücken, aber er sagte sich, daß die Aussprache ja erfolgen werde und müsse und daß es taktvoller sei, keine Fragen an Lüdinghausen zu richten.

Man fuhr eine kleine Stunde von Römpkerhof nach Kohlhütte. Eine Stunde Schweigsamkeit für einen Mann wie Raimar – es war in der That eine schwierige Fahrt.

„Donnerwetter,“ dachte er, „hat der Mann ein unheimliches Talent zum Schweigen!“

Als man endlich vor dem langgestreckten, einstöckigen Gutshause hielt, war er ordentlich glücklich. Er konnte sich zunächst Luft machen durch lautes Schelten, denn nirgends brannte Licht, man mußte warten, ehe überhaupt jemand kam.

Seine alte Christel gab ihm, als sie dann erschien, die Schelte gründlich zurück: wenn er anstatt, wie man habe erwarten müssen, spät nachts, schon um halb zehn Uhr nach Hause komme, sei es natürlich dunkel, denn den ganzen Abend unnütz die Räume zu beleuchten, sei Gott sei Dank nicht ihre Angewohnheit; er freilich halte bekanntermaßen nie auf Ordnung und Sparsamkeit.

Sie trug in der Hand eine Dielenlampe mit einem Blechblender, so daß ihr rothes, derbes Gesicht im Schatten blieb. Eine weiße Haubenkrause rahmte ihre Züge ein, eine große weiße Schürze deckte ihr graues Gewand. Christel war von hoher, breiter Gestalt, und ihren derbstapfenden Schritten, mit welchen sie den Herren voranging, merkte man keine Altersschwäche an.

Während sie in Raimars Wohnzimmer, wo es stark und schlecht nach kaltem Cigarrendampf roch, die Lampe anzündete, fragte sie mit der größten Unbefangenheit:

„Was ist denn los, daß Sie schon wiederkommen? Und noch dazu mit einem andern Wagen?“

Ihr Ton war strafend. Sie war es seit fünfzig Jahren gewöhnt, für Raimar zu sorgen, und sah in ihm noch immer ein erziehungsbedürftiges Wesen.

Sicherlich würde er morgen jedes Wort, das gefallen war, mit Christel durchsprechen. Aber in Lüdinghausens Gegenwart war das nicht gut möglich, obendrein wußte er ja den Zusammenhang selbst noch nicht. Raimar hatte in seinen vier Wänden recht wenig zu sagen, er war der Sklave seiner alten Dienstboten. Er fürchtete, Christel zu erzürnen, weil er auf ihre Fragen keine Antwort geben konnte, und bat schmeichelnd um heißes Wasser. Und dabei gab er ihr heimlich einen kleinen Knuff, womit er ihr andeuten wollte: „Sei doch still in Gegenwart des Landraths!“

Christel ging übellaunig


Elisabeth Leisinger als Frau Fluth in den „Lustigen Weibern von Windsor“.
Nach einer Photographie von J. C. Schaarwächter in Berlin.

[390] hinaus. Jetzt sollte auch noch Punsch getrunken werden; diese abendliche Angewohnheit ihres „Herrn“ hielt sie für sehr gesundheitswidrtg, denn sie wachte noch ebenso ängstlich über sein Wohlbefinden wie damals, als sie ihn gehen lehrte.

„Nun legen Sie ab, lieber Freund! Wenn wir erst ins Punschglas gucken, wird uns Leib und Seele schon wieder behaglich werden. Ein Drache, meine Christel, was? Ader das hat einen großgepäppelt und man hat immer Rücksichten genommen und Rücksichten genommen, bis man glücklich unter dem Pantoffel stand. Na, gut habe ich es ja dabei, pflegen thut sie mich, daß ich keinen Ehemann der Welt zu beneiden habe.“

Er ging auf und ab, rieb sich die Hände, trug Cigarren und Zündhölzer auf den Tisch und wartete, ob Lüdinghausen denn nun nicht endlich reden wolle.

Es war sehr altmodisch, sehr verräuchert und sehr gemüthlich in Raimars Zimmer. Die Lampe, welche auf dem Tisch stand, verbreitete ein durch einen grünen Schirm angenehm gedämpftes Licht.

Die Männer setzten sich an den Tisch einander gegenüber, jeder in einen mächtigen Lehnstuhl. Der blaue Dampf von Raimars Cigarre zog unter den Lampenschirm und in diesem wie in einem Schornstein empor. Lüdinghausen rauchte nicht. Vor ihnen standen die Punschgläser, deren Inhalt Raimar mit Sorgfalt zusammengegossen hatte.

„Wollen Sie mir helfen, alles zu verstehen?“ begann Lüdinghausen plötzlich.

„Na endlich,“ erwiderte Raimar in naiver Zufriedenheit. „Fragen Sie, sprechen Sie, erklären Sie! Stehe ich doch zunächst ganz dumm und stumm vor lauter Räthseln. Lädt mich mein alter Römpker da ein – wie er durchblicken läßt, um mir Leas Verlobung mit Ihnen anzukündigen, und was erlebe ich? Rahel nimmt ihrem Alten das Wort vom Munde weg und proklamiert Clairon. War nun Rahel nicht bei Sinnen? Ober sind die andern verrückt?“

Lüdinghausen lehnte sich zurück und sah in die Lampe. Auf seinem bleichen Gesicht war ein neuer Ausdruck, ein belebter und nervöser Zug, den Raimar zuvor nie in diesem strengen, ein wenig zu gemessenen Antlitz gesehen hatte.

Ueber was er in der langen, schweigsamen Stunde gegrübelt hatte, das mußte jetzt ausgesprochen werden. Er, der stets Verschwiegene, empfand zum ersten Male in seinem Leben das Bedürfniß, sein Herz auszuschütten und auch einen andern sprechen zu hören über das, was ihm begegnet war.

„In der That, – wir waren auf Römpkerhof beisammen, um Ihnen die Verlobung zu verkünden, welche Sie zu hören erwarteten,“ begann er. „Lea hatte mir gestern abend in Gegenwart ihres Vaters ihre Hand zugesagt. Seit Wochen hat sie meine Bewerbungen begünstigt, ja, wenn ich unerbittlich wahr gegen sie und mich sein soll: erst ihr sichtliches Entgegenkommen erweckte in mir den Gedanken an diese Bewerbung. Denn ich bin kein leidenschaftlicher Mensch, der unter dem Eindruck eines verliebten Augenblicks handelt. Ich wollte heirathen und ich hatte eine bestimmte Ansicht von denjenigen Eigenschaften, welche ich von meiner Frau fordern mußte. Als Lea ein deutliches Wohlgefallen an mir zeigte, fing ich an, sie zu beobachten, und meinte, an ihr alle Ergänzungen zu finden, deren ich bedurfte. So warb ich um sie; ich durfte mich von ihr geliebt glauben und nahm ihr Jawort als Bestätigung dieses Glaubens hin.“

„Hören Sie ’mal,“ unterbrach ihn Raimar, „ich bin ein alter Junggeselle und versteh’ mich nicht aufs Freien. Aber mir scheint, verliebt, so rechtschaffen blindlings verliebt in Lea sind Sie nicht gewesen.“

Lüdinghausen erröthete. Er dachte an das Herzklopfen gestern abend, als er Lea so schön und begehrenswerth gefunden hatte. Nein, das war dennoch keine Liebe gewesen. Und nun peinigte ihn die Erinnerung, daß sein Blut ihretwegen in Wallung gekommen war.

„Sie scheinen zu denken wie mein Vater,“ sagte er mit mattem Lächeln. „Also gestern gab sie mir ihre Hand und heute höre ich, daß sie es in schändlicher Lüge gethan hat.“

Er richtete sich plötzlich lebhaft auf und rief mit einer Wärme, mit einer Begeisterung, wie sie noch nie ein Mensch an ihm bemerkt hatte:

„Die edle Schwester aber, o, die wollte keine Lüge dulden. Mir ist, als sehe ich in ihre Seele, in diese wahrhaftige, tapfere Seele hinein. Sie wußte von der Liebe – nein, sagen wir hart und offen – von dem Liebesverhältniß Leas zu Clairon. Und als man ihr sagte, Lea wolle mein Weib werden, mag sie gewarnt, gebeten, beschworen haben. Sie wollte nicht, daß die Schwester ein solch unwürdiges Unrecht begehe. Vielleicht wollte sie auch nicht, daß man mich zum Opfer einer schnöden Lüge mache. Sie fühlte stolz für die Ihrigen, stolz für mich. Und als man nicht auf sie hörte, griff sie mit muthigen Händen in die Speichen des rollenden Rades und hielt es auf, damit es nicht zermalmend über meine Mannesehre gehe!“

Er sah mit großen, leuchtenden Augen ins Dunkle. als schaue er dort auch jetzt, wie er’s die ganze Fahrt hindurch gesehen, das bleiche Mädchen mit vorgeneigtem Leibe und dem bangen Gesicht. Er sah die feinen Nasenflügel beben und hörte immer und immer wieder die Stimme, die so klar, so metallen gesprochen hatte.

Raimar sah sein Gegenüber verdutzt an.

Von diesem Standpunkt aus hatte er Rahels Benehmen freilich noch nicht betrachtet. Er besann sich lange.

Ja freilich, wenn sich alles so verhielt, war die Rahel ein kleiner Held gewesen. So ein weibliches Heldenthum ist zwar meistens für die betheiligte Familie recht peinlich – na, einerlei! Offenbar hatte er das Mädel immer unterschätzt und ihr Lea mit Unrecht vorgezogen, worüber er jetzt große Reue fühlte. Diese verflixte Lea! Wer hätte das für möglich gehalten! Das war ja wie auf einen französischen Roman angelegt, und am Ende hatte sie gar gedacht, auch nach der Heirath mit dem einen dem andern nicht zu entsagen. O – o ... Raimar schüttelte den großen Kopf und trank sein Punschglas auf ein Mal aus.

Lüdinghausen hatte sich gefaßt, seine Worte klangen ruhiger, als er fortfuhr:

„Es liegt wohl in allen Menschen, daß sie ein wenig am Treppenwitz kranken, das heißt, erst nachträglich alles recht verstehen. So wird mir jetzt erst beim Rückblick mancher kleine Zug klar in meinen Begegnungen mit Clairon. Wäre er für mich nicht ein völlig gleichgültiger und unbedeutender Mensch gewesen, so würde ich die Unarten, die er von Anfang an gegen mich ausspielte, bemerkt und bestraft haben; ich würde erkannt haben, daß er von jeher in mir den Nebenbuhler wußte und haßte, daß er selbst um Lea warb und im Einverständniß mit ihr war und blieb. Weshalb haben die beiden sich nicht geheirathet? Weshalb forderte sie meine Bewerbung heraus, indem sie mich an Liebe oder mindestens an ein sehr warmes Interesse glauben ließ? Sehen Sie, Raimar, da ist ein dunkler Punkt für mich. Wären es eben nicht Römpkers, so könnte man sagen, sie wollten die reiche Partie. Aber ihnen, dem alten Geschlecht, den reichen Grundbesitzern, mußte der Graf doch willkommener sein als der Sohn des Industriellen, der sich selbst emporgearbeitet hat.“

„Mein guter Lüdinghausen,“ sagte Raimar und faltete die Hände vor dem Magen, indem er sich weit zurücklehnte, „das ist mir ebenso unverständlich wie Ihnen. Ich habe wohl mal so was läuten hören, Lea wolle einen aparten Mann, sie wolle groß dastehen in der Welt. Allein Clairon, den sie liebte, war ja gerade deshalb der Mann für sie – denn ‚Gräfin Clairon‘ – das ist doch ein schöner, stolzer Name.“

Sie grübelten beide schweigend weiter. Raimar rauchte sehr stark. Er hatte so seine Gedanken, die er sich aber wohl hütete, laut werden zu lassen. Er kannte Römpker wie seine eigne Tasche und wußte gut, daß der allezeit vom Rechnen nicht viel hatte hören mögen. Er war mit seinen Gedanken auf der allerrichtigsten Fährte, auf einer noch richtigeren als selbst Rahel. Diese hatte oberflächlichen Familienhochmuth angenommen bei der Weigerung ihres Vaters, den alten, schuldenfreien Besitz zu belasten, allein wenn das auch bei Lea zutraf, so war doch bei Herrn von Römpker die Angst vor Einschränkungen, die ein unbemittelter Schwiegersohn nothwendig ihm auferlegte, der Hauptgrund seiner Ablehnung Clairons und auf der andern Seite seiner Freude an Lüdinghausen.

„I, der alte Egoist,“ dachte Raimar bei sich. „Aber das muß man ihm lassen, er ist Egoist mit Grazie.“

Nach einer Weile fiel ihm noch etwas ein, etwas sehr Unangenehmes.

„Es ist eine verfluchte Geschichte,“ begann er. „Und sie wird sich herumsprechen, ja, das wird sie. Die Baronin saß dabei, und man hätte zu borniert sein müssen, wenn man nicht verstanden [391] hätte, daß der Papa ‚Lüdinghausen‘ sagen wollte, als Rahel ‚Clairon‘ dazwischen rief. Ich fürchte, mein lieber Freund, wir werden Sie noch darüber verlieren, denn Sie werden kaum Lust haben, in einer Gegend zu bleiben, wo Sie in der Gesellschaft und im Amt Römpker stets begegnen müssen, wo es Ihnen nicht verhohlen bleiben kann, daß man Sie zum Gegenstand endlosen Klatsches macht. Denn hier kommt so selten etwas vor, daß man an jedem Ereigniß, ewig herumkaut, ehe man es runterschluckt. Ganz verdauen thut das Gedächtniß einer kleinen Stadt nie.“

Lüdinghausen sah ihn an. Alle Wärme, die vorhin sein Gesicht so schön durchleuchtet hatte, war wieder erloschen. Er sah wie immer kühl und klug aus.

„Sie sind völlig im Irrthum, lieber Raimar,“ sprach er langsam. „Die Gründe, welche mich bestimmten, einen Wirkungskreis wie diesen zu suchen, waren tief erwogen und wurzelten in der Erkenntniß der Größe meiner künftigen Pflichten. Sie bestehen doch unverändert fort, diese Gründe, und haben mit meinem Privatleben nichts zu thun. Den kleinen Ereignissen in diesem darf ich die Ernsthaftigkeit jener nicht unterordnen, ganz abgesehen davon, daß es mir beinahe albern vorkäme, mit dem Staat so kurzer Hand umzuspringen, ihm mit meiner etwaigen Empfindlichkeit lästig zu fallen, indem ich sagte: erst habe ich dich um ein Amt gebeten, du hast es mir gegeben; nun hat mich hier jemand belügen wollen, also nimm mich weg und gieb mir eine andere Stätte. Aber diese Empfindlichkeit ist nicht vorhanden, mein lieber Raimar, ich versichere Sie. Wie schlecht müßte es um mein Selbstbewußtsein bestellt sein, wenn ein paar neugierige Blicke, ein paar unzarte Bemerkungen es schon zu erschüttern vermöchten. Ich denke das mit Gleichmuth zu ertragen!“

Dieser ruhige Stolz machte auf Raimar einen tiefen Eindruck. Er fühlte wieder, daß es ein ganzer Mann war, der ihm da gegenübersaß.

„Aber die Römpkers?“ fragte er zaghaft. „Sehen Sie, ich werde ja hinfort Bedacht nehmen, Sie nie zusammen einzuladen. Allein andere werden es mit harmlosen Mienen und mit heimlicher Schadenfreude thun.“

Erasmus Lüdinghausen lächelte ein wenig.

„Wenn Herr von Römpker und Fräulein Lea sich nicht scheuen, mir zu begegnen,“ sagte er – „mir scheint, ich bin es nicht, der die Augen niederzuschlagen hat. Mögen sie mich meiden oder mich treffen – es ist ihre Sache, nicht die meine.“

Der gute Raimar hatte allerdings nicht diese souveräne Höhe der Anschauung. Er suchte nach erleichternden Auswegen und rief:

„Nun, das wird sich alles besser und leichter machen, als man heute denkt. Clairon und Lea werden um jeden Preis sehr schnell heirathen, dann läßt Clairon sich versetzen und die beiden sind aus dem Wege.“

„Glauben Sie so gewiß, daß der Graf Fräulein Lea heirathet?“ fragte Lüdinghausen erstaunt.

„Lea muß ihn jetzt doch nehmen,“ sagte Raimar, „die etwaigen finanziellen Schwierigkeiten werden und müssen geebnet werden, der Alte muß eben rechnen lernen.“

Das entfuhr ihm so unbedacht. Lüdinghausen hemmte einen Laut auf seiner Lippe, aber in seinem Auge blitzte es auf. Diese Worte hatten ihm endlich einen erhellenden Funken in die Seele geworfen und dort rasch das Licht eines völligen Verständnisses entzündet.

Trotzdem verrieth er dem guten Mann, den wohl der schnell getrunkene Punsch so redselig machte, mit keiner Silbe, daß er verstanden habe.

„Ich kenne den Herrn Grafen zu wenig,“ sagte er, „ich weiß nicht, wie er handeln wird. Ich weiß nicht, ob er Fräulein Lea nehmen wird – das war es, was ich sagen wollte. Jeder hat seine eignen Ehrengesetze: die meinen würden mir verbieten, ein Mädchen noch zu heirathen, das sich ohne wahrhaft innerlich zwingende Gründe einem andern geben wollte.“

„Ah,“ machte Raimar verblüfft. Die Möglichkeit schien ihm denn doch undenkbar. Lüdinghausen war auch zu strenge.

„Da kenne ich Clairon besser. Er wird tüchtig wettern, sich vielleicht mit Ihnen schlagen wollen, aber schließlich …“

Lüdinghausen konnte nicht mehr einwenden, daß eine Forderung Clairons an ihn ja der bare Unsinn wäre, denn Raimar unterbrach sich, sprang auf und eilte an das Fenster.

„Ein Wagen? Das ist Claußen natürlich. Aber warum fährt er hier vor? Gewiß noch eine Bestellung von Römpker.“

Er stieß mit der Stirn an die Scheibe, hinter derselben war ägyptische Finsterniß, denn die Läden waren schon vorgemacht.

„Hier ist die Welt buchstäblich mit Brettern vernagelt. Na, da bin ich aber begierig …“

Draußen wurde es schon laut, denn Christel hatte mit einem heißen Punsch die Heimkehr ihres Freundes Claußen erwartet, um den zweifelsohne Durchnäßten vor Rheumatismus zu schützen. Claußen war nicht mehr so wetterfest wie die zehn Jahre ältere Christel.

„Herrjes! Herrjes!“ hörte man Christel zweimal laut rufen.

Raimar riß die Thür auf und prallte zurück.

Da stand eine Gestalt auf der Schwelle, in nassen, dunklen Kleidern, mit verwirrtem Blondhaar und großen, traurigen Augen im blassen Gesicht. Sie neigte das Haupt wie ein armer Sünder, der lieber sterben als noch weiter fliehen will.

„Rahel!“ schrie der alte Mann.

„Rahel,“ sagte leise der andere, der bleich wurde und so erschrak, daß er sich mit dem Rücken gegen den Ofen lehnen mußte, vor dem er gerade stand. Einen Herzschlag lang war ihm, als müsse er vorwärts stürzen zu ihr hin, sie umklammern und zu ihren Füßen ihr danken für das, was sie für ihn gethan hatte.

Der Schreck lähmte ihn. Wie sie aussah! Wie jemand, der in höchster Lebensnoth ist. Und das Antlitz, das er immer wie einen lichten Tag gefunden, es war gefurcht von Thränenspuren und gleichsam verdunkelt von Leiden.

„Mein Kind,“ rief Raimar und suchte sie an der Hand zu fassen und an sich zu ziehen. „Wo kommst Du her? Was haben sie Dir gethan?“

Rahel folgte ihm wankend ins Zimmer. Sie schüttelte stumm den Kopf.

Christel hatte sich in aller Geschwindigkeit von Claußen unterrichten lassen.

„Er hat ihr unter unserm alten Grenzapfelbaum gefunden. Da stand sie und weinte. Sie wollte, daß er sie hierherbringe, und das that er denn auch,“ erzählte sie. „Mein Gott, das arme Kind! Wir behalten ihr wohl hier die Nacht? Ich will man gleich die blaue Stube aufschließen und das Bett wärmen.“

Christel hatte an allen Römpkers viel auszusetzen, sie waren ihr zu vergnügungssüchtig und sie sah in Römpker den Verführer ihres Herrn. Nur bei Rahel machte sie eine Ausnahme, ihr war sie sehr zugethan, ja sie fühlte ein Anrecht an sie, weil ihr Herr Rahel aus der Taufe gehoben hatte. Was auch geschehen sein mochte – daß das Mädchen hierher zu Raimar und Christel gekommen war, bewies für Christel ohne weiteres, daß die Arme jedenfalls im Recht sei. Sie ging, um alles für ihre Aufnahme zu bereiten.

„Was ist Dir geschehen?“ rief Raimar und half ihr mit ungeschickten Händen Hut und Mantel ablegen.

„Nichts,“ hauchte sie.

„Ach was! Um nichts läuft ein so verständiges kleines Menschenkind nicht in die Nacht hinaus,“ schalt er.

Da fiel sie ihm um den Hals.

„Sie sagten schlimme Worte, aber ach, sie haben sie nicht so gemeint. Ich war so thöricht, ich glaubte wirklich, sie wollten mich nicht mehr sehen. Doch ich hätte warten sollen – morgen vielleicht, morgen denken sie gewiß anders.“

„Jawohl, Du bist ein kleines Schäfchen,“ sagte Raimar tröstend, der sich dabei recht wohl vorstellen konnte, wie man gegen die arme Rahel getobt hatte, „natürlich haben sie es nicht böse gemeint. – So, so!“

Er klopfte ihr leise auf den Rücken, wie er es hatte bei Kindern thun sehen.

Sie blieb still an seiner Brust. Aber über seine Schulter hinweg fanden plötzlich ihre Augen ein anderes Augenpaar, das dort aus der Dämmerung her unverwandt ihre Blicke suchte.

Sie konnten sich nicht losreißen voneinander, diese Augen, und es schien, als wollten sie Seelen ergründen.

Während Raimar so das Mädchen lange und still in seinen Armen hielt, erwachten allerlei sonderbare Gedanken in ihm. Erst fand er es doch sehr unangenehm, daß Lüdinghausen mit jemand von Römpkers zusammengetroffen sei, dann fielen ihm die [392] begeisterten Worte ein, die Lüdinghausen über Rahel gesprochen hatte. Er schielte, so gut er konnte, seitwärts auf sie nieder und sah ihre Augen groß dahin gerichtet, wo Lüdinghausen stehen mußte. Und daß dieser sich so mäuschenstill verhielt, war ihm verdächtig. Ein Lächeln zog plötzlich über sein Gesicht, ein ganz verschmitztes, vergnügliches Lächeln.

„Müssen wir einen Reitenden hinüberschicken, oder suchen sie Dich nicht?“ fragte er nach einem Weilchen, sie loslassend.

„Sie suchen mich nicht. Ich habe geschrieben, daß ich zu Dir gehe,“ flüsterte Rahel.

„Gut, also schicke ich morgen mit dem frühesten einen Brief an die Deinen und frage an, ob Du heimkommen sollst. Und da ist auch schon Christel und will Dich zu Bett bringen.“

Christel hatte den linken Arm voll mit allerlei Gewandstücken und Sachen, deren Nothwendigkeit für Rahel nicht recht erfindlich war. Mit der Rechten faßte sie ihren Schützling jetzt so vorsichtig an wie ein rohes Ei.

Rahel folgte ihr. An der Thür blieb sie stehen und ihre Augen richteten sich noch einmal mit einer bangen, großen Frage auf Lüdinghausen. Und er war mit zwei Schritten bei ihr und neigte sich tief auf ihre Hände, die er zugleich erfaßte und mit Bewegung küßte.

„Ich danke Ihnen,“ sagte er leise.

Da ging über ihr Gesicht ein Schimmer seliger Verklärung. Nun war alles gut und alles ließ sich ertragen. Er dachte gut von ihr, er hatte sie verstanden. Wortlos neigte sie das Haupt und ging mit leichten Schritten davon.

„Ja, ja,“ sagte Raimar hinter ihr her, „sie ist ein Charakter.“ Er begriff jetzt gar nicht mehr, daß er Lea stets höhergestellt hatte. „So sind wir Männer aber. Eine schöne Figur, ein Paar verheißender Augen mit so einem gewissen Aufschlag à la Lea – und weg sind wir.“

„Ja,“ bestätigte Lüdinghausen, in Gedanken verloren, „neben dem Flitter übersehen wir das echte Gold.“

„Kommen Sie – setzen wir uns wieder. Noch einen Punsch!“ bat Raimar.

„Nein, ich danke.“

„Einen halben?“

„Mein Kutscher und meine Pferde sind solche Rücksichtslosigkeiten von mir nicht gewöhnt; ich muß wirklich heimfahren.“

„Aber wir haben noch so viel zu besprechen,“ bat Raimar und drängte seinen Gast in den Lehnstuhl zurück. „Zum Beispiel, wie wird es nun mit Ihrem Vater?“

„Der kommt wohl morgen abend und anstatt der erwarteten Schwiegertochter findet er seinen Sohn um eine Erfahrung reicher,“ sagte Lüdinghausen mit einem ganz muntern Gesicht.

„Wissen Sie – Ihr Alter kann bei mir wohnen. Einverstanden?“ Raimar floß von herzlichen Gefühlen förmlich über.

„Wenn mein Vater will – gern.“

Beide Männer hatten dabei einen versteckten Gedanken. Der Sohn hoffte, daß sein Vater dann Rahel kennenlernen werde, Raimar dachte Rahel festzuhalten und sie „dem alten Lüdinghausen von allen Seiten in großartigster Beleuchtung vorzuführen.“

Auf einmal schlug Raimar mit der Faust auf den Tisch.

„Fortan will ich ihr Vater sein. Ich habe ein Recht an sie – hab’ bei ihr Gevatter gestanden und werde diese Rechte geltend machen.“

„Wie merkwürdig,“ erwiderte Lüdinghausen, „sonst kam sie mir immer so gesetzt, so kaltblütig und ein wenig altjüngferlich vor. Heute abend war sie wie ein Kind, so rührend jung und schutzbedürftig.“

„Und was mir besonders von der Rahel gefällt,“ fiel Raimar ein, „ist, daß sie trotz ihrer zurückgedrängten Stellung stets von sich wußte, was sie war. Sie blieb bescheiden, weil die Familienverhältnisse sie nicht aufkommen ließen, aber sie trug doch den Kopf fest und hoch. Ich erinnere mich – es war bloß Spaß – man wollte, daß ich noch heirathen solle; aus Unsinn hielt ich um Lea an, wie gesagt, aus Spaß, und die sagte Nein. Und da fragte ich die Rahel. Was denken Sie wohl, was das Mädel antwortete: ich hätte Dich genommen, Onkel Raimar, wenn Du mich zuerst gefragt haben würdest, aber was Lea übrig läßt, das mag ich nicht.“

Er lachte jetzt noch beifällig im Gedanken an jene Antwort.

Lüdinghausen stand auf. Seine Augen blickten wieder ernst, seine Züge waren plötzlich sehr abgespannt. „Nun will ich endlich fahren,“ sagte er. Sein Ton war ganz klanglos.

Raimar erschrak. Hatte er da nicht eben eine furchtbare Dummheit gemacht? „Wie gesagt, Rahel machte Spaß,“ stotterte er.

Lüdinghausen lächelte schmerzlich und schwieg.

Was war da auch viel zu sagen? Welches Weib würde es wohl vergeben können, daß man monatelang nicht sie bemerkt hatte, sondern nur neben ihr die prunkende Eitelkeit? Wie konnte eine Rahel das noch für werthvollen Besitz erachten, was sich zum Spielzeug einer Lea hergegeben hatte?

Er fuhr davon und sein unbegründetes Glücksgefühl war völlig einer nur zu begründeten Niedergeschlagenheit gewichen.

Und er dachte daran, daß er die Nacht vorher auch nach Hause gefahren war, aber wie anders!

Nun hatte er doch keine Programmerfüllung erlebt, sondern einen Roman, einen sehr gewöhnlich begonnenen und sehr hoffnungslos endenden Roman.

(Fortsetzung folgt.)




Weinblüthe.

O wilde Nacht! Wie flogen die Blitze hin und her! –
Nun ist der Sturm verzogen, kein Lüftchen regt sich mehr,
Erquickung deckt und Schweigen die mondbeglänzte Flur;
Schwer tropft es von den Zweigen, verweint noch liegt Natur.

5
Der Vaterhuld im Schoße ruht das verwöhnte Kind,

Vom Falter träumt die Rose, im Grase schläft der Wind.
Das Lied nur wacht und leise erklingt am Wasserfall
Fern – fern die Sehnsuchtsweise einsamer Nachtigall.
Von Osten, überm Weiher, am Berge schreitet hin

10
Mit Krone, Stab und Schleier die schönste Königin;

Ein Schimmer, nicht zu sagen, strahlt auf, wohin sie späht,
Und Balsamwölkchen tragen die Feen-Majestät.
Sie neigt das Haupt, das holde, sie lächelt wie im Traum
Und senkt den Stab von Golde in jeder Blüthe Flaum,

15
Schöpft Honig, Thau und Düfte und braut im Waldesdom

Harzgeist und Sommerlüfte zu würzigem Arom,
Mischt drein die Wundersäfte aus diamantnem Krug,
Geheimnißvolle Kräfte, Lorbeer und Freiheitsflug,
Ein Tröpflein Gift und Lieder, Schlafkraut und Poesie,

20
Dazu von Lenz und Flieder die alte Melodie;

Vom Vaterland die Träume, der Liebe Rosengluth,
Herzheil und süße Schäume, Siegwurz und Drachenblut.
Ein Strahl nun, wie auf Erden kein Auge je gesehn,
Durchleuchtet all das Werden: der Zauber ist geschehn!

25
Sie trägt in Schleierfalten die Spende, gnadenreich,

Sie schwebt in heil’gem Walten, unhörbar, elfengleich;
Und wo an Pfahl und Gitter ein Weinstock grünt im Rund,
Da faßt’s ihn wie Gewitter bis auf der Wurzel Grund:
Um seine goldnen Schosse wandelt die Königin

30
Und sprüht die Tracht, die lose, wie Perlen drüber hin.

Das kleinste Blatt erschauert, berührt vom süßen Gruß,
Weinblüthe, grün vermauert, wacht auf beim Weihekuß,
Die zarten Triebe regt sie und sprengt das enge Haus,
Ihr winzig Sein bewegt sie verschämt ins All hinaus,

35
Und jetzt – in tausend Strahlen flammt auf der junge Tag,

Im Purpurlichte malen sich Berg und Waldeshag.
Im Lichte, Blüthe, lebe! Gesegnet sei dein Lauf
Vom Mutterarm der Rebe bis in das Glas hinauf!
Die Welt kann nicht zerfallen, so lang dein Feuerblut,

40
Auffunkelnd in Pokalen, manch heilig Wunder thut.

Doch dir, bewährter Zecher, sei immerdar erblüht
Ein Rosenkranz am Becher, Weinblüthe im Gemüth!
  Ida John.



[393]

Weinblüthe.
Nach einer Zeichnung von Th. Rocholl.

[394]

Elisabeth Leisinger.

(Mit Bildniß S. 389)


Die Kunst des „schönen Gesanges“, des durch Studium entwickelten Wohlklangs der Stimme, wird jetzt in viel geringerem Maße gepflegt als in vergangenen Jahren. Diese Erscheinung liegt tief begründet in der ganzen Lebensbewegung der Zeit, die sich im Bühnenleben wiederspiegelt. Energisches Vorwärtsdringen zum Ziele, Gleichgültigkeit, selbst Rücksichtslosigkeit gegenüber allem Herkömmlichen, Ueberlieferten, das vielleicht ein schnelles Erreichen des Zieles aufhalten könnte, kennzeichnet die meisten Bestrebungen auf allen Gebieten. Der Bühnengesang ist heute nicht mehr die reife Frucht langjähriger fleißiger und gründlicher Studien, sondern mit seltenen Ausnahmen das Ergebniß einer schnellen Ab- und Zurichtung natürlicher Anlagen. Die echte italienische Gesangsschule besteht nicht mehr – als ihre letzten Vertreter leben noch der uralte Lamperti (jetzt in Nizza) und die große 1821 geborene Viardot zu Paris; sie arbeitete fast ein Jahr lang nur auf Tonansatz hin, auf richtiges Athemholen, Ausgleichen der Stimmregister, also auf rein mechanische Entwickelung des Stimminstrumentes, bevor sie den Lernenden zu Solfeggien und Vortragsstudien übergehen ließ. Erst nachdem die Technik vollständig festgestellt war, erlaubte sie das Studium von Rollen.

Der italienische Lehrer, der heute dieses Verfahren anwenden wollte, fände sehr wenige, vielleicht gar keine Schüler. Wer in Italien eine gute Stimme hat, will nach höchstens anderthalb Jahren der Vorbereitung glänzende Rollen einüben, um an einem der vielen italienischen Theater, in Nord- oder Südamerika, Australien, Indien, wo eben nur das Stimmmaterial bezahlt wird, als „Primadonna“ oder „Primo uomo“ eine vortheilhafte Anstellung zu erlangen.

In Deutschland geht es nicht viel besser, nur wird dazu noch philosophirt. Viele Gesangsbeflissene sind der Ueberzeugung, daß für die Musikdramen Richard Wagners eine musikalische Schulbildung, „philisterhafte Dressur“, nicht nothwendig sei, nur eine klangreiche Stimme, Leidenschaftlichkeit, poetische „hochdramatische“ Auffassung; andere, welche nicht die Erfolge auf „hochdramatischem“ Felde allein anstreben, meinen, es komme vor allem drauf an, temperamentvolle Beweglichkeit zu entfalten, viele Partien zu studieren, um überall Verwendung zu finden.

Beide Ansichten sind sehr irrthümliche. Nur die richtige Schulung verleiht dem Sänger jene Oekonomie der Stimme, jene Berechnung, Vertheilung und Erhaltung der Kraft, welche ihn befähigt, selbst bei abnehmender Klangfülle, durch Vortrag, Tonfärbung, Deklamation in edlem Stil den Hörer in allen Partien zu fesseln. Ja noch mehr! Schulung und Studium allein entwickeln die Mannigfaltigkeit im Ausdruck der Empfindungen; sie lehren zu gleicher Zeit, in der höchsten Leidenschaft die Kraft zu zügeln, das Maß des Schönen zu wahren und andererseits das weniger Bedeutende durch den Vortrag künstlerisch zu heben. –

Alle diese Darlegungen sind durchaus nicht etwa dem Zwecke gewidmet, die vergangene Zeit als die so viel bessere erscheinen zu lassen, das viele Schöne und Großartige, was unsere Zeit gebracht hat, herabzusetzen. Denn an naiven Stillosigkeiten litt die „gute alte Zeit“ keinen Mangel. Dafür nur ein Beispiel: Franz Wild († 1860) war seinerzeit der berühmteste Tenorbariton. Im „Don Juan“, der damals überall mit den niedrigsten Posseneinlagen gegeben wurde, sagte er nach der Serenade: „Ach, sie hört mich noch nicht,“ und sang – – – „Flattre, flattre, kleiner Vogel“ von einem Modekomponisten jener Tage, und mit größtem Beifalle. Das geschah damals an der Wiener Hofoper, heute dürfte es kein Sänger in einer kleinen Provinzstadt wagen! Und dabei war Wilds Wiedergabe des Don Juan eine in manchen Scenen unerreichte! Es soll hier nur darauf hingewiesen werden, daß gegenwärtig gar wenige Opernsänger und -sängerinnen in Verfolgung des richtigen Weges, durch immerwährendes Studium, die Technik der Stimme in der Weise zu vervollkommnen suchen, daß diese in der geistigen Wiedergabe der Rolle sich ganz frei entfalten kann und über alle Ausdrucksmittel verfügt. Zu den wenigen Künstlern, die diesen richtigen Weg verfolgt haben, gehört Elisabeth Leisinger.[WS 1]

Man kann wohl sagen, die Laufbahn der liebenswürdigen jungen Künstlerin war von einem günstigen Stern beschienen sogar in jenen Abschnitten, wo sie Schwierigkeiten überwinden, ja selbst Schmerzliches erdulden mußte. Sie ist die Tochter einer einst berühmten Sängerin, die als württembergische Kammersängerin Fräulein Wirst der Stolz der Stuttgarter Bühne gewesen war, aber nach ihrer Vermählung mit dem württembergischen Oberstabsarzte Dr. Leisinger der Oeffentlichkeit für immer entsagt, ja selbst eine Abneigung gegen das Theater gefaßt hatte. Mit Freuden bemerkte sie, daß die Tochter, ihr einziges Kind, von früher Jugend an großes Talent zur Musik zeigte; zugleich aber entdeckte sie mit Schrecken, daß das Mädchen ein immer stärkeres Verlangen nach der Bühne bekundete. All ihre Bemühungen, sie von dem Gedanken an eine Laufbahn als Opernsängerin abzubringen, blieben fruchtlos; selbst das Mittel, sie vom Theaterbesuche ganz fern zu halten, half nichts. Verwandte und Freunde des Hauses, die an des Mädchens schöner glockenreiner Stimme Freude hatten, suchten der Mutter Widerstand durch Ueberredung zu beseitigen; aber sie wollte nicht einmal die eigene Tochter in der Kunst unterweisen, in welcher sie selbst so Ausgezeichnetes geleistet hatte, und nur widerstrebend ließ sie sich das Zugeständniß abringen, daß Elisabeth bei der in Stuttgart lebenden vortrefflichen Gesanglehrerin Frau Müller-Berghaus Unterricht nehmen durfte. Und erst nachdem die Fortschritte der jungen Kunstbeflissenen die allgemeine Anerkennung der Musikverständigen gefunden, und nachdem die Kränklichkeit und das Verscheiden des Gatten eine Aenderung in den äußeren Verhältnissen herbeigeführt hatten, entschloß sich Frau Leisinger, dem Drängen und Bitten der Tochter nachzugeben, sie der Musik ganz zu widmen und zu Frau Viardot nach Paris zu führen; von dieser sollte sie die rechte künstlerische Weihe erhalten. Vom Sommer 1882 bis zum Herbste 1883 weilten die beiden in der Seinestadt, und Elisabeths künstlerische Entfaltung war eine um so raschere und vollkommenere, als die Mutter nunmehr allen Unterrichtsstunden beiwohnte und zu Hause die Studien der Tochter im Sinne der großen Lehrerin überwachte.

Nach Stuttgart zurückgekehrt, trat Elisabeth in zwei Konzerten an die Oeffentlichkeit mit einem so ganz entschiedenen Erfolge, daß ein auf der Suchreise befindlicher Theateragent aus Berlin sie sofort dem damaligen, seither verstorbenen königlichen Intendanten von Hülsen[WS 2] dringend empfahl. Dieser forderte sie zu einem Gastspiele auf. Am 28. März 1884 betrat Elisabeth Leisinger, damals zwanzigjährig, zum ersten Male eine Bühne, die der Berliner Hofoper, als Rosine in Rossinis „Barbier von Sevilla“. Während aber ihr Gesang sich gleich in der ersten Scene mit glänzender siegreicher Freiheit und Sicherheit bewegte, waren ihre Bewegungen und ihr Mienenspiel von einer Schüchternheit, daß die Regisseure die richtige Bemerkung aussprachen, das Fräulein müsse bisher das Theater sehr wenig oder gar nicht besucht haben, sonst wäre eine derartige Verschiedenheit in den Leistungen, so viel Sicherheit einerseits, so viel Unbeholfenheit andererseits, gar nicht erklärlich.

Das Publikum bereitete der jungen Anfängerin einen glänzenden Erfolg, einen noch glänzenderen in der zweiten Antrittsrolle, Mignon; die Kritik begrüßte sie einstimmig als eine in jeder Hinsicht ungemein sympathische Sängerin und hob hervor, daß die Glockenreinheit der Stimme nicht als eine rein mechanische erscheine, vielmehr als Ausdruck der Gemüths- und Gesangsfreudigkeit der Künstlerin. Die Intendanz verpflichtete den neuen Liebling der Berliner auf drei Jahre für die Hofbühne und verwendete ihn in neuen Rollen, immer mit bestem Erfolge.

Im Jahre 1886 während der Ferien ging Fräulein Leisinger nochmals zu ihrer Lehrerin Viardot nach Paris, um sich noch weiter zu vervollkommnen; und dort trat ein Zwischenfall ein, der ihr manche bittere Stunden verursachte, zuletzt aber die schönste Lösung fand. Frau Viardot wollte ihre deutsche Lieblingsschülerin den französischen Musikgrößen vorführen und ließ sie eines Vormittags in der Großen Oper die Arie der Königin aus den „Hugenotten“ singen. Die Direktoren und andere geladene Gäste waren entzückt von der schönen Stimme, der ausgezeichneten Meisterschaft und dem sympathischen Aeußern der jungen blonden Deutschen und man bot ihr einen glänzenden Kontrakt an; und Fräulein Leisinger, die trotz aller Erfolge – nicht ganz mit Unrecht – sich von Herrn von Hülsen zurückgesetzt glaubte, und der die Pariser Freunde zu solchem Anerbieten Glück wünschten, ward geblendet und unterzeichnete den Kontrakt.

Am 14. September 1887 trat sie als „Margarethe“ in der Großen Oper auf und – wurde kalt aufgenommen. Es wäre ungerecht, wollte man gegen das Pariser Publikum den Vorwurf erheben, daß lediglich Hetzereien gegen die „Deutsche“ bei diesem Mißerfolge entscheidend gewesen waren. Nein, die einfachste, beiden Theilen nur zur Ehre gereichende Erklärung ist die, daß Elisabeth Leisinger eine rein deutsche Koloratursängerin ist, welche von den überlieferten Forderungen des französischen Publikums keinen Begriff hatte, und daß selbst die Direktoren der Großen Oper über dem Wohlgefallen am schönen Gesange der Künstlerin diese Forderungen vergessen hatten. Beweglichkeit, ausdrucksvolles Mienenspiel, reine deutliche Aussprache und Deklamation sind so ganz unumgängliche Vorbedingungen für jede Leistung in der Großen Oper, daß die berühmtesten Sängerinnen und Sänger der verflossenen Periode, Madame Miolän-Carvalho, Frau Vanderheuvel (Tochter und Schülerin von Duprez), Roger und Faure, erst in die Große Oper gelangten, nachdem sie sich in der Opéra comique[1], in der Spieloper, die beste französisch dramatische Vorbildung angeeignet hatten.

Es war der Künstlerin nicht schwer, ihren Pariser Kontrakt zu lösen; sie kehrte nach Berlin zurück und Kaiser Wilhelm I. gestattete sofort ihren Wiedereintritt in die Königliche Oper. Das Publikum bereitete ihr, als sie in der Rolle der Agathe im „Freischütz“ zagenden Herzens hervortrat, einen wahrhaft festlichen Empfang, der sie für alles Leid, das sie erduldet hatte, reichlich entschädigte. Seitdem ist sie in ununterbrochener Thätigkeit dort verblieben und in rund 45 verschiedenen Rollen aufgetreten. Ihre künstlerische Wesenheit tritt in voller nachhaltiger Wirksamkeit in den Partien hervor, welche neben vollendeter musikalischer Bildung wahren innerlichen Gemüthsausdruck verlangen: Agathe im „Freischütz“, Mignon, Elvira in „Don Juan“, Vielka im „Feldlager“, Eva in den „Meistersingern“, Desdemona in Verdis „Othello“. Aber auch lustig bewegten Rollen wie jener der Frau Fluth in den „Lustigen Weibern von Windsor“ versteht sie ausgezeichnet gerecht zu werden. Es giebt ja im Publikum Leute genug, auf welche ungebändigte Leidenschaftlichkeit den stärksten Eindruck macht, wieder andere, die selbst unkünstlerische Willkür bewundern, wenn diese nur mit jenen Bühneneffekten und dem Temperamente verbunden ist, das im gewöhnlichen Coulissenjargon „Theaterblut“ genannt wird. Aber alle wahren Freunde der Tonkunst, welche wohlthuende Reinheit der Stimme, musikalische Bildung und edlen, aller Effekthascherei fernstehenden Vortrag zu schätzen wissen, werden Elisabeth Leisinger immer als eine ausgezeichnete und sympathische Gesangskünstlerin verehren.

Heinrich Ehrlich.
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Der Planet Mars.

Von Dr. Carl Cranz.

An den schönen Herbstabenden Ende September und Anfang Oktober vorigen Jahres genoß das Auge nach Sonnenuntergang einen besonders prächtigen Anblick. Kaum hatte sich die Sonne unter den Horizont geneigt, so tauchten, lange ehe irgend ein Fixstern zu erkennen war, an dem rasch sich verdunkelnden Süd- und Südwesthimmel die drei glänzendsten Planeten auf, wenig von einander entfernt und nahezu in einer geraden gegen den Horizont geneigten Linie. Zuerst die Venus in ihrem milden Licht tief am Horizont, und fast gleichzeitig der bläuliche Jupiter so hell, daß er einen Schatten werfen imstande war; und gleich darauf erschien, näher bei Jupiter als bei der Venus, jener rötliche Planet, dem wegen seiner Farbe der Kriegsgott Mars oder Ares seinen Namen lieh. Von diesem Planet möge näher die Rede sein.

Der Mars nach Huyghens.

Mit Recht wenden die Oberflächenforscher unter den Astronomen mit einer gewissen Vorliebe gerade dem Mars ihre Hauptaufmerksamkeit zu. Man ist sich klar geworden, daß man bloß von ihm interessantere Aufschlüsse erwarten kann; Merkur ist wegen seiner Sonnennähe stets undeutlich, nur die guten Augen Schiaparellis[WS 3] waren imstande, in neuester Zeit auch auf ihm gewisse Einzelheiten wahrzunehmen –; und von den beiden nächsten Nachbarn der Erde (außer Mars) Venus und Jupiter scheint die erstere stets mit einem dichten Wolkenschleier überzogen zu sein, auch wendet sie bei ihren Begegnungen mit der Erde, ihren sogenannten Oppositionen, dieser ihre Nachtseite zu; aus Jupiter aber ist wohl wegen seiner Größe die Erkaltung noch nicht so weit vorgeschritten, daß er bemerkenswerthe Bildungen aufweisen könnte. Ebenso ist es bei Saturn, und die übrigen liegen zu sehr im Dunkel des Weltraumes.

Die erste Marskarte, wenn man sie schon so nennen will, stammt von Huyghens[WS 4] und Hooke[WS 5] im 17. Jahrhundert; aus der Beobachtung gewisser fester, mit dem Mars sich drehender Flecken bestimmte Huyghens die Länge des Marstags; dieser übertrifft die Länge eines Erdentags, doch nur um 41 Minuten; das Jahr ist etwas weniger als doppelt so lang wie ein Erdenjahr; ein Marsjahr hat 668 Marstage oder 687 Erdentage. Es folgten die Untersuchungen von Maraldi, Bianchini, Herschel, Schröter, Mädler, Secchi, Lokyer, Kaiser, in deren Besprechung hier nicht eingetreten werden soll.


Südliche Halbkugel.               Nördliche Halbkugel.               Gegend um den Aequator.
Der Mars nach Kaiser.


Nahezu zum Abschluß gebracht wurde die Marsforschung durch den schon erwähnten Schiaparelli, den Direktor der Mailänder Sternwarte, der in den Jahren 1877 bis 1888 mit Hilfe eines Merzschen Refraktors von nur 8 Zoll Oeffnung und 400- bis 500facher Vergrößerung eine genaue Marskarte zeichnete, mit Längen- und Breitenbestimmungen auf Grundlage von Mikrometermessungen. In der reinen, mitunter fast ganz dunstfreien Luft Oberitaliens sah er mit seinem kleinen trefflichen Instrument mehr als der Amerikaner Hall mit seinem Riesenfernrohr von 28 Zoll Oeffnung. Ueberhaupt ist bei solchen lichtstarken Beobachtungsgegenständen wie den jüngeren Planeten die Reinheit der Luft von weit höherem Einfluß als die Mächtigkeit der Fernrohre; die letztere ist von besonderem Werth für lichtschwache Objekte wie Monde, Nebelflecke, für die Spektralanalyse u. s. w.

In der Karte von Schiaparelli finden sich Dutzende von – meist der mythologischen Geographie älterer und neuerer Zeit entlehnten – Namen für die Meere, Meerbusen, Seen, Kanäle, Flüsse, Inseln, Halbinseln des Mars. Dies sind natürlich zunächst nur abkürzende Bezeichnungen zur Unterscheidung der hellen, röthlich gelben Flecke gegenüber den dunkleren, stahlgrauen, die man beobachtet. Aber die meisten Forscher – etwa Fizeau und Schmitz ausgenommen – sind überzeugt, daß diese Namen auch in der Geographie des Mars – oder also besser in der „Areographie“ – dasselbe bezeichnen, was man in der Erdkunde darunter versteht. Und diese Ueberzeugung drängt sich geradezu auf bei der Beobachtung der Schneekappen in der Nord- und Südpolarzone des Planeten; ganz deutlich vermag man von Woche zu Woche das Vorrücken bezw. Abschmelzen des Polarschnees zu verfolgen. Und daß die Wassermassen von der Erde aus gesehen, eine dunklere Färbung besitzen müssen, ist einleuchtend; auch auf der Erde erscheint von einem Berge aus ein am Fuße desselben gelegener tiefer See dunkel, weil die wenigsten Lichtstrahlen bis zum Grund des Sees gelangen können, um dort reflektiert zu werden.

„Der Planet Mars,“ sagt Schiaparelli, „ist keine Wüste trockenen Gesteins, er lebt, und die Entwickelung seines Lebens offenbart sich in einem sehr verwickelten System von Erscheinungen, und ein Theil dieser Erscheinungen umfaßt Gebiete von genügender Ausdehnung, um sie den Erdbewohnern sichtbar zu machen; da giebt es eine ganze Welt von neuen Dingen zu erforschen, die in hervorragendem Maße geeignet sind, die Wißbegierde der Forscher herauszufordern.“

Eigentümlich ist die Verteilung von Land und Wasser auf dem Mars gegenüber der Erde. Dort nimmt das Wasser nur die Hälfte der Oberfläche ein, während auf der Erde etwa zwei Drittel dem feuchten Elemente gehören. Es sind eben auf dem einige Millionen Jahre älteren Mars schon größere Mengen der Atmosphäre als feste Bestandtheile in den Gesteinen gebunden.

Ferner finden sich die überwiegenden Ländermassen um den Aequator gelagert. Man erklärt sich letztere Erscheinung in folgender Weise: Durch die Reibung der Marsoberfläche gegen den Weltstaub hat sich im Laufe der Jahrtausende die Umdrehungsgeschwindigkeit verringert;[2] also hat auch die Schwungkraft am Aequator abgenommen. Die Wassermassen werden dort nicht mehr mit der früheren Wucht nach außen getrieben, ebensowenig die Landmassen. Allein die erstarrte Marskruste muß ihre infolge [396] der früheren Schwungkraft einmal angenommene Gestalt beibehalten, nicht so die Wasseroberfläche; es muß also am Aequator das Land mehr hervortreten, und es scheinen sich auf diese Weise die Wassermassen vom Aequator nach den beiden Polen hin zurückgezogen zu haben.

Zeichnungen der Marsoberfläche nach den Beobachtungen Schiaparellis vom September 1877 bis März 1878.

Das Merkwürdigste am Mars sind jedoch seine sogenannten Kanäle: eine Menge Linienzüge von gleichmäßiger Dicke und eigentümlicher Geradheit, nördlich und südlich vom Aequator mehr senkrecht zu diesem, in der Nähe des Aequators mehr parallel mit ihm verlaufend. An eine Zählung ist nicht zu denken: Schiaparelli berichtet, daß ihm in manchen Augenblicken besonderer Klarheit der Luft die Oberfläche des Planeten wie eine verwickelte Stickerei erschienen sei, so vielfach ist sie kreuz und quer von Haupt- und Nebenkanälen aller Art durchzogen. Und was das Rätselhafteste dabei ist, diese Kanäle scheinen sich zu gewissen Zeiten zu verdoppeln, wie man meint, meist zu Ende des Winters und Sommers, um die Zeit der Schneeschmelze am einen oder anderen Pol des Mars; fast neben jedem Kanal geht dann haarscharf parallel ein anderer ähnlicher Kanal her. Und zwar vollziehen sich diese Aenderungen beinahe plötzlich, von einem Tag zum andern, sehr im Gegensatz zu anderweitigen Veränderungen, die Schiaparelli ebenfalls zu beobachten Gelegenheit hatte und die einen langsameren Charakter zeigen.[3] Die Tiefe der Wasserbedeckung ist in den meisten Kanälen unbedeutend; nur wenige, z. B. der „Nil“. weisen durch eine fast schwarze Färbung auf eine größere Tiefe hin.

Der bekannte Astronom Wilhelm Meyer spricht nun hinsichtlich der Verdoppelung der Marskanäle die Ansicht aus, daß diese zweiten Kanäle nur zu Zeiten sich mit Wasser füllen und deshalb nur zu Zeiten für uns erkennbar seien, sowie daß sie verstandbegabten Wesen ihren Ursprung verdanken. Falls an dem einen Pol der Schnee schmelze, somit das betreffende Polarmeer überfüllt werde, ströme das Wasser durch die Kanäle nach dem andern Pol, um dort als Polareis gebunden zu werden. Nur für diese Zeiten des Durchfließen sollen die zweiten, flacheren, höheren Kanäle dienen, um weite Ueberschwemmungen des Landes abzuhalten.

Karte des Mars in Merkators Projektion.

Der Annehmbarkeit dieser Meyerschen Hypothese steht allerdings die beträchtliche Breite der Marskanäle – von etwa zehn geographischen Meilen – recht hinderlich im Wege.

Die stillschweigende Voraussetzung für das vorher Gesagte ist das wirkliche Vorhandensein einer Atmosphäre des Mars. Diese wird aber unzweideutig erwiesen, erstens durch den hellen Saum der Marsscheibe, welcher bei der Annäherung die Fixsterne undeutlich und trübe erscheinen läßt, noch ehe der feste Rand des Planeten selbst sie erreicht hat, und zweitens durch die Wasserstoffspektren in der Spektralanalyse desselben.[4]

Besitzt nun Mars eine Atmosphäre, so folgt mit Notwendigkeit, daß es auch Wasser, Regen, Schnee, Abendrot, Morgenrot, Dämmerung u. s. f. auf ihm giebt. Das Meerwasser wollen einige Forscher etwas blauer in der Aequatornähe als in den mittleren Breiten gefunden haben, infolge der stärkeren Verdampfung und daher des höheren Salzgehalts.

Deutlich sieht man Wolken über die Oberfläche des Mars dahinziehen – oder wenigstens Gebilde, die nicht anders zu deuten sind als durch die Gleichsetzung mit den bekannten irdischen Erscheinungen; sogar die Geschwindigkeit der Wolken wurde schon gemessen. Oefters bemerkt man, daß, nachdem die Wolkenmassen über einem Stück festen Landes verschwunden sind, dieses sich weißlich gefärbt hat: es hat geschneit; und nachdem einige Zeit die Sonne darauf geschienen hat erhalten jene Gebiete wieder die frühere gelblich-rothe Färbung: der Schnee ist geschmolzen. Nothwendig sind die Passatwinde weniger heftig als auf der Erde, wegen der langsameren Umdrehung des Mars um seine Achse; und weit seltener verdecken Wolkenmassen die Ländertheile, da die Atmosphäre des älteren Mars eine geringere Dichtigkeit besitzt als die der Erde; ein klarerer und reinerer Himmel wölbt sich also über die Gefilde jenes Planeten.

Es scheint, daß die den Mars betreffende Witterungskunde weniger verwickelt, leichter zu studieren ist als diejenige der Erde, und manche Forscher vermuten, daß sie geeignet sein dürfte, unter Umständen aufklärende Gedanken zur Vervollkommnung der irdischen Meteorologie beizubringen, die dessen bekanntlich sehr bedürftig ist. In den Zeiten der Sonnenwenden findet sich auf dem Mars, falls auf der nördlichen Halbkugel Verdampfung herrscht, auf der südlichen Verdichtung der Luft, und umgekehrt; in der Zwischenzeit ist die Verdampfungszone am Aequator nach Nord und Süd von zwei Verdichtungsgebieten begrenzt u. s. f.

Ferner bringt es die verhältnißmäßig starke Krümmung der Marsbahn (einer Ellipse, die vom Kreise merklich abweicht, die Sonne im einen Brennpunkt) sowie die Lage der Marsachse mit sich, daß auf der nördlichen Halbkugel der Sommer ganze 76 Tage länger ist als der Winter und umgekehrt auf der südlichen. Und zwar sind auf der nördlichen Halbkugel der lange Sommer und der kurze Winter beide gemäßigt; auf der südlichen Halbkugel der kurze Sommer und der lange Winter beide extrem. Es wurde daher vermutet, daß gegenwärtig auf der südlichen Halbkugel des Mars [397] eine extreme Eiszeit herrsche – vorausgesetzt, daß die bezügliche Erklärung der Eiszeiten die zutreffende ist. Im Unterschied vom nördlichen Kältepol, der im Spätsommer vollständig schneefrei ist, wird es der südliche niemals ganz; im Winter erstreckt sich die Schneekappe des Südpols bis zum 55. Breitegrad herab. Uebrigens fällt auch auf dem Mars der nördliche und südliche Kältepol nicht mit dem eigentlichen „areographischen“ Nord- und Südpol zusammen, ähnlich wie auf der Erde.

Uebersichtskarte des Mars mit den seinen sogen. Kanälen im einfachen Zustande.

Mars besitzt zwei Monde, deren Dasein eigentümlicher Weise schon Kepler vermutete, man weiß heute noch nicht, aus welchem Grund. In einem Brief an Galilei schreibt er 1610: „Ich wünschte, ich hätte schon ein Fernrohr bereit, mit welchem ich Dir in der Entdeckung der zwei um den Mars und der 6 bis 8 um den Saturn kreisenden Trabanten zuvorkommen könnte.“ Wiederholt ist in der späteren Litteratur von der Vermuthung zweier Marsmonde die Rede, bei dem Theologen Derham, dem Philosophen Wolf, dem Pfarrer Schmidt, dem englischen Schriftsteller Swift, bei Voltaire u. a. Aber niemand konnte sie finden. Endlich sah sie als erster der Amerikaner Aseph Hall[WS 6] 1877 mit dem großen Clarkschen Refraktor der Washingtoner Sternwarte. Er berechnete auch ihre Bahnen und annäherungsweise, durch Helligkeitsbestimmung, ihre Größe.

Ihre Namen, „Deimos“ und „Phobos“ („Furcht“ und „Entsetzen“), sind einer Stelle der Ilias (XV, 119) entlehnt, wo die Söhne und Wagenführer des Kriegsgottes so heißen. Ihren unheimlichen Namen zum Trotz sind sie von äußerst harmloser Größe. A. v. Humboldt nennt sie wegen ihrer Kleinheit die „Taschenplaneten“. Der innere Mond Phobos z. B. besitzt eine Oberfläche, etwa halb so groß wie das Fürstentum Lippe. Dort wäre es also möglich, die Reise um die Welt nicht in 80 Tagen, sondern in 8 Stunden bequem auszuführen.

Uebersichtskarte des Mars mit den verdoppelten Kanälen.

Seine Entfernung vom Mars ist nicht viel größer als die Länge des Nils. Wilhelm Meyer bemerkt mit Bezug auf die Marsmonde, man könne sich einbilden, „ein irdischer Astronom, der sich ja überhaupt gewöhnlich dem Himmel um ein Bedeutendes näher glaubt als die übrigen Menschen, müsse, wenn er plötzlich auf den Mars versetzt würde, ganz unwillkürlich mit der Hand danach greifen oder sich ängstlich bücken, wenn der Marsmond Phobos gerade durch den Meridian geht.“

Wegen dieses seines geringen Abstands vom Mars ist von vornherein zu vermuten, daß seine Winkelgeschwindigkeit eine beträchtliche ist; denn wenn eine Kugel an einem Faden befestigt ist und sich mit diesem um das feste andere Ende des Fadens dreht, so wird die Umdrehungsgeschwindigkeit eine um so größere, je mehr wir den Faden verkürzen. In der That zeigt Phobos eine fast unglaubliche Behendigkeit. Während Mars selbst schon mit einer Geschwindigkeit, die weit größer als die einer Büchsenkugel ist, durch den Weltraum stürmt, läuft jener ihn stets begleitende Mond außerdem noch jeden Tag fast dreimal um ihn herum. Er geht also, da Mars sich in derselben Richtung dreht, ungefähr zweimal an demselben Tag auf und zweimal unter. Und zwar wird er für etwaige Marsbewohner wegen seiner Geschwindigkeit nicht im Osten, wie alle anderen Gestirne, sondern im Westen aufgehen und stets den Gestirnen entgegen laufen. Man erkennt die Richtigkeit dieser Behauptung sofort durch eine leichte Ueberlegung, wenn man berücksichtigt, daß unser Mond für uns am Himmel stille zu stehen schiene, falls er jeden Tag einmal um die Erde liefe, und rückwärts zu gehen, falls er eine noch größere Winkelgeschwindigkeit besäße. Dabei wechselt der Marsmond Phobos täglich beiläufig zweimal von Vollmond zu Neumond und giebt fast täglich den Anblick einer Mondfinsterniß. – Der andere Mond, Deimos, ist etwa dreimal so weit vom Mars entfernt und geht erheblich langsamer.

Da der Mars zwei Monde besitzt, müßte es auf ihm zwei Arten von Monaten geben; dabei ist ein Erdentag etwa gleich drei Phobosmonaten. Phobos erscheint vom Mars aus wie ein Stern erster Größe; umgekehrt erscheint vom Phobos aus Mars so groß, daß er den sechzehnten Theil des ganzen Himmels bedeckt. –

Die eigentümliche Thatsache, daß die beiden Marsmonde trotz eifrigen Suchens erst in neuester Zeit gesehen wurden, veranlaßte den französischen Astronomen Du Bois zu der Vermuthung, es möchten dieselben überhaupt nicht von Alters her den Mars umkreist haben, sondern unechte Söhne desselben sein. Durch die Anziehungskraft des Mars hätten sie sich aus dem nahen Planetoidenring hier herein verirrt, seien also aus dem Schwarm des „Planetoidenproletariats“ von Mars unlängst gestohlen worden. Diese Ansicht von Du Bois wurde in neuester Zeit von Poincaré durch Rechnung widerlegt.

Ob Menschen und Thiere auf dem Mars wohnen?

Gesagt kann nur werden, daß erstens die äußeren Bedingungen für organische Entwickelung auf diesem Planeten vorhanden zu sein scheinen, und zwar wären sie schon früher als auf der Erde dagewesen; und zweitens, daß niemals das Dasein oder Fehlen menschenähnlicher Wesen auf dem Mars wissenschaftlich wird nachgewiesen werden können.

Denn es läßt sich leicht berechnen, wie groß ein Gegenstand von bestimmter Gestalt, z. B. ein quadratischer Würfel, auf irgend einem anderen Weltkörper sein müßte, sollte er von der Erde aus mit 500facher Vergrößerung als solcher wahrgenommen werden können. Auf dem Erdmond müßte ein Gegenstand 100 Meter groß sein; es wäre also eine Leichtigkeit, Büffelherden, Heeresmassen dahinziehen, [398] einen Eiffelthurm von Woche zu Woche sich erheben, eine Kanalbrücke schlagen zu sehen; allein dort oben ist offenbar alles öde und leer – der Mann im Mond ist schon lange todt. Auf der Venus müßte die Länge einer Quadratseite 11/3 Meilen betragen, selbst wenn gewisse andere Verhältnisse günstiger wären, als sie sind; auf dem Mars aber 2 Meilen, auf dem Jupiter 22 Meilen u. s. f. Dabei ist, wie in der Physik üblich, vorausgesetzt, daß für ein scharfes Auge ein weißes Quadrat von einem Meter in der Seite auf schwarzem Grund bei einer Entfernung von einer Meile als ein heller Fleck erscheint, der gerade noch von einem gleichgroßen Kreis unterschieden werden kann; von den übrigen Einflüssen dagegen ist hier näherungsweise abgesehen.

Auch von der Verbesserung und Vergrößerung der Fernrohre ist nichts für diese Zwecke zu erhoffen. Wie schon bemerkt, ist in dieser Hinsicht die Reinheit und Klarheit der Luft das Wichtigste. Sehr viel mehr, als Schiaparelli sah, wird wohl auch von der in der reinen Luft Kaliforniens in gewaltiger Höhe erbauten Lichtsternwarte aus nicht gesehen werden. Jedenfalls werden Werke menschenähnlicher Wesen niemals mit Sicherheit als solche festgestellt werden. Fraglich ist sogar, ob es gelingen wird, über das Räthsel der Verdoppelung der Marskanäle, sowie die sonstigen auf dem Mars vor sich gehenden Veränderungen einigen Aufschluß zu erhalten. Und wenn, so wird noch längere Zeit darüber vergehen müssen. Denn für die Beobachtung ergaben sich Schwierigkeiten aller Art. Die Verdoppelung der Kanäle geht verhältnißmäßig schnell vor sich; nun kann allerdings derselbe Punkt des Planeten 8–10 Abende nach einander beobachtet werden, allein dann in den gleichen Stunden 38 Tage lang nicht mehr und, wenn das Wetter ungünstig war, zwei Monate lang nicht mehr. Auch muß der Mars genügend nahe sein (er kann der Erbe im günstigsten Fall auf 71/2 Millionen Meilen nahe kommen); die Oppositionen, die Stellungen, in denen Mars der Sonne gerade gegenüber steht, bieten sich aber nur in Zwischenräumen von 26 Monaten dar; und um den Planeten Mars in allen seinen Jahreszeiten und sonstigen Verhältnissen zu studieren, ist ein 16jähriger Cyklus von Oppositionen nothwendig.

Beispiel für die zeitliche Veränderungen der sogen. Marskanäle.

Trotz solcher nüchternen Ueberlegungen lassen sich indessen die Hypothesenschmiede nicht beirren, alles mögliche hinsichtlich des Mars zu behaupten.

Zum Beispiel: da Mars von der Sonne weiter entfernt ist als die Erde, folglich von weniger Lichtstrahlen getroffen wird, muß die Flora und Fauna mattere Farben zeigen. Wegen des langen und strengen Winters auf der südlichen Halbkugel sind die Thiere stark behaart. Und da Mars andererseits älter als die Erde ist, so muß die Kultur auf diesem Planeten eine vorgeschrittenere sein; es giebt folglich z. B. keine Soldaten mehr, der ewige Friede ist bereits eingetreten. Ferner, 100 Erdenkilo wiegen auf dem weniger dichten Mars nur 38 Kilo; mit demselben Kraftaufwand wird also dort eine viel größere Arbeitsmenge geleistet werden können; ein Mann kann einen schweren Wagen ziehen; er kann mehrere Meter hoch springen; nur der Tod durch Ertränken ist dort sehr erschwert, da jedermann von selbst schwimmen kann; ja, sagt ein Schriftsteller jener Sorte, da die Schwere auf dem Mars geringer ist, „wird sich der Gang der Marsbewohner von dem Flug der Vögel nicht beträchtlicher unterscheiden als der flatternde Gang der Strauße“ u. s. f.

Mit demselben Recht dürfte z. B. jemand den Satz aufstellen und beweisen, die Marsbewohner müßten nothwendig 5 Hände und 17 Füße besitzen. Mit derartigen Ueberlegungen schreibt man spannende naturwissenschaftliche Romane nach Art von Jules Verne, allein die Wissenschaft, die auf Beobachtung und strengen Schlüssen beruht, hat damit nichts mehr zu thun. Die Ansicht des bekannten Philosophen Wolf aber, die Umdrehung der Planeten um ihre Achse sei von Gott dazu angeordnet, damit dieselben ganz, nicht bloß zur Hälfte, von Menschen bewohnt werden könnten, woraus mit Notwendigkeit folge, daß die Planeten mit Rotation, z. B. auch Mars, wirklich Menschen beherbergen, diese Ansicht zu erörtern, pflegen die Theologen den Mathematikern und die Mathematiker den Theologen zu überlassen.

Was endlich die Stellung des Mars unter den Planeten anlangt, so ist er der erste der sog. „oberen“ Planeten, der Größe nach der siebente – sein Durchmesser ist 0,54 Erddurchmesser – und gemäß der kantischen Theorie dem Alter nach der sechste Sohn der Sonne, jünger als Jupiter und der Planetoidenring, älter als die Erde und noch älter als die Venus. Und zwar sollen nach den Berechnungen eines bekannten Physikers die einzelnen Planeten je um 5 Millionen Jahre im Alter von einander verschieden sein, natürlich ein Ergebniß von sehr geringem Werth, da die dabei benützten Voraussetzungen äußerst unsicherer Natur sind.

Von dem umschwingenden ungeheueren Gasball löste sich einst ein Ring um den anderen ab, der Ring zerbrach, und von den Bruchstücken zog das größte die kleineren an sich (ausgenommen beim 5., dem Planetoidenring); die Reste sind die Planeten mit ihren Monden. So kam in sechster Linie die Reihe an Mars; dann zog sich die Sonne weiter zusammen und aus einem weiteren Ring bildete sich die Erde mit ihrem Mond oder, wie vielfach vermuthet wird, früher mit ihren zwei Monden u. s. f.

Daß in der That die Erde dem Alter nach in der Mitte zwischen Mars und Venus steht, zeigt sich wohl am deutlichsten an der Beschaffenheit der Atmosphären. Die Marsatmosphäre hat sich schon erheblich verdünnt. Die Venus dagegen ist von einer fast undurchdringlichen Wolkendecke überzogen, nur hie und da gelingt es, auf die Oberfläche selbst durchzublicken; dort herrschen wohl noch Zustände wie einst auf der Erde zur Steinkohlenzeit: Treibhauswärme, üppiges Gedeihen, wenig verschiedenartiges organisches Leben.

Einst wird vermutlich der Mars auch seine zwei Monde noch an sich ziehen und dadurch auf einige Zeit neue Wärme, neues Leben gewinnen. Und dann? – Der Leser gestatte mir, in derlei Ueberlegungen noch etwas fortzufahren, die allerdings nicht mehr der Rechnung, sondern nur noch ziemlich unbestimmten physikalischen Schlußfolgerungen unterliegen. – Dann wird Mars, nach dem er auch diese Wärme noch ausgegeben hat, erkaltet und verödet wie jetzt unser Mond einige Jahrmillionen oder -billionen um die Sonne kreisen, bis er dieser vollends zum Raube wird wie auch die übrigen Planeten. Jedesmal neue Perioden des Lebens und Gedeihens. Und dann? – dann wird die Sonne selbst einmal erkalten müssen im eisigen Weltraum, trotz aller Wärme, die sie besitzt und durch Zusammenziehung, Meteoritenfall u. s. f. neu gewinnt; und sie wird in ähnlicher Weise einem größeren Centralkörper unseres Milchstraßensystems (nach Kant wäre es der Sirius) mehr und mehr sich nähern.

Schließlich am Ende wird – dies ist wenigstens die viel besprochene Hypothese des englischen Physikers Thomson, auf Grund des zweiten Carnotschen Satzes der mechanischen Wärmetheorie – am Ende wird das ganze Weltall den "Wärmetod" sterben. Da alle Wärme nur von Körpern höherer Temperatur zu solchen niederer Temperatur übergehen kann und nicht umgekehrt, so wird alle Energie, Wärme, Licht, Elekricität, Magnetismus sich schließlich ins Unendliche verflüchtigen; allgemeine Stoff- und Energiezerstreuung wird das Ende sein.

Und Zöllner glaubt vor diesem Schicksal das Weltall dadurch retten zu müssen, daß er annimmt, unser Raum sei in Wirklichkeit nicht unendlich, sondern ein endlicher gekrümmter Raum: alle geraden Linien seien in Wahrheit sehr große Kreise, die folglich wieder in sich zurückführen; wenn an einer Stelle Welten vergehen und die Trümmer sich trennen, so müssen diese an einer anderen Stelle des Raumes zu neuen Welten zusammentreffen.

Vor solchen Hypothesen wie den eben genannten hätte wohl eine nüchterne Philosophie bewahren können. Für das Weltall selbst giebt es keine Raumbestimmung, da die Orientierung fehlt; und ebenso giebt es für das Weltall keine Zeit, da die Uhr fehlt; wir messen ja die Zeit selbst erst nach scheinbaren Bewegungen von Himmelskörpern, denen wir erst noch willkürlich eine gleichförmige Bewegung unterschieben, abgesehen davon, daß die Naturgesetze nicht in unendlicher Allgemeinheit angewendet werden dürfen.

Die Naturgesetze sind doch schwerlich etwas anderes als Näherungsformeln, Zusammenfassungen der bisherigen in beschränkten Kreise gewonnenen Beobachtungsergebnisse.

Also auf diese letzten Fragen giebt die Naturwissenschaft keine Antwort mehr.

[399]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Mein Dienst auf der „Elisabeth“.

Von H. Rosenthal-Bonin.0 Mit Zeichnungen von C. Grethe.


Segelschiff, Segelschiff, du bist doch das einzig richtige, echte, wahrhafte Fahrzeug der See! – Da fährt er dahin, solch ein rußig schwarzer Dampfer, ein Eisenkoloß, eine Eisenbahn im Meere mit der Seele von Feuer, gespeist mit Kohlen, gerade, scharf seinen Weg, und die Matrosen auf dieser Seefahrmaschine sind Arbeiter, aber keine Seeleute. Wie schwebt das Segelschiff auf den Wellen, einem Vogel gleich mit den weißen Leinwandflügeln, des Meeres gewaltiger Athem treibt es, die Welle hebt es, es ist eins mit den großen Wassern, und der Schiffsmann, der dies Fahrzeug bedient, kämpft mit Wind und Wetter, überlistet sie, benutzt mit scharfem Verstand ihre Kräfte und tanzt so seinem Ziele zu – welche Lust, mit dem Winde zu fliegen, wenn alle Leinwand straff wird, vollgespannt ist, welch ein Behagen auch, den Gegenwind zu fangen, damit er das Schiff im kühnen Zickzack vorwärts treiben muß, seinem Kurs nach! Da gewinnt der Matrose der Luft und dem Meere die bewegende Kraft ab mit Seemannskenntnissen und Seemannsarbeit – das ist ein köstliches Wetten und Wagen und Rennen und Jagen auf schaukelnden Wogen; er ist kein willenloser Diener eines rauchigen, mit Feuerkraft unablässig geradeaus das Meer durchschneidenden Dampfers.

Diese Gedanken machte ich mir, als ich im Hafen von Genua saß und auf das bewegte grünblaue Meer hinaussah, wo ein schmucker Dreimaster im grellen Februarsonnenschein eben wendete, um in den Hafen hereinzukommen.

Meine Betrachtungen waren etwas wehmüthig angehaucht, denn ich hatte mein Schiff verloren, das in Malta in Dock gehen mußte – und sehnte mich, wieder Schiffsplanken unter den Füßen zu haben.

Das wollte sich jedoch nicht so leicht machen, weil ich danach strebte, Dienst auf einem guten Segler zu erhalten, und solche sind in unserer Zeit der Schnellbeförderung selten – Dampferstellen gab es in Hülle und Fülle, aber nachdem ich jetzt ein Jahr den Kohlenrauch geschluckt, hatte ich davon genug, und mein Herz hing an einem schönen, sauberen, luftigen Segler.

Vierzehn Tage trat ich schon das Pflaster der unruhigen Stadt, alle Schenswürdigkeiten hatte ich unfreiwillig pflichtgemäß abgemacht, und nun saß ich Tag für Tag am Hafen und sah Schwefel ausladen und Rothholz aufspeichern und Körbe voll Orangen verstauen und warf ab und zu ernsthafte Blicke auf das Meer hinaus, ob kein glückverheißendes Segelschiff zu mir hereinfahren würde. Genua ist für Leute, die Langeweile haben, ein theurer Boden, und mein Geld ging auf die Neige – noch acht Tage würde ich mich durchschlagen können – dann mußte ich mich verheuern. Zu diesem Punkt in meinen Erwägungen gelangt, warf ich einen wahren Haßblick auf einen braunroth und schwarz angemalten englischen Dampfer – da erschien das Segelschiff, welches ich vorhin draußen wenden gesehen, zwischen den Molen – die Segel schlappten und wurden festgemacht und ein kleiner Bugsierdampfer führte das schmucke Fahrzeug nach dem Platze der Segelschiffe.

Ich schlenderte dorthin. – Was war das für ein schlankes, festes, gutes Schiff, sauber und klar wie eine Jungfer – die Mannschaft arbeitete fleißig, sie brachte das Großboot zu Wasser und machte die Lufken frei.

Das Schiff stand. Ein nordisch aussehender, schlanker, junger Kapitän fuhr mit dem Lotsen und einem Matrosen in einem kleinen Boote nach dem Quai, dem Hafenamte zu.

Ich zählte die Köpfe der Mannschaft. Zwölf waren es – das ist genug für den Segler, er käme auch mit zehn aus – ich seufzte und ging mißmuthig davon nach dem Zollamte, um dort, gleich gestern und vorgestern, gedankenlos zuzuschauen, wie Sardinenfäßchen auf ihren Inhalt untersucht und mit dem Steuerzeichen versehen wurden.

Plötzlich weckten mich heimische Laute aus meiner Versunkenheit. „Dat gheit nich,“ ertönte es scharf und entschieden hinter mir. Was dem Aelpler sein Herdengeläut, das waren diese Worte mir, die mich so anheimelnd an Hamburger Rauchfleisch und Bremer Grützwurst erinnerten.

Ich wende mich um und sehe den Kapitän des Seglers in lebhafter Verhandlung mit dem dickköpfigen rothgesichtigen Matrosen. „Dat gheit nich,“ rief der Kapitän von neuem. „Schon wieder Urlaub – immer Urlaub – dat gheit nich, Stöwer!“

„Na, denn gheit et nich,“ entgegnete darauf ingrimmig der Matrose. „Et mag woll sin, dat ick nich mehr will, Kaptein.“

„So sind wir geschiedene Leute,“ sprach jetzt der Kapitän. „Es thut mir leid, Stöwer, aber Ihr könnt und wollt Euch nicht in die Ordnung fügen; so versucht es wo anders – ich wünsche Euch Glück.“

„Min Book möt ick hawwen,“ grollte der Matrose.

„Das sollt Ihr haben! Kommt auf die Hafenkanzlei – dort zahl’ ich Euch auch gleich aus und schreibe Euer Zeugniß ein.“

Die zwei Männer setzten sich in Bewegung und kamen dicht an mir vorbei.

Der Kapitän blickte mich an, unsere Angen trafen sich, und ich wußte, daß ich mit diesem Seemann schon einmal irgendwo zusammengetroffen war.

Der Kapitän mußte die gleiche Entdeckung gemacht haben, denn er stand still und grüßte mich.

„Ich sollte Sie kennen, Mann,“ redete er mich an.

„Wir haben uns schon gesehen, Kapitän,“ gab ich zurück. „John Ellis – Mississippi“ – stieg mir eine Erinnerung auf, und ich sprach diese Worte aus.

„Dort war’s, Mann, und Sie haben mir wacker beigestanden,“ ließ sich der Kapitän vernehmen. Sein Auge überflog meine Seemannskleidung. „Kann ich was für Sie thun?“ fragte er freundlich.

„Ich bin ohne Schiff, Kapitän –“

„Gut,“ unterbrach er mich. „Ich habe mit diesem Manne mich noch auseinanderzusetzen – das dauert ein Viertelstündchen, warten Sie hier auf mich, wir können dann über die Sache weiter reden.“

Darauf winkte der Kapitän dem Matrosen, und beide gingen über die schmutzigen Steinplatten zu dem düsteren, verräucherten, kleinen Steinhause, der Kanzlei. Ich schaute zu dem Segler hinüber, dessen saubere Masten unter dem Takelwerk der Griechen und Lateiner leuchtend hervorstachen.

Da war der Kapitän schon fertig und kam auf mich zu.

„Der Mann hat schon lange nicht mehr gut gethan,“ begann er, mit einer eigenthümlich kurzen Handbewegung über seinen blonden Kinnbart herunterstreichend. „Ich bin ihn auf gute Manier losgeworden – mag’s ihm anderswo besser gefallen! Bin Kapitän Aarhus, Brigg ‚Elisabeth‘ – Bremen, Bahia, Montevideo – und weshalb sitzt Ihr hier fest, Mann?“

„War ein Jahr auf dem ‚Washington‘, Red Star Line – Antwerpen, San Francisko – Schiss auf La Valette in Dock – hab’ die Dampfer satt und möchte einmal wieder mit Segel fahren.“

Ein scharfer, aber sonnenheller Blick aus den blauen Augen des Kapitäns traf mein Gesicht.

„Papiere?“ fragte er.

[400] „In Ordnung. Hier!“

„Dann kann etwas daraus werden. Arbeit giebt’s bei uns genug, Heuer – die gewöhnliche. Ich fahre auf eigene Rechnung und bin kein Millionär – ich geb’s einfach.“

„Das Schiff gefällt mir!“

„Gut. So wollen wir die Sache ins Reine bringen!“

Eine Stunde später war ich wohlbestellter zweiter Steuermann auf der Brigg „Elisabeth“ und für eine Fahrt nach den „Brasilianischen Wassern“ geheuert. –

Der Koch.

Meine erste Begegnung mit dem Kapitän hatte unter etwas sonderbaren Umständen stattgefunden.

Es mag jetzt ungefähr zwei Jahre her sein, da fuhr ich den Mississippi hinauf von New-Orleans nach St. Louis auf einem jener ungeheuerlichen zwei Stockwerk hohen Dampfboote, das Möbel, zusammenlegbare Häuser und Maschinentheile zu den waldumgebenen Ortschaften des Riesenstromes führte und auf der Rückreise unzählige Ballen Baumwolle dafür mitnahm.

Das Schiff, der „John Ellis“, war stark besetzt – Reisende von allen Nationen und allen Berufsarten – der Hauptsache nach jedoch Amerikaner.

Mir fiel unter dem bunten Menschengemisch ein junger Mann auf mit stillem und doch dabei scharf geschnittenem Gesicht, der ganz oldenburgisch aussah und sogar noch hier in dieser fremdartigen Umgebung Kleider anhatte, welche die naive, aber solide Dorfschneiderkunst meines Vaterlandes ungemein auffallend zur Schau trugen.

Der junge Mann spähte eifrig den Fluß hinauf und widmete der Führung des Bootes große Aufmerksamkeit.

Die große Anzahl uns entgegenschwimmender Baumstammgewirre war für das Schiff oft eine wirkliche Gefahr, aber daran dachte kein Mensch, die Kapitäne schwatzten, tranken und gaben im letzten Augenblick Ausweichbefehle – jedesmal entgingen wir mit knapper Noth einem Zusammenstoße. Da bemerkten wir einen Dampfer, ähnlich dem unseren, hinter uns, rauschend und fauchend kam er uns näher, und jetzt begann eines jener unsinnigen Wettfahren, wie sie auf den amerikanischen Strömen üblich sind. Die Passagiere bildeten sofort Gruppen – man fing an, hoch zu wetten – Parteien und Gegenparteien standen sich gegenüber, man rief den Heizern Belohnungen hinunter – die Kapitäne hielten sich scheinbar neutral – eine fieberhafte Aufregung bemächtigte sich aller auf dem Schiffe.

Die Touristen und anständigen Reisenden, welche merkten, was geschah, protestierten und beklagten sich bei den Schiffsbeamten des „Ellis“. Man gab ihnen keine Antwort.

An den schweigenden Waldufern vorbei auf den rauschenden Wassern tobte unser Schiff daher, daß es nur so dröhnte und rasselte und das Feuer aus den Schornsteinen in Funkenströmen über das Schiff schoß. Der andere Dampfer fuhr neben uns, oft mit seinem Rauch uns ganz umhüllend.

Die Aufregung stieg, die Wetten wurden wilder, das Murren der Protestierenden drohender. Plötzlich ein entsetzliches Pfeifen und Zischen – der Dampf strömte vom „Ellis“ aus und unser Schiff ging schaukelnd ruhiger, indeß der andere Dampfer an uns vorbeibrauste.

Ein wüthendes Geschrei ertönte aus dem Munde der Wettenden – alles stürzte zu dem Feuerraum – dort unten schrie und zankte man ebenfalls, und drei Heizer schleppten und stießen den jungen Mann in der ländlichen Kleidung aus dem Maschinenraum hinauf aufs Deck. Er sei plötzlich hinunter geeilt, habe den Maschinisten über den Haufen gerannt, das zugezogene Ventil aufgerissen und zwei Dampfhähne geöffnet, riefen die Heizer in das Stimmengetöse.

Eine augenblickliche Pause der Verblüffung entstand und in dieser rief der junge Mann mit durchdringender Stimme und in gutem Englisch:

„Ja! Das that ich, denn hätte ich eine Minute gezögert, der Manometer stand auf 98, so wäre das Schiff in die Luft geflogen.“

Ein wildes Brüllen und Fluchen der um ihre Wette Betrogenen antwortete auf diese Erklärung, und ein Dutzend roh aussehender Riesenkerle stürzte sich auf den Kühnen, packte ihn und zerrte ihn an das Geländer, um ihn über Bord zu werfen. Da schrie ich mit fast übermenschlicher Kraft: „Wer dem Mann danken will, daß er unser Leben gerettet hat, der stehe ihm bei!“ und sofort bildete sich eine Partei von Touristen und andern Herren, die auf meine Seite traten. Wir warfen uns auf die Angreifer und versuchten, den jungen Mann aus ihren Händen zu befreien. Es war eine wüste Scene, man riß und schlug sich – endlich kam der erste Kapitän mit einer Anzahl Schiffsbeamten und trennte die Ringenden. Eine lautlose Stille trat ein – man hörte nur neben dem Zischen der Maschine das keuchende Athmen der Nächstbetheiligten.

„Stand der Manometer wirklich auf 98?“ fragte der Kapitän den Maschinisten.

„Ja!“ antworteten statt dessen die Heizer.

„Dann hat der Mann recht gethan und er hat unser Leben gerettet,“ entschied der Kapitän. „Wir sind ihm großen Dank schuldig, und ich lade den Herrn zu einem Glase Toddy in meine Kajüte ein.“ Damit nahm er den wachsbleichen jungen Mann beim Arm und ging mit ihm nach dem hinteren Schiffsraum.

So zog sich der würdige Schiffsleiter schlau aus der Klemme und brachte den Fremden in Sicherheit, denn die tückischen Blicke einer Anzahl Kentuckier Maishändler boten keine gute Bürgschaft für die Wohlfahrt des entschlossenen muthigen Passagiers. Aus diesem Grunde sah ich auch den Mann auf dem Schiffe nicht wieder. Ich verließ das Boot in St. Louis. Er fuhr wohl weiter. Und heute ward er auf so wunderbare Weise mein Kapitän auf der „Elisabeth“. Es ist eben kein Beruf so reich an seltsamen, märchenhaften Fügungen des Schicksals als der des Seemannes. –

Mein Zusammentreffen mit Kapitän Aarhus in Genua fand am Sonnabend statt, am Montag sollte ich meinen Dienst antreten.

Sonntag früh schon erschien ich in meinem schönsten Staat an Bord der „Elisabeth“, um mir meine neue Heimath anzusehen und mit der Bemannumg Bekanntschaft zu schließen.

Ich fand die „Elisabeth“ als ein überaus fest und stark gebautes nordisches Fahrzeug, von jener Schlankheit, die das Entzücken jedes Seemanns hervorruft. Mit diesem prächtigen Wesen von Schiff muß man wie ein Pfeil die Wogen durchfliegen, dem kann kein Sturm und Wetter etwas anhaben. Es bietet keine großen Flächen; alles ist von eisenfestem Eichenholz. Es kann ausweichen und durchschneiden, und die Maste mit den Segeln stehen so wohlproportioniert da, als hätte Gott Neptun selbst das Kunstwerk ausgeklügelt.

So sprach mein Herz bei der Besichtigung des Schiffes. Der Kapitän rief die Mannschaft zusammen, berichtete, daß Wilm Stöwer freiwillig die „Elisabeth“ verlassen habe und ein alter Bekannter von ihm, dem Kapitän, – und hier erzählte er in wenigen kurzen Sätzen unser Erlebniß auf dem „John Ellis“ – in meiner Person an dessen Stelle getreten sei. „Nun wird wohl mehr Friede und gute Kameradschaft auf der ‚Elisabeth‘ wohnen,“ schloß er seine Ansprache.

So war ich vorgestellt und versammelte die Mannschaft zu der üblichen Flasche Schnaps um mich. Die Leute gefielen mir

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In die Wanten.
Nach einer Zeichnung von C. Grethe.

[402] sammt und sonders gut. Da war zunächst der erste Steuermann, ein alter, wetterfester, bärtiger Seebär, dem man es ansah, daß er seit einem Menschenalter wohl auf allen Meeren gefahren war – dann zwei Holländer, grobe, einfache Gesellen mit tüchtigen Arbeitsfäusten, ein Schiffsjunge mit ängstlich spähenden kleinen Augen und einem riesigen Brotkaumaul; die übrigen alles Inselfriesen, wie der Kapitän auch, wortkarge, arbeitsame Leute mit scharfen, vorsichtig beobachtenden, hellen Augen. Auch den Schiffskoch lernte ich kennen, einen ehemaligen Schneidermeister aus Budjadingen – mit ziemlich kahlem Kopf und sehr spitz zulaufendem Kinn, dessen volle Lippen mir sofort großes Vertrauen zu seiner Kochkunst einflößten. Er hörte auf den schönen Namen Spia Tjaden. Zu meiner Ueberraschung erfuhr ich, daß wir auch eine Dame an Bord hätten, welche die ganze Reise mitmache – nämlich die Frau des Kapitäns, die Tochter eines sehr reichen Reeders in Bremen, der aber nichts hergebe, weil er gegen diese Heirath mit einem armen Kapitän gewesen. Die Geschichte sei sehr eigenthümlich zugegangen.

Das theilte mir in verschiedenen Stücken der erste Steuermann – er hieß Christian Poppinga – mit, der eine besondere Zuneigung zu mir an den Tag legte. So war ja auch Romantik hier auf dem Schiff. Ich war sehr neugierig, die Dame zu sehen; sie befand sich am Lande, Einkäufe zu machen.

Montag und Dienstag sollte es ans Löschen der Farbwaren gehen, dann war zwei Tage große Schiffswäsche, ein Tag völlig freier Urlaub und Sonnabend hieß es, Blechwaren einladen für brasilianische Häfen.

Das war der Arbeitsplan für die nächste Zeit.

Am Montag kam ich schon um Sonnenaufgang an Bord und fleißig steuerte ich bald breite, mit Fässern vollbeladene Ausladebarken von der „Elisabeth“ an den Zollamtsquai, wo ich noch vorgestern so mißmuthig gestanden hatte, und freute mich der tüchtigen Arbeit, die es gab.

Die Fässer waren schwer und nicht leicht aus den Barken ans Land zu karren. Gegen Mittag schon glänzte ich im schönsten Roth, Blau, Grün und Orange wie ein Orinoko-Papagei, denn die Fässer hatten bei der Fahrt einige Male gerollt und stäubten.

Zur festgesetzten Zeit wurden wir fertig, aber die Frau Kapitän hatte ich noch immer nicht zu Gesicht bekommen, sie wohnte während unseres Aufenthaltes hier im Gasthof. Sonnabend kamen die Blechwaren; sie waren nicht schwer, nahmen jedoch einen riesigen Raum fort, und wir mußten wahre Architektenkünste anwenden, um die Kisten mit Gießkannen, Bechern, Salatschwenkern, Kochtöpfen und Schaumlöffeln im Schiffsrumpf unterzubringen. Bis Mittwoch früh war alles verstaut und festgemacht – dann kamen noch ein paar Kisten voll Citronen und Orangen für eigenen Gebrauch, und Donnerstag früh mit den Wassertonnen die Frau Kapitän, eine hochgewachsene schöne Dame mit klugen, offenblickenden, blauen Augen und einem festen kleinen rothen Mund in dem blassen Gesicht.

Der Kapitän stellte sie mir vor. „Sie heißt Elisabeth wie mein Schiff,“ sprach er scherzend, „und sie ist oft eifersüchtig, wenn ich sage: ‚Erst kommt Elisabeth, das Schiff, und dann Elisabeth, die Frau‘ – Sie werden mir darin Recht geben.“

„Ja, Madame,“ antwortete ich – „das Schiff geht vor, denn das ist uns Mutter und Vater, es ist der Boden, auf dem wir stehen, Haus und Heimath, und giebt uns Arbeit und Nahrung.“

„Da hörst Du einen richtigen Seemann reden!“ sprach der Kapitän lachend zu Frau Elisabeth.

„Ja, Ihr seid alle so!“ antwortete die junge Frau schmollend, und mit einem Seitenblick auf ihren Mann fuhr sie in neckendem Tone fort: „Erst thut Ihr wie unsinnig, bis Ihr uns habt, dann benennt Ihr ein Schiff nach uns, und nun heißt’s – ‚erst das Schiff und dann die Frau!‘ Sie werden ledig sein?“ fragte sie mich.

„Ich stehe ganz allein.“

„Das ist für einen Seemann eigentlich das Beste,“ warf sie hin und sah dabei verliebt ihren Gatten an, der ziemlich pomadig das Scharmützel über sich ergehen ließ.

„Sie haben einst meinem Mann einen großen Dienst geleistet,“ wandte sie sich jetzt unmittelbar an mich. „Er erzählte es mir gestern, ich danke Ihnen noch nachträglich dafür. Ich freue mich, daß wir einen so tapferen Mann auf dem Schiff haben“ – und damit war die Vorstellung beendet und die Arbeit begann. –

Die Anker wurden gelichtet – der Bugsierdampfer mit dem Lotsen kam, Segel wurden gesetzt und langsam schwebten wir aus dem Hafen. Als wir auf die Höhe von Cap Porto Fino kamen, setzte der Wind ein, Schlepper und Lotse verließen uns. Die „Elisabeth“ blähte die Segel, und knarrend und rauschend fuhren wir mit einem guten Nordost den in blaßblauem Duft daliegenden Bergen Korsikas entgegen. Sobald wir aus dem Schutz der Küste waren, wurde die Luft rauh und winterlich. Wir nahmen den Kurs nach West und hin mit vollem Winde schoß die „Elisabeth“ über das blaue, glasklare, sonnenglitzernde Meer, daß das Wasser vorn am Bug hoch aufspritzte und wir am Abend die Leuchtfeuer von Korsika an der Leeseite hatten. Als der Nebel am nächsten Morgen sich hob, hielten wir mit günstigem Winde auf die Balearen zu, um durch die Meerenge von Gibraltar den Atlantischen Ocean zu gewinnen.

Die „Elisabeth“ täuschte die Erwartungen nicht, welche ich auf sie gesetzt hatte, sie war ein Segler ersten Ranges, schlingerte nie und schnitt die Fluth wie ein Messer. Sie gehorchte dem Steuer auf eine Hundertstel Drehung, und die schwere Arbeit, welche jedes Segelschiff verursacht, war hier ein Vergnügen.

Als die spanische Küste in bläulichem Dämmer vor uns auftauchte, gab es ein Märzgewitter, und ein paar Tage tanzten wir ziemlich unangenehm in Schnee, Regen und Nebel umher, ohne die Einfahrt in die Meerenge erzwingen zu können. Dann aber kam wieder ein schöner, lichter Tag mit steifem Ost-Süd-Ost, und nun sausten wir dem Riesenfels Gibraltar entgegen, den die Engländer mit Kanonen gespickt haben. Abends war ein wunderbarer Sonnenuntergang. Im tiefsten Violett lag die Küste von Afrika da, in goldenem Purpur die Felsen Spaniens – das Meer war rosenroth – und umhaucht, umweht von diesem sanften warmen Schimmer fuhren wir wie verklärt in den Paß ein. – Der Wind flaute ab und wogend schaukelten wir sanft und still mit der Strömung.

Am nächsten Morgen begrüßten uns die gewaltigen, blauen, gleichmäßig anrollenden Wogen des Oceans. Der Golfstrom mit seinen Frühlingswinden nahm die „Elisabeth“ auf und wir näherten uns Madeira. Dort wollten wir anlegen, um frisches Wasser und junge Gemüse aufzunehmen.

Nach drei Tagen kreuzte unsere schmucke „Elisabeth“ auf der Höhe von Funchal; zwei riesige blaue Bergspitzen ragten aus dem Meer zum Himmel, azurblau war dieser, azurblau das Meer, und zwischen diesem und den aufragenden Höhen lag eine Kette schneeweiß schimmernder, winzig kleiner Häuschen wie eine Perlenschnur am Fuß der Gebirge hingelegt.

Die Häuser wurden deutlicher, größer, die Berge mächtiger, zeigten stellenweise üppige Vegetation und waren übersät mit hellleuchtenden Villen. Ein paar Stunden später schaukelte die „Elisabeth“, geführt von einem rothmützigen Lotsen, in den Hafen von Funchal hinein.

Der Aufenthalt der „Elisabeth“ hier war auf einen Tag berechnet; wir nahmen frisches Wasser und Früchte aller Art ein, tranken abwechselnd Limonade und schweren gelbröthlichen Wein und fuhren am nächsten Morgen in den freien Ocean hinaus.

Unser Kurs richtete sich jetzt zwischen den Kanarischen Inseln durch nach St. Vincent, einer der Kap Verde-Inseln; vorläufig konnten wir noch die Strömung benutzen, ein Umstand, der die Arbeit dem Schiffsvolk sehr erleichtert.

Bei einer Fahrt von Europa nach Brasilien für Segelschiffe muß überhaupt eine große Anzahl Vortheile dem Meer und der Luft abgewonnen werden.

Der Ocean ist für den Segler nicht nur ein mächtig großes Wasser, das er nach einer bestimmten Richtung durchkreuzt, sondern ein Fahrgebiet, welches eine Fülle von Straßen und Wegen hat: Hauptstraßen, Nebenstraßen und sogar heimliche Pfade, Schleichwege sozusagen, die man unter bestimmten Bedingungen bei gewissen Witterungsverhältnissen schnell durchfahren kann. Oft müssen solche Strömungsstraßen durchkreuzt, am Rande, in der Mitte, durch Lavieren oder direkt durchsegelt werden. – Man darf im Frühjahr und Sommer nicht dieselben Straßen benutzen wie im Winter. Es gehört demnach ein außerordentlich gutes Seekartenstudium und viel Erfahrung dazu, um von uns aus glücklich über den Aequator und dann weiter zu kommen.

[403] Bis jetzt hatten wir schönes Wetter und viel Glück gehabt.

Die ersten Tage des März nahmen einen sommerlich schönen Verlauf, und mein Dienst auf der „Elisabeth“ war, die bösen Nachtwachen abgerechnet, durchaus nicht schwer.

Mein Verhältniß zu den übrigen Schiffskameraden gestaltete sich gut, und der Kapitän verlangte zwar von mir, wie selbstverständlich, vollen und ganzen Dienst, behandelte mich sonst aber wie einen Freund, und ebenso zeigte sich die Frau Kapitän mir sehr gewogen.

Sie unterhielt sich gern mit mir – staunte, daß ein Mann, der sogar eine Zeitlang die Universität besucht hatte, die harte Seemannslaufbahn eingeschlagen hatte, und ging mit mir um, als ob ich ein ihr völlig Gleichstehender wäre, den sie in dem Empfangssalon ihres Vaters kennengelernt hatte.

Ich besaß keine Ahnung davon, daß diese Bevorzugung bei jemand auf dem Schiff den tiefsten Schmerz verursachte und die wildeste Eifersucht hervorrief. Diese Person war ein junger Matrose mit dem weichen wehmüthigen Gesicht, das mir von Anfang an aufgefallen war.

Ich fand ihn eines Tages voll heftigen Heimwehs am Gangspill sitzen – er starrte in die Ferne hinaus und sein Gesicht hatte einen so schmerzergriffenen Ausdruck, daß er mir innig leid that und ich ihn zu trösten, aufzumuntern suchte. Ich hatte erfahren, was Seemannsheimweh heißt. Der Nordländer in nordischen Meeren bekommt es nie, sobald er aber unter heiße Sonne geräth, in das Gebiet des ewigen Frühlings, der Palmen und der andern südlichen Gewächse, wo der Himmel ewig blau, das Meer blendend blau ist – tagelang sich kein Lüftchen regt – dann packt es ihm das Herz zum Sterben und er möchte laut weinen vor Schmerz.

In dieser Stimmung saß der junge Mann da. „Holla, Mertens,“ rief ich ihm zu, „im nächsten Hafen ist der ganze Kummer verflogen; wenn’s gut geht, werden wir auf den Kanarischen einkehren und dort kannst Du Kanarienvögel fangen und Kanariensekt trinken.“

Statt einer Antwort traf mich ein wüthender Blick – ich sprach noch weiter – der Mann blieb stumm, schließlich verließ er seinen Platz und ließ mich stehen. Ich zerbrach mir den Kopf, was das zu bedeuten habe, ich sann nach, wodurch ich ihn beleidigt haben könnte. Wie gewöhnlich bei allen dunklen Punkten, die auf der „Elisabeth“ sich zeigten, half mir der erste Steuermann, das Räthsel zu lösen.

Er hat sich in die Frau Kapitän verguckt, der Laffe, schon in Bremen, als sie noch Mädchen war, und jetzt geht er auf dasselbe Schiff, wo sie mit ihrem Mann ist – daraus kann man schon sehen, daß er ein Esel ist.

„Ut dem ward nix, ’n richtiger Seemann nie und nimmer, dat wär better for em, bi sin Vatter oppen Dreistohl to sitten,“ schloß Christian Poppinga seinen Bericht und warf einen verächtlichen Blick auf den jungen Mann, der jetzt, die Stirn an die Wanten gelehnt, dastand und in das Meer hinausschaute.

„Sagt doch mal, Christian Poppinga: mit der Heirath des Kapitäns soll es ja eine besondere Bewandtniß gehabt haben, wie Ihr mir einmal angedeutet habt,“ so wollte ich den Alten, der bei guter Erzähllaune war, ausholen.

Da gab mir der Steuermann einen Wink mit den Augen und in demselben Augenblick ertönte vom Kapitän das Kommando: „Hol in Royal-Bramsail! Gei op de Grotsail!“ und jetzt war’s mit der schönen Fahrt vorbei. Es war zehn Uhr vormittags. Der Himmel hatte im Osten eine matt bernsteingelbe Farbe angenommen und sah drohend dunstig aus, ein paar stahlblaue Wolken flogen dem Dunstschleier voraus und schon standen sie über uns.

Wie konnte das in den paar Minuten vor sich gehen?

Das Meer wogte stumpf und bleifarben und schlug hart metallisch an die Schiffswand. Wie rasend war die Mannschaft in die Wanten geflogen und hatte die zum Beiliegen im Sturm nöthigen Segel festgemacht. Was beweglich an Deck war, ward in einer Minute fortgeräumt oder festgebunden – trotzdem überraschte uns der Sturmstoß – heulend wie ein Höllenunthier kam er heran – Himmel grauschwarz, Meer pechschwarz mit zitterndem weißen Schaum. Wir sanken in ein tiefes, dunkles Wasserthal und ein riesiger Wasserberg bedeckte uns – einige Sekunden fußhoch Wasser über uns – dann athmeten wir durchnäßt von rasendem Sturm durchpeitschte Luft. Ströme von Regen ergossen sich vom Himmel – Wasserthäler, Wasserberge, weiter nichts ringsum. Keine zwanzig Schritt weit war zu sehen und wir tanzten einen wahnsinnigen Wirbeltanz in diesen gähnenden Tiefen, auf den zerberstenden Höhen, und wie mit Stöcken schlugen die abgerissenen Wogenkämme uns auf Kopf, Brust und Arme, das zurückströmende Wogenwasser fluthete um unsere Beine – und dabei noch alle Befehle ausführen und die Richtung beibehalten, daß wir nicht gegen die Kanarischen Inseln trieben, in deren Gebiet wir uns befanden, denn dann war es mit Schiff und Mannschaften vorbei! Es war ein hartes Stück Arbeit.

Jedoch die „Elisabeth“ war ein gutes Schiff, sie schüttelte sich wie ein nasser Pudel und ihr gutes Holz trotzte allen Sturmangriffen und Wellenbädern. Sie fuhr in die Höhe und schoß in die Tiefe und ließ sich schleudern und jagen – aber sie hielt sich regelrecht an ihr Steuer und ging West, immer West und das war unser Glück, denn wir kamen dadurch von den Inseln ab.

Das Unwetter tobte bis gegen Abend fort, und dann ward es kalt und unfreundlich. Als die Sonne in einem fahlgelben am Meereshorizont breit aufklaffenden Firmamentstreifen versank, folgte eine von Regenböen erfüllte Nacht. Dunkle zerrissene Wolken flogen am Himmel, das schwarze Meer war unruhig und sah unheimlich aus.

An Nachtruhe war nicht zu denken. Alles blieb auf Deck, man hatte genug zu thun, die Lichter in Ordnung zu halten, zu lothen, Ausguck zu halten, in die Wanten zu springen, die schwer nasse Leinwand bald so, bald anders zu gestalten, und eine bängliche Stimmung lagerte auf uns, denn wir waren außer Kurs gerathen. – Kein Stern zeigte sich und eine Bestimmung, wo wir uns befinden möchten, war unmöglich. – –

Endlich kündigte der Tag sich an. Im Osten öffnete sich das Firmament, und zwischen schweren Wolkenbänken brach goldgelbes Licht hervor, welches das Meer seltsam graublau glasiggelb färbte, und wenige Minuten später erhob sich der Sonnenball über dem unruhigen Meer, eine breite glitzernde Goldbahn zwischen seinem leuchtenden Antlitz und der auf- und niederwogenden „Elisabeth“ ziehend – es war mit einem Male heller Tag, aber wie sah unsere „Elisabeth“ aus! Zwar standen die Masten unversehrt – jedoch unser Segelwerk und die Takelage hatten schwer gelitten. Zwei Stangen waren gebrochen. Das Holz hing herab und hatte in die Segel fußgroße Löcher gerissen. Das untere Großsegel lag zerfetzt um den Fuß des Royalmastes geschlungen, unser Oberbramsegel zuoberst der ganzen Takelage war vollständig fortgeschlagen, überall schlotterten und wehten zerrissene Strickenden.

Der Kapitän machte ein ernstes Gesicht und die Mannschaft stand stumm und finster da. Was sollte aus uns werden, wenn das Wetter von neuem begann? Plötzlich rief der Koch mit seiner krähenden Stimme: „Hab’ Kaffee gekocht.“

Das tönte so unvermittelt in unsere Bestürzung und unsere Trauer, daß alles laut auflachte – der Bann war gelöst. Wir eilten zur Kombüse und bald standen wir sämmtlich dort herum, angelehnt an irgend etwas, was einen Ruhepunkt bot, und schlürften aus unseren Blechbechern den heißen und heute extrasüßen belebenden Trank. Neuer Muth, frische Arbeitskraft durchströmte unsere Glieder, und fünf Minuten später – denn Eile that Noth – waren wir in eifrigster Arbeit, die zerbrochenen Stangen von den Masten abzuschneiden, die zerrissene Leinwand unter Deck zu schaffen, alles Zerstörte schnellstens zu entfernen und unser Schiff einzurichten, mit dem, was noch heil und ganz war, zu fahren.

Das Glück begünstigte uns. Der Himmel hellte sich auf, und wenn auch die Luft bei immer noch niederem Barometerstand sehr unruhig und stoßweise stürmisch bewegt blieb – bis zum Einbruch der Nacht waren wir doch bei rastloser, fast fieberhafter Arbeit wieder klar und die „Elisabeth“ ging mit genug Leinwand vor dem Winde, die Kursabweichung wieder einzubringen.

Am nächsten Mittag wurde gemessen, worin ich dem Kapitän als ausgelernter Navigationsschüler zur Hand ging, und wir ersahen, daß wir im schönsten Kurse direkt auf die Kap-Verdischen Inseln losgingen, von den Kanarischen Inseln waren wir verschlagen. Das Wetter wurde immer besser, und bald waren wir so weit, als wir schon vor ein paar Tagen hätten sein sollen – wir erreichten den Passat.

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Zur Bekämpfung der hohen Schulter.

Die hohe Schulter ist eine Mißgestaltung des Körpers, welche in früher Jugend unmerklich zu beginnen pflegt, von Erziehern und Eltern gar nicht oder nur ungenügend beachtet und, sich selbst überlassen, mit der Zeit unheilbar wird. Den größten Prozentsatz unter den auf solche Weise verunstalteten Wesen bilden junge Mädchen. Es ist eigenthümlich, aber wahr: so lange diese Mädchen noch in die Schule gehen, achten die Eltern wenig auf die hohe Schulter, wenn aber die Schulzeit vorüber ist, wenn das Fräulein in die Welt eingeführt werden soll, gleichviel ob diese Welt die der hohen Aristokratie oder der bürgerlichen Kreise ist, dann merken sie erst, daß die hohe Schulter das Fräulein verunziert. Die Schneiderin muß den Fehler verdecken, das wird zuerst besorgt; dann wird der Arzt gerufen – und leider muß er nunmehr feststellen, daß das Leiden nur durch eine langwierige Behandlung gebessert werden kann oder daß es überhaupt nicht mehr zu beseitigen ist. Und in der Regel wäre es so ungemein leicht gewesen, vor Jahren, als sich die hohe Schulter auszubilden begann, dieselbe wieder gerade zu machen!

Die hohe Schulter oder Skoliose entsteht dadurch, daß die Wirbelsäule oder das Rückgrat seitwärts in der Form eines lateinischen S gekrümmt wird. Die Ursachen dieser Krümmungen können verschiedenartig sein. Entzündungen der Wirbelkörper, Erkankungen der an diesen befindlichen Sehnen, Bänder und Muskeln können zu Knickungen und Krümmungen der Wirbelsäule führen, wie dies z. B. bei der chronischen Wirbeltuberkulose der Fall ist. Derartige schwere Störungen der Gesundheit, welche eine sofortige ärztliche Behandlung erheischen, sind jedoch verhältnißmäßig selten. In der Regel entsteht die hohe Schulter im Jugendalter als eine Folge schlechter Körperhaltung des Kindes. Wird ein Säugling von der Mutter oder Pflegerin stets auf einem und demselben Arm getragen, so kann seine noch schwache und biegsame Wirbelsäule gekrümmt werden und das Kind wird infolge einer unzweckmäßigen Abwartung skoliotisch. Im späteren Alter kann das andauernde Führen des Kindes an einer und derselben Hand das gleiche Leiden verursachen. Mütter sollten mehr auf diese Thatsachen achten und darauf dringen, daß auch die Wärterinnen die Kleinen abwechselnd auf dem rechten und linken Arme tragen und sie abwechselnd an der rechten und linken Hand führen. Die Hauptgefahr für die Erwerbung der hohen Schulter kommt aber erst in den Schuljahren. Das unrichtige Sitzen beim Schreiben, Nähen, Sticken, wobei die Kinder infolge einer schlechten Sitzgelegenheit oder auch infolge von Ermüdung die eine Seite einsinken lassen und die andere herauskrümmen, trägt in den allermeisten Fällen die Schuld an der seitlichen Rückgratverkrümmung, die nicht nur unschön ist, sondern bei höheren Graden von ungünstiger Einwirkung auf die inneren Organe des Körpers sein muß. Die Aerzte haben auf diese Gefahren der schlechten Angewohnheit in der Körperhaltung genügend oft aufmerksam gemacht, auch die „Gartenlaube“ hat es sich immer angelegen sein lassen, ihre Bemühungen zu unterstützen (vgl. u. a. Jahrgang 1890, S. 723), und es ist nunmehr Aufgabe der Eltern und der Erzieher, das Schiefwerden der Kinder zu verhüten.

Zeigt sich bereits die erste Neigung zum Schiefhalten, so kann man durch zweckmäßige Hausgymnastik das Uebel beseitigen. Die Wirbelsaule behält noch lange Zeit die Fähigkeit, in die gerade Form, aus welcher sie durch schädliche Einflüsse gedrängt wurde, zurückzukehren. Der bekannte Orthopäde Dr. Schildbach hat vor einigen Jahren eine Reihe solcher einfacher gymnastischer Uebungen, die unter Anleitung der Eltern im Hause ausgeführt werden können, in der „Gartenlaube“ (vgl. Jahrgang 1888, S. 217) beschrieben. Treffliche Winke findet man auch in den für die weitesten Kreise berechneten Büchern von Angerstein und Eckler, „Hausgymnastik für Gesunde und Kranke“ und „Hausgymnastik für Mädchen und Frauen“, von denen der Leser das letztere in der „Gartenlaube“ (1889, S. 91) besprochen findet, sowie in der „Kinderstuben-Gymnastik“ von C. H. Schildbach. Eltern, welche schwächliche Kinder haben, sollten nicht versäumen, aus diesen Büchern möglichst frühzeitig Belehrung zu schöpfen.

Wie glänzend auch die Erfolge einer zweckmäßigen gymnastischen Behandlung bei beginnender Gewohnheitsskoliose sind, es bleiben leider noch immer genug Fälle übrig, in denen trotz aller Mühe und Sorgfalt der Eltern die Kinder die verlorengegangene gerade Haltung nicht wieder erlangen.

Der Grund hierzu ist in der Schwäche der Kinder zu suchen. Starke Kinder können mehr aushalten und werden nicht so leicht schief, die schwachen dagegen unterliegen am ehesten den schädlichen Einflüssen. Die Gymnastik, selbst die einfache Hausgymnastik, ist nun eine Anstrengung, geringfügig für den Kräftigen, aber groß für die Schwachen. Die letzteren können die nothwendigen Uebungen nicht voll oder nicht mit dem gehörigen Nachdruck ausführen. Wenn wir überhaupt die Schar der hochschulterigen Kinder mustern, so werden wir finden, daß sie zumeist blutarm, bleichsüchtig, stubensiech, vor allem jedoch muskelschwach sind. Durch zweckmäßige Pflege und Ernährung kann man zwar den allgemeinen Kräftezustand der schwächlichen Kinder heben, die Muskelschwäche aber wird damit keineswegs ganz beseitigt. Ein gesunder, wohlgenährter Mensch kann dennoch muskelschwach sein, wenn er infolge einer sitzenden Lebensweise seine Muskeln nicht gebraucht, sie nicht übt. Die stubensiechen, muskelschwachen Kinder befinden sich oft in derselben Lage; die freie Gymnastik leistet bei ihnen nur geringe Dienste oder versagt vollständig. In solchen Fällen muß man den Körper durch andere Hilfsmittel unterstützen; hier sind zweckmäßige Apparate am Platze.

Fig. 1. Hängen am Wirbelsäule-Strecker.

Fig. 2. Ellbogenstellung im Wirbelsäule-Strecker.

Das äußerste Mittel ist nun, den Körper durch Geradehalter u. dergl. in die richtige Lage zu zwingen. Neuerdings aber ist der Schatz von Heilapparaten durch ein neues sehr zweckmäßiges Geräth bereichert worden, ein Geräth, welches selbst dem Schwächsten erlaubt, die nothwendigen gymnastischen Uebungen auszuführen. Es ist der Wirbelsäule-Strecker, ein orthopädischer Turnapparat zum Gebrauche in der Familie, welchen Dr. Schmid in Seeburg bei Urach (Württemberg) erfunden und erprobt hat.

Auf unseren Abbildungen sehen wir ihn im Gebrauch. Er besteht aus einem eisernen Kreuz mit ledernen Schlingen, in denen der Kopf des kranken oder schwachen Turners befestigt wird. An dem eisernen Kreuze ist eine Rolle angebracht, über diese läuft eine Leine, die weiterhin über zwei an der Zimmerdecke angeschraubte Rollen geht. Die Enden der Leine sind mit Handgriffen versehen.

Die Wirkung des Wirbelsäule-Streckers ist leicht zu erklären: durch den Zug der Arme an den Handgriffen wird sofort der Kopf von der Schulter ab in die Höhe gezogen, ein Einziehen desselben vermittelst der Halsmuskeln ist unmöglich. Durch den Zug der Leine über die an der Decke befestigten Rollen ergiebt sich eine solche Verminderung des zum Aufziehen nöthigen Kraftaufwandes, daß Patienten, die nicht imstande sind, am Reck oder Trapez ihren Körper um Haarbreite in die Höhe zu heben, sofort einen Erfolg erzielen, d. h. die Handgriffe des Apparates den Schultern näher und das Aufziehen fertig bringen. Dieser Erfolg hat für den Uebenden so viel Ermuthigendes, daß er weitere Proben nicht unterlassen wird. Schon beim Hängen (Figur 1) im Apparate wird die Wirbelsäule vom Körper abwärts möglichst gerade gestreckt und die Arm- und Brustmuskeln werden in Thätigkeit versetzt. Noch kräftiger wird die Wirkung in der Ellbogenstellung, die in Figur 2 wiedergegeben ist. Mit beiden Uebungen wird das Schwingen verbunden. Der Körper wird nach vorn, rückwärts und seitlich geschwungen, indem der Uebende durch Abstoßen mit den Füßen vom Boden sich ins Schwingen bringt oder durch die Beihilfe einer Person, welche im Rücken des Uebenden steht, in Schwung versetzt wird. Hierdurch wird nicht nur die gestreckte Wirbelsäule in ihren einzelnen Theilen und Gelenkverbindungen beweglich gemacht, sondern auch die mächtige Rückenmuskulatur angeregt und Elasticität und Kraft in der Wirbelsäule, dem Schultergürtel und den Armen erzielt. Der Wirbelsäule-Strecker bringt auch denjenigen Nutzen, welche nach vollendetem Körperwachsthum sich eine schlechte Haltung des Kopfes und der Schulter angewöhnt haben. – Obgleich die Anwendung des Apparates in hierzu geeigneten Fällen völlig gefahrlos ist, so werden dennoch die Eltern gut thun, immer den Rath ihres Hausarztes einzuholen. Der Erfinder Dr. Schmid erklärt ein solches Vorgehen selbst für wünschenswerth, denn nur der Arzt vermag die wirkliche Ursache der Verkrümmung festzustellen und zu entscheiden, ob die Anwendung des Apparates in dem besonderen Falle empfehlenswerth ist oder nicht. *     

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Hohenkrähen und sein „Poppele“.

Mit einer Abbildung von Richard Püttner.

Wenn man von der schönen Bodenseestadt Konstanz aus längs des nördlichen Ufers des Zeller- oder Untersees über Radolfzell nach den Bergen wandert – und wohl ist die herrliche Gegend einer Fußwanderung werth! – so gelangt man bei dem Städtchen Singen ins Herz des Hegaus, des „Pagus Hegauensis“, wie dieser Landstrich schon zur Zeit Karls des Großen genannt wurde, und des „Hewgau“, wie er im Mittelalter als Kanton einer freien deutschen Reichsritterschaft hieß. Reich an Burgen und „Festen“ – es waren ihrer vierzig an der Zahl – umfaßte er einst alles Land, welches den Untersee umgiebt, ferner den „Rück“ zwischen Unter- und Ueberlingersee, erstreckte sich vom kleinen Goldbach bei Ueberlingen über Engen bis auf die Höhen von Tuttlingen und grenzte östlich an den „Linzgau“, nördlich an die „Baar“ und westlich an den „Breisgau“, während im Süden der Rhein und die Vorberge der schweizer Alpen die Grenze bildeten. Jetzt in seinem größten Bestandtheile zum Großherzogthum Baden gehörig, bildet der Hegau einen der fruchtbarsten und an Naturschönheiten reichsten Bezirke dieses gesegneten Landes, hochinteressant durch acht aus dem Nagelfluh- und Geröllgebilde wie Inseln aufragende Phonolit- und Basaltkegel und besonders anziehend durch den Reiz der Romantik. Jeder dieser wundersam geformten, steil aufsteigenden Berge ist nämlich gekrönt durch die Ruinen einer ehemaligen Ritterburg, die – wir nennen nur jene des Hohentwiel, des Hohenkrähen, des Hohenstoffeln, des Mägdebergs und des Hohenhöwen – trotzig herabschauen und von langen, mühseligen Belagerungen, schweren Kämpfen und – unheimlichen Vorkommnissen reden.

Wohl die merkwürdigste, schönstgelegene und sagenreichste aller dieser Burgruinen ist – nach dem Hohentwiel – die Feste Hohenkrähen.

Mächtiges Mauerwerk und gewaltige Strebepfeiler lassen auch in den Trümmern noch die einstige Größe, Stärke und Festigkeit der Burg erkennen; die wunderbare Pracht ihrer Lage aber und die unbeschreiblich herrliche Rundsicht über alle Berggipfel des Hegaus hinweg weit ins Schwabenland hinein und über die spiegelglatte Fläche des Bodensees hinüber nach den schneebedeckten Bergriesen der Schweiz und Vorarlbergs machen die Ruine zu einer der schönsten von ganz Deutschland, während unterirdische Felsenkammern und dazu allerlei Sagen und Geschichten von einem hier und in der Umgegend spukenden Gespenste, dem „Poppele von Hohenkrähen“, ihr überdies den Zauber der Romantik verleihen.

Geschichtlich verbürgte Nachrichten über die Zeit der Erbauung der Burg sind nicht vorhanden. Auch der Name ihres Erbauers ist nicht bekannt. Im dreizehnten Jahrhundert werden zum ersten Mal in noch vorhandenen Urkunden des Klosters zu St. Gallen und der Abtei Reichenau „Edle von Kreigin“ und „Chregin“ genannt und erst ein Jahrhundert später, im Jahr 1307, wird eines „Gottfried von Krayen“ erwähnt, der gelegentlich eines Besuches auf der benachbarten Burg Bodmann bei einer Feuersbrunst mit der ganzen Familie der Edlen von Bodmann – ein einziges Söhnlein derselben ausgenommen – in den Flammen umkam. Dieser Gottfried von Krayen scheint zugleich der letzte seines Stammes gewesen zu sein, denn nach ihm wird nie mehr eines Sprossen dieses Geschlechtes Erwähnung gethan. Die Burg kam in andere Hände und endlich in die eines Raubritters, Hans von Friedingen.

Lange scheint dieser Edle übrigens nicht in ihrem Besitz gewesen zu sein. Seiner ewigen Räubereien wegen wurde Hohenkrähen, wie der schweizer Chronist Johann Stumpf erzählt, von dem berühmten Führer der Landsknechte Georg von Frundsberg belagert, eingenommen und niedergebrannt. Diese Einnahme der für unbezwinglich gehaltenen Feste scheint großes Aufsehen gemacht zu haben, denn sie wurde in verschiedenen noch vorhandenen Volksliedern gefeiert. Auch mehrere sagenhafte Erzählungen darüber, die sich auf die heutige Zeit vererbt haben, leben noch im Volksmund jener Gegend fort. Sie geben alle einen besonderen Grund für die Belagerung an und vermischen offenbar geschichtlich Wahres mit Erdichtetem.

Eine derselben, die der Wahrheit am nächsten kommen dürfte, mag hier eine Stelle finden. Sie lautet wie folgt:

In der freien Reichsstadt Kaufbeuren lebte zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts ein hochangesehener Kaufherr, der den Namen des Erfinders der Buchdruckerkunst trug, nämlich Johannes Gutenberg.

Er war nicht nur ein sehr reicher Mann, sondern auch ein glücklicher Vater, da er eine ebenso schöne als tugendsame [406] Tochter besaß. Kein Wunder war’s deshalb, daß sich um die Hand der schönen Margaretha neben vielen Jünglingen aus dem Bürgerstande mehrere vom Adel bewarben. Sie erwies sich jedoch gegen alle gleichgültig, einen einzigen ausgenommen, einen zwar armen, aber wackeren jungen Edelmann, Otto von Kreßling, dessen Vater in Kaufbeuren ansässig war.

Nun ward in Kaufbeuren einst ein Fest gefeiert, zu welchem vornehm und gering aus nah und fern herbeiströmte. Auch ein Edler aus dem Hegau, Stephan Haußner, ein heruntergekommener Ritter, der in seinem halbzerfallenen Schlosse von Wegelagerei, Raub und Plünderung lebte, kam dahin und sah bei dieser Gelegenheit die schöne und reiche Erbin. Sofort erfaßte ihn eine heftige Leidenschaft für sie und – ihr Geld, und da er bei ihrer ihm bekannten Neigung zu Otto von Kreßling nicht hoffen konnte, ihre Hand im Wege einer Werbung zu erlangen, so beschloß er, sich ihres Besitzes durch List und Gewalt zu versichern.

Die Gelegenheit zur Ausführung dieses Planes kam früher, als er selbst wohl gehofft haben mochte. Durch einen Helfershelfer erhielt Haußner etwa zwei Monate nach jenem Feste Nachricht, daß einige Handelsleute aus Kaufbeuren, auf der Heimreise von Freiburg im Breisgau begriffen, ihren Weg durch den Hegau nehmen wollten. Flugs legte sich der Schnapphahn in den Hinterhalt, überfiel die sorglos Daherkommenden und schleppte sie, da sein eigenes altes Eulennest sich zur Verwahrung von Gefangenen nicht eignete, zu seinem Freunde und Raubgenossen Hans von Friedingen nach Hohenkrähen.

Unter den Ergriffenen befand sich nun auch Georg von Kreßling, der Vater jenes Otto, welcher inzwischen der erklärte Verlobte der schönen Margaretha Gutenberg geworden war. Groß war die Freude Haußners, als er die Entdeckung von seinem Fange machte.

Während er alle anderen Gefangenen nach Zahlung eines beträchtlichen Lösegeldes frei ließ, warf er den alten Kreßling in das Burgverließ und schwor, ihn so lange gefangen zu halten, bis Otto ihm die schöne Margaretha als Braut abtrete.

Als die That in Kaufbeuren bekannt wurde, erregte sie allgemeinen Unwillen. Schleunigst wurde beschlossen, eine Gesandtschaft an den Kaiser abzusenden und ihn um Hilfe anzugehen.

Der Kaiser gerieth bei der Kunde von diesem schnöden Bruch des gebotenen „ewigen Landfriedens“ in heftigen Zorn und ertheilte alsbald seinem Feldobersten, dem berühmten Georg von Frundsberg, den Befehl, die Friedensstörer zu züchtigen.

Frundsberg kam dem erhaltenen Befehle unverzüglich nach und rückte mit einem stattlichen Kriegsheere, welchem sich auch der junge Kreßling angeschlossen hatte, vor die Feste; aber die Lage derselben machte eine Belagerung sehr schwierig. Darum beschloß Frundsberg nach einer vergeblichen Beschießung, die hinreichend mit Mannschaft und Geschütz versehene Feste durch enge Einschließung und Hunger zur Uebergabe zu bringen.

Die Belagerung dauerte bereits mehrere Wochen, und fast täglich fanden kleine Ausfallgefechte statt, denn der Friedinger und Haußner, welche die Absicht Frundsbergs erkannten, suchten mit dem Muthe der Verzweiflung einen Ausweg zu gewinnen.

Da endlich trat ein Ereigniß ein, das den Fall der Burg beschleunigte.

Dem Friedinger wurde nämlich durch das Zerspringen einer Büchse der Arm zerschmettert, und da er dessen Abnahme nicht gestattete, so war sein Tod sicher. Gefaßt sah er demselben entgegen und gab, als er ihn herannahen fühlte, seinem Freunde Haußner noch selbst den Rath, sich und die Mannschaft zur Nachtzeit an Seilen über die steil abfallenden Felsen hinabzulassen und in Sicherheit zu bringen, weil die Lebensmittel der Burg bis auf einen kleinen Rest aufgezehrt seien. Diesen Rath befolgte Haußner. Nachdem des Friedingers Augen sich geschlossen hatten, ließ er dessen Leiche in der Burgkapelle aufbahren und entwich hierauf etwa eine Stunde vor Tagesanbruch mit der Mehrzahl seiner Kampfgenossen – ein kleiner Theil wollte sich zu dem Wagniß nicht entschließen – auf dem ihm bezeichneten Wege aus der Burg. Mit Absicht wählte er zum Niederstieg die allersteilste Stelle, weil er hoffen konnte, daß hier die Bewachung mangelhaft sein werde. Und wirklich täuschte er sich hierin nicht. Glücklich gelangten alle – mit Ausnahme eines einzigen, der bei dem gewagten Unternehmen den Hals brach – in den düstern Thalgrund und entkamen. Aber Haußner entrann darum seinem Schicksale dennoch nicht. Als er, in der Absicht, nach Basel zu flüchten, den Weg dahin einschlug, sprengte ihm plötzlich ein junger Ritter an der Spitze einiger Reisigen entgegen. Es war Otto von Kreßling, den Frundsberg zur Herbeischaffung von Lebensmitteln entsandt hatte. Augenblicklich erkannten sich beide und – tödlicher Schreck erfaßte Haußner; er sah, daß er verloren war. Eilends flüchtete er in eine am Wege stehende Kapelle, doch Otto stürzte ihm mit gezücktem Schwerte nach und, nicht achtend der geheiligten Stätte, stieß er ihn am Altare nieder.[5]

Eine Stunde später wurde die Feste übergeben und der alte Kreßling befreit. Frundsberg bewilligte dem Reste der Besatzung freien Abzug und gönnte der Leiche Friedingens ein ehrenhaftes Grab. Unmittelbar nachher aber ward das Raubnest in Flammen gesetzt und von Grund aus zerstört.

Dies ist die Geschichte von der ersten Zerstörung Hohenkrähens, wie sie die Einwohner von Schlatt und Umgebung erzählen; sie mag, wie bereits erwähnt, am wenigsten von allen hierüber umlaufenden Erzählungen „Sage“ sein.

Die Bnrg scheint übrigens bald nach dieser Frundsbergischen Zerstörung wieder aufgebaut worden zu sein, denn noch im gleichen Jahrhundert, im Jahre 1534, wurde sie vom König Ferdinand abermals einem Hans von Friedingen als Mannslehen übergeben, und außerdem werden noch mehrere Ritter anderer Geschlechter als Besitzer der Burg genannt, bis sie endlich an die freiherrliche Familie von Reischach kam. Im Jahre 1632 nahm ein Hauptmann Lösch, der zur Besatzung des Hohentwiel gehörte, die Feste wiederum ein und zwei Jahre später ließ sie der berühmte Kommandant des Hohentwiel Konrad Wiederhold zum zweitenmal niederbrennen. Seither liegt sie in Trümmern; nur einige Oekonomiegebäude sind bewohnbar geblieben.

Wie jede „richtige“ Burgruine hat auch Hohenkrähen sein Gespenst. Es ist allgemein unter dem Namen des „Poppele von Hohenkrähen“ bekannt und soll der Geist eines Menschen sein, der am Ende des dreizehnten Jahrhunderts als Schirmvogt einer verwitweten Frau von Krayen oder Krähen lebte. Sein Name war Johann Christoph Poppelius Mayer. Von Gestalt zwar klein, hager und verwachsen, soll er doch ein äußerst strenges Regiment geführt haben, wild und zügellos und – um mit Scheffel zu reden – „ein trinkbarer Mann“ gewesen sein. Einst spät abends sprach ein vorüberreisender Abt mit seinem Gefolge auf Hohenkrähen ein und bat um Herberge und Zehrung. Gastfreundlich gewährte Poppelius beides, setzte sich mit seinen Gästen zu Tische und ließ „vom Besten“ aufsetzen, der im Keller lag. Fröhlich kreiste der Becher und öffnete bald aller Herz und – Mund.

Auf einen derben Scherz, den Poppelius sich über die Person des wohlbeleibten Abtes erlaubte, antwortete dieser mit einem noch derberen, indem er unter dem wiehernden Gelächter seiner Zechgenossen den Schirmvogt „Knochenmännlein“ nannte und behauptete, „solch’ ein dürrer Knirps könne mit Leichtigkeit durch ein Nadelöhr gezogen werden“. Wüthend über diesen Schimpf sprang Poppelius jetzt auf und befahl, das feiste Pfäfflein ins unterste Burgverließ zu werfen und bei Wasser und Brot so lange gefangen zu halten, bis es ebenfalls so mager geworden sei, daß man es durch ein Nadelöhr ziehen könne. Erst nach Jahr und Tag wurde der bedauernswerthe Abt, der nur noch ein Schatten seiner selbst war, seiner Haft entlassen.

Mit Ingrimm im Herzen schied der Mann von Hohenkrähen. Außerhalb der Zingeln[6] aber hielt er sein Roß an und sprach einen fürchterlichen Fluch aus über den gewaltthätigen Vogt, der ihm so schwere Unbill angethan.

Und der Himmel erhörte den Kirchenfürsten, der Fluch ging in Erfüllung. Nur wenige Tage nach des Abtes Abreise stürzte Poppelius, nachdem er wie gewöhnlich dem Becher etwas zu sehr zugesprochen hatte, eine Treppe hinab und brach den Hals.

Sein Leib wurde in der Kirche zu Mühlhausen[7] zur ewigen Ruhe gebettet, doch der Seele des Verfluchten war diese versagt. Sein ruheloser Geist plagte der Sage nach die ganze Umgegend durch seine Spukereien, die meist nur in Neckereien, [407] manchmal aber auch in sehr ernsten, Leib und Leben gefährdenden Streichen bestanden. So liebte es Poppele ganz besonders, in ähnlicher Weise wie Rübezahl den Glasmännern und Eierhändlern einen Possen zu spielen. Wenn er solche in seinem Spukrevier daherkommen sah, so legte er sich an einem schattigen, zur Ruhe einladenden Plätzchen in Gestalt eines Baumstammes oder Felsblockes an den Rand der Straße. Wollte dann der Händler ein wenig auf dem Stamm oder Block ausruhen oder den Tragkorb mit seiner zerbrechlichen Waare daran anlehnen, so verschwand der vermeintliche Ruhesitz plötzlich, der Korb stürzte um, Glas oder Eier zerbrachen und aus dem Erdreich drang ein schallendes Gelächter ans Ohr des Gefoppten.

Ebenso neckte er gern die Bauern, wenn sie zur Winterszeit in ihren Scheunen draschen. Sobald sie nämlich für kurze Zeit ihre Arbeit unterbrachen, um ihr Vesperbrot zu essen, warf ihnen der tückische Kobold sämmtliche Garben durcheinander oder er verdarb ihnen die Dreschflegel, daß sie beim ersten Schlag zerbrachen. Nur dadurch, daß einer der Knechte vor dem Verlassen der Scheune mit lauter Stimme rief: „Nit z’lützel und nit z’viel!“[8] konnte man sich gegen Poppeles Tücke schützen.

Auch wenn die Bauern aufs Feld fahren wollten, übte der Kobold seine Bosheit aus, denn alsbald war er in einem unbewachten Augenblicke bereit, Pferde und Ochsen verkehrt einzuspannen oder den schon angespannten die Zügel und Stränge zu verwirren, daß es geraumer Zeit bedurfte, bis alles wieder in gehöriger Ordnung war. Auch hiergegen gab es nur ein schützendes Mittel. Die Knechte mußten nämlich vor dem Ausfahren laut in den Stall und den Hof rufen: „Wir wollen selbst anspannen!“ Dann mußte der Kobold seine Neckerei unterlassen.

Eine weitere Liebhaberei des Poppele war es, die Räder vorüberfahrender Wagen und Kutschen zu sperren, und zwar so lange, bis er durch Fluchen verjagt wurde. Dies soll sogar einmal der Aebtissin von Ummenhausen auf einer Fahrt nach Radolfzell begegnet sein. Die fromme Frau wurde äußerst lange am Fuße des Berges vom Poppele aufgehalten, weil sie ihrem Kutscher durchaus nicht gestatten wollte, zu fluchen. Endlich aber mußte sie, um nur vom Fleck zu kommen, die Erlaubniß hierzu ertheilen, worauf die Räder sofort frei wurden und Poppele unter Hohngelächter verschwand.

Dem Thorwächter von Radolfzell spielte der Kobold wiederholt üble Possen. Um die Mitternachtsstunde nämlich, wenn der biedere Wächter längst den Schlaf des Gerechten schlief, kam er zum Thore, ahmte den Ton eines Posthorns nach und lockte den Mann dadurch aus den Federn zum Oeffnen. Kaum aber war dies geschehen, so machte sich Poppele hellauflachend davon.

Weniger harmlos jedoch waren Späße wie die nachfolgenden, welche Poppele mit Vorliebe an alten, schwachen oder betrunkenen Personen verübte.

Wenn alte Weiblein, Gebetbuch und Rosenkranz in den zitternden Händen, zur Abendkirche von Schlatt nach Mühlhausen gingen, so stellte sich Poppele ins Buschwerk am Wiesenbach und wartete, bis sie den schmalen Steg betraten. Sobald dies geschah, – puff! versetzte er ihnen hinterrücks einen Stoß, daß sie in den – besonders nach Gewittern stark angeschwollenen – reißenden Bach stürzten und meist nur mit größter Anstrengung sich retten konnten.

Sah er einen Krüppel oder Lahmen an Krücken die Straße einherkommen, so legte er sich flugs in den Hinterhalt und riß ihm unversehens die Krücken weg, daß der Arme zu Boden fiel und hilflos auf der Straße liegen blieb. Poppele selbst machte sich dann, nachdem er zum Ueberfluß noch die Krücken zerbrochen hatte, mit gellendem Lachen davon.

Am übelsten spielte er betrunkenen Personen mit. Kam eine solche zu abendlicher Stunde des Weges daher, so nahm er schnell die Gestalt eines Freundes oder Verwandten des Bezechten an, gesellte sich zu ihm und führte ihn nun in der Irre umher, an entlegene Orte und hochgelegene Felskuppen, wo er ihn verließ. Dem armen Weinseligen, der meist nicht wußte, wo er sich befand, blieb nun nichts anderes übrig, als sich auf das harte Gestein zu legen und frühmorgens den Heimweg zu suchen. Manchmal auch begegnete der heimtückische Gesell auf dem Wege einem Betrunkenen in Gestalt von dessen Weibe, fing alsbald Zank und Streit mit ihm an, prügelte ihn lederweich und eilte dann hinweg. Kam dann der Trunkenbold wuthschnaubend heim, so war es natürlich sein erstes, daß er sein armes ahnungsloses Weib wieder prügelte, bis er endlich an einem aus einer Ecke kommenden Hohnlachen merkte, daß er von Poppele gefoppt worden war.

Solche und ähnliche Neckereien verübte der gespenstige Kobold zu Hunderten. Niemand war vor ihm sicher, die Frommen und Rechtschaffenen am wenigsten. Gerade dieses ausschließlich boshaften Charakters wegen ist Poppele wohl zu unterscheiden von den sogenannten „Hausgeistern“, welche – den „Manen“, „Laren“ und „Penaten“ der Römer verwandt – den Bewohnern des Hauses, in welches sie gebannt sind, meist wohlwollen. Diese bringen Glück, spinnen des Nachts die Spindeln voll, helfen den Knechten und Mägden im Stall und in der Küche – so lange man sie gut behandelt und sie nicht erzürnt. Geschieht dies, so werden sie allerdings ebenfalls wie unser Poppele tückisch und boshaft und rächen sich an den Hausbewohnern durch allerlei Unfug. Der Poppele aber – ganz abgesehen davon, daß er nicht ausschließlich an die Stätte, wo er im Leben hauste, gebannt ist – thut niemals etwas Gutes, sondern hat nur seine Lust daran, den Menschen tückische Streiche zu spielen, sie zu necken und zu schrecken.

Glücklicherweise ist der böse Geist „im neunzehnten Jahrhundert“ ziemlich zahm geworden, denn er schleudert höchstens noch bisweilen ein Bäuerlein vom Steg in den Wiesenbach, wenn es – etwas zu viel des bekannten trefflichen „Seeweins“ zu sich genommen hat. Ob aber der Geist des letzteren nicht die alleinige Schuld daran trägt, läßt sich in den einzelnen Fällen schwer nachweisen.




Blätter und Blüthen.

Verbesserung des Trinkwassers. Noch vor 25 Jahren glaubten die Aerzte selbst, daß man schlechtes Trinkwasser durch einen geringen Zusatz von übermangansaurem Kali und dergl. Substanzen verbessern könne, denn es war die Meinung verbreitet, daß die damals unbekannten Krankheitserreger von einer sehr zarten Organisation seien. Heute wissen wir, daß diese Krankheitserreger, die Bakterien, gar nicht so zart sind und daß man das Wasser, um sie zu tödten, so mit chemischen Mitteln durchsetzen müßte, daß auch der Mensch, der es trinken wollte, in den meisten Fällen vergiftet werden würde.

Die Medizin hat ihren Irrthum rückhaltlos eingestanden, aber im Volke hat sich noch eine ganze Anzahl solcher Mittelchen zur Verbesserung des Trinkwassers erhalten. Man setzt demselben ein bißchen Rothwein, Cognak, Fruchtsaft oder dgl. zu und glaubt, die schädliche Wirkung eines schlechten Wassers damit aufgehoben zu haben. Mit nichten! Man hat nur den Geschmack verbessert. Auch das Filtrieren nutzt nichts, denn die meisten Filter, die im Handel vorkommen, lassen die Bakterien ganz flott mit durchsickern. Es giebt nur ein zuverlässiges Mittel, schlechtes Trinkwasser unschädlich zu machen: man muß das Wasser kochen. Hitze tödtet die Bakterien, nur muß das Wasser wirklich und längere Zeit, etwa eine halbe Stunde, gekocht haben. Abgekochtes Wasser schmeckt nun aber nicht gut, und darum kann man den Geschmack mit den obenerwähnten Mittelchen verbessern. Prof. Rosenthal giebt folgendes Rezept zur Verbesserung des Trinkwassers an: „Gedörrtes Obst, am besten sogenannte Birnschnitze (etwa 50 g auf ein Liter) werden im Wasser vollkommen weich gekocht bis zum vollständigen Zerfall. Man läßt dann das Wasser durch ein feines Haarsieb oder leinenes Tuch durchseihen und in verschlossenen Gefäßen abkühlen. Das klare, schwach gelb gefärbte Wasser wird als gewöhnliches Getränk benutzt. Wenn man es noch vor dem Gebrauch auf kurze Zeit in den Eisschrank stellen kann, schmeckt es sogar recht gut. In vielen Familien ist das schon eingeführt; jung und alt trinkt es gern und zieht es dem oft sehr zweifelhaften Brunnenwasser vor.“

Rudolf von Gottschalls Nationallitteratur. Wir machen die Freunde des deutschen Schriftthums der neuen und neuesten Zeit auf die jetzt in 20 Lieferungen erscheinende sechste vermehrte und verbesserte Auflage von Rudolf von Gottschalls Werk „Die deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts“ (Breslau, Eduard Trewendt) aufmerksam. Es ist wohl die beste Empfehlung dieses umfassenden, vierbändigen Werkes, daß es bereits seine sechste Auflage erlebt. Wie der Verfasser in der Vorrede sagt, wird er auch den jüngsten Schriftstellern, die seit 1880 aufgetreten sind mit dem Anspruch, eine neue Schule zu begründen, [408] eine eingehende Beachtung schenken und eine selbständige Darstellung widmen; auch hierin soll das Werk seinem Streben nach Vollständigkeit treu bleiben, wie auf der andern Seite seine Unparteilichkeit in der Würdigung der neuauftauchenden Talente bekunden. „Die neue Auflage,“ sagt der Verfasser, „beweist wohl zur Genüge, daß meine Darstellungsweise sich nach wie vor des Beifalls einer großen Zahl von Litteraturfreunden erfreut, abgesehen von ihren ästhetisch-kritischen Tendenzen, wie sie denn auch der praktischen Aufgabe, das große Lesepublikum gegenüber der Fülle der überreich gebotenen Litteraturschätze zu orientieren, genügen wird.“ Und an einer andern Stelle heißt es: „Trotz aller eingehenden und unparteiischen Würdigung unserer Dichter, Denker und Geschichtschreiber, trotz aller Hochachtung für die schöpferische Kunst in ihrer Eigenthümlichkeit, die als das A und O aller Litteraturwirkung auch in den Vordergrund dieses Werkes tritt, trägt dasselbe doch eine Fahne voraus, welche die Gleichstrebenden um sich versammeln, feindlichen Richtungen siegreichen Widerstand leisten soll. Es ist die Fahne der modernen Bildung, welche die echte Poesie der Gegenwart nicht preisgeben darf, wenn sie eine Poesie der Zukunft werden will. Alles, was nicht aus dem Geiste unserer Zeit herausgedichtet ist, bleibt schwächliche Nachdichtung und trägt von Haus aus den Stempel des Dilettantismus. Ebenso aber ist alles, was diesem Geiste huldigt, doch in platter Hingabe, ohne künstlerischen Adel und Schwung dem Gericht der Kritik und früher Vergänglichkeit verfallen. Das Ideal, das unserer Kritik vorschwebt, ist die moderne, vom Geiste des Jahrhunderts getragene und nach künstlerischen Zielen strebende Dichtkunst. Ehre den berufenen Talenten, die diesem Ideal nacheifern; doch Krieg dem nachahmenden Dilettantismus, in welcher Gestalt er erscheinen mag; er sündigt gegen den Geist der Zeit; Krieg dem flachen Realismus, er sündigt wider das Gesetz der Kunst.“

Und wie der Erfolg dieses Werkes beweist, ist die Zahl der Gleichstrebenden nicht gering und wird sich mit jeder neuen Auflage desselben vermehren.


Friedrich Königs Denkmal in Eisleben. Es war am 29. November 1814, da verkündigte ein Leitartikel an der Spitze der englischen Zeittung „Times“ den Lesern die große Neuigkeit, daß sie ein Blatt in Händen hielten, von dem, mit Hilfe „der größten Verbesserung, welche die Buchdruckerkunst seit ihrer Erfindung erfahren hat,“ nicht weniger als elfhundert Exemplare in einer Stunde gefertigt worden seien. Es war das ein bedeutungsvoller Augenblick in der Geschichte der Buchdruckerkunst, das erste Öffentliche Auftreten der Erfindung eines Deutschen aus Eisleben, der Schnellpresse von Friedrich König.

Den Lesern der „Gartenlaube“ ist Friedrich König kein Unbekannter. Sie haben aus dem Jahrgang 1883 das Leben dieses genialen Mannes kennengelernt, ein echtes Erfinderleben, voll bitteren Ringens und herber Enttäuschungen, groß durch eine wunderbare Vereinigung von geistigem Scharfsinn und sittlicher Charakterstärke, die beide nicht erlahmten, wenn auch spät, zu spät für ihn selbst die Krone des Erfolges erreicht wurde. Friedrich König starb am 17. Januar 1833 und hinterließ dem treuen Genossen aus den Jahren des Kampfes, dem Schwaben Andreas Friedrich Bauer, eine fertig ausgebildete Erfindung, aber ihre Früchte zu genießen, war ihm nicht mehr vergönnt. Sein Lohn ruht allein in dem dankbaren Gedächtniß der Nachwelt.

Und es fehlt nicht an äußeren Zeichen dieses dankbaren Gedächtnisses. Auf seinem Grabe zu Oberzell bei Würzburg, wo heute noch die blühende Buchdruckmaschinenfabrik von König und Bauer ihren Sitz hat, steht seit dem Jahre 1842 ein Denkmal, das auf der einen Seite Gutenberg an seiner Presse thätig, auf der anderen eine im Betrieb befindliche Schnellpresse zeigt. In diesen Tagen aber, am Sonntag den 3. Mai, ist auch in Eisleben ein Denkmal für Friedrich König enthüllt worden. Als die „Gartenlaube“ zum fünfzigjährigen Todestage Königs das Leben dieses Mannes erzählte, da schloß sie mit der Frage: „Wird jetzt die Stadt Eisleben ihres zweiten großen Sohnes, wird die deutsche Nation des Vollenders der Erfindung Gutenbergs gedenken und ihn ehren durch ein Denkmal, das er vor vielen anderen verdient hat?“ Nun, diese Anregung ist, in ihrem ersten Theile wenigstens, auf fruchtbaren Boden gefallen. Das neue Denkmal, welches wir unseren Lesern in Abbildung vorführen, steht im Stadtgraben von Eisleben an der Friedrich Königstraße. Es ist eine überlebensgroße Büste aus Bronze auf Granitsockel, im ganzen etwas über drei Meter hoch, hervorgegangen aus der künstlerischen Meisterhand des Professors Fritz Schaper in Berlin. Auf der Vorderseite steht die Inschrift: „Dem Erfinder der Schnellpresse Friedrich König, einem Sohne Eislebens.“

So zeigt nun ein schönes Monument aus Stein und Erz der Mit- und Nachwelt das Bild des großen Erfinders. Eine andere stets frische Erinnerung an diesen Landsmann Luthers halten unsere Leser allwöchentlich in Händen, denn – jede Nummer der „Gartenlaube“ ist ein Denkmal der Kunst Friedrich Königs.

Friedrich Königs Denkmal in Eisleben.
Entworfen von Fritz Schaper.
Nach einer Photographie von Louis Elbelt in Eisleben.


Ein Fest der Opfer. Aus Berlin berichtet man von gefährlichen Wucherern, welche unter der Maske solider Geschäftsleute Geld zu den höchsten Zinsen herleihen. Von den gewöhnlichen Wucherern unterscheiden sie sich dadurch, daß sie nicht bloß den Geplünderten den Hals zuschnüren, sondern von ihnen noch allerlei gesellschaftliche Liebesdienste verlangen. Die Behörden hatten ein Verzeichniß dieser feineren Wucherer entworfen und besonders den Offizieren und jüngeren Beamten mitgetheilt; doch das hatte nur die Wirkung, daß die letzteren auf Geldquellen hingewiesen wurden, welche sie bisher nicht kannten. Auch die Anweisung an die Gerichte, von solchen Prozessen den höheren Behörden Anzeige zu machen, wurde von den Geldgebern nur zu Drohungen und neuen Erpressungen benutzt. Einer dieser „Kaufleute“ wollte eines Tages seine sämmtlichen Opfer bei sich versammeln, um durch diese vornehmen Gäste sich Ansehen in weiteren Kreisen zu verschaffen. Seiner Einladung leisteten alle Folge, denn sie war mit einer Drohung verknüpft, welche ihre Wirkung nicht verfehlte. Und so mußten bei einem glänzenden Mahl die Opfer auf das Wohl ihres Gastgebers trinken, der zugleich ihr geheimer Würgengel war. †     


Rembrandt mit seiner Frau Saskia. (Zu unserer Kunstbeilage.) Wohl kein anderer Maler hat seine Eigenart in so bestimmter und fesselnder Weise seinen Bildern aufzudrücken gewußt als Rembrandt. Sind ja doch gerade daran neuerdings weitgehende Erwägungen angeknüpft worden in dem Buche „Rembrandt als Erzieher“, das seinerzeit in der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1890, Nr. 22) eine ausführliche Würdigung gefunden hat. Diese mächtige Handhabung des Lichts, das aus tiefem Dunkel wirkungsvoll hervortritt und vor allem die Gesichter der dargestellten Personen charakteristisch und scharf beleuchtet, dieses scheinbare Verschwimmen aller festen Formen, während sie doch noch in leiser Andeutung abgegrenzt sind, dabei diese kraftvolle Führung der Gesichtszüge – das alles sind Eigenschaften, welche Rembrandt in einzigartiger Weise auszeichnen. Sie treten besonders da hervor, wo Rembrandt das Größte geleistet hat, auf bem Gebiete des Porträts, und hier wieder vorzugsweise in seinen Selbstbildnissen. Ein solches, ungefähr aus dem Jahr 1636, also aus dem dreißigsten Lebensjahr des Künstlers stammend, ist in unserer Beilage wiedergegeben nach dem Original in der Dresdener Galerie. Der junge Maler schwingt lebensfroh mit der Rechten den Pokal, auf seinem Schoße sitzt die schöne Saskia, seine erste Frau, die ihm nur allzufrüh durch den Tod entrissen wurde. Seine geniale Hand hat die Freude des Augenblicks verewigt und für die Nachwelt eine jener glücklichen Stunden festgehalten, wie sie das spätere Leben für ihn selbst nicht allzuhäufig mehr hatte.




Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

P. F. in Rastatt. Wenn von „Fays echten Sodener Mineralpastillen“ in Ihrer Zeitung behauptet wird, daß dieselben ein Mittel gegen die Influenza bilden, bei dessen Anwendung die Krankheit nicht so heftig auftrete wie sonst und in kürzester Zeit ende, so ist das eine ungerechtfertigte Uebertreibung. Nach einer Bekanntmachung des hochverdienten Karlsruher Ortsgesundheitsrathes sind die genannten Pastillen wohl imstande, die katarrhalischen Beschwerden einer Influenzaerkrankung zu lindern, dagegen nicht, die Krankheit als solche rascher zu beenden oder schwere Komplikationen zu verhüten.

T. B. in Germersheim. Die übliche Reisezeit für den Harz ist Juni bis Ende September. Nach der Versicherung des neuesten, bereits in elfter Auflage erschienenen und von dem „Harzklub“ durchgesehenen Harzführers aus der Serie von Meyers Reisebüchern (Leipzig, Bibliographisches Institut) ist der September sogar häufig der schönste Monat, weil dann in der Regel die Luft nebelfreier ist. Für dieses Jahr haben Sie also noch nichts versäumt.

J. Für Ihren reichen Beitrag zu Gusten der schlesischen Weber unsern verbindlichen Dank! Was Ihre Anregung betreffend Verwendung der Weber als Cigarrenarbeiter anbelangt, so werden wir dieselbe im Auge behalten, um sie bei gebotener Gelegenheit zu verwerthen.

S. M. K. K., Texas. Mit Belehrung aus so weiter Ferne ist in Ihrem Falle nicht viel zu machen. Alles, was wir thun können, ist, daß wir Ihnen Muth zusprechen. Glauben Sie uns, diejenigen, die in Gesellschaft nicht viel reden, das sind nicht immer die schlechtest Angesehenen; wahre Menschenkenner – und an deren Urtheil muß Ihnen doch zunächst liegen – werden immer den guten Kern auch aus dem herausfinden, der nicht viel aus sich zu machen versteht. Also nur Kopf in die Höhe! Und sorgen Sie dafür, daß Sie immer vor Ihrem eigenen Gewissen gerechtfertigt dastehen, dann werden Sie auch mit der Zeit lernen, sich über das Urtheil der „Gesellschaft“ hinwegzusetzen.




Inhalt: Lea und Rahel. Roman von Ida Boy-Ed (7. Fortsetzung). S. 389. – Elisabeth Leisinger als Frau Fluth in den „Lustigen Weibern von Windsor“. Bildniß. S. 389. – Weinblüthe. Gedicht von Ida John. S. 392. Mit Bild S. 393. – Elisabeth Leisinger. Von Heinrich Ehrlich. S. 394. (Mit Bildniß S. 389.) – Der Planet Mars. Von Dr. Carl Cranz. S. 395. Mit Abbildungen S. 395, 396, 397 und 398. – Mein Dienst auf der „Elisabeth“. Von H. Rosenthal-Bonin. S. 399. Mit Abbildungen S. 399, 400 und 401. – Zur Bekämpfung der hohen Schulter. Mit Abbildungen. S. 404. – Hohenkrähen und sein „Poppele“. Mit Abbildung. S. 405. – Blätter und Blüthen: Verbesserung des Trinkwassers. S. 407. – Rudolf von Gottschalls Nationallitteratur. S. 407. – Friedrich Königs Denkmal in Eisleben. Mit Abbildung. S. 408. – Ein Fest der Opfer. S. 408. – Rembrandt mit seiner Frau Saskia. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 408. – Kleiner Briefkasten. S. 408.




manicula0 Hierzu Kunstbeilage VII: „Rembrandt mit seiner Frau Saskia“.




Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. In der „Opéra comique“ werden nicht etwa nur komische Opern gegeben, sondern alle jene, in welchen Gespräche vorkommen, die von der „Académie“ (Große Oper) grundsätzlich ausgeschlossen sind. „Zauberflöte“, „Fidelio“, „Freischütz“, „Vampyr“ müßten in der „Opéra comique“ gegeben werden, wie denn auch der tragisch endende „Marco Spada“, „Fra Diavolo“, „Carmen“ daselbst vorgeführt worden sind.
  2. * Auch der Erdentag scheint sich auf Grund desselben Vorgangs nach den Untersuchungen von Newcomb in geschichtlicher Zeit etwas vergrößert zu haben.
  3. * Z. B. den „Mörisse“ sah Schiaparelli 1877 in der Mitte des „Repenthesflusses“, später 1884 am Rand; die Ufer der „großen Syrte“ und von „Libyen“ waren geändert, manche Gebiete schienen überschwemmt u. s. f.
  4. *Die Absorption der Lichtstrahlen in dieser Atmosphäre ist auch wohl die Ursache für das rötliche Aussehen des Mars: schwerlich ist die gesammte Flora aus Mars von rother Farbe, wie der Geometer Lambert meinte.
  5. Nach einer andern Ueberlieferung wurde Haußner gefangen und einige Tage später enthauptet.
  6. Die eine Burg umgebenden Ringmauern wurden Zingeln genannt.
  7. Badisches Dorf, nordwestlich am Fuße des Hohenkrähen gelegen.
  8. „Nicht zu wenig und nicht zu viel“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe neben den biographischen Notizen zu Elisabeth Leisinger auch den Artikel über Max von Mülberger, ihrem späteren Ehemann.
  2. Botho von Hülsen
  3. Giovanni Schiaparelli
  4. Christiaan Huygens}
  5. Robert Hooke
  6. Asaph Hall